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Die deutsche Sozialdemokratie nach 1945 | APuZ 21/1963 | bpb.de

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APuZ 21/1963 Artikel 1 Die politische Arbeiterbewegung Deutschlands 1863-1914') Die deutsche politische Arbeiterbewegung von 1914 bis 1945 Die deutsche Sozialdemokratie nach 1945

Die deutsche Sozialdemokratie nach 1945

Ulrich Dübber

Das Ende des Hitlerregimes hätte für die deutschen Sozialisten ein Anlaß zur Freude, zu Triumph und Genugtuung sein dürfen. Aber die „hellere Zukunft", die Otto Wels in seiner Rede am Tag des Ermächtigungsgesetzes beschworen hatte, war wüst und finster. Nicht nur das Regime war vernichtet, zerstört war das Reich. Noch während die nationalsozialistische Herrschaft andauerte und Goebbels in der Reichshauptstadt am Vorabend von Hitlers Geburtstag seine letzte Rundfunkrede hielt, versammelte an diesem 19. April 1945 im von den Amerikanern besetzten Hannover der ehemalige Reichstagsabgeordnete der SPD Dr. Kurt Schumacher zum ersten Male wieder alle Parteifreunde um sich. Keiner von ihnen ließ einen Zweifel daran, daß die alte Partei wieder zu gründen sei. Am 30. April hielten sie in der Fröbelschule in Hannover die erste Funktionärskonferenz ab. Ohne erst eine offizielle Zulassung durch die Besatzungsbehörde abzuwarten, war die SPD wieder da, am selben Tage, an dem sich Hitler in seinem Bunker in Berlin erschoß.

Der Vorgang der Wiedergründung in Hannover konnte natürlich im damaligen Zeitpunkt nicht als repräsentativ für die gesamte Sozialdemokratie gewertet werden, gab es doch analoge Tatbestände überall in Deutschland. Von der Person Schumachers her aber war das Geschehen in Hannover — was später die Geschichte beweisen wird — der bewußte Ansatz zur Wiederherstellung der alten SPD, die im Frühjahr 1933 von den Nationalsozialisten verboten worden war und sich in Rudimenten mit ihrer organisatorischen Spitze die zwölf Jahre am Leben gehalten hatte. Der April 1945 in Hannover war zugleich der Griff Schumachers nach der Führung.

Die Haltung der vier alliierten Besatzungsmächte zur Gründung deutscher Parteien war uneinheitlich. Für die Westmächte überraschend, prellten im Juni 1945 in Berlin die Russen vor, die vier Parteien zuließen (KPD, SPD, CDU und LDP). In den drei Westzonen gab es Parteigründungen zunächst nur auf örtlicher Ebene, in der französischen Zone sogar erst ab Frühjahr 1946. Die Berliner Gründung vom 15. Juni 1945 nahm von Beginn an für sich in Anspruch, für ganz Deutschland die SPD wiederherzustellen. Ein „Zentralausschuß der SPD" unter der Führung von Max Fechner, Erich Gniffke und Otto Grotewohl bildete sich, von denen der letztere — bis 1933 SPD-Landesvorsitzender und Justizminister in Braunschweig — der prominenteste war. Das Echo dieses Aufrufs war außerordentlich stark. 1 500 frühere Funktionäre versammelten sich schon am 17. Juni 1945 zur ersten Kundgebung im „Deutschen Hof" in der Luckauer Straße in Berlin-Kreuzberg. Im September zählte die Berliner Organisation 70 000 Mitglieder.

Der Berliner Zentralausschuß war zugleich das Führungsorgan der SPD in der sowjetisch besetzten Zone, in der ebenfalls Verbände der Partei entstanden waren. Sein Mandat beanspruchte er bis zur Wahl einer endgültigen Parteileitung auf einem Reichsparteitag unter Beteiligung aller vier Zonen. Nicht ohne Mitwirkung der sowjetischen Besatzungsmacht kam in Berlin frühzeitig eine Art Arbeitsgemeinschaft zwischen SPD und KPD zustande, die allerdings wenig politische Bedeutung erhielt, weil sich alle vier Parteien zu einem „Antifaschistischen Block“ zusammenschlossen.

Innerhalb der SPD jedoch gab es beachtliche Tendenzen, die Zusammenarbeit mit der KPD so eng zu gestalten, daß eine Vereinigung beider Parteien daraus würde. Die Erfahrungen des Kampfes gegen die NSDAP vor 1933 und das gemeinsame Leiden unter der Hitler-Herrschaft waren Motive, die Spaltung der Arbeiterbewegung zu beenden. Ein Versuch Gustav Dahrendorfs, eines der Vorsitzenden im Zentralausschuß, mit Walter Ulbricht über eine Verschmelzung zu verhandeln, scheiterte an diesem Die KPD glaubte sich selber stark genug, im Zuge der demokratischen Neuordnung Deutschlands die führende Partei zu werden. Diese Politik lag zu dem Zeitpunkt zweifellos auf der Linie der Sowjetunion, die ja auch mit der Zulassung jener vier Parteien eine ganz genau umrissene Vorstellung vom Nach-Hitler-Deutschland hatte. Sie achtete freilich in Berlin darauf, die Zentralen aller vier Parteien in ihrem Besatzungssektor zu wissen und sorgte für einen Umzug des SPD-Zentralausschusses noch kurz vor dem Einrücken der Engländer vom Bezirk Tiergarten in den Bezirk Mitte.

Neben Berlin und Hannover existierte noch ein drittes Zentrum der SPD, der Exilvorstand in London. Zunächst in Prag, dann in Paris, war der Parteivorstand während des Krieges in England politisch tätig geblieben, zuletzt — von Mitarbeitern abgesehen — nur noch durch zwei Personen verkörpert: den 1932 gewählten stellvertretenden Vorsitzenden Hans Vogel und den Vorsitzenden der Sozialistischen Arbeiterjugend Erich Ollenhauer. Sofort nach Kriegsende versuchten die „Londoner“ nach Deutschland zurückzukehren, stießen damit aber auf Widerstände bei der britischen Regierung. Erst im Oktober konnten sie nach Deutschland reisen. Sie betrachteten sich als den einzigen legalen Vorstand der SPD, waren aber bereit, ihr Mandat so bald wie möglich an eine repräsentative Parteikonferenz zurückzugeben.

Vom 5. bis 7. Oktober 1945 kam es in Wennigsen bei Hannover zu einer ersten Begegnung zwischen den drei Führungsgruppen unter Beteiligung von Delegierten aus der britischen und der amerikanischen Zone. Die Vertreter des Exil-Vorstands erkannten an, daß die Führung der Partei an jene fallen sollte, die den Nationalsozialismus innerhalb Deutschlands erlebt hatten; aber zwischen Gfotewohl als dem Vorsitzenden des Berliner Zentralausschusses und dem Vorsitzenden des SPD-Ortsvereins Hannover — das war er damals — Schumacher kam es zu keiner Einigung. Man schied mit der Übereinkunft, daß Grotewohl weiterhin für die sowjetische, Schumacher für die drei westlichen Zonen sprechen sollte, und versprach, in Verbindung zu bleiben. Ein künftiger Gesamtparteitag sollte dann über die Führung entscheiden. Bis dahin firmierte die Spitze in Hannover unter dem unscheinbaren Namen „Büro Dr. Schumacher".

Es ist offensichtlich, daß formal die Position Schumachers die schwächste von den drei rivalisierenden Gruppen war. Wohl strahlte der einarmige Kriegsinvalide von 1914, der zehn der zwölf Hitler-Jahre im Konzentrationslager verbracht hatte, große Autorität aus, aber er war in dieser so häufig auf Anciennität bedachten Partei nur einer von noch vielen lebenden Reichstagsabgeordneten und einer der jüngsten zudem. Seinen so ungewöhnlichen Weg an die Spitze der Partei dürfte er neben seinem Charisma vor allem der Tatsache verdankt haben, daß er als wohl einziger mit unerbittlicher Klarheit die kommende politische Entwicklung Deutschlands voraussah. Während es an mancherlei Orten in der neu entstehenden Partei zu Verbrüderungen mit den Kommunisten kam, die sich ja jetzt zur parlamentarischen Demokratie bekannten, lehnte Schumacher alle diese Versuche rigoros ab, und er bestritt dem Berliner Zentralausschuß vor allem das Mandat für die Gesamt-SPD, weil er ihn unter sowjetischer Observanz für keiner unabhängigen Politik fähig hielt. Er nahm dafür die Gefahr der räumlichen Spaltung der Partei in Kauf, die ja in der Tat die erste organisatorische Ausprägung der späteren Trennung Deutschlands war. Es gab zwei deutsche sozialdemokratische Parteien, bevor es zweierlei Deutschland gab.

Die Zwangsvereinigung 1946 Die Ereignisse sollten Schumacher recht geben.

Nachdem die österreichischen Wahlen im November 1945 der KPÖ knappe vier Prozent Stimmen gebracht hatten, änderte Moskau die Generallinie. In der deutschen Sowjetzone begannen die Kommunisten unter der massiven Hilfe der Besatzungsmacht eine Agitation für die Vereinigung der beiden Arbeiterparteien, nachdem sie zunächst im Sommer sozialdemokratische Fühler zurückgewiesen hatten. Anfängliche Erfolge der KPD in Mitteldeutsch-land konnten nicht darüber hinwegtäuschen, daß die Bevölkerung angesichts der brutalen Besatzungspolitik die Kommunisten mit den Sowjets identifizierte. Mehr und mehr wurde deutlich, welche Partei bei bevorstehenden Wahlen die meisten Stimmen erringen würde;

die Mitgliedschaft der SPD in der Sowjetzone erreichte Ende 1945 die Zahl von 376 000, die sich nun, unter dem beginnenden Druck zur Vereinigung, sogar noch erhöhte und Ende Februar 1946 auf 605 300 kletterte. Im Zentralausschuß waren die Meinungen geteilt.

Grotewohl war zunächst ablehnend, er hatte schon in Wennigsen eine taktische Linie vorgetragen, die die SPD zwar selbständig erhalten, der KPD dennoch gegenüber kein Nein äußern wollte. Schumacher hatte demgegenüber von ihm notfalls die Auflösung der Partei gefordert, was Grotewohl ablehnte.

Am 15. Januar 1946 sprach sich der Zentralausschuß für eine Verschmelzung mit der KPD aus. Schumacher reagierte mit der Feststellung, daß nur ein Reichsparteitag befugt sei, über diese Frage zu entscheiden. In den Städten und Dörfern der Söwjetzone setzten die Sowjets die örtlichen SPD-Funktionäre unter Druck und erzeugten so die „spontane" Welle von Vereinigungswünschen, die die Handlungsfreiheit des Zentralausschusses mehr und mehr einengte. Schumacher fuhr nach Berlin und sprach mit Grotewohl — aber vergeblich. Am 22. Februar 1946 schrieb die „Deutsche Volkszeitung“ der KPD über ihn: „Feinde der Arbeiterklasse landen auf dem Schindanger der Geschichte. Feinde der Arbeiterklasse, die in deren Namen auftreten, nehmen den Pest-geruch des Verräters auf den Schindanger mit."

Schumachers Besuch hatte besonderen Eindruck bei den Berliner Sozialdemokraten hinterlassen, die im westlichen Teil der Stadt nicht der sowjetischen Pression ausgesetzt waren und ihrer ablehnenden Ansicht über die bevorstehende Vereinigung mit den Kommunisten freimütig Ausdruck gaben. Die Frage für sie freilich war, ob sie, eine sehr kleine Minderheit innerhalb der Zonen-SPD, in einem Teil der Stadt selbständig würden existieren können, waren doch sämtliche anderen Parteien Berlins zu der Zeit organisatorisch an die Zonenverbände angeschlossen. Eine SPD auf zwei Dritteln des Territoriums einer Stadt mußte als unsinnig erscheinen. Schumachers Besuch nun machte den Berliner Sozialdemokraten klar, daß sie in ihrem Widerstand die Unterstützung der SPD in den Westzonen hatten. In einer Funktionärskonferenz am 1. März 1946 verlangten die Opponenten vom Zentralausschuß eine Urabstimmung aller SPD-Mitglieder über die Frage der Verschmelzung. Der von Franz Neumann, dem Kreisvorsitzenden von Berlin-Reinickendorf, begründete Antrag wurde mit Zweidrittelmehrheit angenommen. Schumachers Reaktion auf diesen Erfolg war sofort positiv, er erklärte in Flamburg zu Journalisten: „Der Wille fast aller Mitglieder der SPD in der russischen Zone geht dahin, eine unabhängige und selbständige Sozialdemokratische Partei zu erhalten. Es handelt sich nämlich nicht um die Verschmelzung der Sozialdemokratischen mit der Kommunistischen Partei, sondern um die kommandierte Eroberung der SPD. Würde sie gelingen, dann wäre damit nur der erste Schritt auf einem Wege getan, der zu einer Einheitspartei — vielleicht auf dem Umweg über die Einheitsliste — bei kommenden Wahlen führen würde. Das wäre der Tod der Demokratie im Osten, und für die Ideale der Demokratie ist doch von Seiten des Westens schließlich der Krieg geführt worden. In Berlin jedenfalls wird sich die SPD als selbständiger Faktor erhalten, und der Zusammenhang der Menschen, die aus freier Erkenntnis und eigenem Willen Sozialdemokraten sein wollen, ist nirgends zu zerstören."

Berlin stimmt dagegen Am 31. März 1946 fand in Berlin die Urabstimmung statt; sie wurde von den Sowjets in ihrem Besatzungsbereich verboten. 82 Prozent der Teilnehmer erklärten sich in geheimer Abstimmung gegen die Vereinigung mit der KPD. Der Zentralausschuß erkannte das Ergebnis nicht an, aber die Opposition berief die Delegierten der Berliner Kreisverbände zu einem Parteitag in die Zinnowwaldschule nach Zehlendorf ein, wo ein neuer Vorstand gegen den Zentralausschuß gewählt wurde.

Vorsitzender der neuen Berliner SPD wurde Franz Neumann. Der Zentralausschuß indessen ließ am 20. April den Zonenparteitag der SPD im Berliner Sowjetsektor die Vereinigung mit der KPD beschließen, die sich formell am 22. April 1946 mit dem berühmten Händedruck der beiden neuen gleichberechtigten Vorsitzenden Pieck und Grotewohl im Admirals-palast als Sozialistische Einheitspartei Deutschlands (SED) konstituierte. Stellvertretende Vorsitzende wurden Ulbricht und Fechner. Eine Epoche in der Arbeiterbewegung Mittel-deutschlands war abgeschlossen. Nicht einmal ein Jahr nach dem Wiederentstehen der SPD nach zwölfjährigem Verbot war die Partei aufs neue unterdrückt. Mehrere tausend SPD-Funktionäre in der sowjetischen Zone, die sich der Vereinigungskampagne widersetzt hatten, waren von den Besatzungsbehörden eingesperrt worden; viele von ihnen kamen in den von den Sowjets übernommenen NS-Konzentrationslagern Sachsenhausen und Buchenwald um. andere wurden erst nach Jahren wieder freigelassen. Nur im westlichen Teil Berlins existierte noch eine Sozialdemokratische Partei. Noch war Berlin eine Verwaltungseinheit mit einem kommunistischen, von den Russen im Mai 1945 eingesetzten Magistrat zwar, aber doch unter einer leidlich funktionierenden Vier-Mächte-Aufsicht. Da Parteien eine alliierte Zulassung benötigten, kam folgender Kompromiß zustande: Die drei Westmächte lizenzierten für ihr Territorium die neue SED, die Sowjets im Austausch dafür die „neue" SPD. Damit war für Mitteldeutschland zwar die Konkurrentin SPD ausgeschaltet, die mit großem Pomp aber ins Bild gesetzte „Aussöhnung" der getrennten Arbeiterklasse, die ja auch nach Westdeutschland ausstrahlen sollte, um ihre Wirkung gebracht. Im Berliner Sowjetsektor existierten forthin zwei Arbeiterparteien, von denen nur die eine, die KPD, ihren Namen gewechselt hatte. Die Verbrüderung war als billiger Trick entlarvt. Mit dem Aufstand der Berliner Sozialdemokraten gegen eine von der östlichen Besatzungsmacht geforderte Politik war mehr als ein lokales Vorhaben vereitelt worden. Die kommunistische Politik war im westlichen Teil Deutschlands eines Vehikels beraubt worden, mit dem sie angesichts des Hungers und des staatlichen Chaos große Teile der Arbeiterschaft auf ihre Seite hätte ziehen und damit den östlichen Machtbereich hätte ausdehnen können. Sie blieb fortan auf den Teil des Landes beschränkt, in dem ihr die aktive Hilfe der Besatzungsmacht zu Gebote stand.

Die ersten Wahlen Unterdessen kam es in den westlichen Zonen zu den ersten Wahlen, zunächst auf Gemeinde-, dann auf Kreisebene. In der amerikanischen Zone stimmten bei den Kommunalwahlen am 27. Januar 1946 für die CDU 37, 9, für die SPD 25, 1, für die KPD 3, 5 und für die DVP 3, 1 Prozent. Unabhängige Kandidaten erhielten 31 Prozent. Im Mai 1946 wählte der erste Parteitag der Westzonen in Hannover Schumacher zum Vorsitzenden und Ollenhauer zu seinem Stellvertreter. In der britischen Zone erbrachten die ersten Gemeindewahlen im September 1946 für die CDU 34, 7, für die SPD 33, 4, für die FDP 3, 7, die KPD 7, 7 Prozent. In der französischen Zone war das Ergebnis nicht viel anders. Die gespannteste Aufmerksamkeit aber richtete sich auf Berlin, das als letzter Teil des Landes wählte. Hier mußte sich zeigen, ob die Zwangsvereinigung von SPD und KPD von Erfolg gekrönt würde. Aber das Ergebnis war für die Sowjets enttäuschend. Am 20. Oktober 1946 erhielten bei den Wahlen zur Berliner Stadtverordnetenversammlung die SPD 48, 7, die CDU 22, 1, die SED 19, 8 und die LDP 9, 4 Prozent der Stimmen. Selbst in den acht Bezirken des sowjetischen Sektors, in denen zwar auch frei und geheim gewählt worden war, die Besatzungsmacht aber ihre SED materiell in der Propaganda gewaltig unterstützt hatte, erhielt die SED nur 29, die SPD dagegen 43 Prozent.

Die sich bei den Kommunalwahlen abzeichnenden Ergebnisse von 1946 wurden bei den nun Zug um Zug folgenden Wahlen zu den Landtagen und verfassunggebenden Versammlungen der drei Westzonen nicht mehr nennenswert verändert. Eine Zusammenfassung aller dieser einzelnen Ergebnisse zeigt einen Anteil der SPD von 36 Prozent. Das war, gemessen an den letzten Ergebnissen der Weimarer Zeit, ein bedeutender Anteil, genauer betrachtet aber auch nur die ungefähre Addition der letzten SPD-und KPD-Stimmen. Aber das schmälert das Verdienst des Abwehrkampfes von 1946 nicht, der ja auch in Ansätzen in den Westzonen geführt worden war, denn fortan gab es in diesem Teil Deutschlands keine radikale Linke mehr, die zur damaligen Zeit z. B. von den Besatzungsmächten durchaus noch als demokratische Alternative empfunden wurde und in einigen Landesregierungen Minister hatte.

Die SPD im Wirtschaftsrat Währenddessen war noch Unsicherheit das Kennzeichen der westlichen Besatzungspolitik. In Potsdam war im August 1945 die Errichtung zentraler Verwaltungsämter für alle vier Zonen beschlossen worden. Uber die Verwirklichung dieses Beschlusses aber konnten sich die Vier nicht einigen; das Veto der Franzosen brachte das Projekt zu Fall. In mehreren Konferenzen der vier Außenminister 1946 wurde keine Übereinstimmung in der Deutschlandpolitik erzielt. Die Sowjets wollten über die wirtschaftliche Einheit an das Industriepotential der Westzonen gelangen; die Westmächte waren über die künftige Struktur des besetzten Landes uneinig und lehnten sowjetische Vorschläge zur Herstellung der staatlichen Einheit ab, weil sie ihnen zu wenig föderalistisch waren. Am Beginn des Jahres 1947 einigten sich Briten und Amerikaner über die wirtschaftliche Vereinigung ihrer Zonen. In Frankfurt am Main sollte ein Wirtschaftsrat aus Delegierten der Landtage entstehen, der seinerseits die Chefs von fünf zentralen Wirtschaftsverwaltungen zu wählen hatte — ein erster Schritt zu parlamentarisch-politischer Eigenverantwortung der Deutschen oberhalb der Länderebene.

Die SPD begrüßte den Wirtschaftsrat; von den 52 Abgeordneten stellte sie 20. Die Partei hatte ihren Wiederaufbau ohne ein förmliches Programm begonnen, die Not der Zeit, die relativ schnellen organisatorischen Erfolge drängten diese bei der SPD sonst stets für wichtig gehaltene Frage in den Hintergrund. Schumacher hatte der Konferenz in Wennigsen 1945 lediglich wirtschaftliche Leitsätze vorgelegt, die an die alte sozialistische Programmatik anknüpften. In ihnen wurde, nicht zuletzt wegen der Zerstörungen des Krieges, eine geplante Wirtschaft gefordert und die Verstaatlichung der Schwerindustrie, der Bodenschätze, der Energiewirtschaft, des Verkehrswesens und der Versicherungs-und Bankwirtschaft. Diese Punkte zu verwirklichen war unter der Besatzungsherrschaft und innerhalb der engen Räume der einzelnen Länder nicht möglich gewesen; lediglich in Hessen wurde der Versuch einer großangelegten Verstaatlichung untenommen; ähnliche Unternehmen in Berlin und Nordrhein-Westfalen scheiterten.

Der Wirtschaftsrat nun schien der Partei Gelegenheit zur Verwirklichung dieses Programms zu bieten, stand sie doch mit ihren Forderungen nach Planwirtschaft in der damaligen Zeit durchaus nicht allein. Die Ansicht, daß der Wiederaufbau nur durch zentrale Planung gelingen könnte, war allgemein und wurde auch von anderen prominenten Politikern wie Kaiser und Arnold vertreten. In der ersten Sitzung des Wirtschaftsrates erklärte der SPD-Abgeordnete Erwin Schoettle am 25. Juni 1947, daß „die radikale Not unseres Volkes mit radikalen Mitteln" bekämpft werden müsse. Das bedingte für die SPD, die im Wirtschaftsrat allerdings ein Mandat weniger als die CDU hatte, den Anspruch auf die Position des Direktors für Wirtschaft, den sie für den wichtigsten hielt. Von den insgesamt fünf quasi-Ministersitzen im Verwaltungsrat des Wirtschaftsrats verlangte die SPD zwei für sich, drei sollte die CDU erhalten. Ihren Anspruch auf das Ressort Wirtschaft vertrat die SPD auch deswegen mit großem Eifer, weil an der Spitze des bis dahin existierenden Amtes für Wirtschaft der britischen Zone in Minden ein Sozialdemokrat, Dr. Viktor Agartz, stand. Diese Position galt es nun zu verteidigen, denn das Amt in Minden fiel ja künftig fort.

Der Beginn der Opposition CDU und FDP gaben nicht nach, mit ihrer Mehrheit wählten sie den damals parteilosen ehemaligen bayerischen Wirtschaftsminister Professor Ludwig Erhard zum Direktor für Wirtschaft. Darauf lehnte die SPD jede weitere Beteiligung ab. Schumacher warf der CDU vor, „die totale Macht für die gesamte Wirtschaft in Westdeutschland an sich zu reißen". Die CDU habe damit den Sozialismus aufgegeben und sich als „reine Unternehmerpartei" erwiesen. Die SPD ging in Opposition, die spätere Bonner Koalition zwischen CDU und FDP war geboren.

Man wird hier, nach 14 Jahren Erfahrung, die Frage stellen müssen, ob die Entscheidung vom Juni 1947 im Interesse der SPD selbst gewesen war. An einem von fünf Direktoren-posten hatte sie es scheitern lassen, die künftige Innenpolitik maßgeblich mitgestalten zu können. Argumente für Schumachers seiner-zeitige Entscheidung gibt es: Massenelend, Hunger, Demontagen, das Millionenheer der Vertriebenen einerseits, planwirtschaftliche Tendenzen in der ganzen westlichen Welt andererseits ließen die Alternative sozialistische Wirtschaftspolitik als die einzig mögliche erscheinen. Unter Berücksichtigung der Tatsache, daß auch Kreise in der CDU einem „Sozialismus christlicher Verantwortung" huldigten, schien es der SPD ratsam, dieser Partei den Verrat an ihren eigenen, im übrigen in der öffentlichen Meinung der Zeit allgemein gängigen Ideen vorzuwerfen und sich anzuschicken, diese Partei bei der ersten Wahl zusammen mit ihrer, wie es schien, unweigerlich erfolglosen Politik aus dem Sattel zu heben. Die Macht mit ihr zu teilen, erschien den Sozialdemokraten als die leichtsinnige Aufgabe einer großen Chance. Diese Spekulation war falsch. Es unterliegt keinem Zweifel, daß die SPD des Jahres 1963 nicht wieder so handeln würde, ergäbe sich eine vergleichbare Situation. Dem Staat aber leistete sie durch den Entschluß von 1947, in die Opposition zu gehen, einen Dienst von unschätzbarer Bedeutung. Sie schenkte der jungen Demokratie eine zuverlässige und radikalen Absichten unverdächtige Oppositionspartei, für die es in dieser Form noch kein Vorbild in Deutschland gegeben hatte, und trug gerade so mehr zur Festigung der Demokratie bei als sie es andernfalls als Koalitionspartner hätte erreichen können.

Im Parlamentarischen Rat Die internationale Politik trieb derweil auf eine immer stärkere Trennung zwischen Ost und West auf dem Territorium Deutschlands hin. Die Sowjets begannen nach der Unterdrückung der SPD auch die verbliebenen Parteien CDU und LDP gleichzuschalten; die Außenministerkonferenzen brachten noch immer keine Einigung über das Schicksal des besiegten Landes, und in Südosteuropa eroberten die Kommunisten einen Staat nach dem anderen. Im Frühjahr 1948 entschlossen sich die Westmächte, ihren drei Besatzungszonen eine vorläufige staatliche Organisation zu geben. Die künftige Verfassung sollte ein Parlamentarischer Rat ausarbeiten, wieder aus Delegierten der Landtage zusammengesetzt. Uber die Frage, ob diese Empfehlung der Besatzungsmächte angenommen werden sollte, gab es in der deutschen Öffentlichkeit eine Diskussion, die die Grundfrage aufwarf, ob mit der Schaffung einer Regierung für die Westzonen nicht die deutsche Einheit preisgegeben werde. Letzte Zweifel daran beseitigte der Berliner Oberbürgermeister Ernst Reuter (SPD), der die Westdeutschen aus der Position seiner vor der Spaltung stehenden Stadt aufforderte, im Westen den Anfang mit der Wiederherstellung der Staatlichkeit zu machen, um so den Kommunisten eine Kraft entgegenzustellen.

Am 1. September 1948 trat in Bonn der Parlamentarische Rat zusammen. Von seinen 65 Mitgliedern gehörten je 27 der CDU/CSU und der SPD an, dazu kamen fünf FDP-Vertreter und je zwei von DP, Zentrum und KPD. Von den fünf nicht stimmberechtigten Vertretern Berlins gehörten drei zur SPD und je einer zur CDU und FDP. Zum Präsidenten des Rats wurde der CDU-Abgeordnete Dr. Konrad Adenauer gewählt, von der SPD Professor Dr. Carlo Schmid zum Vorsitenden des Haupt-ausschusses, in dem die maßgebliche Arbeit an der neuen Verfassung geleistet werden sollte.

Die Vorstellungen, mit denen die SPD an die Arbeit ging, waren vor allem eine deutliche Unterstreichung des vorläufigen und fragmentarischen Charakters (ihr Abgeordneter Menzel legte einen eigenen Entwurf einer „Westdeutschen Satzung" vor) und eine Betonung des unitarischen Elementes in der neuen Verfassung. Besondere sozialistische Vorstellungen über die Wirtschaftsverfassung und das soziale Leben versuchte sie, im Gegensatz zu Weimar 1919, nicht hineinzubringen. Von den Alliierten war der Auftrag ergangen, eine Verfassung „föderalistischen Typs" auszuarbeiten; die Militärgouverneure hatten sich die Genehmigung des zu erarbeitenden Dokuments vorbehalten. Daher spielte während der fast neunmonatigen Beratungszeit das Problem der föderalistischen Struktur die wichtigste Rolle. Innerhalb des Parlamentarischen Rats vertraten SPD und FDP unitarische Auffassungen, CDU und vor allem CSU neigten mehr einem locker gegliederten Bunde zu.

Uber die Kompetenzen der künftigen Zentralregierung ergaben sich die heftigsten Meinungsverschiedenheiten. Schon der dem Rat unterbreitete Vorentwurf für einen „Bund Deutscher Länder" stieß auf Ablehnung bei der SPD. Im Verlauf der Beratungen verlangten die Besatzungsmächte eine starke Reduzierung der Kompetenzen des Bundes in der Gesetzgebung und auf dem Gebiet der Steuern, wobei sie u. a. die Umsatzsteuer zur gemeinsamen Steuer von Bund und Ländern erklärt sehen wollten. Die SPD erklärte hierzu, sie würde dem neuen Grundgesetz nicht zustimmen können, wenn die Alliierten auf ihren Wünschen bestehen würden. Das ganze Verfassungswerk schien darauf gefährdet, als der Vorstand der SPD am 20. April 1949 in Hannover unter Schumachers (zum ersten Male wieder nach dessen Beinamputation) Vorsitz ein hartes Nein sprach, das in seinem Charakter einem Ultimatum gleichkam. Die Militärgouverneure wichen vor diesem Ultimatum zurück, sie erklärten sich bereit, ihre Wünsche zu modifizieren. Die SPD war damit in die Lage versetzt, zusammen mit den beiden anderen großen Parteien CDU und FDP am 8. Mai 1949 das Grundgesetz anzunehmen.

Bundesregierung ohne SPD Die SPD hatte im Parlamentarischen Rat für eine starke Stellung des Bundeskanzlers gekämpft, und manche ihrer Abgeordneten hatten gedacht, daß der erste Regierungschef aus ihren Reihen kommen würde. Diese Hoffnung sollte sich als trügerisch erweisen. Aus der ersten Bundestagswahl am 14. August 1949 gingen zwar die beiden großen Parteien CDU und SPD nahezu gleich stark hervor, sie erreichten 31 und 29, 2 Prozent, aber an der Bildung der Regierung nahmen die Sozialdemokraten nicht teil. Die Gründe dafür hatten sich gegenüber dem Wirtschaftsrat 1947 wenig geändert, das Bündnis zwischen CDU und FDP erwies sich bereits als dauerhaft. Diese beiden Parteien konnten dazu auf einen in der Wirtschaftspolitik gemeinsam geführten Wahlkampf verweisen, der für sie erfolgreich gewesen war, weil die liberale Wirtschaftspolitik in dem einen Jahr nach der Währungsreform die Lage der Bevölkerung im großen und ganzen gebessert hatte. Jedenfalls waren die Kassandrarufe der SPD, die von der Marktwirtschaft ein Chaos prophezeit hatte, offensichtlich unberechtigt gewesen. Das allein wäre kein Grund gewesen, im Bunde nicht auch nach dem Vorbild einer Reihe von Ländern eine große Koalition zu bilden. Maßgebliche Politiker beider großer Parteien befürworteten sie. Daß es nicht dazu kam, mag nicht zuletzt an der Persönlichkeit der beiden Parteiführer Adenauer und Schumacher gelegen haben.

Noch vor der Wahl des Bundeskanzlers formulierte die SPD auf einer Sitzung in Bad Dürkheim ihr Programm für die nächsten vier Jahre, und es war klar, daß auf der Basis der dort verabschiedeten 16 Punkte die Möglichkeit der Koalition mit der CDU in weite Ferne rückte, „Das Ergebnis der Wahlen vom 14.

August beschwört die Gefahr herauf, daß die bisherige Wirtschaftspolitik fortgeführt, die deutsche Arbeitskraft ruiniert und die Spannungen zwischen den Klassen so gesteigert werden, daß die staatsbildenden Kräfte gelähmt und die deutsche Demokratie zerstört wird", hieß es darin. Im einzelnen wurden eine Planung und Lenkung von Krediten und Rohstoffen gefordert, Mitbestimmung sowie Sozialisierung der Grundstoff-und Schlüsselindustrien. Dem Buchstaben nach waren diese Forderungen von programmatischen Äußerungen einiger CDU-Politiker nicht sehr entfernt, aber die praktische Politik des Wirtschaftsrates war mittlerweile in eine andere Richtung gelaufen.

Die Wahl Adenauers zum Bundeskanzler und der Ausschluß von der Regierungsverantwortung stellte die Partei vor eine neue Situation. Für das Wirken einer Opposition in dem engen Rahmen zwischen der noch fortdauernden Besatzungsherrschaft und der totalitären Gefahr auf der äußersten Linken gab es kein Beispiel. Gerade die Lage des gespaltenen Landes erlaubte es nicht, eine Politik zu treiben, die in der nun gegebenen Gesellschaftsordnung nur ein kleineres Übel sah und im übrigen auf das Scheitern der Regierungspolitik hoffte. Der Weg der parlamentarischen Mitarbeit mußte streng vorgezeichnet erscheinen, er ließ auch keine Hoffnung auf Aktionen von außen her zu. Dennoch fand sich die Partei nicht leicht in ihre neue Position. Zur Wahl des Bundespräsidenten nominierte sie ihren Vorsitzenden Schumacher, dem sie selbst nur geringe Chancen gab, weil sie es als problematisch empfand, daß einer der ihren die von der CDU-FDP-DP-Mehrheit beschlossenen Gesetze verkünden sollte. Das vermeintliche, im Jahre 1963 kaum mehr verständliche Übel blieb der SPD erspart: der FDP-Abgeordnete Heuss wurde Bundespräsident. Ja oder nein im Bundestag?

Die Fülle der von dem ersten Bundestag zu beschließenden Gesetze gab der SPD schnell Gelegenheit, sich in konstruktiver Opposition zu üben. Nahezu alle Bereiche waren gesetzgeberisch neu zu ordnen, einmal der vorangegangenen Diktatur wegen, sodann infolge der Kriegszerstörungen und der unverändert brennenden sozialen Fragen, über die meisten Gesetze kam es zu einer Verständigung zwischen Regierungsparteien und Opposition. Obwohl die Meinungsverschiedenheiten in der Wirtschaftspolitik andauerten, fanden sie in der eigentlichen Gesetzgebung nur beschränkt Ausdruck. In der Frage der Mitbestimmung der Arbeitnehmer in der Montanindustrie konnte sogar eine Übereinkunft der beiden großen Parteien gegen die Freien Demokraten erreicht werden, nicht zuletzt allerdings der Gewerkschaften wegen, die mit einem Streik drohten. Es sollte dies der einzige Fall einer außerparlamentarischen Beeinflussung der Mehrheit bleiben. Vielfach stand die SPD bei der Regelung der Kriegsfolgefragen vor dem Problem, sich über einen Gesetzentwurf schlüssig zu werden, in den sie zwar Elemente ihrer Politik hineingearbeitet hatte, der im letzten aber dem Willen der Mehrheit entsprach. Eine Ablehnung hätte sie jeweils vor die Notwendigkeit gestellt, der Bevölkerung ihr Nein zu tatsächlichen sozialen Verbesserungen damit erklären zu müssen, daß ihre noch weiter gehenden Forderungen abgelehnt worden wären. Die Mehrheit hätte agitatorisch der SPD leicht unterstellen können, sie habe die Kriegsopferversorgung, die Renten-verbesserung und ähnliches überhaupt abgelehnt. Die sozialdemokratische Opposition entschied sich in den meisten Fällen für ein Ja bei der Schlußabstimmung, auch wenn sie an Einzelheiten Kritik anzumelden hatte. Nur zu einer wichtigen Ausnahme kam es bei der Verabschiedung des Lastenausgleichsgesetzes, das die SPD ablehnte, weil sie der Entschädigung nach rein sozialen Gesichtspunkten gegenüber den von der Mehrheit beschlossenen Leistungen nach Maßgabe des individuellen Vermögensverlustes den Vorzug gegeben hatte.

Saarfrage und Schuman-Plan Noch bevor die außenpolitischen Gegensätze anläßlich der Wiederaufrüstung Deutschlands aktuell wurden, ergab sich die erste Meinungsverschiedenheit anläßlich des „Petersberger Abkommens" vom 22. November 1949. Die zwischen dem Bundeskanzler und den drei Hohen Kommissaren getroffene Vereinbarung sah die Beendigung der Demontagen einerseits und die Anerkennung der Internationalen Ruhrbehörde durch die Bundesrepublik andererseits vor. Sie war das erste Stück Außenpolitik der jungen Regierung und schon für alle kommenden Auseinandersetzungen typisch. Adenauer hatte von den Alliierten einen Vorteil (Demontagestop) eingehandelt und dafür die deutscherseits gewiß unbeliebte Ruhrbehörde in Kauf nehmen müssen. Schumacher zeigte dieselbe Haltung wie ein halbes Jahr früher beim Grundgesetz, er lehnte jedes Entgegenkommen gegenüber den Besatzungsmächten ab in der Überzeugung, daß die Zeit ohnehin für die Deutschen arbeite und alle Zugeständnisse an die Alliierten deren Position unnötig verfestigten. Adenauer dagegen dachte weniger starr, er arbeitete auf eine langsame Anerkennung der Bundesregierung als williger Partner der Westmächte hin und war deswegen bereit, zeitweilig mit Konzessionen zu zahlen, auch wenn er formal dazu nicht verpflichtet sein sollte. Ihm kam es auf die Wandlung des Klimas zwischen Siegern und Besiegtem an, auch wenn er dafür sogar Rechtspositionen opfern mußte. Beide Politiker vertrauten auf die Dynamik des politischen Prozesses, der 50 Millionen Menschen an der Grenze zur kommunistischen Welt nicht für immer unter fremder Militärverwaltung lassen konnte. Aber wie beide ihr Vertrauen in Handlungen umsetzten, bestimmte sich durch ihre verschiedenen Charaktere und durch ihr. persönliches Schicksal, das sie bis dahin hatten erleben müssen. Und ihrer beiden Wesen sollte die deutsche Politik auf Jahre hinaus prägen. Fast ähnlich war die Situation im Frühjahr 1950, als die Bundesrepublik eingeladen wurde, Mitglied des Europarats zu werden. Diese Einladung war für das besiegte Deutschland natürlich ein Fortschritt auf dem Weg zur Wiederherstellung der Gleichberechtigung, er wurde aber von den Besatzungsmächten mit der Anerkennung der Abtrennung der Saar verbunden. Frankreich hatte gegen alle deutschen Proteste von 1947 an das Saarland von seiner Zone abgetrennt und dort ein autoritäres Regime aus kollaborationswilligen einheimischen Politikern etabliert, die die Separation bejahten. Alle politischen Kräfte in der Bundesrepublik hatten diese Vorgänge scharf verurteilt. Jetzt entstand für sie die Frage, mit der Aufnahme in den Europarat die dortige Anwesenheit eines selbständigen Saar-Staates hinnehmen zu müssen. Schumacher lehnte sie ab: „Wer als Voraussetzung der deutschen Beteiligung an der. europäischen Gemeinschaft die Spaltung Deutschlands ansieht, der will nicht Europa, sondern eine privilegierte Stellung seines Landes auf Kosten Europas."

Wieder standen sich mit dem Bundeskanzler, der den Eintritt befürwortete, und dem Oppositonsführer zwei Standpunkte gegenüber, von denen jeder ans seine Weise überzeugt war, daß die Zeit für ihn arbeite. In der SPD allerdings gab es diesmal auch Stimmen gegen Schumachers Politik, Sie kamen vor allem von den hansestädtischen Bürgermeistern Brauer und Kaisen und von Paul Löbe, die die Förderung des europäischen Zusammenschlusses als Gewinn an sich betrachteten, der einer alten sozialistischen Forderung entsprach. Doch die Mehrheit folgte Schumacher.

Zur gleichen Zeit kam von Frankreich der Vorschlag zu einer Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl, der sogenannte Schuman-Plan. Schumacher witterte hinter diesem Projekt, daß sich auf Frankreich, die Bundesrepublik, Italien, Belgien, Holland und Luxemburg beschränken sollte, den Versuch katholisch-konservativer Kräfte, das entstehende Europa in ihrem Sinne zu gestalten. Er kritisierte die Nichtbeteiligung der sozialistisch regierten Länder Skandinaviens und England, die allerdings dem Plan nicht beitreten wollten. Er nannte die geplante Montan-Union ein Europa, „das aus seiner kapitalistischen Struktur und seinem Mangel an Demokratismus und sozialer Potenz ein leichtes Opfer des östlichen Ansturmes wäre." Zweitens aber befürchtete der SPD-Vorsitzende hier zum erstenmal die unwiderrufliche Eingliederung Westdeutschlands in ein Bündnissystem, die nachteilige Folgen für die Politik der Wiedervereinigung haben könnte.

Schumachers bedingtes Ja zur Wiederaufrüstung Der Sommer 1950 brachte sodann die folgenschwerste Entscheidung für die noch nicht ein Jahr existierende Bundesrepublik, die ihr für die ganze kommende Zeit das Gepräge geben sollte. Am 25. Juni griffen kommunistische Truppen das von der amerikanischen Besatzung geräumte Südkorea an. Damit war der seit Aufhebung der Berliner Blockade im Mai 1949 wieder auf erträgliche Ausmaße gebrachte Kalte Krieg zwischen Ost und West an einer Stelle der Welt zum heißen Krieg geworden. Für den Westen entstand die Frage, ob nicht das westdeutsche Potential in das System der gemeinsamen Verteidigung einbezogen werden sollte. Jeden Tag konnten die Sowjets auch in Mitteleuropa angreifen, möglicherweise durch Voranschicken sowjetzonaler Verbände, die bereits in getarnter Form aufgestellt wurden.

Noch als die Gespräche hierüber in den westlichen Kabinetten das Vorstadium nicht erreicht hatten, führte ein Sicherheitsmemorandum des Bundeskanzlers, das die deutsche Beteiligung an der westlichen Verteidigung vorschlug, zum Rücktritt des Innenministers Dr. Heinemann und zu lebhaften innerpolitischen Kontroversen, da die Bevölkerung psychologisch noch gar nicht auf eine solche Wendung vorbereitet war.

Gerade die noch weiterlaufende westliche Politik, Fortsetzung der Besatzungsherrschaft und Demilitarisierung, zwang im Westen zu Konstruktionen, das deutsche Potential wohl zur Verteidigung gegen einen östlichen Angriff einzusetzen, es aber gleichzeitig an jeder unabhängigen Funktion zu hindern. In den konventionellen Waffen war der Ostblock dem Westen überlegen, und so lief die Strategie anfänglich auf eine hinhaltende Verteidigung hinaus. In dieser Lage formu59 lierte Schumacher am 17. September 1950 in Stuttgart: „Wir sind bereit, wieder Waffen zu tragen, wenn die westlichen Alliierten mit uns das gleiche Risiko und die gleiche Chance der Abwehr eines sowjetischen Angriffes übernehmen und sich mit größtmöglicher Macht an der Elbe etablieren." Das war ein bedingtes Ja zur Aufrüstung Westdeutschlands.

Diese Linie bestimmte bis etwa Anfang 1952 die sozialdemokratische Haltung zur Wiederaufrüstung. Hinzu kam noch das Argument, daß die soziale Sicherheit mit der militärischen Hand in Hand gehen müßte, weil nur auf diese Weise der Kommunismus eingedämmt werden könnte. Die Aufrüstungspläne gewannen im Verlauf des Jahres 1951 konkrete'Formen: es sollte eine europäische integrierte Armee geschaffen werden, einer supranationalen Autorität unterstellt, womit die Westmächte die Frage der deutschen Verfügungsgewalt gelöst sehen wollten. Dazu sollte das mit Generalvertrag Besatzungsregime einem zwischen der Bundesrepublik und den drei Westmächten abgelöst werden; der Vertrag sollte zugleich jene Punkte bezeichnen, in denen die drei ihre Rechte aus der Besetzung behielten.

Die sozialdemokratische Reaktion stellte wieder, wie beim Schuman-Plan und der Saarfrage, die nationale Gleichberechtigung in den Vordergrund der Wertung. Vorstand und Parteiausschuß stellten ihrer Kritik an der Europa-Armee am 9. September 1951 den Satz voran: „Wie der Schuman-Plan die wirtschaftlichen Grundlagen des deutschen Volkes unter Vorspiegelung europäischer Ziele der Verfügungsgewalt fremder Nationen für 50 Jahre unterstellt, bringt der Pleven-Plan deutsche Menschen einseitig unter fremde Kommandogewalt." Die deutsche Einheit erwähnte die Entschließung mit keinem Wort. Im weiteren Verlauf stellte die SPD Anfang 1952 die Forderung auf, vor einem Vertragsschluß über einen deutschen Wehrbeitrag müßte das Grundgesetz ergänzt werden, was in praxi der SPD-Fraktion im Bundestag die Position einer Sperrminorität brachte, da sie über mehr als ein Drittel der Abgeordneten verfügte. Eine Feststellungsklage beim Bundesverfassungsgericht wurde eingeleitet.

Mit Beginn des Jahres 1952 kam zu diesen Argumenten der SPD die Sorge um die deutsche Wiedervereinigung hinzu. Am 10. März 1952 bot Stalin — in einer bis heute in ihrer Bedeutung sehr umstrittenen Note — eine Wiedervereinigung durch freie Wahlen an, verlangte aber zugleich den Abzug aller Besatzungsmächte binnen eines Jahres, die Anerkennung der Oder-Neiße-Linie und für das wiedervereinigte Deutschland das Verbot der Teilnahme an Militärbündnissen gegen die am Krieg beteiligt gewesenen Staaten. Die sowjetische Note wurde von der Bundesregierung und den Westmächten als ein Versuch gewertet, die kurz vor dem Abschluß stehenden Verhandlungen über die Europäische Verteidigungsgemeinschaft zu torpedieren. Der Sowjetunion wurde die Gegenforderung überreicht, auf dem Territorium der sowjetischen Besatzungszone durch eine UN-Kommission prüfen zu lassen, ob die Voraussetzungen für frei Wahlen gegeben seien und es wurde verlangt, dem wiedervereinigten Deutschland das Recht zu gewähren, Bündnisse nach eigenem Ermessen abzuschließen.

Schließlich sollten gesamtdeutsche Wahlen den Diskussionen über einen Friedensvertrag vorangehen.

Die SPD lehnt die Wiederaufrüstung ab Die beiden letzten Punkte der westlichen Politik wurden fortan der Kardinalpunkt in dem innerdeutschen Streit über die Wiederaufrüstung. Die SPD forderte Verhandlungen mit den Sowjets, bevor die Verträge über den Wehrbeitrag abgeschlossen würden. Der stellvertretende SPD-Vorsitzende Ollenhauer sagte am 3. April 1953 im Bundestag: „Unter den heute gegebenen Machtverhältnissen gibt es nur einen Weg, die Einheit Deutschlands auf friedlichem Wege herzustellen, und das ist die Verständigung der vier Besatzungsmächte unter sich und mit Deutschland über den zukünftigen inneren und äußeren Status eines geeinigten Deutschlands." Am 17. Mai 1952 beschlossen Vorstand und Bundestagsfraktion der SPD: „Alle Möglichkeiten, um Deutschlands Einheit in Freiheit zu verwirklichen, sind auszuschöpfen." Demgegenüber vertrat die Bundesregierung die Ansicht, das sowjetische Angebot sei ein Täuschungsmanöver. Sie erwartete die Wiedervereinigung auf dem Wege über die Eingliederung der Bundesrepublik in eine Westeuropäische Gemeinschaft, deren wirtschaftliches, politisches und militärisches Potential die Sowjetunion zu einer echten Verhandlungsbereitschaft hätte führen sollen.

Am 26. und 27. Mai 1952 wurden der General-vertrag über die Europäische Verteidigungsgemeinschaft unterzeichnet. Die nun beginnende Ratifizierungsprozedur im Bundestag stellte der SPD die Aufgabe, neben dem Wunsch nach Verhandlungen entwickeln zu müssen, wie sie sich die auch von ihr für notwendig erachtete militärische Sicherheit Deutschlands vorstellte. Auf ihrem Parteitag in Dortmund im September 1952 beschloß sie innerhalb ihres neuen Aktionsprogramms die Forderung nach einem System kollektiver Sicherheit im Rahmen der Vereinten Nationen. Das Verlangen nach nationaler Gleichberechtigung bei der Aufrüstung trat in den Hintergrund. Kurt Schumacher war am 20. August 1952 gestorben. Es ist offensichtlich, daß sein Ausscheiden gewisse Akzentverschiebungen in der Politik der SPD mit sich brachte, wenngleich auch die von ihm gesteckte außenpolitische Linie die Partei fast ein Jahrzehnt lang weiterführte.

Die verlorene Wahl von 1953 Das Wahlergebnis vom 6. September 1953 enttäuschte die SPD, wenn sich auch ihr Stimmanteil von 29, 2 auf 28, 8 Prozent nur geringfügig verschlechterte. Die Partei des Bundeskanzlers Adenauer, die CDU, erhielt demgegenüber 45, 1 Prozent und im Bundestag die absolute Mehrheit. Damit war das sozialdemokratische Argument aus der Wiederaufrüstungsdebatte, der Bundestag von 1949 sei nicht zur Entscheidung so schwerer Fragen berechtigt gewesen, ad absurdum geführt. Die Bevölkerung hatte eindeutig die Parteien gewählt, die Adenauers Außenpolitik billigten. Innerhalb der SPD machte sich Kritik an der Parteiführung bemerkbar, der seit Schumachers Tod Ollenhauer und Mellies vorstanden. Die Hoffnungen einzelner richteten sich auf den Regierenden Bürgermeister von Berlin Ernst Reuter, der nach der Wahlniederlage gesagt hatte: „Unsere Wähler haben verstanden, was wir nicht wollen, aber wir haben selten verstanden, klar zu sagen, was wir nun eigentlich selber positiv wollen." Aber Reuter ist drei Wochen nach der Wahl gestorben. Innerhalb und außerhalb der Partei wurden Stimmen laut, die eine Reform der SPD forderten, damit sie aus dem Turm der 30 Prozent herauskäme. Aber von allen Ansätzen blieb nur die Gründung einer Parteischule und einer theoretischen Zeitschrift.

Im neuen Bundestag hatte die Regierung Adenauer, an der jetzt auch der BHE beteiligt war, eine Zwei-Drittel-Mehrheit. Sie ging als erstes an die verfassungsmäßige Absicherung der Wiederaufrüstung, über der ja immer noch die Klage der SPD in Karlsruhe schwebte. Im Februar 1954 beschloß der Bundestag gegen die SPD eine Ergänzung des Grundgesetzes, wonach dem Bund das Recht zur Einführung der Wehrpflicht gegeben wurde. Trotzdem blieb die Ausführung des EVG-Vertrages weiterhin in der Schwebe, weil die Ratifizierung durch das französische Parlament noch ausstand. Der Parteitag der SPD in Berlin im Juli 1954 brachte in die Politik eine neue Variante. Er änderte das Dortmunder Aktionsprogramm in seinem außen-politischen Teil und stellte nunmehr dem Nein zur Europäischen Verteidigungsgemeinschaft einen Katalog von Bedingungen voran, unter denen die SPD zur Beteiligung an einer Wiederaufrüstung bereit wäre:

„Für den Fall, daß wirksame Vereinbarungen zwischen östlicher und westlicher Welt nicht zu erzielen sind, die Gefahren für die Freiheit und den Frieden der Völker fortbestehen und die Einheit Deutschlands in einem umfassenden System kollektiver Sicherheit trotz aller Bemühungen nicht erreicht werden kann, erklärt sich die SPD bereit, unter folgenden Bedingungen an . . . militärischen Maßnahmen teilzunehmen:

1. daß die Bemühungen um die Wiedervereinigung unablässig fortgesetzt werden;

2. daß ein europäisches Sicherheitssystem im Rahmen der UN angestrebt wird;

3. daß Verträge, durch die sich die Bundesrepublik zu militärischen Leistungen verpflichtet, durch die Bundesrepublik kündbar sind, wenn sie zu einem Hindernis für die Wiedervereinigung werden sollten; sie dürfen die künftige Regierung des wiedervereinigten Deutschlands nicht binden."

Ein vierter und ein fünfter Punkt forderten Gleichberechtigung und parlamentarische Kontrolle der Streitkräfte.

Diese neue Forderung war ein Fortschritt hinsichtlich einer verständlicheren Politik, denn sie stellte das Positive voran. Immerhin verpflichtete der Parteitag den Vorstand insoweit, als er in einer Entschließung hinzufügte: ob im Einzelfalle die fünf Bedingungen erfüllt seien, dürfte nur ein Parteitag feststellen. Bei den Vorstandswahlen gab es einen Ruck nach links, Brandt und Erler erreichten nicht die nötige Zahl von Stimmen für einen Sitz.

Die Bundesrepublik wird NATO-Mitglied Kurz danach löste sich das Projekt der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft auf, als die französische Nationalversammlung den Vertrag ablehnte. Zwischen den Westmächten und der Bundesregierung wurde ein neues Vertragssystem entwickelt, das nunmehr eine nationale Aufrüstung der Bundesrepublik vorsah und damit Frankreich seine eigenen Streitkräfte erhielt, was dem entscheidenden Einwand der Pariser Parlamentarier Rechnung trug. Die Bundesrepublik sollte unmittelbar in die Nordatlantische Vertragsorganisation (NATO) ausgenommen werden; dem Sicherheitsbedürfnis ihrer westlichen Nachbarn entsprechend wurde mit der Westeuropäischen Union ein Instrument der Rüstungskontrolle geschaffen. Der Generalvertrag wurde in einigen Punkten zugunsten Bonns revidiert.

Wieder stand die SPD vor der Frage, ja oder nein zu sagen; die neuen, in Paris abgeschlossenen Verträge brachten mit der Aufnahme in die NATO die Verwirklichung der alten sozialdemokratischen Forderung auf Gleichberechtigung mit sich.

Die SPD entschied sich für das Nein. Im Dezember 1954 wurde in der Sowjetzone offiziell die Aufstellung einer Armee verfügt, zugleich aber erklärte Moskau, daß eine Bewaffnung der Bundesrepublik die Wiedervereinigung unmöglich mache. Die SPD forderte erneut Verhandlungen der vier Mächte; solange sollten die Pariser Verträge nicht in Kraft gesetzt werden. Ein kollektives Sicherheitssystem sollte an der Stelle des östlichen und des westlichen Bündnisses auf deutschem Boden treten. Mit einer Kundgebung in der Frankfurter Paulskirche versuchte sie, eine außerparlamentarische Bewegung gegen die Verträge zu entwickeln, die sich neben der SPD auf die Gewerkschaften und kirchliche Kreise stützte. Mit Unterschriftensammlungen für ein „Deutsches Manifest" wurde vereinzelt versucht zu beweisen, daß die Bundestags-mehrheit nicht mit der Volksmeinung übereinstimmte. Randerscheinungen bei dieser Aktion mußten die Partei erkennen lassen, daß eine demokratische Opposition ihre Begrenzung in der parlamentarischen Arbeit findet. Eine Bestätigung ihrer Politik erblickte die SPD dagegen im Oktober 1955 in der Volksabstimmung an der Saar, die entsprechend der Aufforderung der SPD und anderer Parteien, 67, 7 Prozent Stimmen gegen das im Rahmen der Pariser Verträge ausgearbeitete Saar-Statut erbrachte und so zur Wiedereingliederung des Saarlandes führte.

Der Ratifizierung der Pariser Verträge folgte die Ausführung durch innerdeutsche Gesetze. Erneut hatte die Sozialdemokratie darüber zu befinden, ob sie, nach nunmehr vollzogener Entscheidung über den Wehrbeitrag, auch Soldatengesetz, Wehrpflichtgesetz, Bundesleistungsgesetz usw. ablehnen oder sogar, wie einige in ihren Reihen forderten, jede Beteiligung an Ausschußberatungen verweigern sollte. Letzteres hätte den Schritt von der Opposition zur Obstruktion bedeutet. Die Partei fand einen mittleren Weg: sie lehnte die der Aufstellung von Streitkräften dienenden Gesetze (z. B. Wehrpflichtgesetz) als „Vertragsfolgegesetze" ab, wirkte an ihnen aber im Sinne ihrer Vorstellungen mit und versuchte sie zu beeinflussen. Solche Gesetze jedoch, die die Grundrechte der Soldaten und ihre soziale Stellung betrafen (z. B. Wehrbeschwerdeordnung, Soldaten-versorgungsgesetz), nahm sie mit an.

Im Zuge dieser Politik kam mit den Stimmen der SPD im Frühjahr 1956 die zweite Wehr-ergänzung des Grundgesetzes zustande, die die Streitkräfte in die parlamentarisch-rechtsstaatliche Ordnung einbaute, dabei vor allem für die Sicherung der Grundrechte von Soldaten wie auch Kriegsdienstverweigerern Sorge trug.

Das Düsseldorfer Bündnis mit der FDP Zunehmende Spannungen zwischen den Regierungsparteien CDU und FDP (der EHE war schon früher aus der Koalition ausgeschieden)

führten im März 1956 in Düsseldorf zu einem konstruktiven Mißtrauensvotum von SPD und FDP gegen den nordrhein-westfälischen Ministerpräsidenten Arnold (CDU). Arnold wurde gestürzt, an seine Stelle trat Steinhoff (SPD) mit einer SPD-FDP-Zentrum-Koalition — die CDU wurde im Landtag Opposition. Ein Jahr vor der Bundestagswahl schien sich damit eine völlig neue Situation auch im Bund anzukündigen, wo jetzt die CDU allein mit der DP regierte. Gewiß hatte die SPD schon bis dahin eine Reihe von Landesregierungen geführt, aber im größten Land der Bundesrepublik war sie seit 1950 nicht mehr an der Veranwortung beteiligt gewesen. Die Ereignisse von Düsseldorf brachten einen neuen Zug in die westdeutsche Innenpolitik, die CDU sah sich erstmalig in die Defensive gedrängt. Nicht zuletzt deswegen trat die SPD den Bundestagswahlkampf 1957 mit einem nahezu unveränderten Programm an. Beide Teile Deutschlands sollten aus den Militär-blöcken ausscheiden, das wiedervereinigte Deutschland einem gesamteuropäischen Sicherheitssystem angehören. Bis dahin, so wurde gefordert, sollten die Verpflichtungen der Bundesrepublik innerhalb der NATO durch ein Freiwilligenheer erfüllt werden. Das Wirtschaftsprogramm kritisierte die Ansammlung großer Vermögen bei einer kleinen Schicht, wogegen die Arbeitnehmer „stark benachteiligt" worden wären.

Das Wahlergebnis sah die CDU, die mit der Forderung „Keine Experimente" operiert hatte, wiederum als Sieger, diesmal sogar mit der absoluten Mehrheit von 50, 2 Prozent der Stimmen. Die SPD erhielt 31, 8 Prozent. Diese zweite offenkundige Wahlniederlage leitete eine ernsthafte Reform der Partei ein. Auf dem folgenden Parteitag in Stuttgart im Mai 1958 wurde das Statut revidiert, an die Stelle des bisherigen geschäftsführenden Vorstandes aus relativ unbekannten Persönlichkeiten trat ein Präsidium aus den führenden Abge-ordneten der Fraktion wie Carlo Schmid, Erler, Deist, Schoettle. Neben dem Vorsitzenden Ollenhauer wurden Waldemar von Knöringen und Herbert Wehner zu gleichberechtigten Stellvertretern gewählt.

Der Beginn des Jahres 1958 sah die Sozialdemokratie neuen außenpolitischen Problem gegenüber, dem der atomaren Bewaffnung der Bundeswehr. Wieder entfachte die SPD eine breitangelegte Kampagne „Gegen den Atomtod", wieder beteiligte sie außerparlamentarische Kräfte wie Gewerkschaften und einzelne kirchliche Würdenträger (nicht zuletzt gefördert durch den kurz vorher vollzogenen Zusammenschluß mit der gescheiterten Gesamtdeutschen Volkspartei von Heinemann und Frau Wessel, die beide 1957 SPD-Abgeordnete geworden waren). Obwohl der CDU-Sieg noch kein halbes Jahr zurücklag, argumentierte die SPD, eine Atombewaffnung werde von den Wählern abgelehnt, und sie forderte, in einer „Volksbefragung" dieses Begehren der Regierung zur Abstimmung zu stellen. Die Bundestagsmehrheit lehnte mit der Begründung ab, das Grundgesetz kenne, von eng begrenzten Ausnahmen abgesehen, kein Plebiszit, die Forderung der SPD sei verfassungswidrig. Demgegenüber meinte die SPD, ihre Volksbefragung sollte keine rechtliche Verbindlichkeit haben, sondern nur die Volksmeinung eruieren. Als der Gesetzentwurf im Bundestag scheiterte, unternahmen die sozialdemokratischen Länder Hessen und Hamburg eigene Initiativen, die sie aber nach einem Spruch des Bundesverfassungsgerichts einstellen mußten. Die Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen im Juli 1958 machte der Bewegung ein Ende, da die CDU dort die absolute Mehrheit eroberte nach einem Wahlkampf, der überwiegend im Zeichen der atomaren Aufrüstung geführt worden war. Noch einmal wurde die SPD in ihrer bis dahin vertretenen Haltung bestärkt, als im November 1958 die Sowjetunion in einem auf sechs Monate befristeten Ultimatum den Abzug der Westmächte aus Berlin und die Umwandlung der Westsektoren in eine „Entmilitarisierte Freie Stadt" verlangte. Zusammen mit den anderen Parteien wies sie das Ansinnen zurück und konnte unmittelbar darauf in West-Berlin unter Führung des dortigen Regierenden Bürgermeisters Willy Brandt einen bedeutenden Wahlerfolg wegen ihrer festen Haltung erzielen: ihr Anteil stieg von 44, 6 auf 52, 6 Prozent. Dennoch kam es im Jahre 1959 wiederum zu einem erbitterten Gegensatz zwischen den beiden großen Parteien. Um den ihrer Auffassung nach drohenden Verlust des freien Berlin abzuwehren, legte die SPD im April 1959 einen „Deutschlandplan" vor, in dem die Gegenseite bedenkliche Konzessionen an die sowjetische Politik erblickte. Der Plan sah eine Wiedervereinigung Deutschlands durch freie Wahlen über mehrere Zwischenstufen vor.

Zunächst sollten die vier Besatzungsmächte deutsche Regierungsvertreter aus Ost und West in eine gemeinsame Kommission berufen, in einer paritätisch zusammengesetzten „Gesamtdeutschen Konferenz" sollten dann Versuche der Angleichung beider Staats-teile vorgenommen werden und in einer weiteren Phase schließlich ein paritätischer „Gesamtdeutscher Parlamentarischer Rat" frei gewählt werden, der mit Zweidrittelmehrheit allgemeine Wahlen zu einer Nationalversammlung auszuschreiben berechtigt wäre. Außen-politisch sollte die Prozedur von einem militärischen Disengagement begleitet werden.

Große Teile der öffentlichen Meinung sahen in diesem Projekt ein Verlassen der bisherigen gemeinsamen Politik aller Parteien hinsichtlich der Nichtanerkennung der Sowjet-zonenregierung durch die SPD. Ihr wurde vorgeworfen, vor der kommunistischen Zwei-Staaten-Theorie zu kapitulieren. Diese Angriffe übersahen zweifellos das ehrliche, geradezu verzweifelte Bemühen der SPD, in letzter Stunde doch noch eine Wiedervereinigung zu erreichen, hinsichtlich ihrer Kritik an den illusionären Elementen in diesem Plan jedoch trafen sie zu. Als weder Ost noch West ernsthafte Anstrengungen unternahmen, die Vorschläge zu debattieren, geriet der Plan schnell in Vergessenheit.

Das Godesberger Programm Im November 1959 gab sich die Partei in Bad Godesberg ein neues Programm. Sie bekannte sich darin zur Landesverteidigung, in der Wirtschaft zum freien Wettbewerb und zur freien Unternehmerinitiative, die sie „wichtige Elemente sozialdemokratischer Wirtschaftspolitik" nannte. Während noch 1952 die Überführung einer Reihe von Grundindustrien in Gemeineigentum gefordert worden war, forderte die SPD in Bad Godesberg eine „wirksame öffentliche Kontrolle" der Groß-wirtschaft und konstatierte, daß „das Privateigentum an den Produktionsmitteln weitgehend seine Verfügungsgewalt verloren“

habe. Im kulturellen Teil bekannte sie sich zu einer „freien Partnerschaft" mit den Kirchen. Mit diesen Punkten hatte die SPD im wesentlichen die Konsequenzen aus ihrer -wahlpolitischen Stagnation seit 1949 gezogen.

Das neue Programm, das von Willi Eichler konzipiert worden war, stieß in der Partei nicht nur auf Zustimmung; einzelne studentische und intellektuelle Kreise lehnten es ab.

Ein halbes Jahr darauf, am 30. Juni 1960, verkündete Wehner im Bundestag einen neuen außenpolitischen Kurs. Er bezeichnete das atlantische Bündnis als „Grundlage und Rahmen für alle Bemühungen der deutschen Außen-und Wiedervereinigungspolitik" und forderte die CDU zu einer gemeinsamen Außenpolitik aul. Den Deutschlandplan bezeichnete er noch einmal ausdrücklich als „einen Vorschlag, der der Vergangenheit angehört". Der Parteitag in Hannover im November 1960 zog die Konsequenzen aus dem personellen Debakel der SPD bei den bisherigen Bundestagswahlen und nominierte einen Kandidaten für das Amt des Bundeskanzlers, den Regierenden Bürgermeister Brandt. Der von ihm im Sommer 1961 geführte Wahlkampf bekam in der letzten Phase einen dramatischen Akzent, als am 13. August 1961 die Kommunisten den Ostsektor Berlins hermetisch durch Stacheldraht und Mauer vom freien Berlin abtrennten, um dem ständigen Flüchtlingsstrom Einhalt zu gebieten. Sie unterbrachen damit auch die Verbindungen zwischen der in den acht Bezirken des Sowjetsektors noch immer existierenden SPD und ihrem Landesvorstand in West-Berlin. Als der Druck für die Ostberliner Sozialdemokraten unerträglich wurde, sah sich die Partei gezwungen, ihre 5 300 Mitglieder dort aus ihren Verpflichtungen zu entlassen; sie löste die Ostberliner Organisation auf, die als einzige demokratische Institution dort noch zwölf Jahre nach der Spaltung übriggeblieben war. Im Westen ergab die Bundestagswahl am 17. September 1961 für die SPD einen Stimmenanteil von 36, 2 Prozent; der Gewinn von rund 4 v. H. wurde weithin als Fortschritt gefeiert. Daß er zeitlich und vielleicht auch ursächlich mit dem Bau der Mauer zusammenfiel, rückte ihn in ein tragisches Licht.

Eine Chronik der hundertjährigen Geschichte der organisierten Arbeiterbewegung in Deutschland muß an dieser Stelle schließen, weil alle folgenden Ereignisse noch zu sehr zum Geschehen des Tages gehören, als daß sie sich in einen größeren Zusammenhang stellen ließen. Einzelne Wahlergebnisse, eventuelle Regierungsbildungen mögen Entwicklungen andeuten, können aber auch bloße Eintagserscheinungen sein. Versucht man, das Geschehen seit 1945 auf die wesentlichen Linien zurückzuführen, dann bieten sich vier Ansätze an:

Von einer noch in der Agonie liegenden deutschen Öffentlichkeit fast unbemerkt verhinderte Kurt Schumacher in seiner Partei alle Verbrüderungsansätze mit den Kommunisten und gab so den Mitgliedern in der Hauptstadt die entscheidende Stütze im Kampf um ihre Selbständigkeit. Die 84 Prozent Nein-Stimmen gegen die Verschmelzung mit der KPD stellten das kommunistische Werben als Vergewaltigung bloß. Damit war im Westen Deutschlands, ehe noch der Vorhang auf der politischen Bühne hochging, der Part der Kommunisten ausgespielt. Die am Ende der Ersten Republik drittstärkste Partei, die KPD, war selbst für Millionen Verelendete keine Alternative mehr.

Zum erstenmal entstand im staatlichen Leben Deutschlands eine verfassungstreue Opposition, die zudem der Regierung an Kraft ebenbürtig war. Vorbilder parlamentarischer Opposition gab es nur im Ausland, im Lande selbst galt Neinsagen als Obstruktion oder günstigstenfalls Besserwisserei. Doch trotz des nur sehr sparsamen Lobes der öffentlichen Meinung, wodurch die Partei mehr als einmal an den Rand der Resignation geriet, hat diese Haltung dem Staat als Ganzem genutzt. Die SPD freilich mußte auch erfahren, daß außer-parlamentarische Aktionen schnell an die Grenzen des Rechtsstaates stoßen, und ihr wurde als erster Partei in Deutschland demonstriert, daß Regieren im Leistungsstaat nicht abzunützen braucht, sondern volkstümlich machen kann.

Entgegen der allgemeinen Erwartung nahm die wirtschaftliche Entwicklung Westdeutschlands einen günstigen Verlauf. Der Wohlstand kam auch breitesten Volksschichten zugute, zunächst in erster Linie den arbeitenden Menschen. Die Opposition sah ihre besondere sozialpolitische Aufgabe darin, für einen gerechten Anteil aller jener einzutreten, die nicht im Erwerbsleben stehen.

Die außenpolitischen Vorstellungen der SPD blieben Theorie, sie wurden nie mit der Realität konfrontiert. Welche Seite mit ihrer Politik recht hatte, ist eine Frage, die sich der Beurteilung durch den Zeitgenossen entzieht; die Entwicklung ist noch im Fluß. Der unterlegenen SPD aber wird man die Anerkennung nicht versagen können, das öffentliche Bewußtsein für die deutsche Teilung geschärft und ihre parteipolitischen Gegner gezwungen zu haben, ihr Konzept immer wieder am gesamtdeutschen Maßstab zu messen, um bestehen zu können.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Wels beendete seine Rede: „Wir grüßen die Verfolgten und Bedrängten! Wir grüßen unsere Freunde im Reichl Ihre Standhaftigkeit und Treue verdienen Bewunderung! Ihr Bekennermut, ihre ungebrochene Zuversicht verbürgen eine hellere Zukunft!"

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Ulrich Dübber, geb. 2. Januar 1929 in Berlin, Dipl. Pol., Dr. phil., Rundfunkkorrespondent in Bonn. Veröffentlichung: Parteifinanzierung in Deutschland, Köln—Opladen 1962.