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Die Entwicklung des Kommunismus in der Sowjetunion | APuZ 36/1965 | bpb.de

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APuZ 36/1965 Die Entwicklung des Kommunismus in der Sowjetzone Die Entwicklung des Kommunismus in der Sowjetunion

Die Entwicklung des Kommunismus in der Sowjetunion

Günther Wagenlehner

Das wichtigste Ereignis in der Sowjetunion seit 1950 war der Tod Stalins (1953). Dadurch wurde für die sowjetischen Führer der Weg frei zu dem faszinierenden Versuch, die Sowjetunion den Erfordernissen der modernen Industriegesellschaft anzugleichen. Der Rücktritt Chruschtschows hat diese Tendenz nicht unterbrochen, sondern noch mehr verstärkt. Dieser Prozeß wird im Westen mit dem Begriff „Entstalinisierung" gekennzeichnet. Häufig vergißt man jedoch, daß die von der Sowjetführung in Gang gesetzte Entwicklung keinesfalls die prinzipielle Abkehr von der sowjetischen Struktur der Stalinära bedeuten soll. Beabsichtigt ist im Gegenteil die innere Festigung der Parteiherrschaft durch die Absage an die von Stalin ausgeübte Willkür.

Das Ziel soll dadurch erreicht werden, daß 1. die Einmanndiktatur für immer beseitigt wird („Abkehr vom Personenkult") und daß 2. die sowjetische Wirtschaft das höchste Niveau der Welt erreichen soll („Einholen und Überholen der entwickeltsten kapitalistischen Länder").

Die Fragen, die durch diesen Prozeß zwangsläufig aufgeworfen werden und die den roten Faden der Untersuchung bilden sollen, sind: 1. Wird nicht die totalitäre Struktur im ganzen in Frage gestellt, wenn die totalitäre Einmannherrschaft offiziell als falsch und verbrecherisch bezeichnet wird?

2. Wird nicht ebenfalls die zentral geleitete Planwirtschaft im ganzen in Frage gestellt, wenn sie sich immer deutlicher als Hindernis für den von den Sowjetführer angestrebten Wirtschaftserfolg erweist?

Beide Fragen münden in die Hauptfrage: Können die sowjetischen Führer jene Kräfte, die sie durch die Kritik an Stalins Einmannherrschaft und durch ihre Wirtschaftspläne freigesetzt haben, auf die Dauer unter Kontrolle behalten oder werden sie die Geister, die sie riefen, nie mehr los?

Unsere Untersuchung wird zeigen, daß diese Fragen von den sowjetischen Führern und ihren innerkommunistischen Kritikern sowie allerorts in der Sowjetunion immer wieder gestellt werden.

Wir werden dabei nach einer kurzen Bestandsaufnahme der Ausgangslage (1950) auf die von der Sowjetführung gewollten und erreichten sowie die unbeabsichtigten Veränderungen eingehen.

I. Bestandsaufnahme der sowjetischen Situation im Jahre 1950

a) Prinzipielle kommunistische Machtausübung In konzequenter Weiterentwicklung des Leninismus waren die Prinzipien der kommunistischen Machtausübung von Stalin bis zum Jahre 1950 längst ausgeformt und in der Verfassung der UdSSR (1936) verankert.

1. In ideologischer Hinsicht auf der Grundlage der für alle Kommunisten obligatorischen Leitsätze Stalins in seinem Artikel: „über den dialektischen und historischen Materialismus" (September 1938).

2. In politischer Hinsicht durch das Sowjet-system (Verfassung der UdSSR, Art. 2 und 3), das heißt durch die Herrschaft der Partei hinter der Fassade der „Sowjets" (Räte).

3. In wirtschaftlicher Hinsicht durch die Leitsätze der Verfassung (Art. 4, 5, 6, 7, 8 und 11): Verstaatlichung der Industrie, Kollektivierung der Landwirtschaft, zentrale Planung der gesamten Wirtschaft.

4. Im Hinblick auf die kommunistische Welt-bewegung durch den Leitsatz, daß die KPdSU als erfahrendste KP die Avantgarde des internationalen Kommunismus sei.

5. Im Hinblick auf die Weltrevolution durch den Grundsatz, daß die kommunistische Bewegung ihre Selbstbestätigung letzten Endes nur in der Weltrevolution finden könne. Die Gewaltanwendung sollte sich dabei auf das notwendige und mit geringem Risiko verbundene Maß beschränken — im Sinne der Stalinschen Formel der „Koexistenz" (erstmalig 1928 geprägt). Der kommunistische Welt-B sieg würde dann durch den wirtschaftlichen Aufbau der Sowjetunion und durch die Tätigkeit der kommunnistischen Parteien im kapitalistischen Ausland zwangsläufig erreicht werden.

b) Persönliche Merkmale der Herrschaft Stalins Uber die genannten Prinzipien kommunistischer Machtausübung hinaus wurde das Sowjetsystem auch durch die persönlichen Merkmale der Herrschaft Stalins geprägt. Das sind insbesondere:

1. Stalins Einmannherrschaft, die der Partei und dem Sowjetstaat seinen Willen aufzwang und damit zur Willkür wurde.

2. Stalins grenzenloses Mißtrauen, das zu zahlreichen „Säuberungen" in der Partei und zum Meinungsterror führte.

3. Stalins freiwillige Isolierung von der Umwelt und die dadurch hervorgerufenen Fehlentscheidungen auf wissenschaftlichem, militärischem, außenpolitischem und wirtschaftlichem Sektor.

4. Stalins unerträgliches Selbstlob als weisester Führer, größter Feldherr usw.

5. Stalins diktatorische Stellung in der kommunistischen Weltbewegung.

c) Fazit Die prinzipiellen unnd persönlichen Merkmale des Sowjetsystems in der Stalinära waren miteinander zu einem System („Stalinismus") verschmolzen. Rein äußerlich war die Sowjetunion im Jahre 1950 ein straff geführtes Land, das die weltpolitische Lage entscheidend mitbestimmte. Die überragende Rolle des sowjetischen Diktators in der kommunistischen Weltbewegung war — mit Ausnahme der KP Jugoslawiens — unbestritten. Ein Freundschaftsvertrag mit Rotchina sicherte die Verbindung zur jüngsten kommunistischen Großmacht. Die gebietsmäßigen Erwerbungen des Zweiten Weltkrieges waren gesichert, die kommunistische Macht war auch dort unbestritten. In Wahrheit aber war die Sowjetunion im Jahre 1950 wirtschaftlich noch weit zurück. Die Industrieproduktion lag nur wenig über dem Vorkriegsniveau (1939). Die Landwirtschaft konnte die Ernährung des Landes nicht gewährleisten und steckte in einer permanenten Krise. Infolgedessen und noch verschärft durch die Riesenausgaben für die Rüstung (Entwicklung der Atombombe) hatte die Sowjetunion einen niedrigen Lebensstandard (unter 1928). Die Folge waren soziale Spannungen, die nur durch die totalitäre Struktur gewaltsam unterdrückt wurden. Auch in den kommunistischen Satellitenländern gärte es unter der Oberfläche. Die Bevölkerung verlangte nach dem Ende der sowjetischen Fremdherrschaft und nach einem höheren Lebensstandard. Die sowjetischen Beziehungen zum Westen waren auf dem Tiefstand. Bezeichnend dafür sind der kommunistische Putsch in der CSR (1948), die Berliner Luftbrücke (1949), die Gründung der NATO (1949), der Beginn des Korea-Krieges (1950). Zur afro-asiatischen und lateinamerikanischen Staatenwelt bestanden nur spärliche Beziehungen.

Insgesamt war die Sowjetunion eine Welt-macht von westlichen Gnaden, das heißt, das fehlende wirtschaftliche und militärische Eigengewicht der Sowjetunion wurde in den ersten Nachkriegsjahren durch die Uneinigkeit und Unentschlossenheit des Westens, der sowjetischen Expansion Widerstand zu leisten, ausgeglichen.

II. Die Veränderungen seit Stalins Tod

Nach dem Tode Stalins mußten seine Nachfolger mit seinem Erbe fertig werden, das sie vor eine Reihe schwieriger Probleme stellte. Die Versuche, eine Lösung zu finden, brachten der Sowjetunion viele — teils gewollte, teils unbeabsichtigte — Veränderungen.

Vielleicht hätte auch Stalin selbst etliche Veränderungen der Sowjetgesellschaft anstreben müssen (und manche westlichen Beobachter halten das für selbstverständlich); aber dann hätte sich die Sowjetunion mit Sicherheit in anderen Bahnen entwickelt.

Hier soll nun versucht werden, die Veränderungen in der Sowjetunion seit Stalins Tod bis zur Gegenwart, getrennt nach den verschiedenen Bereichen, in ihren Grundzügen anzudeuten.

a) Veränderungen im politischen Bereich 1. Die persönliche Diktatur sollte für alle Zeiten beendet sein und durch die sogenannte „kollektive Führung" ersetzt werden.

Für die Führung bedeutete das den Beginn eines erbitterten, internen Machtkampfes. Das Bestreben jedes einzelnen, sich in den Spitzen-B gremien zu halten, führte zu ständigen Intrigen und diese wiederum zu mehreren ernsten Führungskrisen (1953 um Berija, 1956 während des Ungarn-Aufstandes, 1957 um die Gruppe Molotow, Kaganowitsch, später um Shukow, 1963 um Chruschtschow und schließlich im Oktober 1964 zu seiner Entfernung aus allen Ämtern).

Während Stalins Stellung über allen Zweifel erhaben war, muß sich heute der ranghöchste sowjetische Führer stets aufs neue bewähren. Er kann seine Entscheidungen nicht selbstherrlich treffen, sondern ist auf Zustimmung seiner Kollegen angewiesen.

Ein solcher Zustand paßt schlecht zur totalitären Struktur, denn er bewirkt Zweifel in unteren Gremien an der Überlegenheit der Führung.

2. Die Stalinsche Willkürjustiz sollte durch die „sozialistische Gesetzlichkeit" ersetzt werden. Das bedeutete den Versuch, dem einzelnen Staatsbürger das Gefühl größerer Sicherheit zu geben, ohne den Charakter der Partei-justiz zu ändern.

Schon unmittelbar nach dem Tod Stalins begann die Parteiführung ab April 1953 mit einer populären Aktion, der Entlassung von Häftlingen aus den Arbeitslagern. Später wurden die Bedingungen in den Lagern (mit Ausnahme der politischen Häftlinge) verbessert sowie die Zahl der Straflager stark vermindert. Im Jahre 1956 wurde das Arbeitsrecht zugunsten der Arbeiter verändert (keine Gefängnisstrafen mehr für Verspätungen an der Arbeitsstelle, dosierte Freizügigkeit beim Arbeitsplatzwechsel). Im Dezember 1958 verabschiedete der „Oberste Sowjet" neue Rechts-grundsätze für das Strafrecht (Abschaffung der Sondergerichte, größere Rechte für den Angeschuldigten vor Gericht und ähnliches). Neben diesen Verbesserungen für den einzelnen wurden Zehntausende von Opfern der Stalin-Justiz — häufig postum — rehabilitiert. Andererseits wurde das Strafmaß für politische Vergehen verschärft. Heute ist für siebzehn Straftaten (darunter auch Devisenvergehen, Spekulation) die Todesstrafe wieder eingeführt worden.

Die Bevölkerung sollte in der Strafverfolgung und Rechtsprechung einbezogen werden. Jugendliche werden seit 1959 zum Streifendienst auf den Straßen eingesetzt. Ab 1960 wurden sogenannte „Nachbarschaftsgerichte" gebildet.

1963 gab es bereits 197 000. In diesen „Gerichten" urteilen Laien aus dem betreffenden Wohnbezirk über „gesellschaftliche Vergehen"

ihrer Mitbürger (Trunksucht, private Streitigkeiten, Vernachlässigung der Aufsichtspflicht und dergleichen mehr). Die Verhandlung ist öffentlich. Eine Strafprozeßordnung gibt es nicht. Das Strafmaß kann empfindlich sein, zum Beispiel Verbannung bis zu fünf Jahren, Einweisung von Kindern in eine Erziehungsanstalt, Entlassung aus dem Arbeitsverhältnis. Geurteilt wird nach dem „gesunden Volks-empfinden", und nicht selten spielen Neid und Mißgunst gegenüber dem Nachbarn bei dieser Rechtsprechung eine große Rolle.

Die Veränderungen seit Stalins Tod haben die Stellung des einzelnen in mancherlei Hinsicht verbessert. Aber der Charakter der Partei-justiz ist unverändert geblieben, eine unabhängige Rechtsprechung gibt es also nicht. Die sowjetischen Ziele und Maßnahmen im Bereich der Rechtsprechung legen darüber hinaus überzeugend dar, daß der westliche Begriff „Liberalisierung" auf die sowjetische Entwicklung nicht angewandt werden kann. Denn die angestrebte „sozialistische Gesetzlichkeit" ist keineswegs eine liberale oder rechtsstaatliche Form.

Der Wunsch der Bevölkerung nach einem echten Schutz der individuellen Rechte ist allerdings durch die „Entstalinisierung" noch verstärkt worden. Viele Menschen in der Sowjetunion wissen, daß die Verwirklichung dieser Forderung nur durch die Teilung der totalitären Gewalt möglich ist. Die Bevölkerung hat die Verbesserung zwar begrüßt, ist aber keineswegs dadurch zufriedengestellt, sondern fühlt sich durch einzelne Rückschritte wie die „Nachbarschaftsgerichte" nur noch mehr verletzt. 3. Zum Unterschied von dem Stalinschen Meinungsterror wurde nun die Kritik von unten ermuntert und bei einzelnen Reformen geradezu gefordert. Die Bevölkerung machte zuerst zögernd und dann im breiten Maße davon Gebrauch.

Von der Führung ungewollt, führte die offizielle Ermunterung zur offenen Kritik aber weit über die erlaubte Grenze hinaus. Heute werden die Mißstände nicht nur in den satirischen Zeitungen, im Theater, in Filmen und in der Literatur angeprangert, sondern die öffentliche oder private Kritik im kleinen Kreis macht auch vor dem Sowjetsystem nicht halt. b) Veränderungen im wirtschaftlichen Bereich Die wirtschaftliche Grundtendenz der Sowjetunion ist die Industrialisierung. Allerdings steht die Entwicklung der Schwer-und Rü-stungsindustrie im Vordergrund. Die sowjetischen Führer lassen sich hierbei von den Marxschen Erkenntnissen leiten, daß sich die Gesamtwirtschaft um so rascher entwickele, je größer der Anteil der Produktionsmittel-industrie am Sozialprodukt ist.

Sucht man nach einem Maßstab zur Bestimmung des Grades, den die Industrialisierung erreicht hat, so kann die Erwerbsstruktur herangezogen werden, das heißt der jeweilige Anteil der Beschäftigten in den drei Haupt-sektoren der Wirtschaft (Land-und Forstwirtschaft, Industrie und Bauwesen, Dienstleistungen) an der Gesamtzahl aller Erwerbstätigen.

Der Vergleich zwischen 1950 und 1962 zeigt folgendes Bild:

Erwerbsstruktur in der SU BRD USA Beschäftigte ohne mitarbeitende Familienangehörige 1950 1962 1961 1961 landwirtschaftl.

Sektor (I) 50 vH 38 vH 16 vH 9 vH industrieller Sektor (II) 27 vH 32 vH 48 vH 37 vH Dienstleistungssektor (III) 23 vH 30 vH 36 vH 54 vH Im Verhältnis zu den entwickelteren Ländern des Westens liegt die Sowjetunion zwar noch weit zurück (die heutige sowjetische Erwerbs-struktur entspricht der des Deutschen Reiches von 1895); aber der Fortschritt von 1950 zu 1962 ist unverkennbar.

Die Zahl der Arbeitskräfte im staatlichen Sektor (Industriebetriebe und Staatsgüter) stieg von 38, 9 Millionen (1950) auf 68, 4 Millionen (1962). Der Umfang des Staatshaushaltes stieg von 42, 3 Milliarden Rubel (1950) auf 91, 9 Milliarden Rubel (1964).

Seit dem XX. Parteitag der KPdSU steht die Intensivierung der Wirtschaft im Mittelpunkt aller staalichen Direktiven. Sämtliche Reformen in Industrie und Landwirtschaft dienten diesem Ziel.

Hauptgesichtspunkte der Reformen sind: Erhöhung der Arbeitsproduktivität des einzelnen Arbeiters durch bessere Bezahlung, erleichterte Arbeitsbedingungen, erhöhten Lebensstandard, größere Rechts-und soziale Sicherheit.

Erhöhung der Initiative der unteren Wirtschaftseinheiten durch die Dezentralisierung der Verwaltung (1957/58) und später vom anderen Extrem her durch die Vergrößerung der lokalen Verwaltungseinheiten oder durch die Parteireform (1962), das heißt die unmittelbare Übernahme der Verantwortung für die Wirtschaft seitens der Partei. Ihr Fehlschlag führte im November 1964 zur Aufhebung der Parteireform durch Chruschtschows Nachfolger.

Erhöhung der Produktivität der Gesamtwirtschaft durch bessere Planungs-und Leitungsmethoden sowie rationellere Verwendung der Investitionen und bessere Warenzirkulation.

Durch die eingeleiteten Maßnahmen gelang es, die in den Jahren 1954— 1956 drohende wirtschaftliche Stagnation zu überwinden. Der Zuwachs in der Energieversorgung war beträchtlich. Auch die Produktion der Grundstoffindustrie stieg bedeutend an. Weniger befriedigend waren die Erfolge im Maschinenbau, unbefriedigend war die Entwicklung der Leichtindustrie und völlig ungenügend die Entwicklung der Agrarwirtschaft. Die Sowjet-wirtschaft hat also auf einzelnen Gebieten große Fortschritte zu verzeichnen, während andere Gebiete zurückgeblieben sind und daher die Produktivität der Gesamtwirtschaft ungünstig beeinflussen.

Inzwischen sind auch die Grenzen der Intensivierung der Sowjetwirtschaft deutlich geworden; denn die wirtschaftliche Aufwärtsentwicklung soll ja nicht zur Auflösung des totalitären Herrschaftssystems führen. Infolgedessen werden häufig sachgerechte Entscheidungen durch die Angst vor negativen Auswirkungen auf die Parteiherrschaft oder durch dogmatische Auffassungen blockiert.

So konnte sich die sowjetische Führung bislang nicht dazu entschließen, den Lebensstandard (und damit die Arbeitsbereitschaft der Menschen) durch eine wirksame Vergrößerung der Investitionen für die Konsumgüter und Agrarwirtschaft entscheidend zu erhöhen;

die Initiative der Betriebsleitungen dadurch zu wecken, daß die Betriebe selbständig kalkulieren und konkurrieren können;

die Produktivität der Gesamtwirtschaft dadurch zu verbessern, daß die dogmatischen Leitsätze, die im Gegensatz zur wirtschaftlichen Vernunft stehen (wie die zentrale Planung und Leitung der Wirtschaft oder die Bevorzugung der Schwerindustrie), aufgegeben werden.

Immerhin haben schon die bisherigen Wirtschaftsreformen im Rahmen des totalitären Systems zu ungewollten Veränderungen geführt. 1. Die wirtschaftliche Zielsetzung der Sowjetführung hat den Erfolg zum wichtigsten Maßstab gemacht. Das Erfolgsdenken des einzelnen Sowjetmenschen soll im Endergebnis den Gesamterfolg des Staates bringen. Die erste Folge dieser Denkweise ist jedoch gewesen, daß sachliche (ideologiefremde) Argumente in die öffentliche Diskussion eingedrungen sind.

Besonders in der Diskussion um die Vorschläge Professor Libermans im Herbst 1962 wurde offen die radikale Veränderung des sowjetischen Wirtschaftssystems gefordert: die Selbständigkeit der Betriebe bei der Festsetzung von Löhnen und Preisen, praktisch also eine Form der Marktwirtschaft.

In Diskussionen um die Planungstheorie, die 1962 begannen und noch anhalten, wird die Unmöglichkeit einer zentralen Planung und Leitung der Sowjetwirtschaft überzeugend nachgewiesen. Sowjetische Wissenschaftler halten die heutige Verwaltungspraxis für völlig ungeeignet zur Bewältigung der Planaufgaben. Nach ihren Feststellungen würde eine zentrale Planung der insgesamt 20 Millionen Planpositionen die Berechnung von 4 Quadrillionen Beziehungen zwischen diesen Positionen erforderlich machen — eine astronomische Summe, die auch nicht mit der Kybernetik berechnet werden könnte. Die Dezentralisierung des Planungsapparates könnte das Problem ebensowenig lösen, da sich die Voraussetzungen ständig ändern und die genaue Abgrenzung der Wirtschaftszweige praktisch unmöglich ist.

Ohne grundlegende Reformen, so prophezeite ein führender sowjetischer Mathematiker (Glushkow im September 1962), würde im Jahre 1980 die gesamte erwachsene Bevölkerung der Sowjetunion im Planungsapparat beschäftigt sein.

Völlig zu Recht stellte Professor Nemtschinow in dieser Diskussion fest: „Je komplizierter und größer ein Wirtschaftssystem ist, desto mehr wirtschaftliche Entscheidungen müssen an Ort und Stelle getroffen werden." Schon Chruschtschow hatte im Mai 1964 den Versuch begonnen, zwei Betriebe in eigener Zuständigkeit wirtschaften zu lassen. Seine Nachfolger dehnten das Experiment auf über 400 Betriebe aus und verkündeten, daß bald sämtliche Unternehmen der Textil-und Schuhindustrie entsprechend arbeiten würden. Der einzige Maßstab dieser Wirtschaftsweise ist das Gewinnprinzip. Im übrigen sind die Betriebe aus dem zentral geleiteten Verwaltungssystem herausgenommen und entscheiden selbständig.

Der bisherige Erfolg der „neuen" Produktionsweise ist überzeugend. Allerdings hat das Experiment auch einige Probleme aufgeworfen: So wird der Produktionserfolg beeinträchtigt und schließlich verhindert, wenn die Rohstofflieferanten, die noch immer nach Plan arbeiten, nicht mehr liefern können, weil diese Steigerung der Produktion nicht vorgesehen war.

Bisher half man sich damit, daß auch einzelne Betriebe der Grundstoff-und Schwerindustrie aus der zentral geleiteten Planwirtschaft herausgenommen wurden. Und auch sie melden großartige Erfolge. Eine Lösung des Problems ist das freilich nicht. Unausweichlich wird auf die sowjetischen Führer die Frage zukommen, ob sie das Experiment ausdehnen — und damit schließlich das gesamte Wirtschaftssystem umkrempeln — oder ob sie den Versuch wieder einstellen. 2. Die Erhöhung der Arbeitsproduktivität ist nach dem Willen der Sowjetführer eine entscheidende Voraussetzung für Produktionssteigerungen. Die ungewollte Konsequenz ist allerdings, daß dadurch die Arbeitsbereitschaft der Menschen, also ihre subjektive Einstellung, zu einer Schlüsselfrage des Erfolges geworden ist. Die Führung kann die Interessen der Bevölkerung nicht mehr (wie zu Stalins Zeiten) ignorieren. Sie mußte größere Mittel für den Wohnungsbau bereitstellen. Sie kaufte für Gold und wertvolle Devisen Millionen Tonnen Weizen im „kapitalistischen" Ausland. Die Nachfolger Chruschtschows gehen noch weiter: die Investitionen für die Leichtindustrie und Landwirtschaft wurden für das Jahr 1965 beträchtlich erhöht.

3. Nach dem Willen der sowjetischen Führer soll die Produktion ständig wachsen. Ungewollt steigt aber infolge des größeren Warenangebotes auch die Bedeutung des einzelnen Konsumenten. Er wird wählerisch und verzichtet auf den Kauf von Waren schlechter Qualität. Schon jetzt ist der Wert unverkäuflicher Bestände in den sowjetischen Magazinen auf mehrere Milliarden Rubel angestiegen. Das bedeutet: Der Konsument übt einen direkten Einfluß auf die Produktion aus. Und der Staat muß sich wohl oder übel dieser neuen Situation anpassen, wenn er Verluste vermeiden will. Chruschtschow und seine Nachfolger haben das Problem seit dem Jahre 1962 immer wieder angesprochen. Sie meinten, es sei eine völlig neue Frage, daß sich die Produktion in der Sowjetunion nicht mehr nach dem Plan, sondern nach dem Bedarf der Bevölkerung richten müsse.

Wieder einmal fällt der Blick in dieser Lage auf die „kapitalistischen" Lösungen. Auch in der Sowjetunion sollen Institute für Markt-und Konjunkturforschung entstehen. Im Dezember 1964 kündigte der Minister für Binnenhandel an, daß bald Saisonschlußverkäufe zu stark herabgesetzten Preisen durchgeführt würden. Im Mai 1965 wurde ein sogenannter „Allunionsverband für Handelsreklame" gegründet, der überall in der Sowjetunion Filialen bilden will, um die Reklame zu aktivieren. 4. Prinzipiell besteht zwar die Forderung nach „innerer Sozialisierung" der Kollektivwirtschaften, aber praktisch muß die Sowjetführung die privaten Nebenwirtschaften und den freien Verkauf der dort erzeugten Waren dulden; denn der Anteil der privaten Erzeuger an der Gesamtproduktion landwirtschaftlicher Produkte ist noch immer sehr groß. Im Jahre 1962 waren 42 Prozent der Kühe und 29 Prozent der Schweine in Privatbesitz. Bei einem Anteil von nur 3, 5 Prozent der genutzten Fläche erzeugten die privaten Neben-wirtschaften im gleichen Jahre 64 Prozent der Kartoffelernte, 67 Prozent der Obsternte, 46 Prozent der Gemüseernte, 44 Prozent der Fleischerzeugung, 45 Prozent der Milcherzeugung, 77 Prozent der Eierproduktion.

In den früheren Jahren war der private Anteil noch größer, und Chruschtschow hatte alle Anstrengungen unternommen, um die Bedeutung der privaten Nebenwirtschaften zu vermindern. Da aber keine Gewalt angewandt werden sollte, weil sie eine Katastrophe auf dem Ernährungssektor herbeigeführt hätte, blieb dem Sowjetstaat nur das Mittel der ständigen Erhöhung der staatlichen Auf-kaufpreise für landwirtschaftliche Produkte.

Durch diesen Anreiz sollten die Kollektiv-bauern veranlaßt werden, ihre Produkte dem Staat zu verkaufen. Die sowjetische Regierung wurde so gegen ihren Willen zu enormen Preiserhöhungen gezwungen. Die staatlichen Aufkaufpreise stiegen von 1952 bis 1964 im Durchschnitt um das Fünfzehn-bis Zwanzigfache, bei Kartoffeln sogar um das Vierzigfache. Chruschtschows Nachfolger habn diese Entwicklung noch weitergetrieben. Am 1. Mai 1965 wurden die staatlichen Auf-kaufpreise für Fleisch und Milch sowie einige andere Agrarprodukte abermals um 20 bis 100 Prozent erhöht.

Schon im November 1964, gleich nach der Absetzung Chruschtschows, waren alle Beschränkungen für die privaten Nebenwirtschaften aufgehoben worden, um die Privatinitiative der Sowjetmenschen anzukurbeln und die Agrarproduktion zu steigern.

5. Die offizielle Verurteilung der „Gleichmacherei" und die Schaffung materieller Anreize für bessere Arbeit hat in allen Schichten der Sowjetgesellschaft den Wunsch nach materiellem Wohlstand geweckt. Die sowjetische Oberschicht verbürgerlicht zusehends und die breite Masse versucht, diesem Ideal nachzueifern.

Bezeichnend dafür ist eine Meinungsumfrage des Leningrader Soziologischen Institutes vom Herbst 1963. 2 700 junge Arbeiter aus Leningrader Betrieben wurden nach ihrem Verhältnis zur Arbeit befragt. 77 Prozent der Befragten erklärten, daß sie den materiellen Gewinn der Arbeit als unabdingbar oder sogar allein entscheidend ansehen. Nur 23 Prozent wollten jede Arbeit ausführen, die ihnen die Partei gibt.

c) Veränderungen im gesellschaftlichen Bereich 1. Um alle Menschen mit kommunistischem Gedankengut zu erfüllen, sollten die „gesellschaftlichen Organisationen" (Gewerkschaft, KOMSOMOL, DOSAAF usw.) aktiviert werden. Das Maß an Verantwortung allerdings, das die Partei ihnen übertrug, blieb denkbar gering. Daher ist auch das Interesse der Bevölkerung an der Mitarbeit in diesen Organisationen in dem Maße zurückgegangen, wie der Zwang nachgelassen hat.

36 Prozent aller Jugendlichen in den betreffenden Altersstufen sind im kommunistischen Jugendverband organisiert; ständig wird über die Passivität der Mitglieder geklagt. Für die Sowjetmenschen ist lediglich die Mitgliedschaft in der Gewerkschaft von Interesse, weil die sowjetische Gewerkschaft Einfluß auf die Arbeitsbedingungen (Urlaub, Sanatoriumsaufenthalt) hat.

2. Im wissenschaftlichen Bereich wurde verschiedenen Disziplinen, vor allem den Naturwissenschaften, die Möglichkeit zur freien Entfaltung gegeben. Erst dadurch war die Bahn frei für die großen sowjetischen Erfolge in der Weltraumfahrt. Die freieren Entfaltungsmöglichkeiten verursachten einen großen Andrang der Jugendlichen zu diesen Disziplinen. Vom sachlichen Standpunkt aus wird das von der Partei begrüßt. Andererseits wachsen ihre Sorgen um die Erhaltung des kommunistischen Bewußtseins.

Die Verurteilung Stalins eröffnete auch der Soziologie den Weg einer eigenen Disziplin, nachdem diese Wissenschaft vorher ignoriert worden war. Seit 1962 bedient man sich in der Sowjetunion der Meinungsumfrage im Rahmen der empirischen Sozialforschung. Die Ergebnisse sind allerdings für die Führung überraschend. Auf diese Weise werden sowohl die sozialen Gegensätze in der Sowjetunion wie auch das minimal entwickelte kommunistische Bewußtsein aufgedeckt. Die Soziologie wird dadurch, von der Führung ungewollt, zum Hüter der Wahrheit, die jetzt erstmalig ungeschminkt nach oben dringt.

3. Im kulturellen Bereich sollten Tabus und Beschränkungen der Stalinära fallen. Die Partei wollte dadurch die Möglichkeit zur Schaffung großer Kunstwerke eröffnen. Dennoch sollte der „sozialistische Realismus" auch weiterhin den Rahmen der sowjetischen Kunst bilden. Die sowjetischen Maler, Schriftsteller, Musiker, Film-und Theaterleute haben die Freiheit genutzt. Der Kritik an Stalin folgte sehr bald die verdeckte oder offene Kritik am System. Abweichungen vom sozialistischen Realismus und Nachahmungen westlicher Kunstrichtungen häuften sich. Diese Überschreitung der erlaubten Grenze verursachte das energische Eingreifen der Partei (Chruschtschow-Rede am 8. 3. 1963, Konferenz im Juli 1963). Es gelang der Partei jedoch nicht, die sowjetische Kunst wieder völlig zu beherrschen. Neben der eigenwilligen Haltung vieler offiziell anerkannter sowjetischer Schriftsteller, Künstler usw. gibt es seit einigen Jahren auch vorwiegend jugendliche Rebellen, die ihre Kritik am sozialistischen Realismus und am Sowjetsystem in illegalen Schriften verbreiten.

4. Die Stellung des einzelnen Menschen sollte nach dem Willen der Partei gegenüber der Stalinära aufgewertet werden. Jetzt wurde der einzelne zur Mitarbeit, zum Mitdenken und zum Kritisieren aufgefordert.

Zunächst machte die Bevölkerung nur zögernd und mißtrauisch davon Gebrauch. Nachdem jedoch (seit 1961) die offizielle Kritik an Stalin verstärkt wurde, wuchs auch die kritische Einstellung der Bevölkerung in der Sowjetunion. Sie äußerte sich in zahllosen Briefen an die Sowjetpresse, an die Partei-und Staats-organisationen sowie in der Reaktion der Zuschauer auf Filme und Theaterstücke.

Der Partei gelang es nicht, die sowjetische Vergangenheit in den vorgeschriebenen Grenzen zu bewältigen. Die Kritik an Stalin führte in der Bevölkerung zu bohrenden Fragen und zur Kritik an der totalitären Parteiherrschaft:

Warum haben die heutigen Führer damals nicht protestiert? Wie konnte das die Partei dulden?

Die Bevölkerung und vor allem die Jugend nehmen heute längst nicht mehr jede Parteidirektive als Selbstverständlichkeit hin.

Die Partei ist in ihren Augen durch die Verbrechen Stalins diskreditiert. Viele Jugendliche suchten sich andere Leitbilder, außerhalb der kommunistischen Ideologie. Von hier aus ist auch die in der Sowjetunion verbreitete Nachahmung westlicher Sitten, Mode und Musik verständlich. Sie ist im Grunde ein Protest gegen die diskreditierte Zwangsherrschaft. Zwar versucht die Partei, ihren Ruf zu retten (so antwortete die Iswestija auf das Bekenntnis Ilja Ehrenburgs, daß alle damals von Stalins Verbrechen wußten, das sei gar nicht möglich gewesen, weil die Aufdeckung der Wahrheit ein „dialektischer Prozeß" sei, der erst 1956 einsetzen konnte); aber derartige plumpe Manöver werden in der Bevölkerung nicht ernst genommen. Die offiziell gewollte kritische Einstellung der Bevölkerung hat (ungewollt) das Selbstbewußtsein des einzelnen gestärkt. Heute gibt es in der Sowjetunion „die öffentliche Meinung" wie einst in der Vorphase der Französischen Revolution (1789), als dieser Begriff geprägt wurde.

Sie besagt, daß es keine Rückkehr zur Willkürherrschaft eines Diktators geben darf. Da die Partei im Prinzip an der Diktatur festhält, ist es für sie schier unmöglich, die Einmanndiktatur zu verurteilen, ohne gleichzeitig in den Augen der Bevölkerung auch die kollektive Diktatur in Frage zu stellen. Der Führungswechsel im Oktober 1964 hat das Vertrauen in die „Weisheit" der Partei noch mehr geschmälert.

d) Veränderungen im Verhältnis der Sowjetunion zu den kommunistischen Parteien Unter Stalin beruhte die Einheit der kommunistischen Weltbewegung auf seiner unumstrittenen Stellung als Diktator. Bei Strafe des eigenen Unterganges war jeder Kommunist gehalten, die Befehle Stalins zu befolgen. Dieser Integrationsfaktor des internationalen Kommunismus war aber schon zu Lebzeiten Stalins durch die Eigenwilligkeit Titos und durch das Eigengewicht Chinas in Frage ge-stellt worden. Nach Stalins Tod versuchten die sowjetischen Führer, durch eine größere Berücksichtigung des Eigenlebens der kommunistischen Parteien die freiwillige Anerkennung der sowjetischen Führungsrolle zu erreichen. Aber bereits die ersten Anzeichen der Lockerung lösten weitergehende Forderungen und Aufstände gegen die sowjetische Fremdherrschaft aus (17. 6. 1953 in der SBZ, 1956 in Polen und Ungarn). Die Sowjetunion rettete mit Gewaltmitteln die kommunistische Herrschaft in den Satellitenländern. Aber weder die formelle Anerkennung der Gleichberechtigung in der Sowjeterklärung vom 30. Oktober 1956 noch die Gewährung von Krediten konnten auf die Dauer verhindern, daß in den kommunistischen Parteien der nationale Egoismus erwachte.

Als späten Protest gegen die Unterdrückung und wirtschaftliche Ausbeutung durch die Sowjetunion stellten die kommunistischen Länder und darüber hinaus alle kommunistischen Parteien (mit Ausnahme der SED) ihre nationalen Interessen in den Vordergrund.

Diese allgemeine Zerfallstendenz wird ständig durch den Streit der KP Chinas mit der KPdSU genährt. Die anderen kommunistischen Länder profitieren von dem Streit, weil sie von den kommunistischen Großmächten umworben werden.

Die wichtigste Veränderung der letzten fünfzehn Jahre im Verhältnis der KPdSU zu den andern kommunistischen Parteien besteht darin, daß der Integrationsfaktor der kommunistischen Weltbewegung verlorenging: die unumstrittene sowjetische Führungsgewalt. Die Alternative zu der nicht mehr möglichen gewaltsamen Einigung der kommunistischen Weltbewegung wäre ein Modus zur verbindlichen Bestimmung der Generallinie für alle kommunistischen Parteien. Ein solcher Modus ist aber bisher nicht gefunden worden. Auch die Kompromißformeln der internationalen kommunistischen Erklärungen von November 1957 und Dezember 1960 sind heute praktisch wertlos, weil sie verschieden interpretiert werden und weil die KPCh zum ernsthaften Konkurrenten des sowjetischen Führungsanspruches geworden ist.

e) Veränderung der sowjetischen Außenpolitik Schon ein Jahr nach dem Tod Stalins änderte sich die sowjetische Weltpolitik im Hinblick auf die Entwicklungsländer. Hatte Stalin vorher die blockfreien Länder nicht als selbständigen Faktor der Weltpolitik anerkennen wollen, so wurde diese Anerkennung jetzt offiziell ausgesprochen und im Parteiprogramm der KPdSU (1961) bekräftigt. Die politischen, wirtschaftlichen, kulturellen und militärischen Beziehungen der Sowjetunion zu den Entwicklungsländern wurden intensiviert. Durch die Bildung von Schwerpunkten konnte sie dabei bemerkenswerte Erfolge erzielen.

Gleichzeitig veränderte sich seit 1956 (XX.

Parteikongreß) die sowjetische Strategie im Kampf um die Weltrevolution. Lenins Grundsatz, daß Kriege unvermeidlich sind, solange der Sozialismus noch nicht überall in der Welt gesiegt hat, wurde aufgegeben. Die offene Aggression in Form des allgemeinen Atomkrieges oder auch des begrenzten Krieges sollte nun kein Mittel der Weltrevolution mehr sein.

Im Grunde weicht diese Änderung nicht allzusehr von der Praxis Stalins ab, der schon 1928 die Politik der Koexistenz offiziell verkündet hatte. Nun wurde diese Politik theoretisch begründet und ausgeformt. Die Politik der „friedlichen Koexistenz zwischen Staaten mit verschiedener Gesellschaftsstruktur" soll nach sowjetischer Auffassung nicht die Anerkennung eines dauerhaften friedlichen Nebeneinanders zwischen Sozialismus und „Kapitalismus" bedeuten, sondern sie ist die revolutionäre Kampfform unter den Bedingungen des Atompatts.

Die Politik der Koexistenz bedeutet auch nicht den Verzicht auf jede Gewaltanwendung. Die Sowjetunion erkennt ausdrücklich die „allseitige Unterstützung" der prokommunistischen Kräfte im Bürgerkrieg in den Industrieländern und im nationalen Befreiungskrieg der Entwicklungsländer als ihre „heilige Pflicht" an und handelt entsprechend.

So trägt die Politik der Koexistenz einerseits der strategischen Lage im Atomzeitalter Rechnung, denn sie berücksichtigt den Umstand, daß die modernen Waffen die Sowjetunion bei einem eigenen Angriffskrieg infolge der westlichen Abschreckungsmacht selbst vernichten könnten. Andererseits sucht die Koexistenz-Politik die noch vorhandenen Möglichkeiten für die Revolution nutzbar zu machen. Der offizielle Verzicht auf den Aggressionskrieg zwischen Staaten bietet die Grundlage für die Aktivierung einer „Weltfriedensbewegung". Dadurch kann der kommunistischen Bewegung weltweite Unterstützung vor allem in den Entwicklungsländern verschafft werden. Und es ist nunmehr mög-lieh, Gegner des Kommunismus als „Friedensfeinde" zu diffamieren.

Nach dem Willen der Sowjetführer soll diese Politik der Koexistenz den Kampf zwischen den Gesellschaftssystemen zugunsten des sozialistischen Lagers entscheiden, weil die „kapitalistische Festung", Europa und USA, durch die „Friedensbewegung" von innen ausgehöhlt und durch die intensivere Zusammenarbeit mit den antiwestlichen Regierungen im afro-asiatischen und lateinamerikanischen Raum eingekreist würde.

Allerdings hat die sowjetische Politik auch zu ungewollten Folgen geführt: In verschiedenen Gebieten der Welt und vor allem in der Frage der Verhinderung . eines Atomkrieges sind die Interessen der Sowjetunion mit denen der freien Welt identisch. Notgedrungen pendelt die sowjetische Außenpolitik zwischen Verantwortungsgefühl für den Weltfrieden und revolutionärem Elan hin und her. Die sowjetische Handlungsfreiheit ist eingeschränkt. Und diese — in den Augen der Rotchinesen — unrevolutionäre Haltung hat erheblich zur Vertiefung des Streites zwischen Peking und Moskau beigetragen. Rotchina klagt die KPdSU des „Verrates an der Revolution" und des „Komplotts mit den USA" an.

III. Schlußfolgerungen

Die Schlußfolgerung aus der sowjetischen Entwicklung nach Stalins Tod lautet: Die Nachfolger Stalins haben eine Automatik in Bewegung gesetzt, deren Konsequenzen sie nicht erwartet hatten und von der sie sich nur um den Preis der Aufgabe ihrer programmierten Ziele befreien können.

Nach den Vorstellungen der sowjetischen Führer sollte die Beseitigung der persönlichen Merkmale Stalinscher Machtausübung den Weg zu Reformen frei machen und dadurch bewirken:

1. Die Entwicklung der Sowjetunion zur größten Wirtschaftsmacht mit dem höchsten Lebensstandard; 2. die freiwillige Anerkennung der totalen Parteiherrschaft durch die Sowjetmenschen;

3. die Einheit der internationalen kommunistischen Bewegung durch die freiwillige Anerkennung der sowjetischen Führerrolle;

4. die allmähliche Durchsetzung der weltrevolutionären Ziele auf friedlichen oder gewaltsamen Wegen, aber ohne offenen Krieg.

Bis heute haben die sowjetischen Führer tatsächlich bewirkt:

1. große Fortschritte bei der Entwicklung der Schwerindustrie, aber den desto deutlicher empfundenen Gegensatz zur völlig ungenügenden Entwicklung der Konsumgütererzeugung und damit des Lebensstandards;

2. Stärkung des individuellen Selbstbewußtseins der Menschen und Belebung ihrer dem totalitären System entgegenstehenden Forderungen nach rechtlicher Sicherheit und Besitz; 3. Stärkung des Selbstbewußtseins der nationalen kommunistischen Parteien und Gefährdung der Einheit des Weltkommunismus; 4. keine entscheidenden Erfolge bei der Durchsetzung der weltrevolutionären Ziele und Ungewißheit über die zukünftige Entwicklung. Der Hauptgrund für die unerwarteten Folgen der sowjetischen Politik liegt darin, daß die sowjetischen Ziele schon im Ansatz voller Widersprüche sind:

Die Entwicklung zur rationellsten Wirtschaft ist unvereinbar mit dem Beharren auf der totalitären Herrschaft; denn die zentral geleitete Wirtschaft läßt keinen Spielraum für Einzelinitiativen und verhindert dadurch das rationelle Wirtschaften.

Die Verwirklichung der Forderung nach selbständigem kritischen Denken der Menschen ist unvereinbar mit dem Festhalten “ an der totalitären Herrschaft, in der die Menschen nur Befehlsempfänger sein müssen.

Die Verwirklichung der Gleichberechtigung aller kommunistischen Parteien ist unvereinbar mit dem sowjetischen Führungsanspruch in der kommunistischen Weltbewegung.

Die Erhaltung des Weltfriedens ist unvereinbar mit dem Ziel, den „Triumph des Kommunismus im Weltmaßstab" herbeizuführen. Auch die Politik der Anpassung an die strategische Lage, die sogenannte Politik der friedlichen Koexistenz zwischen Staaten verschiedener Gesellschaftsstruktur, hebt den Widerspruch nicht auf, sondern verdeutlicht ihn nur. Früher oder später müssen sich die Sowjet-führer entscheiden, ob sie an der kommunistischen Weltrevolution festhalten wollen oder ob aus der zwiespältigen Koexistenz-Politik ein friedliches Nebeneinander der verschiedenen Gesellschaftssysteme werden soll.

Die Sowjetführer haben sich bislang in keinem der angeführten Punkte zu einer klaren Entscheidung durchringen können. Daher ist die sowjetische Politik seit Jahren sprunghaft, widerspruchsvoll und unberechenbar.

Das gilt ganz besonders für die vergangenen Jahre, in denen Chruschtschow mit seinem hektischen Temperament die Politik bestimmte. Wenn die Tendenzen im Ost-West-Verhältnis und damit auch die Chancen für die Durchsetzung der sowjetischen Ziele richtig beurteilt werden sollen, dann müssen ihre Hauptfaktoren berücksichtigt werden.

Ob die sowjetischen Führer ihr Programm erfüllen können oder nicht, hängt ab vom Verhalten der eigenen Bevölkerung, vom Verhalten der anderen kommunistischen Parteien und von der Reaktion sowie von der Eigenentwicklung der freien Völker.

Will die Sowjetführung ihr ökonomisches Hauptziel erreichen, dann muß die Bevölkerung zu entsprechenden Leistungen bereit sein und sie muß auch die Voraussetzung einer rationellen Wirtschaftsweise, nämlich die freie Entfaltung der Eigeninitiative, erfüllt sehen. Ein solches zielbewußtes ökonomisches Verhalten der Sowjetmenschen ist nur möglich auf Kosten der kommunistischen Dogmen. Das bedeutet: Aufgabe des Primats der Schwerindustrie, Dezentralisierung der Wirtschaft und damit Abbau der totalitären Herrschaft, kein Gewaltrisiko für die Weltrevolution. Der Weg des wirtschaftlichen Erfolges hätte für die Sowjetunion zur Folge, daß einerseits die Einheit des Weltkommunismus endgültig verloren ist, aber andererseits das Ansehen der Sowjetunion in den neutralen und westlichen Ländern wächst.

Hält die sowjetische Führung hingegen unbeirrt an den kommunistischen Dogmen fest, dann können die Wirtschaftsziele nicht erreicht werden und die innere Zustimmung der Sowjetmenschen wird diesem System versagt bleiben. Die Einheit der kommunistischen Weltbewegung wäre dann vielleicht im Arrangement mit Rotchina wiederherzustelLen. Aber der Widerstand in den neutralen rnd westlichen Ländern gegen die weltrevoutionäre Zielsetzung wäre unvermeidbar.

An dieser Gegenüberstellung der Entwickungsmöglichkeiten ist augenfällig, daß die Interessen der sowjetischen Bevölkerung mit denen der freien Völker durchaus übereinstimmen. Denn die Ziele und Wünsche der Menschen in der Sowjetunion richten sich bewußt oder unbewußt gegen die kommunistischen Dogmen. Viele Anzeichen deuten darauf hin, daß die sowjetische Bevölkerung dabei ist, „den Kommunismus zu verdauen", das heißt, das Gemeinwohl auf Kosten des „sozialistischen Wirtschaftssystems" zu fördern und den echten Ausgleich mit den nichtkommunistischen Völkern auf Kosten der kommunistischen Weltrevolution zu suchen.

Freilich bedeutet diese Erkenntnis noch keine Änderung des Sowjetsystems. Diese Entscheidung liegt bei der sowjetischen Führung.

Wir können nur versuchen, die Tendenzen der sowjetischen Entwicklung zu erkennen.

Man wäre im Westen aber gut beraten, sich auf Alternativen vorzubereiten. Denn in der heutigen Lage kommt es entscheidend darauf an, in welcher Form und wie schnell die freie Welt reagiert.

Die westliche Politik kann den sowjetischen Entwicklungsprozeß im Hinblick auf eine bessere Zukunft negativ oder positiv beeinflussen. Ein negativer Einfluß wäre Uneinigkeit und Leichtfertigkeit, die den Kommunisten Erfolge in fremden Ländern ermöglichen;

die Aufgabe des Embargos und die Gewährung von langfristigen Krediten, die den Sowjetsuhrern die Möglichkeit geben würden, ihre Schwer-und Leichtindustrie ohne Änderung des Wirtschaftssystem gleichzeitig zu entwickeln;

ein Rückfall in den nationalen Egoismus und die negativen Folgen für die Stabilität der Wirtschafts-und Sozialordnung.

Ein positiver Einfluß auf die sowjetische Entwicklung wäre eine gemeinsame westliche Außen-und Verteidigungspolitik, die einerseits auf ein dauerhaftes friedliches Nebeneinander der verschiedenen Gesellschaftssysteme in der Sowjetunion und im Westen gerichtet ist, aber andererseits der sowjetischen Führung durch die vollständige Abschreckung jede Chance auf die Durchsetzung der weltrevolutionären Ziele nimmt;

eine gemeinsame westliche Wirtschafts-und Handelspolitik gegenüber der Sowjetunion nach den Maximen: keine langfristigen Kredite zu gewähren und am Embargo für stra5 tegische Waren festzuhalten, dafür aber die von der Sowjetunion dringend benötigten Konsumgüter im gewöhnlichen Handelsaustauch anzubieten. Es ist Sache der Sowjet-führer, im Falle der Ablehnung solcher Angebote ihrer Bevölkerung die Weigerung zu erläutern;

die Forcierung der europäischen Integration — des entscheidenden aktiven Beitrages, den der Westen zur Ostpolitik leisten kann; denn diese Eigenentwicklung zur europäischen Integration zwingt die Sowjetunion zum Reagieren. Im ersteren Falle würde die westliche Politik zur Festigung der kommunistischen Herrschaft beitragen. Die sowjetischen Führer würden um so fester auf den kommunistischen Dogmen beharren. Und die Menschen in der Sowjetunion wären von ihren Zielen weiter entfernt denn je.

Entschließen sich die freien Völker hingegen für den letzteren Weg als nüchterne Folgerung aus der Interessengleichheit mit der sowjetischen Bevölkerung, dann ist schon jetzt abzusehen, daß in der Sowjetunion über kurz oder lang die fortschrittlichen Kräfte die Oberhand über die reaktionären kommunistischen Dogmen gewinnen werden. Dann wird eine künftige Sowjetregierung der fortschrittlichen Kräfte erkennen, daß der politische Ausgleich und die wirtschaftliche Zusammenarbeit mit den fortgeschritteneren westlichen Industrieländern sehr wohl im Interesse des Gemeinwohls Rußlands liegt.

Für das deutsche Volk, dessen staatliche Einheit von den kommunistischen Dogmen blokkiert wird, gibt es nur diesen Weg, um im Frieden sein Recht auf Selbstbestimmung durchsetzen zu können. Denn mit der Über-windung der kommunistischen Dogmen wird sich in der Sowjetunion die Erkenntnis verbreiten, daß auch die Wiederherstellung der staatlichen Einheit Deutschlands im Interesse des Gemeinwohls Rußlands liegt, wenn diese Lösung im Rahmen eines größeren politischen Ausgleichs erfolgt.

Fussnoten

Weitere Inhalte

Günther Wagenlehner, Dr. phil., geb. 19. November 1923 in Oederan/Erzgeb., wissenschaftlicher Leiter eines Forschungsinstituts, zehn Jahre sowjetische Kriegsgefangenschaft. Veröffentlichungen u. a.: Das sowjetische Wirtschaftssystem und Karl Marx, Köln 1960; Kommunismus ohne Zukunft, Stuttgart 1962.