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Bismarck | APuZ 44/1961 | bpb.de

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APuZ 44/1961 Politik in Wissenschaft und Bildung Bismarck

Bismarck

Golo Mann

Das Thema ist ein historisches und ein aktuelles in dem Sinn, in dem alle Geschichte aktuell ist. Wir fragen sie nach dem, was uns angeht; nach anderem nicht. Aber wenige leben noch, die den Reichskanzler Fürst Bismarck mit Augen gesehen haben, und die historische Welt, in der er lebte, ist unwiederbringlich dahin. Es würde dies ihn selber am wenigsten überraschen. Denn obgleich er stolz und hochfahrend sein konnte gegenüber seinen Mitmenschen, so war er bescheiden, ja demütig und im Grunde fromm gegenüber dem Schicksal; er wußte von der Vergänglichkeit alles dessen, was Menschen machen, insofern sie in der großen Politik, in der Geschichte im Werden, überhaupt etwas machen können, insofern sie nicht nur warten müssen, daß die Dinge sich vollziehen. „Wie Gott will“, konnte er schreiben, „es ist ja alles doch nur eine Zeitfrage, Völker und Menschen, Torheit und Weisheit, Krieg und Frieden, sie kommen und gehen wie Wasserwogen, und das Meer bleibt. Was sind unsere Staaten und ihre Macht und Ehre vor Gott anders als ein Ameisenhaufen und Bienenstöcke, die der Huf eines Ochsen zertritt oder das Geschick in Gestalt eines Honigbauern ereilt." — Bismarcks Schwiegertochter, die Witwe seines jüngeren Sohnes Bill, beging Selbstmord im Jahre 1945, in einem der Schlösser der Familie, wenige Stunden bevor Soldaten der Roten Armee dort anlangten. Das ist ein ernster Kommentar zu den eben zitierten Worten des Alten.

Wenn aber auch wenig von seiner politischen Leistung übrig ist oder unmittelbar fortwirkt, wenn die Staatenwelt, die gesellschaftliche Welt, die allein er sich vorstellen konnte, sich in den sieben Jahrzehnten seit seiner Entlassung vom Amt bis zur Unkenntlichkeit verändert hat, so will die Frage, was mit Bismarck sei, unter Historikern und Publizisten, unter allen, denen die Vergangenheit am Herzen liegt, nicht verstummen. Das ist kein Wunder. Er war in modernen Zeiten unser größter Staatsmann, wobei das, was gegenwärtig ist, oder in den letzten zwölf Jahren war, sich dem geschichtlichen Urteil noch entzieht. Er hat sehr lange, nahezu drei-ßig Jahre lang, seines Amtes gewaltet, hat gewaltig in den Gang der deutschen und europäischen Geschichte eingegriffen, so gewaltig wie nur je eine einzelne Persönlichkeit. Er hat viel Gutes und viel Böses getan. Er hat den Energien, die damals sich in Mitteleuropa bildeten, die Form aufgezwungen und den Prozeß geleitet, durch den Deutschland, das harmlose, unpolitische, un-zentrierte Deutschland in kurzer Zeit Europas Machtzentrum und Wirtschaftszentrum wurde. Es ging alles sehr gut und von Erfolg zu Erfolg, so lange er da war; es ging dann alles weniger gut und zum Schluß überaus schlecht, als er nicht mehr da war. Die Frage, ob die Kette der Katastrophen zwischen 1914 und 1945 das folgerichtige Ende einer Bahn war, die er zuerst beschritten hatte, oder ob sie umgekehrt dem Verrat zuzuschreiben war, der an seinem Werk und seinen Lehren geübt wurde, dem Abfall von ihm, diese Frage hat man unter der Regierung Wilhems II. zu prüfen begonnen; mit verdoppeltem Eifer ist sie nach 1945 diskutiert worden, damals, als eine lange Epoche der deutschen Geschichte plötzlich und schrecklich zu Ende gegangen war.

Dazu kommt der tiefe Reiz des Menschen, wie er aus einer unendlichen Zahl von Selbst-zeugnissen oder Zeugnissen anderer auf uns wirkt. Ich gestehe, daß ich mich nicht satt an ihnen lesen kann. Und dies gerade weil sie, wie lange man sich auch mit Bismarck beschäftige, nie ein geschlossenes, widerspruchsloses Ganzes ergeben werden. Ein befriedigendes Porträt Bismarcks von dem man sagen könnte, so war er, werde ich nicht geben. Man kann es in einer Stunde nicht, man könnte es nicht in hundert. Die unterschiedlichsten Aussagen sind über Bismarck gemacht worden und alle mit einem Schein von Recht. Er war, so heißt es, der zynische Zerstörer der alten europäischen Ordnung, und auch ein tief verantwortlicher, christlicher, Europa-bewußter Staatsmann, ein Revolutionär und ein Konservativer, ein Erzjunker und ein Intellektueller, ein Künstler und Schriftsteller, ein überaus liebenswürdiger, lebensvergnügter Mensch, ein Meister geistfunkelnden Gespräches und auch ein harter, selbstsicher, gieriger Despot, dem man gern aus dem Weg ging, ein listenreicher Mogler und ein Politiker, der das Vertrauen der weiten Welt durch die großartige Zuverlässigkeit und Stetigkeit seiner Haltung gewann, ein sehr gesunder und kräftiger Mann und auch ein kranker, nervenleidender und nahezu pathologischer. All das ist über Bismarck gesagt und einleuchtend bezeugt worden, all das ist wahr, so widerspruchsvoll es auch ist. Und darum ist alles, was man über Bismarck sagen kann, im besten Fall einseitig. Für andere Meister der Politik trifft das nicht zu; nicht für Oliver Cromwell, dessen Wesen durch den einen mächtigen Glauben geprägt wurde: nicht für Napoleon, über dessen humorlose, pomphafte Kaiserlichkeit alle Zeugnisse übereinstimmen; nicht für Lenin, dessen kalte, alleswissende, unerträglich pedantische Schulmeisterei aus seinen Schriften und Taten spricht. Bismarck, das ist der Mensch mit seinem Widerspruch; und jene, die meinen, diesen Widerspruch zur Einheit auflösen zu können, werden sich immer über ihn streiten.

Ein solches Streitgespräch hat in den fünfziger Jahren noch einmal stattgesunden, zumal nachdem die reiche, glanzvoll geschriebene Biographie Erich Eycks dem deutschen Publikum verspätet zugänglich geworden war. Es hat die Wertkriterien und häufig tadelnden Urteile Eycks nicht einfach widerlegen können. Daß Bismarcks Entlassung zu spät, nicht zu früh kam, wird heute wohl von den allermeisten deutschen Historikern angenommen, wenn wir absehen von den überlebenden Vertretern einer altgewordenen Orthodoxie; unter den Jüngeren wird keiner bestreiten, daß Bismarcks Manövrieren mit den Parteien der politischen Erziehung der Nation schlecht getan hat. Es ging um Nuancen der Beurteilung; es ging um die geschichtlichen Vorgegebenheiten, deren Wirkung Bismarck sich nicht entziehen konnte. Eindrucksvoll ließ sich die These Franz Schnabels verteidigen, derzufolge die Schaffung des kleindeutschen Nationalstaates durch das Erbe der achtundvierziger Revolution prädeterminiert, und Bismarck sich dieses Erbes sehr bewußt war. Und schwer zu widerlegen war das Argument Schnabels: Wenn man den in Berlin zentrierten Nationalstaat wünschte (was Eyck wohl tat), dürfte man nicht die Mittel tadeln, durch die allein ein solches Ziel zu erreichen war. Hans Rothfels unterstrich den Ernst von Bismarcks Konstitutionalismus: er habe die absolute Monarchie, samt ihrer Bürokratie, so sehr gehaßt wie die Parla-

mentsherrschaft, und sein Begriff des Verfassungslebens als eines Systems lebendiger Spannungen sei etwas mehr als ein bloßes Produkt der Gelegenheit gewesen. Wie anders auch wären die großen und schönen Reden ohne Zahl zu verstehen, die Energie, der Geist, die Wut, und gerade sie, die Bismarck an Reichstag und Landtag verschwendete? — Leibniz hat einmal bekannt, was immer er lese, scheine ihm richtig. Wenn wir die lesenden Temperamente in einige wenige Grundtypen einteilen, so mag es einen solchen Grundtyp geben, der alles für richtig hält, was er liest. Es mag aber auch sein, daß es historische Gegenstände gibt, die sich im besonderen Maß für einen solchen Typ eignen, die eine Vielzahl der unterschiedlichsten, jedes ein Stück Wahrheit enthaltenden Urteile zu provozieren geeignet sind, und daß die Geschichte Bismarcks ein solcher ‘Gegenstand ist. Es war nicht nur ein überaus geistreicher, sondern auch ein sehr gesprächiger Mann, ein Liebhaber übertreibender, leuchtender, schockierender Formulierungen. Es ist dies, was Napoleon III. bemerken ließ: „Das ist kein seriöser Mensch.“ Er hatte starke Instinkte, nicht fest gegründete theoretische Ansichten. „Ansichten?“ konnte er fragen, „die muß ich mir erst noch anschaffen." Nun, von einem Manne ohne Ansichten, von einem, der eine gewisse Konsistenz seines öffentlichen Tuns durch schiere Willenskraft erreichte, ist es nicht gar zu weit zu einem, der nur eine Rolle spielte, oder mehrere Rollen. Und zweifellos gibt es das Spielen von Rollen in Bismarcks Leben, wenngleich es ein ernstes Spiel war. Er konnte, mit beträchtlicher Konsequenz, den „treuen deutschen Diener Kaiser Wilhelms I.“

spielen, wie er es auf seinen Grabstein setzen ließ, und um in den achtziger Jahren an die Zukunft der Hohenzollern-Dynastie zu glauben, dazu gehörte für einen so gescheiten Mann ein starkes Stück Willenskraft. Nach seinem Sturz gefiel er sich in der Rolle des beleidigten, ganz unabhängigen Edelmannes, in der Rolle des Demagogen, beinahe des Demokraten. Er konnte als der Mann des Krieges und des Friedens erscheinen; als Verächter der Menge und als Begründer des allgemein gleichen Wahlrechts; als paternalistischer Sozialist und als Verbündeter des Manchestertums. Natürlich hatten veränderte Umstände ihren Teil an solchen Rollen-wechseln. Daß aber Bismarcks Geist mit seinen Meinungen keine starke Identität einging, daß er funktionierte wie ein Behälter, der zu verschiedenen Zeiten den verschiedensten Meinungen Platz gab, so viel kann man sagen. Daher wohl auch seine Ungeduld gegenüber Geistern, die, wie Gladstone, aus einem einzigen Stüde und einem sehr edlen gemacht waren, und seine Sympathie für Disraeli, der, wie er selber, ein Spieler von Rollen war. Und daher wird der Streit über ihn sich immer gerade dann entfalten, wenn man ihn durch Meinungen, durch eine politische Philosophie zu identifizieren versucht.

Wann hat die geschichtliche Welt, in der Bismarck lebte, sich aufgelöst? Eine Betrachtung dieser Frage mag geeignet sein, die Problematik seines Werkes, die Größe und die Grenzen zu vergegenwärtigen.

Es ist gesagt worden, daß Bismarcks Zeit schon zu Ende war, als er noch regierte, und daß dies, und nicht Ehrgeiz oder Laune des jungen Kaisers, die wahre Ursache seines Sturzes war; daß es mit dem alten Mann nicht mehr ging. Einer seiner intimsten Mitarbeiter, Geheimrat Holstein, war dieser Ansicht im Außenpolitischen; Bismarck, so heißt es wieder und wieder in den neuerdings veröffentlichten Aufzeichnungen der . Grauen Eminenz', Bismarck verstehe die europäische Situation nicht mehr, er verstehe vor allem die russische Gefahr nicht, und alle Kraft sei aus dem überkomplizierten Gewebe seiner Verträge gewichen. Ein anderer, ein tieferer Denker als Holstein, Max Weber, der große deutsche Soziologe der Kaiserzeit, sah Bismarcks innere Politik als wesentlich gescheitert an, darum, weil der Kanzler die sozialen Veränderungen seiner Spätzeit nicht verstanden habe. In Max Webers akademischer Antrittsrede von 1895 heißt es: „Ein Vierteljahrhundert stand an der Spitze Deutschlands der letzte und größte der Junker, und die Tragik, welche seiner staatsmännischen Laufbahn neben ihrer unvergleichlichen Größe anhaftet und die sich heute noch immer dem Blick vieler entzieht, wird die Zukunft wohl darin finden, daß unter ihm das Werk seiner Hände, die Nation, der er die Einheit gab, langsam und unwiderstehlich ihre ökonomische Struktur veränderte und eine andere wurde, ein Volk, das andere Ordnungen fordern mußte als solche, die er ihm geben und denen seine cäsarische Natur sich einfügen konnte. Denn dieses Lebenswerk hätte doch nicht nur zur äußeren, sondern auch zur inneren Einigung der Nation führen sollen und jeder von uns weiß: das ist nicht erreicht.

Es konnte mit seinen Mitteln nicht erreicht werden. Und als er im Winter des letzten Jahres, umstrickt von der Huld seines Monarchen, in die geschmückte Reichshauptstadt einzog, da, ich weiß es wohl, gab es viele, weihe so empfanden, als öffne der Sachsenwald wie ein moderner Kyffhäuser seine Tiefen. Aber nicht alle haben diese Empfindung geteilt. Denn es schien, als sei in der Luft des Januartages der kalte Hauch geschichtlicher Vergänglichkeit zu spüren. Lins überkam ein eigenartig beklemmendes Gefühl — als ob ein Geist herniederstiege aus einer großen Vergangenheit und wandelte unter einer neuen Generation durch eine ihm fremd gewordene Welt.“ Das sind inhaltsschwere Sätze. Bismarck selber, als er im nächsten Jahr, 1896, den Hamburger Hafen besuchte, hat dort, angesichts all der wimmelnden Arbeit, die Schiffe und Kräne, fast schaudernd bemerkt: „Es ist eine veränderte Welt, ein neues Zeitalter.“ Max Webers Betrachtung geht weiter. Dieses neue, immer stärker von Wissenshaft und Industrie geprägte Zeitalter begann shon in den siebziger, den ahtziger Jahren. Es hätte shon damals andere Ordnungen verlangt, andere Akzente der Herrshaft: Demokratie, Parlamentarismus, beginnende Wirtshaftsdemokratie. Aber Bismarck hatte die Begründung des Nationalstaates, der seiner inneren Logik nah ein demokratisher hätte sein müssen, kunstvoll-gewalttätig verbunden mit der Bewahrung, ja der Stärkung des preußishen Königsstaates. Er hatte der Monarhie und dem Adel Vorrehte gerettet, wie sie ehedem nützlih gewesen sein mohten, aber in einer modernen Industriegeseilshaft niht mehr stimmig waren. Er hatte die Nation gleihzeitig an den Staat herangeführt und vom Staat ferngehalten, hatte sie höhstens als Teilhaber an der Mäht, und zwar als geringen Teilhaber, niht als Träger der Mäht herangelassen. Der Staat, die Obrigkeit und die Gesellschaft waren ihm vershiedene Dinge, und wenn er das allgemeine und gleihe Wahlreht zuließ, so glaubte er doh niht daran. Er hatte die aufsteigenden großen Volks-und Massenparteien, das katholishe Zentrum, die städtishe, industrielle Sozialdemokratie als Reihsfeinde behandelt, ohne zu begreifen, daß der moderne Staat ohne solhe Parteien neuen, demokratishen Stiles keinen inneren Frieden, keine Einheit mit sih selbst mehr würde haben können. Die offizielle Theorie der Sozialdemokraten, weihe sih leider von dem verbogenen Genius des Doktor Marx hatten betören lassen, mag seine Haltung verständlih mähen. Ein freierer Blick aber hätte erkannt, daß die deutshen Sozialdemokraten ehte Marxisten im Grunde niht waren, shon zu Bismarcks Zeiten niht, viel weniger zu Kaisers Zeiten oder Kriegs-oder Weimarer Zeiten. Es war Bismarcks Verfolgung, was ihnen einen Shein von Radikalität gab. Die ganze Atmosphäre der von dem eisernen Kanzler gestalteten Politik war zänkish und durh eine Reihe von feindlichen Teilungen, von Entfremdungen harakterisiert: Fremdheit zwishen Regenten und Nation, Fremdheit der einzelnen Parteien und Klassen der Nation untereinander. Eben sie hatte Max Weber im Sinn. Die Persönlihkeit Bismarcks gab ein Maß von Einheit oder doh Führung, solange er da war; als er niht mehr da war, war Führungslosigkeit, Zwietraht und Chaos. So unter Wilhelm II.; so im Krieg; so noh in der Weimarer Republik, weihe die unter Bismarck entstandenen Übel, die Teilung der Nation in angeblihe Reihsfeinde und Reichs-freunde oder, wie man jetzt sagte, „aufbau-

willige Kräfte“, den Zank und die Unverantwortlihkeit der Parteien wie in einer Karikatur widerspiegelte. In diesem Sinn gibt es wirklich eine Kontinuität der Entwicklung von Bismarck bis zu den Ereignissen des Jahres 1933. Die politishen Parteien, weihe unter Bismarck die Kunst des Sih-Vertragens durh gemeinsame Verantwortung, die Kunst des Regierens nie hatten lernen dürfen, dankten 1933 ab. Die Nation, der Bismarck, in Max Webers Ansicht, die innere Einheit nicht gegeben hatte, floh 1933 in die gewalttätige Einheit von oben, die ein neuer Cäsar gab, eben der neue Cäsar, den Max Weber schon 1895 vorausgesagt hatte.

Hier, meine ich, ist eine gewisse Kontinuität der Entwicklung. Aber Kontinuität heißt nicht Unvermeidlichkeit, und diese Geschichte ist in Wirklichkeit wandelreicher, spannungs-und möglichkeitenreicher, als ich sie eben arg vereinfachend gezeichnet habe. Der politische Bau des Bismarckreiches, seine innere Verfassung war schief und unbefriedigend. Aber schließlich hatte das deutsche Bürgertum von Bismarcks Sturz bis 1914 nahezu ein Viertel-jahrhundert, um sein politisches Haus in Ordnung zu bringen. Es tat dies nicht. Wer daran vorwiegend Bismarck schuld gibt, der überschätzt die nachwirkende Schuld des Toten, der unterschätzt, was eine lebende neue Generation in Freiheit tun kann.

Bismarck war ein überaus energischer und geschickter, aber im Grunde kein schöpferischer Innenpolitiker. Seine Meisterschaft lag im Äußeren, in der Diplomatie, von der er gesagt hat, daß sie ihn vor allem anginge, daß sie die Priorität haben müsse. Es war seit 1871 eine Außenpolitik strengsten Maßhaltens, die friedlichste, vorsichtigste, die je von einer starken Militärmacht geführt wurde. Es war jetzt deutsche Politik, nicht mehr preußische. Aber Bismarck war zu lange Preuße gewesen, um die zugleich harte und bescheidene Staatsräson des preußischen Staates vergessen zu können, so daß deutsche Außenpolitik wesentlich preußische blieb, solange er regierte. Im Grunde hat er nur zwei Sachen gemacht, die aus dem traditionellen Rahmen preußischer Politik ganz heraustraten: die Annexion Elsaß-Lothringens, 1871, und die Errichtung deutscher Protektorate in Afrika 1884 bis 1885. Die Annexion Lothringens hat er im Grunde bedauert; damals gab er den Ratschlägen der Militärs und dem aufwallenden deutschen Nationalismus nach. Kolonien in Übersee interessierten ihn nicht und konnten ihn als Preußen nicht interessieren. „Das ist alles schön und gut", sagte er einmal zu einem deutschen Kolonialenthusiasten. „Aber“, auf eine Karte Europas weisend, „hier ist mein Afrika. Hier ist Frankreich, hier Deutschland, hier Rußland, das ist mein Afrika." Wenn er trotzdem nach dem wirklichen Afrika griff, so war das Gelegenheitspolitik, ein Schachzug gegen England, als er sich bot, nicht im letzten Ernst gezogen. Es gab nur ein fremdes Volk, das der preußische Machtpolitiker, wenn nötig mit Gewalt, innerhalb des preußischen Staatsverbandes halten wollte, und das war das polnische, und auch von dem polnischen nur ein kleiner Teil. Bismarck hatte immer betont, daß Preußen-Deutschland mehr polnische Untertanen gar nicht brauchen könne, jedoch erst recht nicht einen freien polnischen Nationalstaat; daß daher die Dinge bleiben müßten, wie sie seien, ein polnischer Volksteil preußisch, ein anderer österreichisch, der dritte, bei weitem zahlreichste aber russisch. Und daraus ergaben sich schon die Regeln und Ziele seiner mittel-und osteuropäischen Politik: Keine Nationalstaaten in Osteuropa, nur die bestehenden historischen Staaten; keine Hilfe für, keine Solidarität mit den Deutschen außerhalb der Reichsgrenzen, im österreichischen Kaiserreich, im russischen Baltikum; Solidarität stattdessen zwischen den Kaiserreichen und Kaiserhöfen, welche wieder nur möglich war, solange Österreich keine Abenteuer auf dem Balkan suchte und solange der russische Kaiserhof nicht von Nationalismus und Panslawismus fortgerissen wurde. Das war der Kern. Es war eine aus dem Grunde konservative Politik, die den Krieg, den europäischen Weltkrieg nun über alles fürchtete. „Bulgarien", sagte Bismarck 1888, „Bulgarien, dies kleine Ländchen zwischen Donau und Balkan ist überhaupt kein Gegenstand von genügender Größe, um daran die Konsequenz zu knüpfen, Europa von Moskau bis zu den Pyrenäen und von der Nordsee bis Palermo in einen Krieg zu stürzen, dessen Ausgang kein Mensch voraussagen kann; man würde am Ende eines solchen Krieges gar nicht wissen, warum man sich geschlagen hat.“ Der Reichstagsbericht verzeichnet allgemeine Heiterkeit bei diesen Worten, aber zur Heiterkeit war keine Ursache. Hier hat Bismarck schon die Situation von 1914 vorweggenommen. Daß es sich 1914 um Serbien handelte, nicht um Bulgarien, macht philosophisch gesehen keinen Unterschied. Dies also war der Kern seiner Politik. Er wußte um ihre zunehmende Gebrechlichkeit. Er wußte um die innere Bedrohtheit der Habsburburger Monarchie, die er zwar um einen hohen Preis zu erhalten wünschte, von der er aber ahnte, daß sie auf die Dauer nicht würde erhalten werden können; und was anders als permanente Revolution, fragte er, würde ihren Platz einnehmen können? Er wußte von der Gefahr eines immer wachsenden russischen und slawischen Nationalismus, die er verband mit der Gefahr der Roten Revolution, des Nihilismus oder Kommunismus, wie er es vage nannte; der würde der Nutznießer eines europäischen Weltkrieges sein. Er wußte auch von der wachsenden Dynamik des Deutschen Reiches, die sich mit seiner Politik der Saturiertheit, des Maßes und Friedens nicht immer begnügen würde. In diesem Sinne hatte Holstein wohl recht, wenn er meinte, daß selbst im Außenpolitischen die Zügel seiner Greisenhand allmählich entglitten. Die deutsche sogenannte Weltpolitik, die nach ihm begann, Unternehmungen wie der Schlachtflottenbau, von dessen Nützlichkeit Admiral Tirpitz den Alten vergebens zu überreden versuchte, wie die Bagdad-Bahn, wie die deutsche Einflußzone in China, wie der Streit um Marokko — sie waren ihm fremd, sie gehören einer Epoche an, die sein Geist nicht mehr durchdrang und gar nicht mehr zu verstehen wünschte.

Verstanden hätte er die Katastrophe von 1914 als ein Ereignis, das mit „Weltpolitik" im Grunde wenig zu tun hatte, als den immer gefürchteten Zusammenstoß zwischen Wien und Petersburg, den Krieg, dessen Hauptlast Deutschland würde tragen müssen. Und in diesem Krieg versank Bismarcks Welt für immer. Gerade durch die deutschen Siege im Osten, durch die Maßlosigkeit des Krieges und Siegens wurde der Rahmen seines Ordnungsdenkens zerbrochen. Als während des Krieges die deutschen Dynastien und Bundesstaaten bedeutungslos wurden und der König von Preußen lange vor seiner Abdankung ein ohnmächtiger und verachteter Mann war, als ein deutscher General, der nicht einmal dem Adel entstammte, eine kaum verschleierte Diktatur ausübte, als Deutschland einen polnischen Staat schuf, als er das russische Kaiserreich zerschlug, ihm riesige Gebiete abschnitt, die als Nationalstaaten konstituiert wurden und deutsche Protektorate sein sollten, als es Frieden mit der bolschewistischen Revolution schloß — da war es für immer zu Ende mit der europäischen Ordnung, die Bismarck verteidigt hatte, und wäre auch dann zu Ende gewesen, wenn Deutschland im Westen unbesiegt geblieben wäre, wenn die Vereinigten Staaten nicht interveniert hätten. An die letztere Möglichkeit hatte Bismarck nie im Traum gedacht, so wenig wie irgend jemand sonst vor 1915 oder 1916. Er hatte eine gewisse leicht humoristisch getönte Sympathie für Amerika. Der Ausspruch „Kinder, Betrunkene und die Vereinigten Staaten von Amerika haben einen Schutzengel“ stammt ja wohl von ihm; aber machtpolitisch trat Amerika so wenig in seinen Horizont wie China oder Japan. All dies ist nur zwanzig Jahre nach seinem Tod geschehen und vollendet worden.

In den Jahren der Weimarer Republik hat man den Ruf „Zurück zu Bismarck!" hören können, und es haben damals noch Historiker und Politiker gelebt, die ihn gekannt hatten und die ihn vergötterten. Wir können heute leicht sehen, daß es kein Zurück zu Bismarck gab. Damals sah man es nicht, weil die folgenschwersten Neuerungen der Weltkriegszeit, die amerikanische Intervention und die bolschewistische Revolution nicht richtig verstanden wurden und wohl nicht richtig verstanden werden konnten, angesichts der abermaligen amerikanischen und, zeitweise, der russischen Isolierungspolitik; so daß Europa noch einmal als Mittelpunkt und Machtzentrum der Erde galt, was es schon nicht mehr war, und das sinnleer gewordene Spiel der europäischen Nationalstaaten als souveräner, spröder Machtgebilde weiterging, so als ob gar nichts geschehen wäre. Berufsmäßige Verehrer Bismarcks, Männer, die ihn noch persönlich gekannt hatten, wie der Historiker Erich Marcks, sind dann auch in den dreißiger Jahren begeistert in das Lager Hitlers übergegangen, in dem sie den wahren Erben und Fortsetzer Bismarcks zu erkennen glaubten. Es war dies, um es milde auszudrücken, ein Mißverständnis. Der Mann des strengen Maßes und jener der äußersten Maßlosigkeit hatten nichts gemeinsam. Beinahe nichts. Hitlers Abenteuer hat dann, was der Erste Weltkrieg schon entschieden hatte, noch einmal entschieden, und diesmal endgültig, und hat so die Trennung von der historischen Welt Bismarcks noch schärfer und tiefer gemacht.

Ernst Jünger notiert einmal, der Erste Weltkrieg habe die europäische Monarchie zerstört, der Zweite den europäischen Nationalstaat. Bismarcks Welt war die Monarchie, die von der nationalen Bewegung bedroht war; er hatte die Versöhnung beider Prinzipien zustande gebracht, aber diese Versöhnung, ohnehin nur auf Kleindeutschland beschränkt, war nicht von Dauer.

Aus eigener Erfahrung wissen wir, wie schnell die Zeit arbeitet, wie ungeheuer die Welt von heute sich von der Welt von vor fünfzig Jahren unterscheidet. Die Zeit arbeitete im neunzehnten Jahrhundert nicht ganz so schnell wie heute, aber schon schnell genug; ein Mann, der achtundzwanzig Jahre regierte, mußte von ihr überholt werden. So ging es Bismarck. Als er in sein Amt berufen wurde, war er auf der Höhe des Lebens, seinen Mitmenschen sich weit überlegen fühlend, übermütig, angreiferisch und verwegen;

es machte ihm nichts aus mit Krieg zu spielen, auch nicht, wie er schrieb und wie er tat, mit Krieg und Revolution kombiniert. Er sei gleichgültig gegen alle Phrasen, meint er, so auch gegen revolutionär und konservativ. Später war er aber nicht mehr gleichgültig gegenüber diesen Begriffen, und mit Krieg zu spielen lag ihm auch gar nicht mehr, alt, erfahren, ruhmgesättigt, kränkelnd und übrigens für seine Person sehr wohlhabend, wie er jetzt war. Zum Schluß kam er den Jungen veraltet vor, ein lästiges Hindernis aus der Vorzeit, ein „alter Schwätzer", wie der Großherzog von Baden ihn nannte. Als er fiel, waren die meisten froh, ihn los zu sein; und zwanzig Jahre nach seinem Tod war von der Staatenordnung, die er aufgebaut hatte, nichts übrig. Ein Beispiel für den Weltlauf, dessen Gesetz auch die Stärksten nicht entgehen.

Aber eben da er und sein Werk uns jetzt so ferngerückt sind, so sind sie in der Vergangenheit aufgehoben; sie verändern sich nicht mehr, man kann sie ohne Vorurteil und Leidenschaft betrachten.

Fünfzehn Jahre bevor Bismarck geboren wurde, hat Friedrich von Gentz den europäischen Staatsmann, so wie er sein sollte, folgendermaßen beschrieben. „Eine ausgebreitete und gründliche Kenntnis der Verfassung, der Kräfte, der Gerechtsame und der Verhältnisse der Staaten; ein tiefes Studium des menschlichen Gemüts in seinen verborgensten Triebfedern; ein schneller und treffender Blick, der in dem oft unlöslich scheinenden Gewebe der wechselseitigen Pläne und Absichten und öffentlichen Schritte und geheimen Machinationen sogleich den wahren Lichtpunkt für das Urteil sowohl wie für die Entschließung faßt; die Gabe, das verwickeltste Geschäft, wo ein einziger falscher Schritt oft durch den Ruin der Nation bezahlt werden muß, zugleich mit der höchsten Festigkeit und mit der höchsten Gewandtheit zu behandeln — das sind die Eigenschaften des Staatsmannes in der höheren Bedeutung des Wortes. Wer eine solche Kunst wie ein unnützes Spiel-werk verachten kann, muß nie ihre Elemente gekannt und nie ihren Zweck begriffen haben." An einer anderen Stelle dieses Aufsatzes schreibt Gentz: „Die Entscheidung jeder kritischen Frage muß in einer Sphäre gesucht werden, die mit der rechtlichen nicht die entfernteste Gemeinsamkeit hat.“ Wenn das wahr ist — und es ist einmal und sehr lange Zeit wahr gewesen — und wenn dies die Beschreibung des idealen Staatsmannes ist, dann war Bismarck der ideale Staatsmann für seine Zeit, denn dies ungefähr ist seine Beschreibung. Er hat Politik immer für eine Kunst erklärt, für die man vor allem Talent haben mußte, und die man dann lernen konnte durch Übung und Erfahrung, nicht aber durch Theorie; in diesem Sinn hat er zu den Reichstagsabgeordneten oft mit Hochmut gesprochen:

sie verstünden das nicht, was er verstünde. Er hat diese seine Kunst allein auszuüben beansprucht und jede Einmischung der Techniker, zumal der militärischen, der Generale, in die innerste Sphäre hintanzuhalten gewußt, mitunter durch furchtbare Anstrengungen. Er hat immer unterschieden zwischen der Sphäre der Politik einerseits, der des Rechts und der Moral andererseits. Als die aufgeregte öffentliche Meinung in Deutschland nach Sedan die Bestrafung Napoleons III. forderte, hat er das schärfstens abgelehnt; man dürfe in der Politik nach nichts anderem fragen als nach dem, was dem Staate nützlich sei; diese Dinge könnten nicht mit dem Moralkodex in der Hand beurteilt werden. Er hat auch immer abgelehnt sich als Politiker für die Wohlfahrt der Bürger fremder Staaten zu interessieren. Einem deutschen Konsul, der aus Bulgarien entrüstete Berichte über die sozialen Zustände dort geliefert hatte, ließ er sagen, seine Entrüstung mache ihm menschlich Ehre, stehe aber seinem Amt nicht zu; Glück oder Unglück der Bulgaren seien durchaus kein Interesse des Deutschen Reiches. Nicht einmal das Glück der Deutschen außerhalb des Deutschen Reiches; über die Deutschen in den baltischen Provinzen hat Bismarck einmal zum russischen Botschafter Schuwalow gesagt: Ecrasez les toujours, mais ne les faites pas crier.

Er hat immer eine Verpflechtung wirtschaftlicher Interessen mit eigentlich politischen abgelehnt: Man könnte mit einer fremden Macht im Zollkrieg liegen und gleichzeitig eng mit ihr verbündet sein. Allenfalls konnte das, was er „wirtschaftliche Trinkgelder" nannte, kleine Konzessionen auf wirtschaftlichem Gebiet, dort gebraucht werden, wo man ernstere politische Konzessionen nicht machen wollte. In der Tat ist dies bis 1914 die Regel der europäischen Politik gewesen. Jene, die glauben, den Ersten Weltkrieg aus sogenannten „Wirtschaftsgründen" erklären zu können, sind uns den Beweis bis heute schuldig geblieben. Die europäischen Staaten waren einander die besten Abnehmer, zumal England und Deutschland, das hat sie aber nicht gehindert, politisch einander die schlimmsten Feinde zu werden. Selbst heute wird man übrigens die tiefsten Gründe des Gegensatzes zwischen Rußland und Amerika, China und Amerika, nicht in wirtschaftlichen Interessen finden. Wirtschaft vereint, Politik trennt; unsere europäische Wirtschaft blüht heute wie nie zuvor, weil es eine innereuropäische Macht-politik nicht mehr gibt.

Kein Theoretiker, kein Philantrop, kein Jurist, kein Moralist; ein Politiker und nur dies; kein Philosoph, obgleich er gescheiter war als viele Philosophen. Als 1866 der Bürgermeister der hannoverschen Stadt Osnabrück von ihm wissen wollte, ob die Annexion Hannovers durch Preußen nun eigentlich eine Realunion bedeute oder eine bloße Personalunion der beiden Staaten, antwortete er: „Uns an das Konkrete haltend und Zwecke verfolgend, nicht Theorien realisierend, legen wir auf die noch nicht einmal von der Wissenschaft zu allgemein recipierten Definitionen herausgearbeitete Unterscheidung zwischen Personalunion und Realunion keinen Wert.“ Das war gelehrt ausgedrückt, zum Referendar hatte er es ja immerhin gebracht. Was er meinte, war: Wir sind keine Juristen, sondern Politiker. Er konnte es auch derber sagen: auf plattdeutsch: da lach ik över; auf lateinisch: nescio quid mihi magis farcimentum esset. (Farcimentum heißt Wurst.)

Realpolitik war das allerdings, sachliche Politik, das Gegenteil von gedanklich oder idealistisch bestimmter; genau das, was die Angelsachsen matter-of-factness nennen. Aber es war nicht zynische, nicht ruchlose Politik; wiewohl ihre Formulierungen manchmal zynisch klangen. Bismarck war ein großer Literat auf seine Art und liebte, zumal im Gespräch, die verblüffenden Formulierungen. Im Grunde — darin stimmen wohl alle, die sein Werk kennen, heute überein — war er ein ernster, frommer Mann, schwer an seiner Verantwortung tragend. Und es gab das, was er die Imponderabilien nannte: Dinge, die man auch in der Außenpolitik nicht tun darf, nicht weil das Völkerrecht sie verböte — gar zu ernst nahm Bismarck das geschriebene Völkerrecht nicht —, sondern weil sie gegen ungeschriebene Gesetze, gegen den Instinkt der Menschen, vielleicht gegen einen höheren Willen verstießen. Undankbarkeit, Großsprecherei, Kapriziosität, Betrug, Maßlosigkeit und wieder Maßlosigkeit — dies waren die zu vermeidenden Sünden. Ihre Folgen ließen sich nicht messen wie militärische Kräfte, konnten aber gleichwohl entscheidend sein. Wenn Bismarck um 1866 der suspekteste, verhaßteste Politiker Europas war, um 1880 aber der, der die stärkste Autorität und allgemeines Vertrauen genoß, so durfte er es nicht zuletzt dem zuschreiben, daß er die Bedeutung der Imponderabilien zu schätzen gelernt hatte und daß er sich jetzt praktisch daran hielt.

Wir dürfen ihn nicht idealisieren. Gar zu viele Stimmen sagen dasselbe über ihn: Stimmen scharfblickender Zeitgenossen, die ihn aus der Ferne beobachteten, Stimmen naher Freunde — soweit er Freunde überhaupt hatte —, die Tür an Tür mit ihm lebten. Sie sagen, daß er ein großer Mann mit kleinen Eigenschaften gewesen sei, oder ein Genie und gleichzeitig ein kleiner Charakter. Und wenn seine kleinlichen, häßlichen Eigenschaften um ihn herum einen Hof von brutalen Strebern, von Duckmäusern und Intriganten entstehen ließen, wenn sie die ganze Atmosphäre der deutschen inneren Politik vergifteten, so ist es unmöglich, daß sie sich nicht auch im Äußeren sollten ausgewirkt haben.

Man hat Bismarck mit Winston Churchill verglichen, und daran mag etwas sein. Beide waren sie Künstler, große Schriftsteller in der Politik, beide, zumal in der Jugend, auch Abenteurer, mit Freude am Spiel und Wagnis. Aber Churchill eignet ein schöner Zug, der Bismarck fehlte: Edelmut. Eine Geste wie die, dem Feldmarschall Rommel mitten im Kriege seine Bewunderung auszusprechen, das war nicht Bismarcks Sache; wenn Churchill bei dem Prozeß des Generals von Manstein Geld für die Verteidigung beisteuerte, so hätte Bismarck das nimmermehr getan; Geld herzugeben lag ihm überhaupt nicht, am wenigsten für einen geschlagenen Feind. Er war ohne Mitleid, er hatte wenig Liebe, aber viel Haß.

Ich nenne Ihnen drei Zeugnisse. Zwei davon sind unlängst zum erstenmal im Druck erschienen, die Aufzeichnungen des Geheimrats von Holstein, und die Tagebücher der Baronin Spitzenberg, geb. Varnbüler. Das dritte ist altbekannt: die Briefe Theodor Fontanes. Fontane war ein glühender Bewunderer Bismarcks gewesen, er hat die schönen Gedichte „Jung-Bismarck“ und „Wo Bismarck ruhen soll“ gemacht. Aber gleich nach der Entlassung konnte er schreiben: „Die Welt hat selten ein größeres Genie gesehen, selten einen mutigeren und charaktervolleren Mann und selten einen größeren Humoristen. Aber eines war ihm versagt geblieben: Edelmut. Das Gegenteil davon, das zuletzt die häßlichste Form kleinlichster Gehässigkeit annahm, zieht sich durch sein Leben ... Es ist ein Glück, daß wir ihn los sind.“ Fontanes spätere Urteile sind noch bedeutend schärfer.

Die Beobachtungen Geheimrat Holsteins, der selber ein intriganter, verklatschter Diplomat war, wird man an sich nicht unbesehen annehmen; wenn er etwa behauptet, Bismarck sei Morphinist gewesen, so können wir aus anderen Quellen dies Gerücht auf einen sehr bescheidenen Wahrheitskern reduzieren; wenn er meint, der Kanzler sei ein wirkungssüchtiger Schauspieler, der seine buschigen Augenbrauen künstlich in die Höhe streiche, um sie noch formidabler erscheinen zu lassen, so mag man solche und andere skurrile Notizen nicht weiter ernstnehmen. Aber das, was Holstein wieder und wieder über Bismarcks Verhältnis zu seinen Mitmenschen sagt, seine Menschenverachtung, die er selber seinen Pessimismus nennt, die kalte Zweckhaftigkeit, die Freunde und Mitarbeiter wie Messer und Gabel gebraucht, immer bereit, sie für den nächsten Gang auszuwechseln, die Freudlosigkeit seines Daseins, die Boshaftigkeit auf Kosten anderer als wesentlichste Quelle von Spaß und Heiterkeit — all das ist offenbar wahr und von geschichtlicher, nicht nur psychologischer Bedeutung. In Bismarcks Memoiren, in seinen persönlichen Briefen jagen sich die boshaften Urteile. Schlagen wir die . Gedanken und Erinnerungen'irgendwo auf. Da heißt es etwa über einen gewissen Herm von Heyden, der einen Einfluß auf die sozialen Ideen des jungen Kaisers gehabt haben soll: „ ...der Maler von Heyden, ein sich leicht bewegender Gesellschaftsmann, der, vor dreißig Jahren Bergwerksbeamter eines schlesischen Magnaten, heut in den bergmännischen Fachkreisen für einen Maler und in den künstlerischen für einen Bergmann gilt. Derselbe hatte, wie uns mitgeteilt wurde, seinen Einfluß bei dem Kaiser weniger auf sein eigenes Urteil als auf seinen Verkehr mit einem alten Arbeiter aus dem Wedding begründet, welchen er als Modell für Bettler und Propheten benutzte, und aus dessen Unterhaltung er zugleich Material für legislatorische Anregungen an höchster Stelle schöpfte.“ Oder über die Großherzogin von Baden, die nach Berlin geeilt war, um ihren kranken Vater, den alten Kaiser zu pflegen: „Nun war zwar die Pflege, welche der Kaiser von seiner Frau Tochter genoß, dem Patienten kein Bedürfnis, sondern eine Kundgebung kindlicher Liebe, welche er mit ritterlicher Höflichkeit über sich ergehen ließ." Dergleichen ironische Bosheiten drängen sich buchstäblich in seinen Schriften; aber Ausdrücke der Bewunderung, des Dankes, des bejahenden Lobes wird man auf hundert Seiten kaum einen finden. (Nicht, daß sie vollständig fehlten.)

Die Württembergerin, Frau von Spitzenberg, gestorben 1914, war durch Jahrzehnte Bismarcks nahe Freundin, sie liebte ihn, bewunderte ihn, diese Freundschaft war der Stolz ihres langen Lebens. Sie zeichnete alles Liebenswürdige auf, was sie finden konnte: seine Freude an der Natur, wie gut er zu Tieren und Bäumen sein konnte, wie er Pferde und Hunde im Himmel wieder zu treffen hoffte, seine einfache Frömmigkeit. Aber selbst diese Tagebuchschreiberin notierte sich beim Sturz Bismarcks: „Habe ich von jeher darunter gelitten, daß meinem mächtigen Freunde so viel Kleines und Kleinliches anhaftete, so stehe ich tief erschüttert vor der Tatsache, daß an diesem Meister und Werk zugrunde zu gehen drohen. Leider ist ja nicht zu leugnen, daß seit Jahren im Inneren ein furchtbarer Marasmus eingerissen war: eine Reihe der notwendigsten Gesetze fiel einfach unter den Tisch, weil sie dem Fürsten für seine privaten Gutsinteressen nicht paßten... Was nun die Familie betrifft, so bricht über sie nicht ungerecht die Nemesis herein für die Brutalität und Unbarmherzigkeit, mit der sie viele Menschen, Groß und Klein, in den Staub getreten.. Von dem Despotismus, dem Mißtrauen, der wachsenden Unnahbarkeit Bismarcks ist vorher oft die Rede.

Dergleichen ist nicht nur psychologisch interessant. Es ist von historischer Bedeutung, weil das Deutsche Reich, in der Form, in der es zwischen 1866 und 1871 entstand, und in der es bis 1890, 1918, 1933 existierte, zu einem großen Teil das Kunstwerk Bismarcks war —, ohne ihn wäre es wohl auch, aber anders, und niemand weiß wie entstanden —, und weil vom Wesen des Künstlers etwas in das Kunstwerk eingegangen sein muß. Bismarck war ein Mann ohne Hoffnung. Seit 1871 gab er seinen Mitbürgern keinen Ausblick, kein Zukunfts-und Leitbild mehr. Er glaubte nicht an Ideen, an Ismen; nur an wirkliche Kräfte und Interessen. Mit denen ging er um, wie sie an ihn herankamen, unterdrückte sie, schloß Zweckbündnisse mit ihnen, wenn er merkte, daß sie zum Unterdrücken zu stark geworden waren, und schwächte und korrumpierte sie, während er mit ihnen verbündet war.

Nun liegt in jeder politischen Grundhaltung eine Gefahr, liegen in jeder gute und schlechte Möglichkeiten. Im Idealismus liegt die Gefahr der Schwäche, der Weltunkenntnis, des Betrogenwerdens und sich selbst Betrügens, wie im Falle Präsident Wilsons; die Gefahr der hohlen Rhetorik, des bloßen Gefuchtels; liegt die Gefahr der blutdürstigen Grausamkeit, dort, wo Idealismus sich mit Fanatismus verbündet. Im Idealismus ist das Gute, daß er den Menschen Hoffnung bietet, daß er mit dem Wirklichen nicht zufrieden ist, sondern es mit dem Besseren vergleicht, was sein sollte, daß er einen hohen Begriff vom Menschen, seiner Aufgabe und seiner Zukunft hat. In der harten Sachlichkeit liegt der Vorzug des Praktischen, des Ernsten; sie hat keine Zeit für Wortstreitigkeiten, begriffliche Haarspaltereien; sie verspricht nicht das vollkommen Gute, weil sie es doch nicht erfüllen könnte, macht keine hohlen Hoffnungen, aber sie verhindert manches Üble, Ausschweifende. Ihre Gefahr ist, daß sie abgleitet in Hoffnungslosigkeit, in stumpfe Routine, in Zynismus und in Korruption. In Bismarcks Werk finden sich diese Vorzüge — und finden sich, zumal in der Spätzeit, auch diese Gefahren. Am Ende aber sind wir nicht frei zu wählen und zu sagen: er hätte diese gewaltigen Gaben haben sollen, aber nicht die Neigungen, die mit ihnen verbunden waren. So ist unsere Welt nicht ge-macht, daß einer nur die guten schöpferischen Seiten seines Wesens haben hönnte, und die weniger guten nicht.

Ich habe die Beschreibung des vollkommenen Staatsmannes aus der Feder Friedrichs von Gentz zitiert. Sicher wäre es gut. wenn wir so eisern beherrschte und entschlußkräftige, so maßvolle und weltkluge Herren heute hätten. Aber es wäre heute nicht mehr genug; während es 1800 und noch 1870 durchaus genügte. Und dies aus einem sehr einfachen Grund. In der erwähnten Schrift nimmt Gentz es als unvermeidlich an, daß hin und wieder Kriege sein werden. Das Projekt eines Völkerbundes für den ewigen Frieden hält er für eines, das sich selber widerspricht; auch seien Kriege gar nicht das größte Übel, sie regelten und kanalisierten das, was an Gewalttätigkeit nun einmal im Menschen angelegt ist; „ohne den Krieg" schreibt Gentz „gäbe es keinen Frieden auf Erden". Das Beste, was zu erreichen ist, ist ein System des Gleichgewichts; und dies muß und wird hin und wieder zusammenbrechen und kann dann nur mit Waffen wieder hergestellt werden. Das war in der Vergangenheit immer so, solange es Staaten gibt, und war auch zu Bismarcks Zeiten noch so, und in dies System paßte er als ein Meister hinein. Schon in seiner Spätzeit war es nicht mehr ganz so, schon damals wurde klar und wurde besonders ihm klar, daß ein kommender Krieg die begrenzte, die vergleichsweise erträgliche Sache nicht mehr sein würde, die frühere Kriege gewesen waren; daher seine ängstliche, pessimistische Vorsicht in den achtziger Jahren. Heute, so sagt man uns, haben auch die russischen Anführer die veränderte Situation verstanden. Das gibt uns durchaus keine Garantie; irgend eine Raserei, eine Fehlkalkulation, ein Nervenzusammenbruch kann die Katastrophe jederzeit herbeiführen. Daß aber Krieg das nicht mehr ist, was er zu Bismarcks Zeiten noch war, ein kühlen Mutes zu Erwartendes, ein nur Aufzuschiebendes, ein in seiner Möglichkeit sogar Unentbehrliches, die ultima ratio der Könige — das wenigstens wissen wir jetzt mit Bestimmtheit. Und damit werden alle die großen Eigenschaften des Staatsmannes, die ehedem genügten, ungenügend. Es gibt die völlige Unabhängigkeit nicht mehr, die der Staatsmann von Bismarcks Schlag dem Staate zu sichern gedachte, die Souveränität selber nicht mehr. Es gibt die Gleichgültigkeit gegenüber der Wohlfahrt anderer Völker nicht mehr, eben wieder weil es die spröde Einsamkeit des einzelnen Staates, der einzelnen Nation nicht mehr gibt. Eine Idee wie die der sogenannten Entwicklungshilfe wäre Bismarck unverständlich gewesen; die Idee einer menschlichen Solidarität überhaupt, Einheit und einheitliche Bedrohtheit des Menschenschicksals — von alledem wußte er nichts. Starken Sinn besaß er für eine würdige, angesehene Existenz der deutschen Nation unter anderen Nationen; aber solche Würde verband in seinem Geist sich inniger mit der Macht des Staates als mit Wohlfahrt und Glück des einzelnen. Die Macht des Staates wieder wurde ihm durch Monarchie, Adel und Heer, durch eine herrschende Kaste repräsentiert. Man könnte in diesem Sinne sagen, daß wir heutzutage in Europa und Amerika konkreter denken als Bismarck und seine Zeitgenossen; denn die Macht und Glorie des Staates als eines unpersönlichen Abstraktums bewegt uns nicht mehr sehr. Ziel moderner Politik ist die wirkliche Wohlfahrt, die Möglichkeit zur Selbstverwirklichung einzelner, lebender Menschen. Bismarck hat vor allem staatlich, nicht sozial, gedacht und gefühlt.

Schranken nicht seines Genius, sondern Bestimmtheit seiner Zeit, die anders bestimmt war als die unsere, obgleich die unsere allmählich aus ihr gekommen ist. Es hat keinen Sinn, sic’: den Menschen in einer anderen Zeit vorzustellen, als in der, in der er lebte. Zeit und Individuum gehören zusammen. In dieser hat er geblüht, dieser hat er genügt, gegen diesen zeitlichen Hintergrund gesehen bleibt er groß und lebendig.

Fussnoten

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