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Das militärische Potential des kommunistischen Chinas | APuZ 8/1965 | bpb.de

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APuZ 8/1965 Ein neuer Anlauf zur politischen Einigung Europas Das militärische Potential des kommunistischen Chinas

Das militärische Potential des kommunistischen Chinas

Samuel B. Griffith

Vor 166 Jahren widmete ein Redakteur der angesehenen Zeitschrift Philadelphia Monthly Magazine den Berichten von einem Bürgerkrieg, der angeblich damals in China wütete, einen Kommentar. Im Unterschied zu manchen seiner heutigen Kollegen gab der anonyme und bescheidene Verfasser zu, daß seine Analyse fast völlig auf Spekulationen beruhe. Er schrieb: „Unsere Kenntnisse von diesem Volk sind sehr gering, und das wenige, was wir wissen, ist zu ungesichert, als daß es vertrauenswürdig wäre."

Seit 1798 hat sich diese Lage, wenn überhaupt, dann jedenfalls nicht sonderlich gebessert, und es besteht wenig Aussicht, daß sie sich bessern wird. Infolgedessen wird jeder laienhafte Überblick über die gegenwärtigen militärischen Möglichkeiten oder über das künftige Potential des kommunistischen Chinas im besten Falle nur teilweise korrekt sein, im schlimmsten Falle grob unrichtig „Es ist außerordentlich wichtig", schrieb Mao Tsetung in seinem Buch „über den langwierigen Krieg", „den Feind im unklaren darüber zu lassen, wo und wann unsere Streitkräfte angreilen werden." Dies, fährt er fort, „führt zu Mißverständnissen beim Gegner und verhindert, daß er seine Vorbereitungen trifft . . . Um den Sieg zu erreichen, müssen wir die Augen und Ohren des Feindes verschließen, um ihn damit blind und taub zu machen, und seine Befehlshaber irreführen, indem wir Verwirrung in ihren Köpfen anrichten."

Sogar Leute, die von Amts wegen dazu verpflichtet sind, sich mit der militärischen Schlagkraft des kommunistischen Chinas zu befassen, haben erstaunliche Fehler gemacht. Das hervorragendste Beispiel für die Richtigkeit dieser Behauptung ist General Douglas Mac Arthur, der Oberbefehlshaber der UN-Streitkräftein Korea. Bei der Konferenz auf der Insel Wake am 15. Oktober 1950 fragte Präsident Truman Mac Arthur, was er von dem Vermögen Chinas hielte, im Koreakrieg zu intervenieren. Mac Arthur war nicht beunruhigt. Er hielt dies für eine nur sehr entfernte Möglichkeit. Seine Antwort war: „Sehr wenig. Hätten sie im ersten oder zweiten Monat interveniert, so hätte das den Ausschlag gegeben. Jetzt fürchten wir ihr Eingreifen nicht mehr. Wir sind nicht mehr wehrlos. Die Chinesen haben 300 000 Mann in der Mandschurei. Davon sind wahrscheinlich nicht mehr als 100 000 bis 200 000 Mann entlang des Jalu stationiert. Nur 50 000 bis 60 000 Mann könnten über den Jalu transportiert werden. Sie haben keine Luftwaffe. Wir haben jetzt Stützpunkte für unsere Luftwaffe in Korea. Wenn die Chinesen nach Pjöngjang zu gelangen versuchten, gäbe es ein gewaltiges Blutbad."

48 Stunden vor diesem Treffen auf dem friedlichen Atoll inmitten des Pazifik hatten Vorausabteilungen von Lin Piaos eine Viertelmillion Mann starker Vierter Feldarmee begonnen, den Jalu zu überqueren und spurlos in den unwirtlichen Bergen Nordkoreas zu verschwinden.

Nachdem die Chinesen heimlich eine überwältigende Streitmacht im Operationsgebiet konzentriert hatten, griffen sie an und brachten das UN-Oberkommando in Korea plötzlich an den Rand des Verderbens. Diese Episode sollte eine heilsame Wirkung auf alle jene von uns ausüben, die geneigt sind, bei der Erörterung der gegenwärtigen und künftigen Stärke der Volksbefreiungsarmee rechthaberische Behauptungen aufzustellen und subjektive und daher unverbürgte Schlußfolgerungen zu ziehen.

Faktoren des Militärpotentials

Man braucht sich nicht näher mit der offensichtlichen Tatsache zu befassen, daß das Militärpotential einer Nation sich heutzutage aus vielen verschiedenen Elementen zusammensetzt. Zu den wichtigsten zählen Größe des Landes, Geländebeschaffenheit und stra-tegische Lage; die nationale Philosophie; Volkszahl, Volkscharakter, Bildungsstand und Moral der Bevölkerung, die natürlichen Hilfsquellen; die Fähigkeiten ihrer Wissenschaft, ihrer Technik und ihrer Industrie, diese Hilfsquellen vorteilhaft zu nutzen; die Qualitäten ihrer führenden Schichten; die Verläßlichkeit ihrer Bündnispartner — dazu gehört auch die materielle und sonstige Unterstützung, die sie von den Verbündeten erhält; der Zustand ihrer Verkehrswege; ihre strategische Konzeption; schließlich die Größe, Art und Qualität ihrer Streitkräfte einschließlich der Reserven.

Bedeutsam ist auch die Frage, wie wirkungsvoll eine Nation ihre militärische Stärke in den verschiedenen Stadien des Krieges in verschiedenen Gegenden und unter verschiedenen Bedingungen einsetzen kann oder will, um politische Ziele zu erreichen. Zum Beispiel bewies Peking während des Grenzkonfliktes mit Indien, daß es in der Lage war, beschränkte aber doch beträchtliche Landstreitkräfte unter erschwerten Bedingungen jenseits seiner Grenzen aufmarschieren zu lassen und zu versorgen. Es hatte diese seine Fähigkeit schon zuvor in einem viel größeren Ausmaß in Korea unter Beweis gestellt.

China ist imstande, auf verschiedenartige Weise direkt oder indirekt in Gebieten zu intervenieren, die für die sogenannten nationalen Befreiungskriege anfällig sind. Bis heute hat es noch nicht direkt in solche Kriege eingegriffen, nicht einmal in benachbarten Gebieten. Ob es das eines Tages tun wird, hängt von einer Vielzahl von Umständen ab, die nicht alle seiner Einflußnahme unterliegen. Zum Beispiel gewährt es der Pathet-Lao-Bewegung mehr als politische Unterstützung, aber das geschieht prinzipiell indirekt, nämlich über Hanoi.

Wenn China auch ein atomares Potential entwickeln wird, so hat es doch gegenwärtig noch keines, überdies beansprucht die Entwicklung eigener Abschußsysteme für interkontinentale Raketen — wenn man von solchen eines primitiven Typs einmal absieht — außerordentlich lange Zeit. Wir müssen jedoch bedenken, daß die Chinesen so hochentwickelte Systeme, wie sie die Sowjetunion, Großbritannien und die Vereinigten Staaten besitzen, als unwirtschaftlich und unnötig ansehen könnten.

Die chinesische Produktionskapazität für Atombomben ist nach Ansicht des bekannten Atomphysikers Ralph E. Lapp geringer als eine Atombombe monatlich. Aber selbst mit dieser beschränkten Kapazität wird China in einigen Jahren einen beachtlichen Vorrat an Bomben zur Verfügung haben. Mit seinen veralteten Flugzeugen könnte es Bomben von der in Stärke der in Hiroshima verwendeten auf beinahe jedes Ziel auf dem asiatischen Festland, auf Taiwan, Japan und den Philippinen abwerfen. Hanson Baldwin hat darauf hingewiesen, daß dieses Potential zwar gegenwärtig keine Gefahr für den nordamerikanischen Kontinent, jedoch eine „unmittelbare Bedrohung" unserer Alliierten in Asien darstellt und daß sein Vorhandensein „schwerwiegende politische und militärische Probleme aufwirft".

Bei der Einschätzung des gegenwärtigen und zukünftigen chinesischen Militärpotentials sind noch einige andere wesentliche Momente zu beachten. Dazu gehört, daß das Regime sich heute und für eine Reihe von Jahren vor wichtige Entscheidungen gestellt sieht. Seine Führung entdeckte vor einiger Zeit, daß moderne Waffen und Ausrüstung außerordentlich kostspielig sind und daß in einer Mangel-wirtschaft ein unverhältnismäßig großer Anteil der Investitionsmittel erforderlich ist, um eine vielseitige Schwerindustrie zu schaffen und in Gang zu halten und zugleich die technische Revolution in der Landwirtschaft zu beschleunigen, von der die Schaffung der Industrie wesentlich abhängt.

Einer der Wesenszüge einer gelenkten Wirtschaft ist jedoch die Leichtigkeit, mit der die Investitionsmittel an jedem gewünschten Schwerpunkt eingesetzt werden können. Die zentrale Lenkung der gesamten Produktionsstrategie wird in China unter dem Schlagwort „Die ganze Nation ist ein Schachbrett" oder ein „Schachspiel" — „Ch’uan kuo i p’an ch'i" — propagiert.

Während der letzten zwei Jahre haben die Chinesen Schwerpunkte bei der Vergrößerung der Düngemittelindustrie, bei Kunststoffen und bei der Gewinnung und Verarbeitung von Petroleum gebildet. Es ist vorstellbar, daß dieses Prinzip in, sagen wir, zehn Jahren auf die Entwicklung von Kurz-und sogar Mittelstreckenraketen angewendet werden könnte, falls die Führung dies für erforderlich halten sollte. Wenn sie aber diese Entscheidung treffen sollte, so könnte dies nur um den Preis einer Vernachlässigung der produktiven Sektoren einer in mancherlei Hinsicht noch primitiven Wirtschaft geschehen und unter Verzicht auf eine Modernisierung der konventionellen Streitkräfte. Die Decke ist eben zu kurz.

Mit einem Wort, wenn auch einige Faktoren in dem Komplex, der das militärische Potential Chinas darstellt, im großen ganzen mit hinreichender Genauigkeit bewertet werden können, sind wir zu einer objektiven Einschätzung anderer nicht in der Lage.

Das Regime hat sich bisher nicht gerade durch die Beständigkeit seiner Wirtschaftspolitik ausgezeichnet, und das allein macht Voraussagen über die künftige Entwicklung seiner Rüstungsindustrie schwierig, wenn nicht unmöglich. In anderer Hinsicht haben wir entweder nur spärliche oder gar keine Kenntnisse, denn über militärische Angelegenheiten im engeren Sinne werden keine Nachrichten oder Statistiken veröffentlicht. Im besten Falle können wir daher hoffen, der Wahrheit nahe zu kommen, im schlimmsten Falle werden wir nicht mehr als Mutmaßungen anstellen, die absolut irrig sein können. Keine Spekulation ist, daß China eine gewaltige Landmacht ist im Vergleich zu den Ländern, mit denen es gemeinsame Grenzen hat, einschließlich der Sowjetunion. Mit seinen gegenwärtig unter Waffen stehenden Streitkräften könnte es, wenn es wollte, Nepal, das nordostindische Grenzgebiet, Bhutan, Sikkim, Burma, Laos und Thailand buchstäblich überschwemmen; es bedroht Süd-Korea und stellt eine Gefahr für die vor seiner Küste liegenden Inseln und für Taiwan, Indien und Japan dar.

Wirtschaftliche V oraussetzungen

Chinas Menschenmassen, die häufig als ein Element seiner potentiellen Stärke angesehen werden, sind tatsächlich ein ernsthaftes Moment der Schwäche, und wenn die Bevölkerung in den nächsten 20 Jahren in dem Maße zunimmt, wie es nach Meinung der Demo-graphen in den letzten 10 oder 15 Jahren der Fall war, nämlich um 12 Millionen jährlich, könnte diese Schwäche leicht kritische Ausmaße annehmen. Es ist zwar richtig, daß es im tibetanischen und zentralasiatischen Hinterland leere Räume gibt, die jetzt von Han-Chinesen besiedelt werden, die man aus den übervölkerten Städten und Dörfern dorthin schickt. Aber weite Teile dieser Territorien sind unwirtlich, und die bloße Verpflanzung von Menschen in Gebiete, die allenfalls ihre Ernährung sicherstellen, ist nicht mehr als eine zeitweilige Lösung.

Die Moral des Volkes hängt in hohem Maße davon ab. inwieweit die Planwirtschaft in der Lage ist, auf dem Sektor der Konsumgüter-produktion den Minimalforderungen zu genügen, die eine sich rapide vermehrende Bevölkerung an sie stellt. Niemand bestreitet, daß die Chinesen erfinderisch und fleißig sind, aber wenn das Verhältnis zwischen Bevölkerungswachstum und Produktionsanstieg nicht gesteuert wird, werden sie sich sehr beeilen müssen, um bei Ernährung, Bekleidung, Wohnung, Gesundheitsfürsorge, Erziehung, Transport und Verkehr wenigstens auf der Stelle zu treten. Viele Annehmlichkeiten, die für uns selbstverständlich sind, werden knapp sein, wenn sie überhaupt vorhanden sind. Aber die Moral eines Volkes wird durch die kleinen Annehmlichkeiten weder gefördert noch gemindert.

Unerläßliche Voraussetzung für jede Nation, die wie China danach trachtet, in den Klub der Großmächte einzutreten, ist der unbeschränkte Zugang zu reichen Vorräten an Eisenerz, Kohle, Erdöl und einer Vielzahl von Metallen und Mineralien. Wenn sie fehlen, so ist es nicht möglich, die industrielle Grundlage zu schaffen, auf der in der heutigen Welt die militärische Stärke beruht. Es hat den Anschein, als sei China mit diesen Grundstoffen wohl versehen. Nicht alle aber befinden sich in Gebieten, die eine rasche und ergiebige Ausbeutung erlauben. Sinkiang soll reich an Erdöl und Nichteisenmetallen sein. Aber Sinkiang ist weit, weit weg. Bessere Aussichten bieten die Ölfelder im Pfannen-stiel von Kansu

Gegenwärtig kann China keinesfalls seinen jährlichen Minimalbedarf an so grundlegenden Erzeugnissen decken wie Werkzeugmaschinen, legierten Stählen, elektronischen Ausrüstungen, Landwirtschaftsmaschinen, synthetischem Gummi, Fördereinrichtungen, Erdölerzeugnissen, Chemikalien, Turbinen, Generatoren, Motoren, Ausrüstungen für Nachrichtenübermittlung, elektrischen Steuergeräten, Präzisionsinstrumenten, Straßenbaumaschinen, Traktoren, Schwerlastzügen, automatischen Schaltgeräten und Fernmeldeanlagen, Kunststoffen, Elektronenrechnern, Dieselmotoren und elektrischen Lokomotiven. Es kann Düsenmotoren und Flugzeuge montieren, aber es kann sie nicht produzieren. Flugzeuge, Motoren und die hydraulische und elektrische Ausrüstung — ganz zu schweigen von den Navigations-und Feuerleitinstrumenten sowie der Waffenausrüstung, die für moderne Flugzeuge erforderlich sind — können nicht auf Hinterhöfen produziert werden, auch nicht, wenn „die großartigen Ideen des Genossen Mao Tse-tung" Pate stehen.

Die Chinesen sind zwar auf vielen Gebieten beachtlich vorangekommen, darunter in der Elektrotechnik, der hydraulischen Technik, dem Maschinenbau und der Chemie, der Elektronik und Metallverarbeitung; aber in Relation zu den dringlichsten Erfordernissen gesehen ist der Fortschritt nicht sonderlich bemerkenswert. Das Ergebnis der wissenschaftlichen, technischen und industriellen Entwicklung der letzten 15 Jahre ist sehr unterschiedlich. Auf vielen Gebieten setzte die Kommunistische Partei unrealistische Ziele, auf anderen hat sich der politische Dogmatismus störend bemerkbar gemacht. Möglicherweise ist der Mangel an geschulten Naturwissenschaftlern und an technischem Personal entscheidend gewesen. Natürlich trug der Abzug der Russen zu diesem speziellen Aspekt des „Großen Sprunges nach Rückwärts" bei, von dem sich die chinesische Wirtschaft erst jetzt zu erholen beginnt.

Die Partei ist sich über den Mangel an geschultem Personal klar und tut alles in ihrer Macht Stehende, um ihm abzuhelfen. Nach meiner Meinung ist die Voraussage berechtigt, daß China 1975 über einen beachtlichen Stamm von geschulten Naturwissenschaftlern und fähigen Ingenieuren verfügen wird. Heute hat China nicht mehr als ein paar Dutzend Naturwissenschaftler von internationalem Ruf. In zehn bis fünfzehn Jahren mögen es ein paar hundert sein und dazu Tausende von Ingenieuren und gutausgebildeten Technikern. Auf diese Gebiete wird im Erziehungswesen besonderer Wert gelegt.

Organisation und Stärke der Streitkräfte

Mao Tse-tung schrieb: „Wenn einmal die Menschheit den Kapitalismus ausgelöscht hat, wird sie in die Ara des immerwährenden Friedens eintreten und es wird keine Notwendigkeit mehr für Kriege geben. Weder Armeen noch Kriegsschiffe, weder Militärflugzeuge noch Giftgas werden benötigt werden. Danach und für alle Zeit wird die Menschheit keinen Krieg mehr kennen. ” Aber dieses Utopia kann nur durch Waffengewalt erreicht werden. Die chinesischen Führer glauben unerschütterlich daran, daß Kampf, und zwar ein erbitterter Kampf auf Leben und Tod, unvermeidlich ist, solange die „Klassengesellschaft" existiert. Daraus folgt, daß es die heilige Pflicht aller guten Kommunisten — und besonders der chinesischen — ist, den Untergang der rivalisierenden Gesellschaftsordnung mit allen denkbaren Mitteln zu beschleunigen, einschließlich des Krieges.

Ein „gerechter Krieg" ist per definitionem jeder Krieg, der zu diesem Ziel hinführt. China darf daher „gerechte Kriege" zur Durchsetzung von Ansprüchen führen, die es einseitig als legitim ansieht. Ein Beispiel ist der Krieg um die von China beanspruchten indischen Grenzgebiete. Mao Tse-tung hat -ine Reihe anderer „gerechter" Ansprüche auf Gebiete entlang der chinesischen Grenzen angemeldet. Bei verschiedenen Gelegenheiten hat er Bhutan, Sikkim, Nepal, die Ryukyu-Inseln, Taiwan, die Äußere Mongolei, Hongkong, Macao und die China früher tributpflichtigen Länder in Südostasien (ausgenommen Thailand) genannt. Wenn andere Mittel versagen, bleibt als Instrument zur Durchsetzung dieser Ansprüche noch die Volks-befreiungsarmee, eine Streitmacht von 2, 7 Millionen Mann einschließlich Luft-und See-streitkräften sowie Grenztruppen. Die Volks-polizeitruppen stehen nicht mehr unter dem Befehl des Oberkommandos der Volksbefreiungsarmee. Diese auf 500 000 Mann geschätzte Truppe untersteht nun dem Ministerium für Innere Sicherheit. Die genannte Stärke der Volksbefreiungsarmee von 2, 7 Millionen ist den geheimen „Arbeitsblättern der Befreiungsarmee" entnommen, die in den Besitz der US-Regierung gelangt sind, und kann als verläßlich gelten.

Die Bestimmung der politischen Linie und die höchste Machtbefugnis in allen wichtigen Dingen liegt beim Ausschuß für Militärische Angelegenheiten des Zentralen Exekutivkomitees der Partei, der häufig als „Zentralbehörde" bezeichnet wird. Es scheint, daß Marschall Lin Piao, der Verteidigungsminister, gleichzeitig Vorsitzender des Ausschusses für Militärische Angelegenheiten ist; dieser ist wiederum dem Vorsitzenden der Partei, Mao Tsetung, direkt verantwortlich.

Das Land ist in 13 Militärregionen unterteilt, von denen drei, die Innere Mongolei, Sinkiang und Tibet, unter „direktem Befehl" stehen. Der höchste Offizier in jeder Region befehligt die ihr zugeteilten Streitkräfte einschließlich der Miliz. Regionen, die zwei oder mehr Provinzen umfassen, sind in „Distrikte" unterteilt, deren Grenzen den Provinzgrenzen entsprechen. Es gibt 23 solcher „Distrikte".

Ich glaube nicht, daß jemand die militärische Tüchtigkeit dieser Kommandeure oder ihre Ergebenheit der Partei gegenüber in Zweifel zieht. Ihre Fähigkeit zur Ausführung kombinierter Operationen verschiedener Waffengattungen ist noch nicht auf die Probe gestellt worden. Sie sind jedoch in der Lage, einfallsreiche und exakte Pläne aufzustellen. In Korea war aus ihrer Reaktion auf Gefechtssituationen zu schließen, daß sie geistig weniger beweglich als wir waren. Wenn das noch zutrifft, ist es natürlich ein schwerwiegender Mangel.

Die Masse der Mannschaften der Volksbefreiungsarmee (2 Millionen Mann) soll in ungefähr 40 Feldarmeen formiert sein, deren jede aus drei Infanteriedivisionen als Grundeinheiten besteht. Eine chinesische Feldarmee kann nicht einem Korps der US-Armee gleichgesetzt werden, das über eine größere Feuerkraft und außerordentlich bewegliche und leistungsfähige Nachschubeinrichtungen verfügt. Beiläufig gesagt, die Schätzungen der Anzahl der 11 000 bis 12 000 Mann starken Infanterie-divisionen schwanken zwischen 105 und 154.

Die Armee ist ausreichend ausgerüstet mit modernen Infanteriewaffen, z. B. automatischen Gewehren, Maschinenpistolen aller Typen, leichten und schweren Maschinengewehren, leichten und mittleren Mörsern (60 mm, 82 mm und 122 mm), 90 mm Raketenwerfern, rückstoßfreien Geschützen (57 und 75 mm) und leichter und mittlerer Artillerie. All das wird in China hergestellt. Mangel besteht jedoch an schwerer Artillerie und Geschützen auf Selbstfahrlafetten, Lastwagen und anderen Militärfahrzeugen, schwerer Pionierausrüstung und Panzern, abgesehen von den veralteten T 34. Von dem Mangel an einigen dieser Materialien war in den „Arbeitsblättern" die Rede. Auf andere Mängel kann aus den chinesischen „Wunschlisten" geschlossen werden, die ausländischen Firmen und auf Handelsbeziehungen begierigen Regierungen übergeben wurden.

Es ist schwer zu sagen, was die Chinesen an Raketen haben, aber man kann annehmen, daß seit 1961, als die „Arbeitsblätter" den Fehlschlag zumindest eines Angriffs auf ein über Peking fliegendes nationalchinesisches Aufklärungsflugzeug enthüllten, die Chinesen energisch an Luft-Luft-, Kurzstrecken-Boden-Boden-und Boden-Luft-Raketen und Lenkwaffen gearbeitet haben. Die Russen sollen den Chinesen einige Raketen geliefert haben. Um welchen Typ es sich genau gehandelt hat, verrät die Quelle — es war Chruschtschow — nicht. Ein anderer kritischer Sektor, dem ebenfalls Beachtung geschenkt wird, sind strategische und taktische elektronische Nachrichten-mittel und Radar. Hier sind die Chinesen vermutlich auf dem Stande, den die westlichen Armeen, Flotten und Luftwaffen 1941/42 erreicht hatten.

Ein schweres Hindernis für wirksame Operationen ist die Knappheit an technischem Personal und seine geringe Qualifikation. Man findet ständig Hinweise darauf in den „Arbeitsblättern". Die Klagen konzentrieren sich auf den schlechten Instandhaltungsgrad von Flugzeugen, Lastwagen und Schiffen, was auf die Unerfahrenheit und Sorglosigkeit des Personals und einen kritischen Mangel an Ersatzteilen zurückgeführt wird. Die Unfallquoten in allen Waffengattungen waren jedenfalls 1960/61 hoch. Die taktische Beweglichkeit der Armee ist ausgezeichnet, ihre strategische Beweglichkeit hingegen ist gering einzuschätzen. Die Lufttransportkapazität ist kärglich, selbst wenn alle Zivilflugzeuge eingesetzt würden, überdies können nur Mannschaften mit Handfeuerwaffen und leichten Infanterie-waffen befördert werden. Nach Schätzungen liegt die Transportkapazität bei zwei Bataillonen. Die Eisenbahnverbindungen von Nord nach Süd sind in gutem Zustand, aber es gibt zu wenig Ost-West-Verbindungen. Die Eisenbahnen können an gefährdeten Stellen aus der Luft oder durch Sabotage unterbrochen werden. Es gibt kein modernes Autobahnnetz, und seihst wenn eins vorhanden wäre, könnte die Volksbefreiungsarmee wegen des akuten Mangels an Kraftfahrzeugausrüstung kaum Gebrauch davon machen. 1961 erklärte Wang Shou-tao, der Verkehrsminister, in einer freimütigen Diskussion der Transportprobleme, daß die Hälfte des chinesischen Straßennetzes bei Regenwetter unbenutzbar sei. Damals — und seitdem hat sich wenig geändert — wurde praktisch der ganze ländliche Warenverkehr auf kurzen Strecken durch Wagen, die von Tieren gezogen wurden, durch Träger, Schubkarren, Esel, Kamele und auf Seen, Flüssen und Kanälen mittels von Tieren oder Menschen gezogenen Lastkähnen, Segelbooten und Motordschunken bewältigt.

Eine warnende Bemerkung ist hier vielleicht am Platze. In jeder Militärregion gibt es ohne Zweifel eine oder mehrere vollmotorisierte Elitedivisionen, die zu schneller Bewegung in der Lage sind, selbst zur Nachtzeit. Die Chinesen haben gelegentlich mit beträchtlicher Schnelligkeit Truppen in die südöstlichen Küstengebiete verlegt. In Korea haben ihre Truppen unter außerordentlich widrigen Wetter-und Geländebedingungen eine unübertroffene Beweglichkeit bewiesen. Im letzten wurde Jahr der Schwerpunkt der Ausbildung auf Nachtmärsche gelegt, und die hohen Anforderungen — 60 Kilometer in voller Ausrüstung taktische — zeigen, die Beweglichkeit immer noch, wie schon in Korea, auf der Marschleistung der Soldaten beruht.

Die Luftwaffe zählt heute ungefähr 2 600 Flugzeuge, davon einige 2 000 Düsenmaschinen. 1 600 von diesen sind vom Typ MIG 15 und MIG 17. Der Rest sind leichte und mittlere Bomber (400 davon sind Düsenflugzeuge, die nicht die Schallgeschwindigkeit erreichen), Schulflugzeuge, Hubschrauber und einige wenige Transportmaschinen. 60— 80 MIG 19 sind gemeldet, aber keine MIG 21. Eine kleine Marineluftwaffe ist in diesen Zahlen enthalten. Im Jahre 1963 kamen Düsenpiloten auf durchschnittlich 8— 10 Flugstunden. Demgegenüber sehen die Luftwaffen der Vereinigten Staaten, Japans und Nationalchinas 20 Flugstunden als das Minimum an, um die Flugtauglichkeit aufrechtzuerhalten. 1961 waren eine nicht genau bekannte Anzahl von Flugzeugen ständig auf dem Boden, weil nicht genügend Treibstoff und Ersatzteile vorhanden waren. Den „Arbeitsblättern" ist zu entnehmen, daß die Unfallquoten hoch waren und daß die Piloten einen großen Teil ihrer „Ausbildung" auf dem Boden erhielten. Die Zahlenangaben für die Flugstunden können jedoch irreführend sein, denn die Luftwaffe kann von Zeit zu Zeit ausgewählte Staffeln auf einen hohen Aus-bildungsstand brinqen und tut das wahrscheinlich auch. Ferner können durch Herabsetzung der Flugzeit für ältere, erfahrene Piloten mehr Stunden für jüngere Piloten herausgeholt werden.

Ein turnusmäßiger Wechsel der Einheiten im südöstlichen Küstengebiet, wo „Alarmstaffeln" mehr als die durchschnittlichen Ausbildungsstunden für Abfangjagd, Tiefangriff, Instrumentenflug, Schießen usw. absolvieren, kann dazu beitragen, die Flugtauglichkeit der Piloten auf einen höheren Stand zu bringen, als sich aus den obigen Zahlen schließen läßt. (Nebenbei gesagt, als die Kommunisten sich 1958 über der Formosastraße mit den Nationalen herumschlugen, war das Abschußverhältnis 16 zu 1 zugunsten der letzteren, und die Mehrzahl der nationalen Verluste trat ein, bevor die Nationalen mit Sidewinder-Raketen ausgerüstet wurden.)

Um die veralteten Flugzeuge flugfähig zu erhalten, müssen die Chinesen einen Teil der Maschinen „ausschlachten", zumindest solange, bis sie Ersatzteile von hoher Qualität produzieren oder aus dem Ausland beschaffen können. Aus ihrem Interesse am Kauf von Werkzeugmaschinen und Fabriken zur Produktion von Werkzeugmaschinen kann auf den akuten Mangel an solchen Ersatzteilen geschlossen werden. Die Neuausrüstung der Luftwaffe mit modernen Flugzeugen aller Typen dürfte ein dringliches Problem sein.

Eine kritische Versorgungslücke besteht bei Treibstoff für Düsenflugzeuge. Wenn die Chinesen auch vor kurzem gemeldet haben, daß sie bei Erdölprodukten die Autarkie erreicht hätten, so darf man diese Behauptung wohl mit Skepsis aufnehmen. Was sie erreicht haben mögen, ist die Autarkie bei Rohöl. Das ist ein wichtiger erster Schritt. Aber es sind noch viele Hindernisse zu überwinden, bevor Treibstoff in ausreichenden Mengen an die Endabnehmer geliefert werden kann. Hier ergibt sich wieder das Dilemma von konkurrierenden Ansprüchen und begrenzten Hilfsquellen. Die Planung und Errichtung von Raffinerien und Rektifikationsanlagen und die Herstellung von Einrichtungen für den Transport, die Lagerung und Handhabung des flüchtigen Düsentreibstoffes stellen eine Vielzahl komplizierter technischer und ingenieurwissenschaftlicher Probleme, ganz zu schweigen von der beträchtlichen Investiticn von hochqualifizierter Arbeit, Material und Kapital.

Alles in allem ist die Kampfkraft der Luftwaffe gering — selbst wenn es um die Verteidigung des Heimatlandes geht —, und es besteht wenig Aussicht, daß sie sich in naher Zukunft sehr verbessern wird, wenn Rußland nicht massive Unterstützung gewährt. Gegenwärtig könnte die chinesische Luftwaffe keine ausgedehnteren Offensivoperationen über die Grenzen Chinas sie auf hinaus führen, wenn Widerstand moderner Luftstreitkräfte stößt. Ja, wir dürfen wohl annehmen, daß sie im Moment allenfalls zur Abwehr schwacher örtlicher Luftangriffe fähig ist.

Die chinesische Marine besteht im wesentlichen aus U-Booten und Küstenpatrouillenbooten. Die genaue Anzahl der U-Boote mit großer Reichweite (15 000 km) ist nicht bekannt, aber man schätzt sie auf 20. Einige davon (sowjetische W-Klasse) können mit Kurzstreckenraketen (400— 600 km Reichweite) ausgerüstet werden. Es besteht die Möglichkeit, daß einige wenige umgebaut worden sind und ein bis zwei solcher Raketen tragen. Würden diese Raketen mit atomaren Sprengköpfen versehen, so könnte diese U-Boot-Streitmacht in einiger Zukunft für die Städte an der Westküste der Vereinigten Staaten eine erhebliche Bedrohung darstellen. Die Marine Küstenminen kann legen und ist mit ihren schnellen Motortorpedobooten in der Lage, die in Küstengewässer eindringenden Schiffe anzugreifen. Sie ist kaum dazu imstande, amphibische Operationen, vor allem gegen Taiwan, durchzuführen. Die Vorstellung von Tausenden von Dschunken, die die Formosastraße überqueren, ist angesichts einer kampfkräftigen nationalchinesischen Luftwaffe absolut unrealistisch. Und die Kommunisten wissen, daß die nationalchinesische Luftwaffe heute kampfkräftig ist.

Die Volksbefreiungsarmee ist — und das sollte hier erwähnt werden — in mancherlei Hinsicht einzigartig. Erstens hilft sie in der Landwirtschaft und in der Industrie, beim Straßen-und Eisenbahnbau, bei wasserwirtschaftlichen Projekten vom Staudammbau über die Ufer-befestigung und Kanalbau bis zu örtlichen Bewässerungsvorhaben. Die Volksbefreiungsarmee ist ein allzeit bereites, diszipliniertes Arbeitsheer, das im Notfall an jedem Projekt eingesetzt werden kann. Sie baut einen hohen Prozentsatz des Getreides, das sie verbraucht, selbst an, züchtet ihre eigenen Schweine, Hühner und Enten und verbessert ihre Rationen durch Jagd und Fischfang, wo immer sich Gelegenheit dazu bietet. Ferner stellt sie ihre Uniformen, Schuhe, Decken und Bettzeug selbst her, baut ihre Kasernen und anderen Anlagen und hält alle Einrichtungen selbst instand.

Wir könnten uns fragen, wann die Volksbefreiungsarmee Zeit zur Ausbildung findet. Dies ist anscheinend eines der Probleme, über die sich Marschall P’eng Teh-huai und sein Stabschef, General Huang K’o-ch’eng, Sorgen machen. Pech für sie, daß sie ihrer Sorge anscheinend laut Ausdruck gaben.

Zwei bedeutende Anhängsel der Volksbefreiungsarmee sind die Volkspolizeitruppen und die Miliz. Die Miliz ist während der vergangenen drei Jahre drastisch vermindert, gesäubert, reoganisiert und umgebildet worden. Nach neueren Berichten wird sie wieder verstärkt. Die Bewegung „Jeder Mann ein Soldat" wurde 1958 gestartet, als der „Große Sprung nach Vorn" begann und die Partei es im Interesse einer gesteigerten Produktion für notwendig befand, die ländliche Bevölkerung zu mobilisieren. Als Grund für diese radikale Politik wurde angegeben, daß die amerikanischen „Imperialisten" zusammen mit Tschiang Kai-scheks „Banditen" das Vaterland bedrohten.

Offensichtlich lieferte die Miliz der Partei ein Mittel, um die Massen zu disziplinieren, zu kontrollieren und ideologisch zu schulen. Während der dreißiger und vierziger Jahre hatte die Partei beträchtliche Erfahrungen gesammelt, als sie eine Miliz organisierte, um ihre Kontrolle zu verstärken und auf jedes Dorf und jeden Bezirk auszudehnen, die unter ihrer Herrschaft standen, und außerdem eine Untergrundmiliz in den Gebieten, wo ihre Verwaltung illegal war. Die Bewegung „Jeder Mann ein Soldat" war infolgedessen in den Augen der Parteiführer das geeignete Instrument in der Kampagne zur Kollektivierung und Militarisierung der ganzen Nation.

Aber 1960 entdeckte die Partei zu ihrem Entsetzen, daß ihr Milizsystem einfach nicht funktionierte. In nicht wenigen Gebieten existierte die Organisation nur auf dem Papier. Eine Anzahl von Bauern wußte auf Befragen nicht, ob sie Mitglieder waren oder nicht. Die „Arbeitsblätter” führen mehrere Fälle von Milizmännern an, die Waffen stahlen und Banditen wurden. Offenbar mußten radikale Maßnahmen ergriffen werden, und angesichts dieser betrüblichen Situation reorganisierte die Partei die Miliz von Grund auf.

Zumindest bis vor kurzem traten alle Jugendlichen, die nicht zur Volksbefreiungsarmee einberufen wurden, automatisch in die Miliz (chi kan min ping) ein. Alle demobilisierten Soldaten werden ihr automatisch überstellt. Alle Studenten technischer Fach-und Hoch-schulen sind Mitglieder der örtlichen Miliz-kompanien oder -bataillone. In den Städten sind alle Bankangestellten, Eisenbahnarbeiter, Staatsangestellten usw. unter 26 Jahren in Betriebs-Milizeinheiten zusammengefaßt. Es hat den Anschein, daß man der Ausbildung und ideologischen Schulung der Miliz-angehörigen in den südlichen Küstengebieten besondere Aufmerksamkeit gewidmet hat.

Die Volksbefreiungsarmee hat den Befehl über die Miliz, ist verantwortlich für ihre Ausbildung und hat ihre Waffen in Obhut. Die Aufsicht über die Miliz, einerseits eine Belastung, zahlt sich für die Volksbefreiungsarmee durch die bessere Qualität der Einberufenen aus, die nun mit zumindest grundlegenden Kenntnissen der Infanteriewaffen zur dreijährigen Dienstpflicht einrücken und darüber hinaus fähig sind, sich schnell in das militärische Leben einzufügen.

Bis zum August 1958 standen die Sicherheitstruppen ebenfalls unter dem Oberbefehl der Volksbefreiungsarmee. Seitdem sind sie der Partei unterstellt, über ihre Organisation und Ausrüstung ist kaum etwas bekannt. Man kann jedoch ohne weiteres annehmen, daß sie über ausgesuchtes Personal verfügen, das mit Handfeuerwaffen und schweren Waffen ausgerüstet ist und an dessen Zuverlässigkeit es keinen Zweifel gibt. Schätzungen ihrer Stärke schwanken zwischen 185 000 und 700 000 Mann.

Kampfgeist und ideologische Verfassung der Volksbefreiungsarmee

Wenn schon die Bevölkerung insgesamt einer strengen Überwachung und einer ständigen ideologischen Beeinflussung unterworfen ist, können wir unterstellen, daß noch weit schärfere Maßnahmen ergriffen worden sind, um sicherzustellen, daß die chinesische Volks-befreiungsarmee immer das Richtige denkt und unerschütterlich unter dem Großen Roten Banner des Genossen Mao Tse-tung marschiert. Die Glaubensüberzeugung der Armee ist einzigartig. Sie wurde gut zusammengefaßt in der China News Analysis, einem wöchentlich in Hongkong erscheinenden Nachrichtendienst, vom 7. September 1962: „Eine kommunistische Armee, und ganz gewiß die chinesische, unterscheidet sich grundlegend von einer . kapitalistischen', zumindest von jener der Zeit, bevor man — unglücklicherweise — an das Seelenleben der Soldaten mit den Maßstäben der Psychoanalyse heranging. In der guten alten Zeit brüllte der Feldwebel, so laut er konnte, und alle gehorchten. Der Feldwebel interessierte sich nicht für Deine Weltanschauung oder dafür, ob Du überhaupt eine hattest. In der Volksbefreiungsarmee ist das ganz anders. Auf der Kompanieebene, wo man sich von Mensch zu Mensch gegenübersteht, ist der wahre Befehlshaber nicht der Kompaniechef. Es ist der politische Berater, ein Genosse, dessen Neugier keine Grenzen kennt. Er will wissen, ja es ist seine Pflicht zu wissen, nicht nur was Du tust, sondern vor allem was Du denkst, ob Du die Gedanken Mao Tse-tungs denkst. Es ist seine Aufgabe dafür zu sorgen, daß Du es tust.

Er steht nicht allein. Als Helfer hat er Männer, die kanpu. genannt werden, Kader, die für diese Aufgabe ausgebildet sind oder sein sollten. Aber alle anderen müssen ihnen helfen. Jedermann, Offizier und Soldat, muß jedem helfen, daß er auch die Gedanken des Genossen Mao denkt, und muß Meldung erstatten, wenn jemand einen Winkel seines Gehirns für einen privaten Gedanken reserviert hat. Das wäre gefährlich. Ein hoher General hat erklärt, daß so etwas beim ersten Auftauchen entdeckt werden muß, bevor noch Schaden angerichtet wird. Es ist eine Art von Minensuche in den Gehirnen von Menschen."

Nach einer eingehenden, überall im Lande vorgenommenen Überprüfung von Einheiten der Volksbefreiungsarmee gab die Allgemeine Politische Abteilung im Oktober und November 1961 eine Reihe von Direktiven heraus, die die ideologische Situation in den Streitkräften zu verbessern bestimmt waren und die Vorherrschaft der Partei sichern sollten.

Dies steht im Einklang mit der Ansicht der Partei von dem Verhältnis zwischen Politik und Militär. Vor vielen Jahren hat Mao die Richtlinien für diese Auffassungen festgelegt. „Die Partei kommandiert die Kanone; die Kanone wird niemals die Partei kommandieren" und „Im Krieg ist der Mann, nicht das Material entscheidend." Diese Thesen werden ständig von den Mitgliedern der Hierarchie nachgebetet.

General Hsiao Hua, Stellvertretender Leiter der Allgemeinen Politischen Abteilung der Volksbefreiungsarmee, sagte z. B. in einer Ansprache vor der „Tagung der Politarbeiter" der Armee am 14. Februar 1963: „Wenn die Rolle der Waffen und technischen Ausrüstung in einem modernen Kriege auch immer wichtiger geworden ist, ist der Mann und nicht das Material kriegsentscheidend. Letzten Endes hängen Sieg oder Niederlage im Kampf von der Tapferkeit des einzelnen Mannes, von seinem Kampfgeist, von seiner Bereitschaft zum Opfer ab.

Die Beschlüsse des Ausschusses für Militärische Angelegenheiten haben deutlich gemacht, daß die materielle Atombombe zwar sehr wichtig ist, die geistige ist aber noch viel wichtiger. Eine revolutionäre Armee fürchtet sich nicht vor dem Feind, gleichgültig wie mächtig er ist. Sie fürchtet sich vor keiner Waffe, gleichgültig wie zerstörerisch sie ist. Wovor sich eine revolutionäre Armee fürchtet, ist politische Rückständigkeit, Isolierung vom Volke und mangelnder Entschlossenheit, zu kämpfen.

Mao Tse-tung hat uns gelehrt, daß die Politik absoluten Vorrang hat. Wenn wir politisch und ideologisch gute Arbeit leisten, kommt alles andere von selbst. Wenn wir also eine kampfkräftige Armee aufbauen wollen, müssen die Kader zuerst gründlich lernen, was Genosse Mao über den Volkskrieg denkt, und sie müssen in all ihrem Handeln von den Gedanken des Genossen Mao geleitet werden.

Die wesentlichste Aufgabe bei der politisch-ideologischen Arbeit ist es, das große Rote Banner der Maoschen Gedanken zu hissen, seine Gedanken bei der Schulung der Kommandeure zu nutzen, dafür zu sorgen, daß jedermann seine Schritten studiert, nach seinen Anweisungen arbeitet und ein guter Soldat Mao Tse-tungs wird ..."

Die Frage ist, ob diese Aufgaben, wie sie in den Anweisungen zusammengefaßt und durch den Genossen General Hsiao Hua umrissen worden sind, erfolgreich erfüllt werden. Ich stehe nicht an, diese Frage zu bejahen. Während der letzten drei Jahre haben mehrfache ideologische „Umerziehungs" -Kampagnen zweifellos die „bourgeoisen Überreste" und „verborgenen konterrevolutionären Elemente" im Offizier-und Unteroffizierkorps sowie die „russifizierten" Offiziere, Anhänger des früheren Verteidigungsministers Marschall P’eng Teh-huai, und andere Abweichler und Unzufriedene aufgespürt und ausgetilgt.

Die Kontrolle, die der Ausschuß für Militärische Angelegenheiten gefordert hat, ist allumfassend. Sie geht in die Breite und in die Tiefe, sie ist vertikal und horizontal. Aktivisten in Zügen, Gruppen, Geschützbedienungen, Flugzeugbesatzungen, d. h. in den kleinsten militärischen Einheiten, sind auf der Hut, um Anzeichen „falscher Gedanken" zu entdecken. Werden welche entdeckt, oder glaubt man auch nur, daß sie vorhanden sind, beginnt die „Umerziehung".

Ein gutes Beispiel für das Vorgehen der Partei gegen eine bestimmte Gruppe liefert die Hsia Lien Tang Ping (Geh zu den Kompanien und Soldaten) -Kampagne, die sich zwischen 1959 und 1962 gegen das Offizierskorps richtete. Während dieser Kampagne, die jeden Offizier von Lin Piao bis zum jüngsten Leutnant traf, dienten Offiziere für bestimmte Perioden als einfache Soldaten und verrichteten alle niedrigen Dienste, darunter Spucknäpfe und Latrinen säubern, Geschirr spülen, Kasernen und Kasernenhöfe in Ordnung halten usw. Die Partei gab als Grund dafür an, daß so die „Einheit" von Offizieren und Mannschaften sichergestellt werden sollte. Vielleicht. Aber es ist nicht zu übersehen, daß die Kampagne noch einen anderen Aspekt hatte:

sie stellte eine Stralaktion dar. Zweifellos waren einige Offiziere gegen diese Art der Umerziehung. Wenn sie ihrem Widerwillen laut Ausdruck gaben, wurden sie aus dem Offizierskorps ausgestoßen. Da man nichts mehr von der Hsia Lien-Bewegung hört, ist anzunehmen, daß dieser Akt der Säuberung abgeschlossen ist.

Es gibt noch einige andere Mittel, die in dem Umerziehungsprozeß angewendet werden. Das bekannteste ist die öffentliche Selbstkritik. Hier werden Offiziere und Soldaten dazu gebracht, ihre geheimsten Gedanken offenzulegen und der Versammlung ihre ideologischen Fehler zu bekennen. „Bevor ich die Werke des Vorsitzenden Mao studierte, war ich arrogant und bürokratisch und behandelte die Soldaten in meinem Zug zu hart. Jetzt aber, nachdem ich die erleuchtenden und gedankenreichen Schriften unseres verehrten Vorsitzenden studiert habe, bin ich gründlich belehrt." Usw., usw.

Eine andere bevorzugte Art geistiger und emotioneller Therapie sind Versammlungen zur „Erinnerung an vergangene Härten und Besinnung auf gegenwärtige Annehmlichkeiten". Boi diesen Zusammenkünften, die geradezu „Haß-Versammlungen" sind, werden die Soldaten dazu gebracht, sich in einen an Hysterie grenzenden Zustand hineinzusteigern. während allere Männer von den Greueltaten berichten, die Grundbesitzer, Kaufleute, andere bourgeoise Elemente und Imperialisten vor 1949 verübt haben. Die „Arbeitsblätter" geben dazu die Anweisung, daß die Kader das allgemeine Weinen nicht „erzwingen" sollen. Daraus folgt offensichtlich, daß solche Ausbrüche wilden Schmerzes zwar gefördert, aber nicht verlangt werden sollten. Nach den Wehklagen sinnen die Soldaten über die „gegenwärtigen Annehmlichkeiten" nach (natürlich laut).

Gegenwärtig ist noch eine dritte Erfindung bei der Volksbefreiungsarmee beliebt: die „Wetteifer" -Kampagne. Solche Kampagnen waren in der Landwirtschaft und Industrie allgemein üblich, aber vor 1962 noch nicht bei den Streitkräften eingeführt worden. Dabei wird ein bestimmter Mann oder eine Einheit (einige zweifellos frei erfunden — ihre angeblichen Tugenden und Leistungen sind wirklich unglaublich) als Musterbeispiel der Genügsamkeit, des Fleißes, der „Liebe zum Volk", der „Liebe zur Partei" und des Eifers beim Studium der Werke Mao Tse-tungs herausgestellt. Wenn eine Wetteifer-Kampagne begonnen wird, werden alle Register gezogen. Einer der Zwecke dieser verschiedenen Kampagnen ist es, den revolutionären Eifer der Soldaten wach zu halten. In den Presseberichten wird häufig darauf hingewiesen, wie notwendig es sei, den revolutionären Elan zu bewahren, der die Achte Feldarmee auszeichnete.

Die Partei hat noch ein anderes Mittel, die ideologische Zuverlässigkeit sicherzustellen, nämlich den Einberutungsmodus. Seit 1959 hat sie viel strengere Maßstäbe angelegt als zuvor. Um die jährlich erforderlichen 750 000 Mann einzuziehen, braucht die Volksbefreiungsarmee lediglich jeden siebten oder achten aus den ungefähr 6 Millionen Achtzehn-jährigen auszuwählen. Auf diese Weise kann die Partei sicherstellen, daß nur ideologisch zuverlässige junge Männer aus einwandfreien Familienverhältnissen einberufen werden. überdies können hohe Anforderungen an die geistige und physische Leistungsfähigkeit der Männer gestellt werden. Das gilt auch für Offiziersanwärter.

Aus diesen Gründen wäre es unrealistisch, auf eine Krise der Moral der Volksbefreiungsarmee zu setzen oder Hoffnungen zu hegen, daß die Streitkräfte oder nennenswerte Teile davon sich der Partei gegenüber illoyal verhalten würden. Auf Formosa gilt es als ausgemacht, daß die Volksbefreiungsarmee im Begriffe ist auseinanderzufallen. Ich halte das für Wunschdenken. Es mag in der Zukunft Spaltungen in der höheren Befehlshierarchie geben, es mag gelegentlich Überläufer geben; aber die Vorstellung, die Streitkräfte beherbergten bedeutendere parteifeindliche Elemente, ist illusorisch. Die Volksbefreiungsarmee oder die Volkspolizeitruppen könnten zum entscheidenden Faktor werden, wenn es nach Maos Tod einen Bruch in der Führungsgruppe geben sollte. Aber daß die Volksbefreiungsarmee von sich aus handeln könnte, um der Partei die Kontrolle über den Staatsapparat zu entwinden, dürfte außerordentlich wenig Wahrscheinlichkeit für sich haben. Sähe man die Volksbefreiungsarmee nicht als absolut zuverlässig an, so würde man sie nicht der ganzen Nation als Vorbild empfehlen, wie es gegenwärtig geschieht. Dem chinesischen Volk wird heute ständig eingetrichtert: „Lernt von der Volksbefreiungsarmeei" Lernt Genügsamkeit, Fleiß, bedingungslosen Gehorsam, Liebe zur Partei, Verehrung für den Vorsitzenden Mao!

Die „Arbeitsblätter" enthüllen, daß die Führerqualitäten auf den unteren Ebenen Anlaß zur Besorgnis gegeben haben. Sehr wenige Offiziere unterhalb des Ranges eines Oberstleutnants — d. h. eines Bataillonskommandeurs — haben irgendwelche Kampferfahrung. Daher wird gegenwärtig das Schwergewicht auf Unterricht und Ausbildung gelegt. Die politische Schulung ist nicht in den Hintergrund gerückt, wird aber nicht ganz so nachdrücklich betrieben. Die Volksbefreiungsarmee verfügt über ein sorgfältig abgestuftes Schulsystem, und wir haben allen Grund anzunehmen, daß die Qualifikation des Offizierskorps rasch zunimmt. Die wesentlichste Frage ist, in welchem Maße, wenn überhaupt, die allumfassende Kontrolle der Partei die Moral und operative Beweglichkeit der Streitkräfte in Mitleidenschaft zieht. Sicherlich werden sich im Gefecht Lagen ergeben, in denen militärische und politische Kommandeure zu gegensätzlichen Auffassungen kommen.

Die Anweisungen sagen darüber, daß in kritischen Gefechtslagen die Ansicht des militenrischen Kommandeurs den Vorrang hat. In allen anderen Fällen sollte bei unterschiedlichen Meinungen die nächst höhere Befehls-ebene zur Entscheidung angerufen werden. Wir wissen, daß in Korea tatsächlich die politischen Offiziere und ihre militärischen Gegenüber gelegentlich in eine solche Sackgasse geraten sind, mit dem Ergebnis, daß kritische Entscheidungen oft nicht getroffen wurden, wenn es eigentlich notwendig gewesen wäre. General Mark Clark z. B. spielt darauf an: „Das System hatte eine Schwäche in der militärischen Führung auf den unteren Ebenen zur Folge und zwang die Chinesen zum Verzicht auf Beweglichkeit bei ihren Operationen. Individuelle Initiative im Einsatz war in der chinesischen Armee selten."

Dieser Mangel an Beweglichkeit auf der Zug-, Kompanie-und Bataillonsebene wurde von Offizieren des US-Marinekorps bemerkt und fand Eingang in die offiziellen Berichte. Tatsächlich haben die Chinesen Schritte unternommen, um diese Mißstände zu beseitigen, aber mir ist nichts Näheres darüber bekannt, um was für Maßnahmen es sich gehandelt hat. Andererseits gibt es keinerlei Beweise für einen Mangel an Initiative bei den unteren Befehlshabern während der chinesisch-indischen Kämpfe. Gerade das Gegenteil scheint der Fall zu sein.

Offenbar gibt es bei der politischen Führung keinen Zweifel daran, daß das System sich in Krieg und Frieden bewährt hat und daß es ein entscheidender Faktor bei der Förderung und Aufrechterhaltung des hohen Niveaus von Loyalität, Moral und Disziplin ist.

Strategische Möglichkeiten

China ist kaum zu einer länger dauernden umfassenden militärischen Operation über seine Grenzen hinaus in der Lage. Seine gegenwärtige militärische Ohnmacht resultiert vornehmlich aus der Einstellung der sowjetischen Hilfe. Das Ergebnis dieses Stops war, daß China seit fünf Jahren keine militärischen Lieferungen, keine technische Unterstützung und keine Beratung mehr erhält. Diese wären für die Schaffung einer ausgewogenen Streit-macht unbedingt erforderlich gewesen. Wenn wir jedoch die Möglichkeit kommunistischer militärischer Aktionen richtig einschätzen wollen, dürfen wir uns nicht, wie Mao sagt, auf „einen rein militärischen Standpunkt" beschränken, sondern müssen die innen-und außenpolitische Lage mit in Betracht ziehen. Sollte die Partei zu der Auffassung kommen, daß die Moral des Volkes einer kräftigen Injektion bedürfe, so könnte sie gleichzeitig mit einer neuerlichen intensiven Bombardierung von Quemoy und Matsu eine xenophobische Kampagne gegen die USA starten oder sie könnte die Inder derart provozieren, daß ein weiterer „Gegenangriff zur Selbstverteidigung" erforderlich wäre.

Heute ist die Volksbefreiungsarmee nicht einmal zu den primitivsten Operationen kombinierter Land-, See-und Luftstreitkräfte in der Lage. Bei den Bodentruppen ist der Nachdruck in der Ausbildung während der letzten fünf Jahre auf den einzelnen Mann, den Zug und die Kompanie gelegt worden, wobei Nacht-marsch, Einsickern, Nachtgefecht und Nahkampftechnik besondere Berücksichtigung fanden. Man darf vermuten, daß Regiments-und Divisionsmanöver in engem Zusammenwirken mit Infanterie, Panzern, Artillerie und Luftstreitkräften auf Eliteeinheiten beschränkt sind, wenn sie überhaupt stattfinden, was ich bezweifle. Den gesamten Streitkräften ist eine Kampagne zur Einsparung von Treibstoff, Kohle, Elektrizität und Material aller Art — einschließlich unbrauchbaren Kleidungsstücken und Schuhsohlen — auferlegt worden, und es ist höchst unwahrscheinlich, daß die Partei kostspielige, Munition verschwendende Übungen in einem Umfang, der für die Erreichung der Kampftüchtigkeit erforderlich ist, zulassen würde, da es doch an so vielem Lebensnotwendigem fehlt. Die Ausbildung in kleinen Einheiten genügt jedoch für Gefechtslagen, die in Südostasien entstehen könnten. Angesichts seiner geographischen Lage kann China seinen geschworenen Feind, die Vereinigten Staaten, nur indirekt in Süd-Korea angreifen. Daß es in diesem Raum konventionelle Kampfhandlungen provoziert, ist kaum mehr als eine entfernte Möglichkeit, aber sie kann nicht völlig außer acht gelassen werden. China könnte hier auf anderweitige Pressionen reagieren oder entlang des 38. Breitengrades Unruhe stiften, um von anderen Aktionen abzulenken. Angesichts der Entzweiung mit Rußland würde ein einseitiges Vorgehen in Korea ein unannehmbares Risiko darstellen. Andererseits könnte ein solcher Angriff ganz bewußt in der Absicht unternommen werden, die Russen hineinzuziehen und so einen allgemeinen Krieg heraufzubeschwören, bei dem die Chinesen nach ihrer Ansicht mit Sicherheit nur gewinnen können. Konventionelle Streitkräfte könnten in Südostasien eingesetzt werden; aber wiederum wäre das Risiko groß. In diesem Raum verfügen die Vereinigten Staaten und ihre Ver-bündeten über eine unvergleichlich größere strategische und taktische Beweglichkeit und daher über viel mehr Auswahlmöglichkeiten als die Chinesen, die außerdem vor überaus schwierigen Nachschubproblemen stünden. Ferner könnten Chinas Gegner mit Träger-flugzeugen, schnell beweglichen amphibischen Streitkräften und einer bedeutenden Lufttransportkapazität Schläge gegen beliebige Ziele an der chinesischen Südostküste oder in anderen Gebieten im Rücken der Chinesen führen. Die Furcht vor einer umfassenden Landung der Nationalchinesen an der Südostküste oder auf Hainan stellt eine weitere und vielleicht entscheidende Abschreckung vor Abenteuern mit konventionellen Streitkräften im Süden dar.

Eine Rückgewinnung der Mongolei, die laut Mao chinesisches Gebiet ist, mit militärischen Mitteln erscheint für die voraussehbare Zukunft unwahrscheinlich. Wenn die Chinesen Einfluß auf dieses Land nehmen und es sich allmählich einverleiben wollten, würden sie sicherlich zu Aufwiegelei, Subversion und zur Unterstützung verräterischer Umtriebe greifen. Die Russen sind jedoch auf diesem Gebiet ebenso erfahren wie die Chinesen. Dasselbe gilt für Sinkiang, wo keine genau festgelegten natürlichen Grenzen bestehen und wo es bis vor kurzem ein ständiges Hin und Her über die relativ offenen Grenzen gab.

Wenn es wollte, könnte China sich Nepal, Bhutan, Sikkim und Assam einverleiben. Es verfügt in Tibet über fünf bis sechs klima-gewohnte,gutausgerüstete Gebirgsdivisionen plus einigen selbständigen Kampfgruppen in Regimentsstärke. Deren Gesamtstärke beläuft sich auf vielleicht 160 000 Mann.

Indien ist in den Himalaja-Staaten den Chinesen auf keinen Fall militärisch gewachsen. Es mag in der Lage sein, seine gegenwärtigen gefährdeten Positionen in Ladakh zu halten, aber ich bezweifle, ob es die bereits verlorenen Gebiete zurückerobern kann. Hier ist der maßgebende Faktor auf beiden Seiten der Nachschub, und während die Inder ihre Verteidigungsbereitschaft rasch steigern, sind die Chinesen auch nicht müßig gewesen. Die dortige Lage scheint an einen toten Punkt gelangt zu sein und wird es wohl für einige Jahre bleiben. Es besteht kein Grund dafür, weshalb die Chinesen besonders daran interessiert sein sollten, Nepal, Bhutan und Sikkim regelrecht in Besitz zu nehmen. Auf jeden Fall würde sie aber nicht die Furcht vor Indien davon abhalten, die Volksbefreiungsarmee dort in Verfolg ihrer imperialistischen Bestrebungen einzusetzen.

Ganz anders steht es mit Chinas Fähigkeiten, sich gegen einen konventionellen Angriff zu verteidigen. In einem solchen Falle würden Maos Theorien über den die ganze Nation umfassenden, langwierigen Krieg angewendet werden. Chinas ungeheure Größe und seine Geländebeschaffenheit, wenn man von der Mandschurei und den nördlichen Provinzen einmal absieht, schließen jeden Versuch aus, es mit konventionellen Mitteln zu erobern.

Subversive Kriegführung

China ist, vor allem in Südostasien, stark auf paramilitärischem Gebiet — dem ganzen Feld des Untergrundkampfes, von dem die Guerillakriegführung nur ein Teil ist. Bei relativ bescheidenem Aufwand und mit sehr geringem Risiko sind damit unverhältnismäßig große Erfolge zu erzielen. Die Chinesen können mit Leichtigkeit ausgesuchte junge Männer und Frauen aus diesen Ländern zur politischen Schulung und zur Ausbildung als Propagandisten, Organisatoren, Terroristen, Saboteure und Guerillakämpfer herausschleusen. Diese Agenten können dann zurückgeschickt werden, um Zellen zu bilden. Es heißt, daß es mehrere solcher Ausbildungslager in Jünnan gibt. Diese Berichte beruhen wahrscheinlich auf Tatsachen. Das Verfahren erscheint logisch, denn Südostasien ist ein Gebiet, das in jeder Hinsicht für die Anwendung der Maoschen Theorien über den langwierigen Untergrundkrieg geeignet erscheint. Man darf vermuten, daß die chinesischen Truppen eine Anzahl von Kandidaten für diese Schulung mitgenommen haben, als sie sich aus dem nordostindischen Grenzgebiet zurückzogen, und die indische Regierung sollte nicht allzu überrascht sein, wenn sie sich, sagen wir im Jahre 1967, in diesem Gebiet plötzlich einer entsprechenden Bedrohung gegenübersieht. Das Terrain Burmas ist einer unauffälligen Aufstellung von Rebellen-Gruppen günstig;

die nördlichen und östlichen Teile des Landes sind entlegen und dünn besiedelt und kön-nen von China aus mit Nachschub versorgt werden. Im Norden könnten von China gesteuerte Marionetten die Macht an sich reißen, wobei sie von „Freiwilligen" unterstützt würden. Damit erhielten die Chinesen Stützpunkte für eine Infiltration Assams und für Angriffe auf dieses Gebiet von Süden her. Der Teil östlich des Saluen ist ebenfalls besonders geeignet. Ähnliche Operationen könnten von Laos aus entlang des Mekong gegen das empfindliche östliche Thailand unternommen werden.

Wie viele nordvietnamesische Verbände sich gegenwärtig als Pathet Lao-Einheiten getarnt in Laos befinden, ist schwer zu beurteilen. Die Schätzungen reichen bis zu 15 Bataillonen mit je 600 Mann. Vielleicht neigen wir dazu, diese Unterstützung zu überschätzen, aber wir dürfen unterstellen, daß Truppen da sind und daß die Pathet-Lao-Bewegung materielle Hille (ganz zu schweigen von lautstarker moralischer Unterstützung) von Peking empfängt. Wir wissen z. B. genau, daß die Chinesen in Nord-Laos Rollbahnen für Jeeps bauen. Die Chinesen sind also durchaus in der Lage, gegen Thailand eine Zangenbewegung einzuleiten.

Die Vereinigten Staaten oder sonst wer hätten es schwer, Operationen dieser Art mit einem direkten Gegenschlag zu beantworten. Die Chinesen könnten darauf bauen, daß die Furcht vor dem allmählichen Hochschrauben der Kriegführung bis zu einem allgemeinen Atomkrieg uns daran hindern könnte, an anderer Stelle mit konventionellen Mitteln zurückzuschlagen. Sollten sie jedoch zu Operationen entlang des Mekong schreiten (eine unwahrscheinliche, aber nicht auszuschließende Möglichkeit), würden sie natürlich ein Vorgehen an anderer Stelle herausfordern.

Zusammenfassung

Die von der amerikanischen Regierung für die Öffentlichkeit freigegebenen erbeuteten „Arbeitsblätter" vermittelten uns aufschlußreiche Einzelheiten des Verhältnisses von Partei und Volksbefreiungsarmee. Sie erhärteten die Vermutung, daß die Moral der Volksbefreiungsarmee in den Jahren 1960/1961 in eine Krise geraten war. Sie bestätigten die Annahmen einiger Fachleute, daß die Kampfkraft der Luftwaffe sich stetig verminderte, daß die Marine wegen Mangels an Brennstoff und Ersatzteilen praktisch bewegungsunfähig war und daß die Bodenstreitkräfte unter der Knappheit an Transportmitteln, schweren Waffen und Ersatzteilen litten. Nichtsdestoweniger fehlt es uns in vieler Hinsicht an exakten Kenntnissen, die für eine zutreffende Einschätzung des rotchinesischen Militärpotentials erforderlich sind, und das wird sich sicherlich nicht ändern. Infolgedessen tendieren wir in unseren Beurteilungen dazu, von einem Extrem zum anderen zu schwanken. Dies ist auch charakteristisch gewesen für die westliche Einschätzung des sowjetischen Potentials, das periodisch unbillig überbewertet wird, um danach unterschätzt zu werden.

In der amerikanischen Presse wird die chinesische Führung häufig als eine Gruppe beinahe übermenschlicher Machiavellis hingestellt. Aber diese Männer und die von ihnen geführte autoritäre Bürokratie können Fehler machen. Sie haben in der Vergangenheit schwerwiegende Irrtümer begangen und werden sie auch in Zukunft begehen. Trotzdem müssen wir uns über eines klar sein: Sie sind entschlossen, ihren Einfluß unter möglichst geringen Risiken und Kosten überall dort auszudehnen, wo sie wenig Widerstand vermuten. Wenn ein begrenztes militärisches Abenteuer lohnende Beute verspricht, ohne daß sie dabei viel aufs Spiel setzen, werden sie vermutlich nicht davor zurückschrecken. Es ist unsere Aufgabe, ihre strategischen Möglichkeiten so einzuschränken, daß sie nicht aus kleinem Einsatz großen Gewinn ziehen können.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Roy E. Appleman, U. S. Army in the Korean War, Bd. I, South to the Naktong, North to the Yalu, Washington 1951. S. 760.

  2. New York Times, 26. Oktober 1964.

  3. Die Provinz Kansu im Nordwesten Chinas gleicht in der Form einer Bratpfanne. Im Gebiet des „Stiels" der Pfanne befinden sich ausgedehnte Olfelder (Anm. d. Red.).

Weitere Inhalte

Samuel B. Griffith, Brigadegeneral d. R.des US-Marinekorps, hat zur Zeit einen Forschungsauftrag des Council on Foreign Relations für chinesische Probleme. Er hatte mehrfach militärische Funktionen in China inne und hat die Bücher „Sun Tzu: The Art of War" und „The Battle of Guadalcanal" geschrieben.