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De Gaulle -Stil und Politik | APuZ 32/1965 | bpb.de

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APuZ 32/1965 De Gaulle -Stil und Politik Chinas Bombe -propagandistische Ausnutzung und ihre Wirkung

De Gaulle -Stil und Politik

Herbert Lüthy

Herbert Lüthys scharfsinnige Analyse der Person und der Politik des französischen Staatspräsidenten, die nicht in allen Einzelheiten mit der Auffassung der herausgebenden Stelle übereinstimmt, ist im April dieses Jahres niedergeschrieben worden, also geraume Zeit vor der jüngsten Krise des Gemeinsamen Marktes. Die Genehmigung zum Abdruck dieses und des folgenden Beitrages dieser Ausgabe verdanken wir den Herausgebern der New Yorker Vierteljahreszeitschrift FOREIGN AFFAIRS, deren Juliheft beide Artikel entnommen sind (Copyright by the Council on Foreign Relations Inc., New York).

Solange die französische Außenpolitik nichts anderes ist als die persönliche Politik Präsident de Gaulles, kann ihre Analyse nur von einem Versuch ausgehen, seine persönliche Psychologie zu begreifen. Diese Psychologie ist nicht die des landläufigen Politikers, aber es ist nichts Unergründliches und Rätselhaftes an ihr. Auch die orakelhafte Undurchdringlichkeit, in die er sich zu hüllen liebt, ist Absicht und Berechnung. Seit seinen frühesten Schriften hat er unablässig an seinem Idealbildnis des grand chef gearbeitet, der, wie er 1927 schrieb, „etwas Unbegreifliches, Geheimnisvolles an sich haben . . ., für seine Untergebenen unerforschlich bleiben und sie so in Spannung halten muß". Nach einer jüngeren Formulierung de Gaulles ist dieses Geheimnis auch die Kunst des politischen Spielers, „nicht im voraus in Worte zu bannen, was die Zukunft an den Tag bringen wird", das heißt, sich nicht auf Ziele festzulegen, bevor der Erfolg gewiß ist, und stets den Anschein zu wahren, man habe gewollt oder doch vorausgesehen, was dann wirklich eintritt.

Das sind die Anfangsgründe der politischen Kunst. Als de Gaulle dem schwierigsten Problem seiner ganzen Laufbahn, dem Algerien-krieg, gegenüberstand, erlaubte ihm seine Meisterschaft in der Handhabung des mystere — die hauptsächlich eine Kunst der Vieldeutigkeit und der pythischen Formeln ist —, vier Jahre lang zwischen den Klippen zu manövrieren, nacheinander alle möglichen und unmöglichen Lösungen ins Auge zu fassen und sie alle scheitern zu sehen: angefangen beim Angebot an die Algerier, „Vollfranzosen" zu werden, und beim Auftrag an die Armee — die viermal diese „Vollfranzosen" durch Plebiszite und Wahlen zu peitschen hatte —, „die Seelen zu integrieren", über die große Vision eines afrikanischen Kaliforniens, das Algerien und das französische schwarze Afrika in einer Prosperitätszone um das Erdöl der Sahara zusammenschließen sollte, bis zu der immer noch imperialen Konzeption eines

Das Idealbild des grand chef

Abbildung 1

unabhängigen, doch mit Frankreich assoziierten „algerischen Algeriens"; all dies endete mit dem Zusammenbruch der französischen Kolonisation in Nordafrika und den Abkommen von Evian, die nach einigen Monaten ihrerseits ein Fetzen Papier waren. Am Ende dieses gewundenen Weges war es die Weisheit des Staatsmannes, „die Dinge zu nehmen, wie sie sind", die Abkommen von Evian einseitig zu respektieren und ihre Verletzungen durch die andere Seite unbewegt hinzunehmen, um die Befriedigung über das beste aller erreichbaren Ergebnisse zu demonstrieren — und die Zukunft offenzuhalten.

Das Ausmaß des Erfolgs, mit dem de Gaulle in diesen tragischen Wirren seine Staatskunst anwandte, ermißt sich daran, daß alle Welt überzeugt ist, im Grunde seines Herzens habe er von Anfang an genau dahin gelangen wollen, wohin er schließlich gelangt ist. Das ist eine unwahrscheinliche und vor allem höchst ungerechte Hypothese, denn sie setzt voraus, daß de Gaulle jene, die ihn 1958 an die Macht brachten, wissentlich getäuscht und irregeführt hat. Doch der Ruf, ein abgründig ränkevoller Machiavellist zu sein, mißfällt ihm nicht, und jedenfalls ist er ihm lieber als die entgegengesetzte Annahme, die wahrer, aber weniger imposant ist: daß er erreichte, was er konnte, weil er nicht erreichen konnte, was er wollte. Entscheidend ist, daß das Prestige des Führers gewahrt bleibt; alles übrige ist Nebensache.

Charles de Gaulle ist kein rätselhafter Mann. Die geheimnisvolle Gebärde gehört zu dem Charakterbild, das er — teils berechnend, teils seinem natürlichen Hang folgend — von sich geschaffen hat, weil sie ihm erlaubt, List und Täuschung zu gebrauchen, Hindernissen aus-B zuweichen und nötigenfalls ohne Gesichts-verlust den Rückzug anzutreten. Was seinen politischen Stil auszeichnet und ihn selbst einzigartig macht, ist gerade seine Fähigkeit, Opportunist zu sein, ohne als Opportunist zu erscheinen, und Kompromisse zu schließen, ohne sich zu kompromittieren. Er glaubt tief an ein Schicksal, das stärker als die Menschen ist, und er weiß sich unvorhergesehene Ereignisse zunutze zu machen. Sein Hang zum Fatalismus wächst mit der Weisheit des Alters: „Indes ich die Sterne betrachte, bin ich durchdrungen von der Nichtigkeit der Dinge." Aber dieser Realismus findet seine Schranke in einigen grundlegenden Ideen, über die es für ihn keine Diskussion und keinen Kompromiß gibt; sie bestimmen nicht nur den Inhalt, sondern mehr noch den Stil seiner Politik. Diese Konstanten sind seine Art, die Welt und die Politik zu verstehen, das Koordinatensystem, in dem sich sein Denken bewegt und außerhalb dessen es seinen Halt verlöre: eine Welt von Symbolen mehr als von Realitäten. Bevor wir in seine Taten oder seine Worte verborgene Absichten hineingeheimnissen, tun wir besser, dieses Koordinatensystem zu begreifen: aus ihm ergibt sich alles andere.

Die politische Weltanschauung General de Gaulles ist ein Problem der Individualpsychologie nur in bezug auf die vorbestimmte Rolle, die ihm selbst darin zukommt. Von diesem allerdings bedeutsamen Detail abgesehen, ist sie so durchtränkt mit klassischsten französischen Traditionen, daß das Individuum de Gaulle nur eine besonders prägnante Ausprägung eines kollektiven Weltbildes ist; daher die suggestive Wirkung seiner Person auf die Franzosen. Durch de Gaulle erglänzt ein altes und ruhmreiches Frankreich in der Glorie eines großartigen Sonnenuntergangs.

Repräsentant der erhabenen Idee Frankreichs

Die Biographie Charles de Gaulles ist, besonders in seiner autobiographischen Version, so bekannt, daß die Herkunft der Elemente, die seine Weltanschauung bilden, in einigen Strichen skizziert werden kann. Die verbindlichen Maßstäbe wurden durch die vorbildliche altbürgerliche Familie gesetzt, der er entstammt, durch den Vater, der Professor der Geschichte, der Literatur und der klassischen Sprachen an einer Pariser Jesuitenschule war, durch die religiöse Inbrunst, mit der in diesem Hause der Kult Frankreichs und das Heimweh nach der legitimen Monarchie — et le Dieu Roi! — gepflegt wurde, durch die ständige Lektüre der Klassiker und der Heldenleben Alexanders des Großen, Hannibals, Cäsars, der Jungfrau von Orleans, der Könige und der Marschälle Frankreichs. Charles de Gaulle wuchs auf zwischen Geschichtsbüchern, in denen die Welt ausschließlich von den Taten Frankreichs, dieser „Nation von Helden und Heiligen", erleuchtet wurde, und Bleisoldaten, mit denen er und seine Geschwister die glorreichen Schlachten der Vergangenheit nach-exerzierten. Wie die meisten traditionsstolzen Familien der Zeit verabscheuten die de Gaulles die Republik und alle Regimes seit 1789, und Charles lernte von klein auf, jenen Unterschied zu machen, der für ihn bis heute grundlegend geblieben ist: auf der einen Seite die erhabene Idee Frankreichs, das zur Führung der Welt prädestiniert ist, sobald es seine Inkarnation in einem legitimen Herrscher oder einem gottgesandten Helden gefunden hat; auf der anderen Seite der gemeine Haufe der leiblich vorhandenen Franzosen, die der Mittelmäßigkeit, der Verwirrung und dem unfruchtbaren Parteiengezänk anheimfallen, wenn ihnen kein gesalbter Führer den Weg weist.

Die heroische Geschichtslegende und das politische Weltbild der Kindheit wurde durch die Schuljahre in einem katholischen Gymnasium und erst recht durch die Ausbildung in der Ecole de Guerre nur vertieft und bekräftigt. Der brennende „Ehrgeiz, Frankreich zu dienen", wurde im Ersten Weltkrieg kaum dem der Leutnant de fast gestillt, von Gaulle drei Jahre in ungeduldig ertragener Kriegsgefangenschaft in Deutschland verbringen mußte, um dort als untätiger Zeuge den Zusammenbruch der kontinentalen Reiche mitzuerleben. 1927 faßte der siebenunddreißigjährige Major seine Gedanken in einer Reihe von Vorträgen zusammen, die er unter dem Patronat seines damaligen Abgotts und Gönners, des Marschalls Petain, an der Ecole de Guerre hielt: „Das militärische Handeln und der Führer", „Uber das Prestige", „Uber den Charakter"; glanzvolle Übungen der hohen Schule des klassisch-heroischen Stils, gespickt mit Plutarch, Cäsar, Machiavelli und Bergsonsehen elan vital, in denen de Gaulle sein Ideal-bild des zum Führer geborenen Chefs entwarf; und er verbarg keineswegs, daß er sich selbst zu solchem Führertum berufen fühlte.

All das — der naive Glaube der Kindheit und das autoritäre Geschichtsbild des Berufssoldaten — ging ein in die großen Würfe seines gereiften Denkens und gewann Gestalt in den Memoires de Guerre, die er in den Jahren seines „Rückzugs in die Wüste" 1952— 1958 schrieb. Diese Memoiren sind in Wirklichkeit weder Geschichtsschreibung noch Kriegserinnerungen, sondern das monumentale Selbstbildnis des einsamen Mannes, der sich zum Streiter und dienenden Ritter „Unserer Lieben Frau Frankreich" gemacht hatte. Jeder Satz darin muß wörtlich genommen werden — auch, ja gerade die rhetorischen Tiraden und die patriotischen Klischees —, angefangen mit der berühmten Stelle am Eingang der Memoiren: „Zeit meines Lebens begleitet mich eine bestimmte Vorstellung von Frankreich ... wie die Madonna der Fresken oder die Prinzessin des Märchens ..., berufen zu einem erhabenen und außergewöhnlichen Schicksal ... Die Vorsehung hat es zu vollkommenen Erfolgen oder zu vorbildlichen Leiden erschaffen ... Frankreich ist nicht Frankreich, wenn es nicht an erster Stelle steht ... Kurz, ich glaube, ohne grandeur kann Frankreich nicht Frankreich sein." Und: Von früher Kindheit an „zweifelte ich nicht daran, daß Frankreich gewaltige Prüfungen durchzumachen haben werde, daß das eigentliche Ziel des Lebens darin bestehe, dem Lande eines Tages einen hervorragenden Dienst zu leisten, und daß mir die Gelegenheit dazu geboten würde."

All dies wäre noch nicht viel mehr als das Charakterbild eines erstklassigen Offiziers der alten französischen Schule. Was zu dem in der Wiege eingeflößten Glauben hinzukam und de Gaulle von der geistigen Umwelt abhob, in der er ausgewachsen war, erscheint auf den ersten Blick banal, ist aber entscheidend: daß er nämlich sehr früh begann, dem legitimen Ruhm des alten königlichen Frankreich auch die Siegeszüge der revolutionären und napoleonischen Armeen als gleichberechtigte Kapitel der gleichen Ruhmesgeschichte beizufügen. Er war Monarchist aus Instinkt und durch Erziehung, aber er hörte auf, es im ideologischen Sinne zu sein; und damit entledigte er sich mit einem Schlag aller ideologischen Voreingenommenheiten, um „nur noch Frankreich zu dienen". So konnte er in den Jahren, in denen die Drohung des Dritten Reiches immer düsterer heraufzog, mit den Jüngern Maurras'brechen, die voll Haß gegen das Frankreich der Volksfront und voll Bewunderung für die faschistischen Diktaturen ihre ideologischen Sympathien über die Interessen Frankreichs stellten.

Ideologische Gleichgültigkeit

Bei de Gaulle sind Geschichtsphilosophie und politische Philosophie eins. Die Generäle der Revolution und des Kaiserreichs „haben Frankreich gut gedient", so wie später die Kommunisten in der Resistance und Maurice Thorez, solange er Minister unter de Gaulle war, „Frankreich gut gedient haben". „Geschah es lediglich aus politischer Taktik? Ich habe nicht darüber zu richten. Mir genügt, daß Frankreich gedient wird." Diese ideologische Gleichgültigkeit, die nicht dem Opportunismus, sondern vorbehaltlosem Nationalismus entspringt, trennte de Gaulle schroff von allen „Parteileuten" und unterschied ihn auch von den meisten Führern der französischen Armee. Sie ermöglichte ihm 1940 den Entschluß, mit allen Traditionen der Disziplin zu brechen, gegen die Autorität und Legitimität Marschall Petains aufzustehen und zu verkünden, daß die Legitimität jetzt in ihm verkörpert sei, dem einsamen Soldaten, der die Fahne, die den Händen seiner Vorgesetzten entglitten war, „aus dem Schmutz" aufgehoben und neu entfaltet hatte.

Er war nicht Antifaschist; wer Deutschland regierte, kümmerte ihn wenig. Er weigerte sich, die Niederlage Frankreichs anzuerkennen, und persönlich führte er in den Jahren 1940 bis 1945 viel weniger Krieg gegen Deutschland als gegen die angelsächsischen Verbündeten, die de Gaulle nicht als Frankreich und Frankreich nicht als kriegführende Großmacht betrachteten. Ebensowenig war er Antikommunist, als er 1947 in der Überzeugung, daß der Krieg zwischen Rußland und dem Westen unmittelbar bevorstehe, eine Partei gründete, deren einzige Ideologie darin bestand, Frankreich um seine Person zu scharen. Damals schloß er aus der nationalen Gemeinschaft alle die aus, denen der Glaube an Sowjetrußland höher stand als der Patriotismus; und um klarzumachen, daß dies keine Frage der Ideologie sei, bezeichnete er diese Leute nicht als Kommunisten, sondern als „Separatisten" oder als „jene, die nicht das Spiel Frankreichs spielen". Im gleichen Sinne spricht er heute nie von der Sowjetunion, sondern stets von Ruß-land, um auszudrücken, daß in seinen Augen allein das ewige Rußland zählt, das so oft der Bundesgenosse Frankreichs war und es vielleicht eines Tages wieder sein wird, und daß die Ideologie nur ein Schleier ist, der die zeitlose nationale Machtpolitik verhüllt. Man lese im letzten Band der Kriegsmemoiren sein Porträt Stalins, des „listigen und unversöhnlichen Kämpen eines Rußland, das durch Leiden und Tryrannei erschöpft, aber von brennendem nationalem Ehrgeiz erfüllt ist ..., der viel stärker und dauerhafter ist als alle Theorien und Regierungsformen: ... Zusammenschluß der Slawen, Niederwerfung der Germanen, Ausbreitung in Asien, Zugang zu den freien Meeren — das waren die Träume des russischen Vaterlandes, das waren die Ziele des Despoten". Man achte aber auch auf die Wagnerschen Klänge seiner Betrachtung über den Selbstmord Hitlers („Um nicht gefesselt zu werden, stürzte Prometheus sich selbst in den Abgrund"): die „düstere Größe seines Kampfes und seines Nachruhms", das „übermenschliche und unmenschliche Unternehmen" dieses „Titanen, der die Welt aus den Angeln zu heben suchte" und dem Deutschland „mit all seinen Kräften diente, wie kein Volk jemals zuvor irgendeinem Führer gedient hatte". Jeder der beiden war die Verkörperung seiner Nation und spielte auf seine Weise das Spiel des nationalen Ehrgeizes, wie es großen Staatsmännern zukommt.

Was für Hitler oder Stalin gilt, gilt auch für Churchill oder Roosevelt. In den gleichen

Memoiren untersucht de Gaulle Roosevelts Plan einer Weltordnung der Nachkriegszeit, unter einem Direktorium der Großen Vier, nämlich Roosevelt, Stalin, Churchill und Tschiang Kai-schek — wobei die beiden letzten, wie de Gaulle kühl bemerkt, abhängige Klienten der Vereinigten Staaten wären. De Gaulles Analyse ist eine der illusionslosesten, die über Roosevelts Gedankengänge angestellt worden sind — nicht nur, weil er gute Gründe hatte, den Amerikanern wegen ihrer Haltung gegenüber seinen Ansprüchen zu grollen, sondern mehr noch als Ausfluß der ihm eigenen Geringschätzung, mit der er über die ideologischen und idealistischen Aspekte von Roosevelts großem Plan hinwegging. „Es ist nur menschlich", schreibt er, „daß sich der Wille zur Macht in den Mantel des Idealismus hüllt". Internationale Politik ist und wird bleiben, was sie ist, seit es rivalisierende Staaten in der Welt gibt: ein Spiel der Machtpolitik. Alles übrige, Ideologien und Entwürfe für internationale Friedensordnungen, ist nichts als Maskerade oder Illusion. In diesem Spiel ist es das oberste Gebot, daß Frankreich seine Karten gut zu spielen und seine Rolle durchzusetzen wisse.

Traditionelles patriotisches Geschichtsbild

Dieses Bild von der internationalen Politik, dessen scheinbare Einfachheit jedes Maß machiavellistischen Raffinements zuläßt, ist im Grunde auch das herkömmliche Weltbild des Durchschnittsbürgers, wenn er in seinem Leib-blatt die verworrenen Konflikte der „Mächte" verfolgt, deren Führer ebensooft aus Rang-und Prestigegründen aneinandergeraten wie wegen konkreter Interessengegensätze. Die gaullistische Spielart dieser Auffassung entstammt der europäischen Geschichte oder vielmehr ihrer dramatisierten, nationalistischen Version, welche die Geschichtsbücher aller europäischen Länder Generationen wißbegieriger Jugendlicher im Dienste der patriotischen Erziehung eingeprägt haben. Es ist die verwickelte Geschichte eines allezeit fragwürdigen Gleichgewichts zwischen rivalisierenden Mächten und Mächtekoalitionen auf einem engen Kontinent, wo jedes Land stets vor dem augenblicklichen Gegner — und ebenso dem augenblicklichen Bundesgenossen, dem potentiellen Gegner von morgen — auf der Hut sein mußte und wo, den Nationalhistorikern zufolge, die ein Jahrhundert lang den Geist der Europäer vergifteten, die Rangerhöhung einer Nation stets durch die Erniedrigung der anderen erkauft wurde.

Die Vereinigten Staaten, die fast von ihrer Geburt an die Vormachtstellung über einen weiten Kontinent besaßen, haben die Probleme des „Gleichgewichts der Mächte" erst sehr spät und dann gleich im Weltmaßstab kennengelernt. Diese Verschiedenheit der historischen Erfahrung ist es, die von Versailles bis Jalta zu so vielen Mißverständnissen zwischen Amerika und Europa geführt hat. War aber Roosevelts Gedankengang so sehr anders, als er die Nachkriegswelt auf ein vermeintliches persönliches Einvernehmen der damaligen Großen Vier gründen wollte? So personifiziert stellt sich auch der kleine Moritz das Regiment der Welt vor, und darin waren sich große Staatsmänner und Kinder von jeher sehr ähnlich; und tatsächlich sind diese Vorstellungen kaum viel weiter von der Wirklichkeit entfernt als die komplizierten Modelle der Politologen. Selbst die Wissenschaft des Völkerrechts vermochte lange Zeit internationale Beziehungen nur in allegorischen Begriffen als Beziehungen zwischen souveränen Personen zu definieren. Als die Europäer vom Jahrgang de Gaulles jung waren, erschienen die internationalen Beziehungen faktisch und juristisch als Beziehungen zwischen gekrönten Souveränen, die gleich an Rang, wenn auch nicht an Macht waren; und jene Franzosen, deren Familientraditionen jenen de Gaulles glichen, litten darunter, daß das republikanische Frankreich als einzige Macht Europas keine Dynastie besaß, das heißt, keine Personifikation, Kontinuität und Glorie.

Die Forderung nach einer starken persönlichen Autorität an der Spitze des Staates entspringt für de Gaulle keiner Ideologie und keiner innenpolitischen, staatsrechtlichen oder ordnungsstrukturellen Erwägung; sie ist für ihn ein einfaches Gebot der Realitäten des internationalen Lebens, die verlangen, daß ein Land „repräsentiert" sei. Er war modern und realistisch genug, sich mit der Tatsache abzufinden, daß Frankreich keine erbliche Monarchie mehr ist; aber im tiefsten Innern hat er nie daran gezweifelt, daß Frankreich einen Monarchen brauche — das heißt, einen unbestrittenen Inhaber der staatlichen Gewalt —, wenn er seiner Stimme Geltung verschaffen wolle. Der Gang der Ereignisse und sein eigener Wille gaben ihm schließlich die Möglichkeit, Frankreich einen Monarchen zu geben: sich selbst. Was an seinem Zeremoniell, seinem rednerischen Stil und seiner stets wachen Sorge um Rang-und Protokollfragen am meisten auffällt, ist sein wahrhaft monarchischer Sinn für die Erhabenheit seiner Rolle als Staatsoberhaupt; doch er wird leicht mißdeutet. Vielleicht muß man ein Empfinden für königliche Tradition haben, um zu verstehen, wie ein Mann in aller Bescheidenheit sich selbst als Inkarnation und Symbol seines Landes derart verehren kann, als historisches Phänomen, das etwas anderes ist als seine individuelle Person und aus anderem Stoff als gewöhnliche Menschen; wie er sich so gänzlich der „schweren Bürde" dieser selbstauferlegten Rolle unterordnen kann, die ihn daran hindert, sich jemals auf die gemeine menschliche Ebene herabzulassen: so opfert der ideale König sein Ich der königlichen Funktion. De Gaulle treibt die Unterscheidung zwischen sich, dem „armen Sterblichen", und Charles de Gaulle, den die Geschichte mit der nationalen Legitimität ausgestattet hat, bis zur systematischen grammatikalischen Unterscheidung zwischen „ich" und „de Gaulle", den er in der dritten Person anspricht. In der plebejischen Welt von heute ist dieser Aspekt seiner Persönlichkeit zweifellos so ungewöhnlich wie das Auftreten eines Dinosauriers; und nichts wäre völlig verfehlter, als ihn mit den vulgären Demagogen zu verwechseln, von denen die Gegenwart wimmelt. Er spielt seine Königsrolle vollendet, und er kennt ihre Anziehungskraft. Es gibt wenige Franzosen — auch unter denen, die sich über ihn ärgern oder lustig machen —, die nicht insgeheim in seinem Bann stehen und zumindest ein ästhetisches Wohlgefallen daran haben, Frankreich so königlich repräsentiert zu sehen, nachdem es so lange von Männern kleiner Statur regiert worden war.

Die Symbole und nicht die Tatsachen sind wichtig

Was also ist de Gaulles Politik? Sie hat nur einen ständigen und unabänderlichen Zug: „den Rang zu wahren" — den seinen und den Frankreichs, was Synonyme sind, „solange Gott ihm Leben gewährt". Im aufschlußreichsten Kapitel seiner Memoiren, das die programmatische Überschrift Le Rang trägt, kehren die Worte „Rang", „Prestige", „Ehre“, „Würde", „Macht" und „Größe" immer und immer wieder. Als rückblickende Darlegung seiner „großen nationalen Ziele" ist diese Apologie der de Gaulleschen Nachkriegspolitik eher enttäuschend, und die konkreten Ziele dieser Politik sind heute nur noch peinliche Erinnerungen: die Zerstückelung Deutschlands, die Verlegung der französischen Grenze an den Rhein, die Annexion des Saargebiets und einiger italienischer Territorien, die unerbittliche Aufrechterhaltung der imperialen Macht-ansprüche Frankreichs in Asien und Afrika.

Das Bündnis mit Stalin, als Gegengewicht zur „angelsächsischen Hegemonie" gedacht, blieb völlig steril, und die hochfliegende — heute wiederbelebte — Vision eines „Zusammenschlusses der Slawen, Germanen, Gallier und Lateiner", der Europa „vom Atlantik bis zum Ural" einen würde, hatte nie einen definierbaren Sinn; wir wissen nur, daß der europäische Kontinent unter seiner Führung zu „einer der drei planetaren Mächte" werden sollte, die „eines Tages, wenn notwendig, als Schiedsrichter zwischen dem sowjetischen und dem angelsächsischen Lager auftreten könnte“ — wo liegt denn eigentlich der Ural? Der gemeinsame Nenner so vieler verschwommener oder widersprüchlicher Visionen aber war stets die hochherzige Entschlossenheit, Frankreich „kühn handeln, eine große Rolle spielen, ruhmreich seinen eigenen und den Interessen der Menschheit dienen" zu sehen. Den Rang zu wahren, ist ein aristokratisches Ideal, welches das Leben eines Mannes und einer Nation ausfüllen kann. Was dieses Ideal verlangt, hat weniger mit Handlungen als mit Haltungen zu tun. Die Kriterien sind einfach und leicht zu verstehen. „Frankreich ist nur Frankreich, wenn es an erster Stelle steht"; es kann sich niemals mit weniger abfinden; es darf nie eine Hegemonie außer seiner eigenen anerkennen, nie einer Gruppe beitreten, in der es nicht dem Größten ranggleich wäre, sich nie in eine übernationale Organisation integrieren — oder vielmehr in ihr „auflösen" —, in der es kein Vetorecht ausüben könnte. Der Atlantikpakt mag eine gute Sache sein, aber eine „integrierte" atlantische Organisation unter einem anderen Kommando als dem de Gaulles ist unannehmbar. Eine europäische Konföderation unter französischer Führung mag wünschenswert sein, aber Vereinigte Staaten von Europa, in denen Frankreich sich im geringsten dem Willen einer Mehrheit beugen müßte, sind unvorstellbar. Partnerschaft mit den Vereinigten Staaten ist willkommen, aber eine atlantische Partnerschaft, in der nicht Frankreich, sondern ein vereinigtes Europa der Partner der Vereinigten Staaten wäre, kann nur abgelehnt werden. Eine Organisation der Vereinten Nationen, in der Frankreich ein gesichertes Vetorecht und einen Sitz im obersten Führungsgremium hat, kann nützlich sein, aber eine internationale Organisation, in der es von der Mehrheit überstimmt werden kann, ist ein Greuel. Instiktiv lehnt de Gaulle all die gescheiten Organisatoren, all die „technokratischen Roboter" ab, die auf eine Entpersönlichung der internationalen Beziehungen ausgehen, und ebenso instinktiv strebt er zu den Spielregeln der Zeit vor 1914 zurück, zur klassischen Diplomatie, zur klassischen Allianzpolitik, zur nationalen Rüstungssouveränität und zum klassischen Goldstandard. Politische Wissenschafter mögen darüber streiten, ob diese Vorstellungen in der modernen Welt Anachronismen sind. Aber wer versucht, de Gaulle in einem dieser Punkte zum Nachgeben zu bewegen, rennt mit dem Kopf gegen eine Mauer.

Wer mit ihm zu verhandeln hat, tut besser, auf solche Gedanken von vornherein zu verzichten, soweit sie Frankreich unter seinem Regiment betreffen.

De Gaulles Politik — oder sein politischer Stil — ist also leichter durch das zu definieren, was er an den heutigen politischen Bestrebungen des Westens ablehnt, als durch konkrete Ziele oder konstruktive Vorschläge. Neinsagen gehört zu den wenigen Dingen, für die man keinen Partner braucht. Dazu kommt die Überzeugung, daß die Geschichte unvorhersehbar ist — „die Zukunft währt lange Zeit, und alles kann eines Tages geschehen" -— und daß der kluge Staatsmann sich die Hände freihält, um für jede Eventualität bereit zu sein; er legt sich niemals unwiderruflich fest. Solange nur die symbolischen Attribute der Großmachtstellung gewahrt bleiben, kann keine materielle Katastrophe ein Land zugrunde richten. Auf die Symbole, nicht auf die Tatsachen kommt es an: das ist die Summe der Kriegserfahrungen de Gaulles und die Quintessenz seiner Politik. Die unmittelbaren Ziele und die Mittel, sie zu erreichen, können dann immer wieder der „wechselnden Natur der Dinge" angepaßt werden.

Als Frankreich im Mai 1958 dem Putsch von Algier gegenüberstand und einzig de Gaulles Rückkehr an die Macht imstande schien, den Bürgerkrieg abzuwenden — wußte er da, was er mit der fast unbeschränkten Macht anfangen sollte, die er sich ausbedungen und erhalten hatte? Er bot die Bevölkerungen Frankreichs, Algeriens und des französischen Kolonial-reiches zum Plebiszit über eine neue Verfassung auf, die ihn zum Präsidenten der „Communaute francaise“ machte, und er exkommunizierte das eine Territorium — Guinea —, in dem er keine Mehrheit erhielt. Sicherlich sah er nicht voraus, daß die Communaute binnen zwei Jahren nicht mehr existieren würde, ohne daß ihre Institutionen überhaupt in Gang gekommen waren; noch sah er voraus, daß er nach vier Jahren voll qualvollen Lavierens, voll Verrat, Meutereien und Pronunciamentos und inmitten des Exodus der französischen Bevölkerung Algerien unter den denkbar schlechtesten Bedingungen räumen werde. Aber er verstand es, sich mutig dem zu fügen, was er nicht verhindern konnte, und dadurch Frankreichs Ansehen in der Dritten Welt zu erhöhen. Er sah auch nicht voraus, daß er das Erbe der Europapolitik Jean Monnets, Robert Schumans und Guy Mollets antreten würde, für die er immer nur Sarkasmen übrig gehabt hatte; doch er wußte diese Politik zu einem Instrument nationaler Politik umzuschmieden, den Gemeinsamen Markt zu einer technischen Organisation zu degradieren, aus der seine Minister alle möglichen Vorteile für die französische Wirtschaft herauszuholen vermochten, den politischen Hoffnungen seiner Schöpfer jedoch den Garaus zu machen.

Was kommt nach de Gaulle?

Er verstand es, alle Karten in seinem Spiel zu behalten und die Öffentlichkeit stets über seinen nächsten Zug rätseln zu lassen. Doch auf keinem Gebiet, weder innenpolitisch noch im europäischen oder internationalen Maßstab, hat er etwas geschaffen, dessen Fortbestand über ihn hinaus gesichert wäre. Die Verfassung mit ihrem „Schiedsrichter-Präsidenten" und ihrer „Gewaltenteilung", die er Frankreich gab, hat nie funktioniert, und wenn sie ihm im Wege war, hat er nicht gezögert, sie zu ändern oder sie zu ignorieren — mit dem Erfolg, daß niemand sagen kann, wie Frankreich nach seinem Abgang regiert werden wird. Wenn der „Dekolonisator” de Gaulle in der einstigen Französischen Gemeinschaft noch eine Art moralischen Vorrangs genießt, so deshalb, weil er sich nach der unglücklichen Erfahrung mit Guinea bereitfand, diese Länder großzügig zu finanzieren, ohne jemals ihre Loyalität auf die Probe zu stellen — ebenso, wie er sich bereitgefunden hat, das sozialistische Algerien zur finanzieren, ohne auf der Einhaltung der Abkommen von Evian zu bestehen. Aber auch hier kann niemand sagen, wie die französisch-algerischen und die französisch-afrikanischen Beziehungen aussehen werden, wenn die Gaulle einmal abgetreten ist und Frankreich vielleicht der hohen Kosten wegen der Prestigepolitik müde wird. Und seine europäische Politik, die reihum die politische Integration im Namen der nationalen Souveränität blockierte, den Beitritt Großbritanniens im Namen der politischen Integration verhinderte und die Gemeinschaft der sechs unter französisch-deutsches Direktorium zu stellen suchte, das von vornherein zum Scheitern verurteilt war, hat schließlich die politische Einigung Europas in eine Sackgasse geführt, aus der sie, mindestens solange er regiert, nicht herauskommen wird. Ähnliches gilt für die atlantische Allianz. Sie fristet nur noch eine provisorische Existenz, seit de Gaulle, noch kaum in seiner neuerlangten Macht festgesetzt, im September 1958 ein Dreimächtedirektorium für die globale Strategie des Westens vorschlug, das selbstverständlich die Forderung nach solidarischer Unterstützung der Alliierten für die noch in Dunkel gehüllte französische Politik in Afrika und Algerien implizierte. Auf die Verärgerung über das betretene Schweigen, das diesem Vorschlag antwortete, sind seitdem Spannungen und Entspannungen gefolgt, doch nichts hat de Gaulle wieder aus dem Schmollwinkel zu locken vermocht; aber ebensowenig hat er die Verärgerung bis zum offenen Bruch getrieben. Das offensichtlichste Ergebnis ist bis dahin, daß de Gaulle um der Symbole des Großmachtstatus willen den potentiell großen Einfluß Frankreichs innerhalb der Allianz gegen eine mißgelaunte „Politik des leeren Stuhls" eingetauscht hat, die seine Partner einfach von vornherein in Rechnung stellen müssen. Trotzdem ist auch in seinen Augen die Allianz noch „für lange Zeit" notwendig, um das Gleichgewicht in der Welt und in Europa aufrechtzuerhalten und um seinen Rückzug zu decken, während er die nebelhaften Perspektiven eines „europäischen Europa" im Gleichgewicht zwischen Paris und Moskau erkundet. In dieser gaullistischen Politik einfacher Ideen und komplizierter Spiele ist nichts endgültig, und alles beruht auf seiner persönlichen Herrschaft, die noch sechs Monate oder sieben Jahre dauern kann. Gewiß ist nur soviel, daß niemand sie wird fortsetzen können. Ob dereinst ein Pompidou oder ein Deferre sein Amt übernimmt, ob Frankreich zum parlamentarischen Regime zurückkehrt oder was immer sonst geschieht — seine Nachfolger werden nach einem anderen Stil und anderen Wegen suchen müssen. Wie einst Bismarck alles gelang außer dem einen, die Fortführung seines Werks zu sichern, so werden auch de Gaulles Politik und sein allzu persönliches Regiment mit ihm enden. Sowenig Frankreichs Partner umhin können, mit de Gaulle zu leben, solange er da ist, sowenig können sie darauf rechnen, daß er immer da sein wird.

Versuch einer vorläufigen Bilanz

Aber ist es für Frankreichs Verbündete wirklich schwieriger, mit de Gaulle zu leben als mit der Vierten Republik, von Bidault bis Pflimlin, mit ihrer ohnmächtigen Zentralgewalt, unerfüllbaren weltumspannenden Verpflichtungen und ihrer inneren Zerrissenheit? Wenn wir versuchen, eine Bilanz der ersten sieben Jahre der Fünften Republik zu ziehen, so ergibt sich mindestens eines mit Gewißheit: mit all ihren Launen und ihren dramatischen Winkelzügen ist es der Herrschaft des Generals de Gaulle gelungen, Frankreich in das „Hexagon" seiner natürlichen Grenzen zurückzuführen, die zu schwer gewordene Bürde seines imperialen Erbes von ihm abzuwälzen und es zu einem europäischen Land ohne weltweite politische oder strategische Verwicklungen zu machen. Vielleicht ist dies nicht, was er gewünscht hatte, und erst recht nicht, was jene erhofften, die ihn an die Macht brachten und jetzt im Gefängnis, im Exil oder — wie im Fall eines Michel Debr, des getreuesten Schildknappen des Generals und seines Mythos — in melancholischer Resignation leben. Vier Jahre waren nötig, um das Mißverständnis aufzuklären, und die materiellen und moralischen Kosten für Frankreich — und Algerien — waren entsetzlich hoch; aber die Liquidation war radikal, und zurückgeblieben sind nur Nachwehen bitteren und ohnmächtigen Grolls. Ob die parlamentarische Republik die Amputation ihrer nordafrikanischen Provinz am Ende besser oder schlechter bewerkstelligt hätte, wenn es nicht die Retter-figur de Gaulle gegeben hätte, die alle Probleme und Frontstellungen verwirrte, darüber zu spekulieren ist müßig; denn es hieße voraussetzen, daß die ganze französische Geschichte seit 1940 anders verlaufen wäre, als sie verlaufen ist, vielleicht farbloser, vielleicht auch normaler. Wie dem auch sei, der Rückzug ist vollzogen, und erstaunlicherweise ist es de Gaulle gelungen, in einen persönlichen Triumph zu verwandeln, was unter jedem anderen Regime als Katastrophe erschienen wäre und was vielleicht kein anderes Regime überlebt hätte. Nie ist würdevolle Unerschütterlichkeit so wichtig wie im Mißgeschick; die Kunst des glorreichen Rückzugs ist die schwierigste in Krieg und Politik. Dank de Gaulle, dank seiner majestätischen Haltung in Widerwärtigkeiten und dank der Magie seiner Sprache erscheint das Regime, welches „das Weltreich verschleuderte", den Franzosen als das Regime, das die Größe Frankreichs wiederherstellte und die Welt aufhorchen machte.

Frankreichs Partner würden daran zu Unrecht Anstoß nehmen. Diese Bekundungen der Selbstgefälligkeit sind oft ärgerlich, aber vielleicht ist es wichtiger, daß zum erstenmal seit Jahrhunderten, wenn nicht überhaupt zum erstenmal, seit „Frankreich Frankreich ist", seine nationale Eigenliebe Befriedigung in bloßem Prestige finden kann. Dank der zweiten Regierungsperiede General de Gaulles, ist Frankreich „eine Nation mit freien Händen", die keine Gebietsansprüche mehr hat, keine Forderungen, die den Weltfrieden bedrohen, keine strategischen Positionen außerhalb des Mutterlandes, die es verteidigen müßte; Djibouti, Martinique, Reunion und die Neuen Hebriden sind keine strategischen Positionen, sondern Erinnerungen und Kuriositäten. Tatsächlich stehen seit 1962 keine dramatischen Probleme mehr an Frankreichs Horizont; kein Zwang zu großen Entscheidungen erregt oder spaltet das Land. De Gaulle kann eine Triumphreise durch Lateinamerika unternehmen und Träume von einer „lateinischen Welt" als Gegengewicht zur „angelsächsischen Hegemonie" verkünden: er ändert damit wenig am Gleichgewicht oder Ungleichgewicht der westlichen Hemisphäre. Er kann sich zu den brennenden Fragen Südostasiens äußern, China anerkennen und seinen Namen in Pnompenh in einem Atemzug mit denen Castros und Sukarnos als „Vorkämpfer der nationalen Unabhängigkeit" bejubeln lassen: er hat keinen eigenen Einsatz in diesem gefährlichen Spiel. Er kann Ratschläge über die Ordnung der Angelegenheiten Zentralafrikas geben, umstürzlerische Verschwörungen verurteilen und —-mit ausgezeichneten Günden — die stümperhafte Kongo-Aktion der Vereinten Nationen mißbilligen; er hat auf die Mittel verzichtet, den unbedeutendsten afrikanischen Klienten — Brazzaville — daran zu hindern, als Drehscheibe für die von ihm verurteilte Subversion zu dienen. Man mag bedauern, daß Frankreich, befreit von der Last seines Weltreichs und im Genuß der Früchte europäischer Prosperität, diese Gewinne weniger dazu verwendet, sich und Europa dauerhafte Institutionen zu geben, als dazu, sich in einen müßigen Wettstreit um Rangsymbole einzulassen — von der Force de trappe bis zum Überschallverkehrsflugzeug und zum Aufbau einer Claque in der Dritten Welt. Aber wenn de Gaulle oft ein unbequemer Partner ist, so lastet doch sein Verhalten in Wirklichkeit weniger schwer auf der westlichen Politik als, beispielsweise, die Ungewißheit Deutschlands oder die Verwirrung Italiens. Und vielleicht gewinnt letztlich der Westen mehr als er verliert, wenn General de Gaulle seine Selbständigkeit zur Schau stellt, wenn er der Welt — der Dritten Welt so gut wie Osteuropa — demonstriert, daß der Pluralismus, auf den sich der Westen so gerne beruft, eine Realität ist. Denn welche zuweilen befremdlichen Positionen de Gaulle auch immer bezieht, niemand kann je daran zweifeln, daß er zum Westen gehört — oder vielmehr, wie er mit leicht antiamerikanischem Unterton sagen würde, zum klassischen Abendland.

Fussnoten

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Herbert Lüthy, Dr. phil., Professor für allgemeine und schweizerische Geschichte an der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich, geb. 1918 in Basel. Veröffentlichungen u. a.: Frankreichs Uhren gehen anders, Zürich 1954; Histoire de la Banque Protestante en France, 2 Bde., Paris 1959/1961; Nach dem Untergang des Abendlandes, Köln 1964.