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Deutsche in Rourkela | APuZ 37/1965 | bpb.de

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APuZ 37/1965 Artikel 1 Deutsche in Rourkela

Deutsche in Rourkela

Jan Bodo Sperling

Als ich Rourkela, das deutsche Großstahlwerk in Indien besuchte, waren die Betten im Gästehaus belegt. Bodo Sperling, Leiter des „German Social Centre", bot mir ein Zimmer in seinem Hause an. So lernte ich ihn und seine Tätigkeit kennen. Der „Sheriff von Rourkela", wie die Deutschen ihn scherzhaft nannten, war für das möglichst reibungslose Zusammenleben der damals rund 1500 Deutschen zuständig. Irgendwo war immer irgend etwas los, sogar nachts. Wenn mich das Telefon im Nebenzimmer aus dem Schlaf riß, hörte ich, wie Sperling aus dem Bett sprang und wenige Minuten später mit dem Wagen davonfuhr, häufig mehr als einmal pro Nacht. Am nächsten Morgen erzählte er mir dann, was ihn aus den Federn geholt hatte: Eine Gruppe neuer Arbeiter aus Deutschland war angekommen und fand das Nachtquartier nicht, oder es hatte eine Auseinandersetzung im Junggesellen-Wohnheim gegeben, die der Schlichtung bedurfte, oder ein Betrunkener hatte sich im falschen Haus zur Ruhe gelegt, oder ein aus Sprachschwierigkeiten entstandenes Mißverständnis zwischen Indern und Deutschen erforderte umsichtige Klärung ...

Die Fülle und der Umfang der Aufgaben, die der Leiter des „German Social Centre" in Rourkela wahrzunehmen hatte, werden die Leser in den folgenden Seiten kennenlernen;

er mußte sich um alles kümmern, was das tägliche Leben dieser aus allen Teilen und Schichten Deutschlands in den Glutofen von Rourkela geströmten Deutschen betraf — um ihre Anpassung an die höchst ungewohnten Arbeiss-und Daseinsbedingungen, ihr Zusammenleben, ihre Tätigkeit Seite an Seite mit den Indern (auch diese waren eine bunte Schar aus verschiedenen Kasten und Landesteilen), ihre Sprachschwierigkeiten, die Reibereien, wie sie innerhalb und zwischen menschlichen Gruppen derselben sowie unterschiedlicher Nationalität und Rasse entstehen. Nur ein Mann, der jahrelang — von 1958 bis 1962 — mitten in diesem Treiben stand, konnte ein Buch über „Die Rourkela-Deutschen" schreiben, und es mußte geschrieben werden. Auf Jahre und Jahrzehnte hinaus wird die wirtschaftliche Zusammenarbeit der industriMit freundlicher Genehmigung der Deutschen Verlagsanstalt, Stuttgart, drucken wir aus dem in Kürze erscheinenden Buch „Die Rourkela-Deutschen" das Vorwort, die unwesentlich gekürzten Teile I und IV sowie einen Abschnitt aus dem Teil III ab. Auf die Wiedergabe der Anmerkungen wurde verzichtet.

Vorwort von Klaus Mehnert

alisierten Staaten mit den Entwicklungsländern einen gewaltigen Einfluß auf die Weltwirtschaft und die Weltpolitik ausüben, ganz besonders auf die Bundesrepublik, die zweite Handelsmacht der Welt. Aus dem fanatischen Drang der Dritten Welt nach Industrialisierung werden noch manche neuen Rourkelas erwachsen und mit ihnen die menschlichen Probleme, die in ihrem vollen Ausmaß zum ersten-mal auf der größten deutschen Baustelle in einem Entwicklungsland, eben in Rourkela, sichtbar wurden.

Um uns für die Zukunft die Arbeit an neuen Projekten zu erleichtern, müssen wir aus den Erfahrungen von Rourkela lernen. Dazu verhilft uns am besten ein ehrlicher Bericht, der dem Leser nichts vormachen will und die Dinge beim Namen nennt. Sperlings Buch schildert nicht nur die Probleme, mit denen es die Rourkela-Deutschen zu tun haben, er schildert auch die Rourkela-Deutschen selbst und damit einen Ausschnitt aus dem deutschen Volk, einen deutschen Mikrokosmos. Es ist nicht sehr angenehm, dieses Bild zu betrachten. Die Stürme, die in den letzten Jahrzehnten über die Deutschen hinweggezogen sind, haben ihre Spuren in unserem Land und in jedem einzelnen Deutschen hinterlassen.

Aber es hat keinen Sinn, daß wir uns über uns selbst Illusionen hingeben, erst recht nicht, wenn wir neue Rourkelas planen.

Bodo Sperling, dem nach seiner Bewährungsprobe in Rourkela verschiedene verlockende Angebote in der Wirtschaft gemacht wurden, hat diese ausgeschlagen. Statt dessen hat er sich nach Aachen begeben, in die wissenschaftliche Konzentration einer deutschen Hochschule, um hier die in Indien gemachten Erfahrungen in Ruhe durchzudenken, zu ordnen und niederzuschreiben. In unserer schnelllebigen Zeit, die zu neuen Aufgaben eilt, ohne sich Zeit zu nehmen, die Lehren aus den vorhergegangenen zu ziehen, verdient dies besondere Anerkennung.

Von der technischen Seite des Aufbaus von Rourkela ist in diesem Buch nicht die Rede. Daß die Deutschen Stahlwerke bauen können, ist bekannt. Aber die Erfahrungen mit der Entwicklungshilfe haben gezeigt, daß ihre menschliche Seite ungleich komplizierter ist als ihre technische. Die deutschen Firmen, die in Rourkela und an zahlreichen Baustellen der Welt am Werke sind, werden diesem Buch eine Reihe wertvoller Anregungen entnehmen und daher sicher Verständnis zeigen für die Offenheit — die verantwortungsbewußte Offenheit — des Verfassers.

Die Milliardenbeträge, welche das deutsche Volk für die Industrialisierung der Dritten Welt zur Verfügung stellt, werden den gewünschten Erfolg nur aufweisen, wenn der Mensch nicht versagt. Der Faktor Mensch muß also in Rechnung gestellt werden, und daher muß man ihn kennen. Dieser Kenntnis dient Sperlings Buch. Es zeigt die menschlichen Probleme, die sich — auch bei einer großartigen technischen Leistung wie Rourkela — ergeben, und weist Wege, wie ihnen in Zukunft zu begegnen ist.

Herkunft und Zusammensetzung des deutschen Personals in Rourkela

Die Errichtung des Hüttenwerkes Rourkela zerfiel in zwei zeitliche Hauptabschnitte: die Aufbau-oder Montage-Periode und die mit der Fertigstellung beginnende Inbetriebnahme und nachfolgende Betriebs-Periode. Dementsprechend lassen sich auch die Rourkela-Deutschen in Montage-Personal und Betriebs-Personal einteilen, zumal diese Bezeichnungen auch bei den beteiligten deutschen Firmen üblich sind. Die vorliegende Betrachtung der Rourkela-Deutschen, ihrer Disposition zur Zeit ihrer Ausreise nach Indien und später ihrer Verhaltensweisen in Rourkela wird diesen Unterschied noch im einzelnen deutlich machen. Montage-Personal Das Montage-Personal besteht in der Regel aus Monteuren, Ingenieuren und einigen wenigen Baustellenkaufleuten. In besonderen Fällen können auch zusätzliche Spezialisten einbezogen werden, wie beispielsweise Transportfachleute. Die meisten Monteure, die in den Jahren 1957— 1961 nach Rourkela entsandt wurden, gehörten zum Stammpersonal der sie entsendenden Montage-Firmen. Es waren also in der Regel Männer, die bereits innerhalb ihrer Firmen-Stammhäuser in Deutschland sowie anderwärts in der Bundesrepublik und im Ausland für dieselbe Firma „auf Montage" gewesen waren.

Zusammen mit diesem Stammpersonal waren für dieselben Firmen aber auch „ambulante" Monteure nach Indien gekommen, die man eigens für bestimmte Aufgaben oder Montage-Abschnitte in Rourkela eingestellt hatte. Diese Männer wurden nach Indien geschickt, ohne daß die entsendenden Firmen vorher mit ihnen Erfahrungen gemacht hatten. Derartige Fälle gab es in Rourkela fast in jeder Firmen-belegschaft, insbesondere während der ersten Monate und Jahre der Montage-Periode. Später verschob sich das Verhältnis mehr zugunsten des Stammpersonals, überhaupt war es mit dem Fortgang der Arbeiten innerhalb des Montage-Personals eine Hebung sowohl des fachlichen als auch des allgemeinen Niveaus festzustellen.

Die ersten Rourkela-Deutschen im Jahre 1957 waren die Tief-und Brückenbauer. Sie waren von deutlich „härterem Schlag" als beispielsweise die große Gruppe der Elektromonteure, die in größerer Zahl erst auf der Baustelle eintraf, als die groben Vorarbeiten beendet waren und das Werk der Fertigstellung entgegenging. Je weiter die Arbeiten fortschritten, desto differenzierter wurden die fachlichen Anforderungen an das Montage-Personal. Auf Großbaustellen im Ausland wird es immer „ambulante" Monteure geben, wenngleich bei einem so bedeutenden Werk wie Rourkela die Vollbeschäftigung in der Bundesrepublik eine besondere Situation geschaffen hatte, in der es den deutschen Firmen schwer zu fallen schien, genug eigene, zuverlässige Fachkräfte bereitzustellen. Als extremes Beispiel für diese Situation und die Art der Abwerbung und Einstellung solcher „ambulanten" Monteure sei von einem Mann berichtet, der im Januar 1959 wegen eines unerfreulichen Vorfalls strafweise von Rourkela nach Deutschland zurückgeschickt und dort fristlos entlassen wurde. Derselbe Monteur wurde wenige Tage später von einer anderen Firma, die auch am Rourkela-Projekt beteiligt war, von der Vorgeschichte dieses Mannes offenbar jedoch nichts wußte, in Deutschland eingestellt und „auf Montage" nach Rourkela entsandt. Unter dem Montage-Personal gab es eine Reihe Ausländer, zum Beispiel eine Anzahl Holländer und eine Gruppe von Österreichern, die im Zusammenhang mit einem größeren Auftrag im Stahlwerk während der ganzen Bauzeit und auch später in der Betriebs-Periode mit bis zu 65 Mann in Rourkela anwesend waren.

Einige Ehefrauen von deutschen Monteuren waren Ausländerinnen; in den meisten Fällen hatten sie ihre Männer in ihrem Heimatland kennengelernt, als diese dort Monageaufträge ausführten. So gab es „deutsche“ Ehefrauen aus England, Kanada, Ägypten, Lateinamerika, Korea und anderen Ländern.

Uber den Familienstand des Montage-Personals in Rourkela liegen keine umfassenden Unterlagen vor, doch konnte der Verfasser in zahllosen Gesprächen feststellen, daß der Anteil der Unverheirateten überwog und größer war als bei dem späteren Betriebs-Personal. Betriebs-Personal Als 1961/62 die Montage-Arbeiten abgeschlossen waren, erforderte die Situation des Hüttenwerks deutsche Fachkräfte für Betrieb und Wartung. Das hierfür entsandte Personal stammte fast ausschließlich aus Produktionsstätten in der Bundesrepublik. Da jedoch nur wenige Firmen, die mit Lieferung und Montage am Aufbau des Hüttenwerks teilgehabt hatten, Eisen-und Stahlproduzenten sind, mußten sie das Betriebs-Personal für Rourkela bei anderen deutschen Firmen „ausleihen".

Diese Männer — Ingenieure, Meister, Vorarbeiter, Facharbeiter, Einrichter etc. — kamen großenteils aus Stellungen in Hüttenwerken, die sie bereits seit längerer Zeit innegehabt hatten. An Erfahrung brachten sie die Kenntnis des Betriebsablaufs aus der Sicht ihres Arbeitsplatzes mit, aber nur selten Ausländserfahrungen in ihrem Beruf.

Verglichen mit dem Montage-Personal gab es unter ihnen weit mehr Verheiratete; ebenso war die Zahl derer, die ihre Ehefrau oder Familie nach Rourkela mitbrachten, weit größer.

Wie bei dem Montage-Personal befand sich auch unter dem Betriebs-Personal eine größere Gruppe von nicht-indischen Ausländern, und zwar US-Amerikanern. Diese waren eigens zum Betrieb der Breitbandstraße verpflichtet worden, für die sich eine deutsche Betriebs-mannschaft nicht gefunden hatte.

Motivationen

Die Herkunft und Zusammensetzung lassen bereits vermuten, das Montage-Personal und Betriebs-Personal aus unterschiedlichen Motiven seine Arbeitsverträge für Rourkela abschloß. Daher ist eine wiederum nach Montage-und Betriebs-Personal getrennte Betrachtung der möglichen Motivationen zweckmäßig.

Montage-Personal Für das Montage-Personal, insbesondere für den Typ des auslandserfahrenen Monteurs, wie er in Rourkela häufig anzutreffen war, dürfte ein gewisser „W/andertrieb“, dem eine gute Portion Bedürfnis nach Freiheit bei der Arbeit und Lebensführung innewohnt, eine Rolle gespielt haben. Der Rourkela-Monteur, der bereits auf Erfahrungen von Baustellen in verschiedenen Ländern zurückblicken konnte, erweckte im persönlichen Gespräch sogar manchmal den Eindruck, als sei für seinen Geschmack die Baustelle Rourkela schon zu sehr ein „Großbetrieb" und als dauere der „Aufenthalt" dort bereits zu lange. Man hatte das Empfinden, als fühlte sich dieser Typ des wandergewohnten Monteurs in Rourkela etwas gelangweilt, sozusagen „festgenagelt", wozu eine gewisse Isoliertheit durch Mangel an Verkehrsmitteln beizutragen schien. In derartigen Fällen scheint der Wandertrieb als Motiv durchaus in Betracht zu kommen — ein Wandertrieb, der bewirkt, daß das Lebensgefühl des Monteurs durch Unrast gespeist wird. Theodor Heuss sprach am 11. November 1960 zu den Deutschen in Rourkela und stellte den Wandertrieb als etwas Positives im deutschen Menschen heraus: „Es ist gut und schön, daß ein Stück dieser . Auswandererlust auf Zeit'in den Deutschen noch vorhanden ist." Nur in den seltensten Fällen dürfte ein Grund allein den Rourkela-Monteur dazu gebracht haben, einen Vertrag für Indien zu unterschreiben. Im allgemeinen werden mehrere Gründe mitspielen, so wie auch die hier betrachteten Motivationen meist nicht isoliert auftreten, sondern häufig lediglich als Mischform erkennbar sind. Dem Wandertrieb kommt dabei die Abenteuerlust am nächsten. Bei einem — freilich erstaunlich geringen — Teil des Montage-Personals wurde die Lust am Abenteuer in der unterschiedlichsten Weise deutlich: einige kauften sich Pferde, um damit die Umgebung zu erkunden, andere beschafften sich Fahrzeuge, mit denen sie in Gruppen Erkundungsfahrten unternahmen. Die Mobilität dieser Leute war groß, stets waren sie bemüht, mehr von Rourkela und seiner Umgebung zu sehen und, vor allem, „etwas zu erleben". In diesem Zusammenhang sind auch Jagdausflüge zu erwähnen, deren Schilderungen zeigten (Tigerjagd mit abgesagten Schrotflinten, wobei der Tiger glücklicherweise nicht in Schußnähe kam), daß der Reiz weniger im weidmännischen Erlebnis lag, als vielmehr im reinen „prickelnden" Abenteuer. Wieweit auch persönliche Fluchtgründe bei dem Entschluß, nach Rourkela zu gehen, eine Rolle gespielt haben, ist — von Ausnahmen abgesehen — schwer abzuschätzen, da derartige Dinge nur ungern mitgeteilt werden. Immerhin sind dem Verfasser einige Rourkela-Deutsche bekannt, bei denen Fluchtgründe eine Rolle gespielt haben: so etwa der Versuch, Unterhaltsverpflichtungen aus dem Wege zu gehen; die bevorstehende Geburt eines unehelichen Kindes; Unstimmigkeiten mit Eltern oder eigener Familie; drückende Schulden und anderes mehr.

Ein Monteur, dessen Unterhaltsverpflichtung für ein Kind aus erster Ehe durch seine geB schiedene Frau in der Bundesrepublik auf dem Klagewege heraufgesetzt werden sollte, schrieb in einem Brief an das zuständige Amtsgericht (sinngemäß) Wenn Sie nicht aufhören, mir den Hals zuzudrücken, kündige ich bei meiner Firma (d. h. Stammfirma in der Bundesrepublik) und bleibe für immer im Ausland. Dann kriege ich kein deutsches Gehalt mehr, und meine geschiedene Frau hat das Nachsehen!" Einige andere, die auf früheren Auslands-montagen einheimische Frauen geheiratet und diese mit nach Hause gebracht hatten, sind — obgleich sie früher aus ganz anderen Gründen auf Auslandsmontage gegangen waren — nunmehr aus Fluchtgründen nach Rourkela gefahren: die ausländische, in manchen Fällen exotische Ehefrau hatte nicht immer die Zustimmung der Verwandten und Freunde zu Hause gefunden. Die daraus entstandenen Schwierigkeiten sollten durch die „Flucht" in die Fremde überwunden werden.

Flucht und Kompensation von unüberwindlich scheinenden Problemen oder persönlichen Mißerfolgen sind als Motivationen ebenfalls nahe miteinander verwandt. Zwar dürfte Oberndorfer recht haben, wenn er sagt: „Das Stigma des Mißerfolgs in dem einmal eingeschlagenen Berufe, das in der ständischen Gesellschaft alle Türen verschloß, verblaßt in der in Bewegung geratenen Gesellschaft rasch. Auch müssen die mißratenen Söhne nicht mehr nach Amerika oder Australien auswandern, denn die unzähligen Verdienst-und Berufsmöglichkeiten der industriellen Gesellschaft bieten Unterschlupf". Und doch scheint in Fällen persönlicher Schwierigkeiten immer noch die Möglichkeit des Unterschlupfs im Auslandeinsatz wahrgenommen zu werden. In Rourkela waren dem Verfasser einige Fälle bekannt. Monteure erzählen freimütig, daß die ständigen Reibereien in ihrer Ehe, das Vergessen-Wollen nach ihrer Ehescheidung oder berufliche Fehlschläge und Ärgernisse, der fehl-gegangene Versuch, sich beruflich selbständig zu machen, oder andere, ähnliche Widernisse sie zur Auslandsmontage gebracht haben.

Der deutsche Monteur im Ausland glaubt, dort mehr zu sein als zu Hause. Dieses Empfinden verstärkt sich in einem Lande, gegenüber dessen Bewohnern er sich auf Grund seiner technischen Kenntnisse, seiner Hautfarbe und vieler anderer vermeintlicher Vorzüge überlegen fühlt. Auch die Tatsache, daß er „auf Montage" im Ausland — anders als jemals in der Heimat — mit höher gestellten Persönlichkeiten seiner eigenen Firma, seines Landes wie des Gastlandes verkehren kann, befriedigt das Geltungsbedürfnis und liefert einen zusätzlichen Grund für den Entschluß, Montage-Aufträge im Ausland anzunehmen.

Ganz besonders sind in diesem Zusammenhang die Ehefrauen zu erwähnen; sie lockt ein gewisses gesellschaftliches Leben, die Möglichkeit, Dienstboten zu halten und dadurch „eine Rolle zu spielen". Das ist keineswegs nur für deutsches Montage-Personal typisch, sondern wird auch in der Literatur, die sich mit Amerikanern im Ausland und deren Verhaltensweisen beschäftigt, immer wieder herausgestellt: das „VIP feeling"

(VIP = Very Important Person). Was sie im Ausland hält, ist noch etwas mehr: es ist das Gefühl der eigenen Bedeutung. Auslandstätigkeit bringt fast immer bessere Bezahlung mit sich. Nach den Erfahrungen der Bundesanstalt für Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung wurde von den ins Ausland vermittelten Arbeitskräften als häufigster Grund der Wunsch nach beruflicher Fortbildung angegeben, dagegen der finanzielle Anreiz erst an zweiter Stelle genannt. Für das Montage-Personal von Rourkela dürften Gedanken an eine berufliche Fortbildung nur selten den Ausschlag gegeben haben, allenfalls bei den Ingenieuren und Bauleitern, die sich vielfach aus einer Bewährung in Rourkela gute Aufstiegschancen bei ihrer Firma ausrechneten. Den Monteuren war wohl die Frage der Bezahlung wichtiger. Eine generelle Auslandzulage von 20 0/0 und mehr auf ihr deutsches Gehalt, zusätzliche Spesenerstattung in Form einer täglichen Rupie-Auslösung im Werte von DM 32, — bis DM 40, — (Meister und Ingenieure entsprechend höher) sowie andere Vergünstigungen waren für viele Anreiz genug, einen Vertrag für Rourkela zu unterschreiben. Besonders die Monteure aus Österreich ließen keinen Zweifel daran, daß sie hauptsächlich des Geldes wegen nach Rourkela gekommen waren, und sie lebten entsprechend sparsam. Bei den deutschen Monteuren gab es weniger Sparer; Ausnahmen bildeten diejenigen, denen es um die Finanzierung eines ganz bestimmten Projektes ging: Hausbau, Entschuldung des Hauses, Ausbildung der Kinder, Aussteuer der Tochter. Bei den jüngeren gab es auch weniger zukunftsträchtige Anschaffungen, von denen geredet und geträumt wurde: ein teurer Sportwagen zum Beispiel. Ein Monteur, der stets von einem Mercedes 190 SL gesprochen hatte, ging eines Tages nach abgeleistetem Vertrag aus Rourkela fort mit der triumphierenden Bemerkung: „Jetzt wird der Mercedes gekauft — und nie wieder Rourkela!" Nach wenigen Monaten war er wieder da mit einem neuen Vertrag. Erkundigungen ergaben: Der neue Mercedes hatte Totalschaden, ohne daß eine Versicherung dafür aufkam. Nun mußte ein neuer verdient werden. Das wird einige Montage-Jahre dauern! Betriebs-Personal Ganz anders ist die Motivation bei dem Betriebs-Personal. Die im Zusammenhang mit dem Montage-Personal zunächst erwähnten Gründe treffen für das Betriebs-Personal nicht zu. Hier dürfte der finanzielle Anreiz von größerer Wichtigkeit gewesen sein, denn in erster Linie bestimmten hohe Löhne und Gehälter die Männer des Betriebspersonals zu dem Entschluß, ihren Arbeitsplatz in der Bundesrepublik zu verlassen und für die Dauer von — in der Regel — eineinhalb Jahren nach Rourkela zu gehen. Die dort während der Montage üblich gewesenen Löhne und Gehälter mußten entsprechend angehoben werden. Ein Mitglied des Betriebs-Personals verdient wesentlich mehr als ein Mann des Montage-Personals, teilweise sogar ein Mehrfaches. Viele Angehörige des Betriebs-Personals sprachen sich auf Befragen offen darüber aus, daß sie nur wegen der guten Verdienstmöglichkeiten nach Rourkela gekommen waren.

Allerdings dürfte in gewissem Maße auch das Verlangen der Firma zu diesem Entschluß beigetragen Die haben.deutsche Industrie daß dem Hüttenwerk hatte eingesehen, Rourkela durch Bereitstellen von Betriebs-und Wartungsmannschaften Hilfe geleistet werden mußte, und so waren auch über den Kreis der am Aufbau Rourkelas beteiligten Firmen hinaus deutsche Unternehmen bemüht, Personal für Rourkela abzustellen. Sie suchten einige ihrer Leute für Rourkela aus und legten ihnen nahe, einen Vertrag für Indien zu unterschreiben. In vielen Fällen haben die Firmen ihre Überredungsbemühungen auch mit Versprechen hinsichtlich einer Sicherung des Arbeitsplatzes sowie für spätere berufliche Aufstiegsmöglichkeiten verbunden. Zumindest mußte — im Gegensatz zum Montage-Personal, wo dies keineswegs immer üblich oder überhaupt möglich war — den hinausgehenden Leuten der alte Arbeitsplatz freigehalten werden. Bei höhergestellten, insbesondere leitenden Ingenieuren, wurden Beförderungen nach der Rückkehr aus Rourkela in Aussicht gestellt oder sogar vertraulich zugesichert. Insgesamt kann für das Betriebs-Personal gesagt werden, daß der außergewöhnliche finanzielle Anreiz in Verbindung mit Arbeitsplatzsicherheit bzw.

beruflichen Verbesserungen nach der Rückkehr das Motiv für ihr Hinausgehen gewesen sind, wobei jene anderen Motive, die beim Montage-Personal vorherrschend waren, keine oder eine recht untergeordnete Rolle gespielt haben.

Es ist vorstellbar, daß auch ein weiteres Motiv Berücksichtigung finden muß: nämlich die Absicht, aus dem Rourkela-Aufenhalt ganz bewußt etwas zu lernen, seinen Horizont erweitern kurz zu wollen, der Bildungstrieb. In der Tat gab es Rourkela-Deutsche, bei denen ein derartiger Bildungstrieb deutlich vorhanden war und damit auch im Rahmen der Gesamtmotivation eine Bedeutung gehabt hat. Ihre Anzahl war jedoch gering; man fand sie mehr unter dem Betriebspersonal als unter den reinen Monteurstypen, bei denen es zwar eine mit Abenteuerlust Hand in Hand gehende gesunde Neugier gab, die jedoch kaum als Bildungstrieb bezeichnet werden kann. Für sie mag gelten, was die ersten Untersuchungen des Studienkreises für Tourismus in der Bundesrepublik kürzlich erbachten: „Das fremde Land, seine Eigenart, seine Kultur werden vielfach nur als Kulisse genommen, nicht als Elemente der Horizonterweiterung."

Allgemeine persönliche Eigenschaften

Die Rourkela-Deutschen haben eine Reihe persönlicher Eigenschaften erwiesen, die sich für ihre Arbeit, für ihre Anpassung an ihre Umwelt sowie für Ruf und Ansehen der Deutschen oft ungünstig auswirkten.

Organisationstalent — Ordnungssinn — Schulmeisterei Das waren keineswegs nur Eigenschaften, die man gemeinhin als negativ bezeichnen würde, sondern beispielsweise das Talent zur Organisation oder der ausgeprägte Sinn für geordnete, gediegene Arbeit. Ein Tischlerlehrling in Deutschland lernt, daß alle Schlitze eingezogener Schrauben parallel zu sein haben. Es wird in mehrjähriger Lehrzeit dafür gesorgt, daß solche und andere „Grundsätze" ihm in Fleisch und Blut übergehen. Sie werden notwendiger Bestandteil seiner zukünftigen Arbeit, und so kommt er auch mit diesem Arbeitsstil nach Rourkela, zu indischen ungelernten Arbeitskräften. Es dürfte deutschen Monteuren schwer fallen, den Indern verständlich zu machen, warum die Schraubenschlitze parallel zu stehen haben! Und doch versuchen die Deutschen es und schaffen Ärger für beide Seiten. Liegt der Grund dafür vielleicht in jener nationaltypischen Neigung, die man dem Deutschen keineswegs immer zu Unrecht nachzusagen pflegt: in seinem Hang zum , an sich', . Alles oder Nichts’, zur Perfektion?

Ähnliches gilt auch in bezug auf die Benutzung modernster Arbeitsmittel und -methoden. Die deutschen Monteure, insbesondere die jüngeren, zeigten wenig Verständnis für die althergebrachten Methoden der indischen Hilfsarbeiter; wo diese mit Juteseil und Bambus-knüppel auf einfache Weise enorme Lasten bewegten, arbeiteten deutsche Monteure mit Kran, Laufkatze oder Flaschenzug, anstatt die indischen Arbeiter gewähren zu lassen, wie dies erfahrene Monteure hin und wieder taten. Die Amerikaner haben schon früher solche Erfahrungen gemacht und ihre Schlüsse daraus gezogen. Es wird vor der Anwendung modernster Methoden gewarnt, wo sie nicht unbedingt notwendig sind. Richtig ist hier die Erkenntnis, daß die übertrieben korrekte Auffassung von der Berufs-oder Handwerker„Ethik" die Achillesferse aller Entwicklungshilfe sein dürfte.

Aus der Sicht der Rourkela-Inder wäre es häufig sicher besser gewesen, der deutsche Monteur hätte weniger seine geniale organisatorische Begabung entfaltet aus dem angeborenen Drang, geordnete Verhältnisse einzuführen, als sich vielmehr den indischen Verhältnissen besser eingeordnet und mehr geprüft, was von dem Vorhandenen, Vorgefundenen man vielleicht verwenden könnte, statt es von vornherein zu verwerfen und zu ersetzen. Der Aufbau in den Entwicklungsländern ist nun einmal ein komplexes Problem, das sicherlich mehr von seiner sozialen, seiner kulturellen, ja seiner religiösen Komponente ausgegangen werden muß als von rein ökonomischen Gesichtspunkten. Die herkömmlichen Mittel orthodoxer Entwicklungshilfe allein werden es nicht lösen. So wie die Entwicklung tiefgreifende Wandlungen in der heimischen Gesellschaftsstruktur erfordert, so verlangt sie auch Umstellung von den Entwicklungshelfern. Eine Umstellung in diesem Sinne pflegte dem deutschen Montage-Personal in Rourkela nicht immer leicht zu fallen. Es machte den Monteuren Mühe, sich auf ihre indischen Kollegen, deren Arbeitsstil und -methoden einzustellen. Ihr Hang zur übertriebenen Akuratesse, ihre Freude an der eigenen Tüchtigkeit hinderte sie daran. Deutsche Schulmeisterei und Belehrungssucht machten sich unangenehm bemerkbar. Die Inder, insbesondere die Ingenieure, reagierten mit Abwehr und Gekränkt-sein. Als Fazit gilt für Rourkela dasselbe, was an anderer Stelle als generelle Forderung aufgestellt wurde: „Leute, die in der Heimat alles besser wissen und gerne den . Schulmeister'spielen, sind in der Regel auf Auslandsbaustellen nicht zu gebrauchen." Ähnliche Reaktionen rief der deutsche Monteur mit der ihm eigenen Stetigkeit, Genauigkeit und Pünktlichkeit hervor: die Inder be-wunderten den deutschen Fleiß, aber sie fanden ihn keineswegs sympathisch. Im übrigen:

der deutsche Arbeiter ist nicht nur fleißig, sondern sagt es auch andauernd, daß er fleißig ist. Dem Inder „geht das sanft auf die Nerven, und er empfindet es als das, was es ist, nämlich als eine gschmacklose Prahlerei". Ein von Hofstätter zitiertes Befragungsergebnis zur Ermittlung der Autostereotypen von Deutschen, Engländern, Amerikanern, Franzosen, Italienern und Norwegern (je 1 000 Befragte)

zeigt, daß von den sechs Nationalitäten nur die Deutschen (90%) „arbeitsam" als ihre hervorstechendste Eigenschaft bezeichneten, während die Engländer (77%), Amerikaner (82 %)

und Norweger (69 °/o) „friedliebend", die Franzosen (79 %) und Italiener (80 %) „intelligent"

als charakteristischste Eigenschaft für sich in Anspruch nahmen.

In Rourkela konnten zwischen der Ara des Montage-Personals und der des Betriebs-Personals im Hinblick auf Fleiß und Arbeitseifer deutliche Unterschiede festgestellt werden. Dabei ist zu berücksichtigen, daß die Arbeit des Montage-Personals viel interessanter und daher auch befriedigender war, als die des späteren Betriebs-Personals. Die Montagearbeit war in gewisser Weise ein einziges pionierhaftes, technisches Abenteuer, das mit der Bewältigung unberührter Dschungellandschaft begann und seinen befriedigenden Abschluß fand, als die verschiedensten Werkseinheiten in Betrieb genommen wurden. Die Monteure ließen in der Regel deutlich erkennen, daß sie mit ihrer Arbeit innerlich verwachsen waren;

das Geschehen der Baustelle mit all seinen Problemen verfolgte sie bis in die Freiheit hinein und wurde dort um seiner selbst willen — nicht aus Langeweile oder Mangel an anderen Gesprächsthemen — diskutiert. Die Monteure schienen an der Einhaltung der Montageziele, der Termine, persönlich interessiert, sie setzten sich dafür ein, auch wenn dies ihren freien Sonntag oder ihren Feierabend kostete. So sehr sie mit Arbeitswut und Arbeitsleistung ihre indischen Vorgesetzten und Kollegen beschämt, verärgert oder auch zu Unverständnis oder gar Spott herausgefordert hatten, so sehr war in den Jahren der Montage diese Leistung doch stillschweigend anerkannt worden und hatte gewisse Maßstäbe gesetzt. — Im Laufe der späteren Jahre merkten auch die Inder sehr deutlich, daß die Angehörigen des Betriebs-Personals diesen Maßstäben nicht immer in gleicher Weise entsprachen. Von den Indern in Rourkela und anderswo wurde dies deutlich ausgesprochen — vielfach auch in Verbindung mit leiser Kritik. Die renommierte Zeitung „The Hindu" schrieb bei-B spielsweise über den deutschen Arbeiter »... the days when he exemplified all the virtues of the sober, steady and serious employee who toils like a horse for a low wage and never bickers are definitely over ... Today he has apparently begun to realize that one can be satisfied without working that much ... Moreover it appears that the workers'interest and enthusiasm have substantially declined ..." Diese Enttäuschung wäre den Indern erspart geblieben, hätten die Rourkela-Deutschen nicht anfänglich so hohe Maßstäbe gesetzt und dann im Verlaufe der Jahre eine deutliche Wandlung durchgemacht. Das Paradoxe ist geschehen: das Schwinden des Übereifers, der den Indern ursprünglich Verdruß bereitete, wird den Rourkela-Deutschen heute zum Vorwurf gemacht.

Unduldsamkeit — mangelnde Toleranz — Grobheit Ein amerikanischer Beobachter schrieb nach einem Besuch in Rourkela: „Erschwerend kommt hinzu, daß die Deutschen manchmal anscheinend — vom Temperament her ungeeignet — in der Führung von Asiaten, die außerordentlich empfindlich sind, keine Erfahrung haben." Worauf stützt sich diese Beobachtung und welche Temperamentsbestandteile können es sein, die den Deutschen den Umgang mit Indern in Rourkela so schwer fallen ließen?

Inder haben oftmals Beschwerde geführt über Unduldsamkeit und Grobheit der Rourkela-Deutschen. Die rauhe Art, in der deutsche Monteure auf der Baustelle mit Kollegen — deutschen wie indischen — umsprangen, hat oft zu unerfreulichen Mißverständissen Anlaß gegeben, die aufzuklären und auszuräumen nicht immer möglich war, weil die sprachliche Verständigung dazu nicht ausreichte. Der deutsche „Grobianismus" im persönlichen Verkehr wie auch in der Zusammenarbeit an der Arbeitsstelle wurde von den Indern nicht — wie von den Deutschen untereinander — als „rauh aber herzlich" angesehen, sondern sie empfanden solche „Unverblümtheit", die in Deutschland als „offen und gerade" und damit positiv bewertet wird, als ungehobelt und barbarisch. Der deutsche Monteur in Rourkela hat das oft gar nicht erfaßt. Er verstand nicht, daß Inder sich von seiner Art, „deutsch mit jemanden zu reden", beleidigt fühlen könnten. Dabei hatte man in Rourkela hin und wieder den Eindruck, daß die Deutschen meinten, das einmal — auf deutsch — Gesagte, so oft und immer lauter wiederholen zu müssen, bis der Inder es verstanden habe. Dies kam dann einem Anschreien gröbster Art gleich. Grobheit und ungeduldige Deftigkeit weist bis zu einem gewissen Grade Küpper dem modernen deutschen Menschen auch aus seiner Umgangssprache nach: „Die Umgangssprache hat keinen Sinn für mittlere und gar feine Lagen, übertreibt und kraftmeiert. Geringfügiges ist alsbald mindestens eine Schweinerei ... Rohe Blasiertheit und anspruchsloser Snobismus drücken sich im Umgangsjargon unserer Zeit rücksichtslos genug aus ... In der Umgangssprache entpuppt sich der Deutsche als ausgesprochener Ichmensch: er steht im Mittelpunkt der Welt und beherrscht alle Mitmenschen ...

Von der Verstärkung ist nur ein kleiner Schritt zur Vergröberung, und diesen Schritt tut die Umgangssprache mit besonderer Vorliebe. Aus Kraftbewußtsein bevorzugt sie das Plumpe und Handfeste. Sie ist rauh und oft roh, grob und vierschrötig, derb und deftig ..." Daß der Deutsche „es gar nicht so meint", scheint der Neger eher zu verstehen, denn ein Ostafrikanisches Negersprichwort sagt: „Der Deutsche ist nach außen hin hart und innen gut, der Engländer außen gut und innen hart." Viele Inder jedoch fühlten sich in Rourkela von der rauhen äußeren Schale abgestoßen. Daraus ist ihnen kein Vorwurf zu machen. Sie quittieren zwar die deutsche Entschuldigung, „man habe es ja nicht so gemeint", mit höflichem, vielleicht auch verzeihend wirkendem Lächeln, aber Verständnis für die Umgangsformen des deutschen Grobians vermochten sie nicht aufzubringen. In einer allgemeinen Studie des deutschen Charakters wird eine derartige Situation als typisch deutsch bezeichnet. „Dem Grobian tut sehr oft hinterher ... leid, was er herausgepoltert hat, es kann vorkommen, daß er einem auf die Schulter klopft und herzlich lacht — in der Meinung, man müsse nun mitlachen können, ahnungslos, daß der Verletzte selber einen so jähen seelischen Wetterwechsel in sich nicht zu vollziehen vermag."

Leider kann man als aufmerksamer Beobachter allgemein feststellen, daß gerade die Völker in Entwicklungsländern, die auf eine alte, ehrwürdige eigenständige Kultur zurückzublicken vermögen, ziemlich gleichlautend der Meinung sind, daß Zurückhaltung, Takt, Höflichkeit, Einfühlungsvermögen in Landessitten und Verständnis für religiöse Bräuche und Tabus nicht gerade die besondere Stärke der in diesen Ländern auftretenden Europäer und Amerikaner gewesen sind. Mit der auch in den Entwicklungsländern ständig zunehmenden Bildung im europäisch-westlichen Sinne verlieren Europäer und Amerikaner mehr und mehr ihre frühere tatsächliche oder vermeintliche Sonderstellung. Um so unangenehmer fällt heute ihre mangelnde Anpassung auf. Diese allgemeine Kritik paßt auch für die Deutschen, die nach Rourkela kamen. Sie brachten eine Reihe derartiger Eigenschaften mit, die von den Indern nicht geschätzt wurden und die Zusammenarbeit erschwerten. Im Gegensatz zu ihren indischen Kollegen dachten die Rourkela-Deutschen nicht in Begriffen der Kontemplation, sondern der Manipulation. Es lag ihnen nicht, Dinge hinzunehmen, sondern sie zogen es vor, Dinge zu verändern, vielfach nach dem Motto: na, da werden wir mal Ordnung reinbringen! Der Deutsche in Rourkela begriff nicht, daß man nicht überall seine Art von Ordnung wünscht, die er für die Ordnung an sich hält. Ebenso waren Höflichkeit und Behutsamkeit bei ihm nur selten zu finden. Höflich war man auch nicht untereinander, selbst in Kreisen der Rourkela-Deutschen gab es nicht einmal eine Art generelles Grußverhältnis. Das ist auch in deutschen Betrieben nicht der Fall. Der Arbeiter-Pfarrer Horst Symanowski berichtet von seinen entsprechenden Erfahrungen im Betrieb: „Guten Tag sagen ist nicht üblich. Tut man es doch, so sind die Arbeiter erstaunt." Das galt auch für die Deutschen in Rourkela, für das Betriebs-Personal noch mehr als für das Montage-Personal. Hellpach spricht bei der Betrachtung des deutschen Charakters vorsichtig von der „Formabneigung" der Deutschen und meint damit den Grobianismus. Der asiatischen Höflichkeit stellten viele Rourkela-Deutsche den in der deutschen Behördensprache geübten Schnauzton, das auf Fußballplätzen erprobte Rabaukentum gegenüber und sorgten dafür, daß sich auch ihre Schimpfworte in kürzester Zeit „internationalisierten", indem sie von Indern gebraucht wurden, die vielfach gar nicht wußten, was sie aussprachen. Inder kennen von sich aus Schimpfen und Fluchen nicht — in Rourkela lernten sie es von ihren deutschen Kollegen und Lehrmeistern. Hellpach hat recht, wenn er von Deutschen sagt:

„Es wird kaum einen Volksangehörigen sonst geben, der bei seinem Tagewerk so viel schilt und schimpft, murrt und knurrt, zetert und poltert, wie der Deutsche — und es dennoch so erfolgsicher zuwegebringt." Ein älterer deutscher Student, der als Praktikant des DAAD (Deutscher Akademischer Austausch-Dienst)

1961 und 1962 mehrere Monate in Rourkela arbeitete und rein indisch unter indischen Praktikanten lebte, hatte besonders gute Gelegenheiten, sich von gleich zu gleich Vertrauen zu erwerben und die Meinung vor allem der jüngeren Inder zu erfahren. Er berichtete: „Im menschlichen Bereich werden den deutschen Monteuren Grobheiten, Anschreien und Tätlichkeiten während der Arbeit ... angekreidet .. . Bezeichnend ist, daß die meisten Inder die Worte , Scheiße'und raus’ verstehen." Zur Unhöflichkeit kommt eine gewisse Unduldsamkeit hinzu. Ein Beobachter sagt, „man fürchte die Deutschen, wenn sie auf der Suche nach Sündenböcken sind!" In kaum einem anderen Land wird der Andersdenkende menschlich so leicht verketzert wie in Deutschland. Diese Unduldsamkeit verstärkt sich noch, wenn es um Dinge der Arbeit, der zu leistenden Aufgabe geht. Sie wird gespeist aus dem Arbeitsstil, der Auffassung von Perfektionismus. „The educated specialist looks with impatience upon the ignorance of most people in matters that are commonplace to him, and allows his Irritation to affect his whole attitude toward the common people. The latter reciprocate by regarding him as a stränge kind of being, quite unlike themselves, and by way of compensation may dub him a ‘highbrow'or 'snob’".

Sprachkenntnisse

Die Sprachkenntnisse der Deutschen, die nach Rourkela gingen, waren in der Regel sehr gering, selbst bei Bauleitern und leitenden Ingenieuren häufig unzureichend. Sie waren — wie auch eine größere Anzahl der Monteure — zwar in der Lage, mit Hilfe einiger weniger „Brocken" technische Notwendigkeiten, Anordnungen, Empfehlungen deutlich zu machen, aber zu einer Diskussion von technischen oder sonstigen Problemen reichten die Sprachkenntnisse vielfach nicht aus. Wie bereits früher bemerkt, war es für einen Großteil der Rourkela-Deutschen weniger wichtig und problematisch, im Rahmen der Arbeit auf der Baustelle arbeitsmäßige bzw. technische Dinge mittels ihrer geringen Sprachkenntnisse mit den Indern zu regeln, die Schwierigkeit lag vielmehr darin, Mißverständnisse nicht nur technischer, sondern vor allem auch allgemeiner Art unmittelbar in ihrem Entstehen aufzuklären und aufzuräumen. Die Deutschen waren in sehr vielen Fällen nicht imstande, in der Sprache ihrer indischen Partner Untertöne und Färbungen zu erkennen und zu bewerten oder ihrerseits vorsichtige Hinweise, geschickte Andeutungen zu formulieren. Was gerade in Asien so wichtig sein kann, Dinge durch die Blume zu sagen, war den meisten Rourkela-Deutschen schon sprachlich nicht möglich — von anderen, in ihrer Art liegenden Gründen ganz abgesehen. Das Montage-Personal hatte in der Regel weniger Sprachschwierigkeiten als das Betriebspersonal. Viele Monteure haben bereits auf ihren früheren Auslandsreisen oder bei Aufenthalten auf ausländischen Baustellen etwas Englisch gelernt und diese Kenntnisse im Laufe ihres Monteurberufs allmählich so weit verbessert, daß sie für ihre Bedürfnisse ausreichten. Schwierig wurde es aber auch für sie bei privaten Kontakten mit Indern.

Schließlich ist es ein großer Unterschied, ob man die wenigen Worte, die einem geläufig sind, auf der Baustelle unter Zuhilfenahme von Zeichensprache und Vormachen dazu benutzt, zu erklären, wie eine Maschine bedient werden muß, oder ob man sich abends gegenübersitzt und sich unterhalten möchte. Wer will es einem Monteur verdenken, wenn er nach beendetem mühsamen Tagewerk nicht mehr dazu aufgelegt ist, sich im Gespräch mit indischen Kollegen weiterhin mit der englischen Sprache abzumühen? Immerhin schien sich ein Teil des Montage-Personals über die Notwendigkeit englischer Sprachkenntnisse klar zu sein, denn 1959 z. B erreichte die Zahl derer, die in Rourkela zweimal wöchentlich abends an englischen Sprachkursen teilnahmen, zeitweilig fast 150. Ungünstiger sah es bei dem Betriebspersonal aus, sowohl in bezug auf die Sprachkenntnisse als auch die Teilnahme an Sprachkursen. Ein Mitglied des Betriebs-Personals erzählte:

„Calcutta war eine Katastrophel Im übrigen konnte ich nicht aus dem Hotel heraus, weil ich mich wegen mangelnder Verständigungsmöglichkeit nicht getraute." Die Befragung von 28 Angehörigen des Betriebs-Personals vor ihrer Ausreise ergab, daß sechzehn kein Wort Englisch konnten, von den verbleibenden zwölf sprachen drei ein brauchbares oder gutes Englisch, die restlichen neun machten Angaben wie „etwas", „ein paar Brocken", „nur wenig" Englisch. Eine andere Befragung von 35 Angehörigen des Betriebs-Personals in Rourkela zeigte, daß zwölf „kein Englisch", elf „etwas Englisch", zehn „ganz gut Englisch" sprachen, aber nur einer „perfekt". Nur vier bemühten sich durch Teilnahme an Sprachkursen, sich im Englischen weiterzubilden. Aus der Art der Angaben und ihrer teilweisen Umschreibung geht hervor, daß den elf Angaben „etwas Englisch" nur sehr unzulängliche oder über-

haupt keine Kenntnisse zugrunde lagen, was zuzugeben die Befragten sich offenbar genierten. Fast alle waren sich jedoch über die Notwendigkeit, englisch sprechen zu können, im klaren.

Hindi, die Hauptverkehrssprache nicht englisch sprechender Inder in Nordindien, konnten nur ganz wenige Rourkela-Deutsche. Bei diesen wenigen zeigte sich allerdings, daß die Kenntnisse in Hindi diesen nicht nur zusätzliche, wertvolle Verständigungsmöglichkeiten erschlossen, sondern auch ein besonderes Verhältnis zu Indern schufen. Die Tatsache, daß ein Deutscher hindi spricht und versteht, wertet der Inder in der Regel als den Beweis für ein ganz besonderes Interesse an Indien und seinen Menschen. So gesehen kann es im Rahmen einer Zusammenarbeit zwischen Europäern und Indern sogar schon von Wert sein, nur einige wenige Worte Hindi zu kennen und hier und da anzubringen. Interessant ist in diesem Zusammenhang ein „Bunter Abend", der anläßlich eines Sportfestes, zu dem auch rund dreißig Sowjetrussen aus Bhilai (ein Ort in dem indischen Bundesstaat Madhya Pradesh, in dem gleichzeitig mit dem Projekt Rourkela ein indisch-sowjetisches Hüttenwerk gleicher Größe entstand) erschienen waren, im Deutschen Klub Rourkela veranstaltet wurde und in dessen Verlauf jede Nationalitätengruppe eine „Einlage" zu geben hatte: deutsche Monteure stellten ein Mundharmonika-Trio, das deutsche Volkslieder und Schlager spielte, die Russen sangen — mit eindrucksvoll schönen, gefühlsbetonten Stimmen — indische Volkslieder in hindi. Der Erfolg bei den anwesenden Indern war unbeschreiblich: die Tränen standen ihnen in den Augen. Und das — wie sie selbst ausdrücklich betonten —, obgleich sie genau wußten, daß sie sich mit diesen Russen weder auf englisch noch auf hindi unterhalten konnten. So läßt sich mit ganz geringen, aber richtig angewandten Sprachkenntnissen der Völkerverständigung ein wichtiger Dienst erweisen.

Vorurteile — Stereotype

Ein wichtiges Kapitel in der Betrachtung der Disposition der Rourkela-Deutschen muß mit der Frage beginnen, wie denn der spätere Rourkela-Deutsche vor seiner Ankunft in Indien „den" Inder gesehen und beurteilt hat. Welche Vorstellungen hatte er von Indien? Wodurch waren die Vorstellungen geprägt? Hätten sie — soweit sie sich als unzutreffend erwiesen — durch bessere Information korrigiert oder gar beseitigt werden können?

Bereits der von allen Rourkela-Deutschen benutzte Begriff „der Inder" stellt eine gefährliche Verallgemeinerung dar, deren Unhaltbarkeit sich allein schon aus der Größe des indischen Staatsgebiets, der daraus resultierenden Verschiedenartigkeit, ja sogar Gegensätzlichkeit der einzelnen Religionen, sowie aus der Vielfalt der rassischen, religiösen und sprachlichen Zusammensetzung seiner Bevölkerung ergibt: der Nordinder, beispielsweise der Punjabi, unterscheidet sich von dem Adivasi aus dem Gebiet von Chota Nagpur, nahe bei Rourkela, mindestens so stark, wie der Schwede vom Sizilianer. Trotz dieser Unterschiede heißt es häufig: „Der Inder ist so und so . . Der spätere Rourkela-Deutsche besitzt, bevor er zum erstenmal seinen Fuß auf indischen Boden setzt, bereits bestimmte Vorstellungen von Indien, von dem Äußeren, den Qualitäten und Besonderheiten „des" indischen Menschen.

Diese Vorstellungen gehören in den Bereich der Vorurteile. Vorurteile seien hier ganz allgemein verstanden als Vorstellungen, Ansichten, Meinungen, Urteile, die gebildet wurden, noch bevor eine sachliche Begründung gegeben war, noch bevor eine sorgfältige Überprüfung der ihnen zugrunde liegenden Informationen stattgefunden hatte. Aus dem Bereich derartiger allgemeiner Vorurteile sei eine besondere Gattung aggressiver sozialer Vorurteile abgegrenzt, nämlich stereotype Urteile über bestimmte Gruppen von Menschen, Urteile, welche einen abwertenden, oft sogar gehässigen Inhalt haben. Gewisse Kategorien von Menschen, besonders gewisse ethnische Gruppen, werden häufig in einer stereotypen Weise gesehen, nämlich so, als ob sämtliche Mitglieder einer solchen Gruppe in wesentlichen Merkmalen einander gleich wären. So heißt es dann z. B., (alle!) Türken sind grausam, die (alle!) Schotten sind geizig, die (alle!) Inder sind rückständig usw. Der Begriff des Stereotyps wurde von Walter Lippmann geprägt, der ihn benutzte, um damit jene bildhaften Vorstellungen zu bezeichnen, die die im gesellschaftlichen Denken verwendeten Symbole und Etiketten charakterisieren. Tritt jemand einem Türken, Schotten oder Inder gegenüber, so wird er weniger auf das Individuum als auf ein Symbol reagieren, das von den Qualitäten des Stereotyps geprägt ist.

Das in der amerikanischen Fachliteratur am häufigsten behandelte Beispiel ist das „Stereotyp" des Negers, das diesen in der Vorstellung der Amerikaner als abergläubisch, faul, religiös und musikalisch charakterisiert. Ein derartiges Bild, auch wenn es verzerrt oder unrichtig ist, beeinflußt das Verhalten des in diesem Bild Befangenen in unvorstellbarer Weise. Ein Beispiel aus dem Stereotyp-Denken (oder Klischee-Denken), das eine starke Ähnlichkeit mit der Denkart und Terminologie mancher Rourkela-Deutschen hinsichtlich „des" Inders aufweist, wird aus Afrika berichtet. Ein europäischer Bergwerks-Angestellter macht seinem Herzen in folgenden Worten Luit: „The Africans have no brains. They can never be civilized, not even in a thousand -cars. They walk into my Office without knocking. An African clerk had the cheek to teil me I made a mistake. The educated Africans are the worse — they do nothing but imitate the Europeans; did the Kaffirs ever invent anything? They can learn nothing; it you gave them a palace they would use it as a lavatory.

The only good Kaffirs are the old men in the bush and the dead ones; when the educated native goes back to the bush, he reverts to type and goes wild and is just like the baboon."

Ein derart negativer, aggressiver „Ausbruch"

ist nicht einzig und allein auf das Vorurteil zurückzuführen, das hier bei dem Urheber gegen „die Neger" oder „die Kaffem" besteht, sondern es spielen andere Motive hinein, die zu untersuchen dem Kapitel „Die Deutschen in Rourkela" überlassen bleiben soll. Auf Grund der in Rourkela gemachten Erfahrungen kann man die dortigen Stereotypen in zwei Gruppen unterteilen: diejenigen, die die Deutschen hatten, bevor sich nach Indien gingen, und solche, die sie während ihres Rourkela-Aufenthaltes entwickelten. Man könnte die ersten „Stereotype aus zweiter Hand" und die anderen „Stereotype aus erster Hand" nennen. Die „aus zweiter Hand", die vielleicht schon bestanden, als die Deutschen noch gar nicht daran dachten, einmal nach Indien zu gehen, sind in der Regel sehr vage und sehr allgemein. Unterhaltungen und auch einige Befragungen in kleinerem Kreis in Rourkela deuteten darauf hin, daß die Vorstellungen von Indien sehr unterschiedlich und sehr lückenhaft, zum Teil auch phantastisch waren. Um so mehr überrascht es, daß hinsichtlich „des" Inders doch überwiegend ein negatives, abwertendes Urteil bestand, das zwar nicht weiter differenziert wurde, den Inder aber doch sehr vage in die Gruppe der „Unterentwickelten", der „Schwarzen" einstufte, der als „dreckig" galt, sicherlich „roch" und — darin wurde alles Negative zusammengefaßt — ein „Kanaker" (Kanaker von Kanake. Schimpfwort für einfältigen, weltfremden Menschen. Kanaken („Menschen" ]: die Urbewohner der polynesischen Südsee-Inseln, dann allgemein für die Eingeborenen dieser Inseln) war. Der Ausdruck „Kanaker" kommt auch bei deutschen Seeleuten vor und bezeichnet dunkelhäutige Menschen schlechthin, speziell Asiaten. Es ist recht treffend, daß einStereotyp „aus zweiter Hand", mit dem man im Grunde nicht viel anzufangen weiß, im vorliegenden Falle das Indien-Stereotyp der Deutschen, mit „Kanaker" ausgedrückt wird, also mit einem Fremdwort, das geheimnisvoll nebulös klingt und auf jeden Fall keine klaren Vorstellungen auslöst.

Das „Stereotyp aus erster Hand", das Bild „des Inders", wie es sich der Rourkela-Deutsche während seines Zusammenseins mit Indern schaffte, ist zweifellos keine Neuschöpfung, sondern verwendet Bestandteile des vorher vorhanden gewesenen „Stereotyps aus zweiter Hand" bzw. baut darauf auf. Es ist also mehr eine „Mischform", die vor allem dadurch ermöglicht wurde, daß das „Stereotyp aus zweiter Hand" wenig ausgeprägt, noch einigermaßen vage war und damit Raum für Verfestigungen wie auch Änderungen zuließ. In der Regel sind ausgeprägte, verfestigte Stereotypen nicht oder nur sehr schwer zu beeinflussen, weil jedem Menschen aus seinen Vorurteilen wertvolle Stützen erwachsen, indem sie ihm in einem unbekannten, völlig fremden und daher unheimlichen Raum eine Orientierung anbieten und somit einen Entlastungswert bekommen. Sie entlasten den Menschen von der völligen Ungewißheit in Situationen, in denen er, ohne die Möglichkeit einer eingehenden Prüfung, sich entscheiden oder auf etwas einstellen muß. Damit ist zugleich die gefährliche Bedeutung des Stereotyps für die Beziehungen zwischen Menschen verschiedener Kategorien, Völker oder Rassen aufgezeigt, denn mit der „Entlastungsfunktion blockiert das Stereotyp automatisch — was das Entscheidende ist — jede Chance einer eigenen Stellungnahme auf Grund von Verstehen im weitesten Sinne."

Wie entstehen Stereotypen über ethnische Gruppen, insbesondere solche, die jemand sich bildet, bevor er eigene, unmittelbare Erfahrungen mit Angehörigen dieser Gruppe gehabt hat? Wenngleich in der Literatur gesagt wird, der Ursprung und das Zustandekommen solcher schematischen und doch präzisen Vorstellungen sei noch kaum erforscht, und obwohl auch amerikanischerseits erklärt wird, es lasse sich heute noch nicht viel darüber aussagen, wie derartige, vorherrschende Normen ihre Bedeutung erlangt haben, so ist doch auf die zweifellos große Bedeutung der Erfahrungen zweiter Hand hinzuweisen, die dem einzelnen vornehmlich durch die sogenannten modernen Massenmedien wie auch durch Berichte und Schilderungen Dritter vermittelt werden.

Im „Indien-Bild" der Deutschen — wie es sich in Rourkela darbot — herrschten zwei Grundzüge vor: Es ist einmal bestimmt von einem übertriebenem Exotismus, der sich vor allem auf das Land bezieht, und zum anderen schließt es — hinsichtlich „des" Inders — die bereits erwähnte „Kanaker" -Einstellung ein. Aus einer umfassenden Kenntnis dessen, was in den Jahren 1958 bis 1964 von deutschen Massenmedien über Indien gebracht wurde, kann nur die Ansicht entstehen, daß es in erster Linie die Berichterstattung gewisser Zeitungen, Illustrierten und Boulevard-Blätter ist, die das schon früher so beschaffene „deutsche Indienbild" immer wieder mit Schlagworten wie: „Heilige Kühe", „WitwenVerbrennung", „Fakir", „indischer Seiltrick", „Tiger“, „Schlangen" etc. anreichern. Weit schwieriger dürfte es sein, über den Ursprung der „Kanaker" -Einstellung zum Inder etwas auszusagen. Der Gedanke liegt nahe, daß hier auf Grund der dunklen Hautfarbe der Inder eine Gedankenassoziation zu einem möglicherweise übernommenen oder bestehenden „Neger-Stereotyp" entstanden ist, ganz allgemein rassische Vorurteile eine Rolle spielen und im übrigen Schilderungen von Deutschen, die in der Zusammenarbeit mit Indern keine guten Erfahrungen machten, den Ausgangspunkt zu weiteren gefährlichen Verallgemeinerungen bildeten. Die Gefährlichkeit derartiger Verallgemeinerungen macht ein englischer Autor, der sich seit Jahren mit Indien beschäftigt, deutlich, indem er sagt: Wie leicht ist es, von dem Ausspruch, „die Inder, die Farbige sind, haben eine Zivilisation, die unserer unterlegen ist", zu dem Satz überzuwechseln „die indische Zivilisation ist unserer unterlegen, weil die Inder Farbige sind.“!

Unvorbereitet nach Indien

Ein Berichterstatter, der Rourkela im Sommer 1959 besucht hatte, schrieb über seine Eindrücke aus zahlreichen Gesprächen und Beobachtungen: „Im deutschen Klub ... sitzen die ... jungen Schlosser aus dem Kohlenpott ... und spielen Skat. Ihre Firmen und die beteiligten Regierungen haben es leider unterlassen, sie darüber aufzuklären, wo sie sind. Vielleicht ist das auch zuviel verlangt! Man müßte hier so vieles begriffen haben, ehe man einiges versteht: den ganzen Götterhimmel und das Kastengeflecht, Klima und Geschichte, die alte Kolonialherrschaft und die junge Selbständigkeit ..." Noch einen Schritt weiter geht König, wenn er feststellt: „Nicht nur die Arbeiter, die deutschen Monteure, sondern auch die deutschen Ingenieure hatten keinen blassen Schimmer, womit sie es dort zu tun haben würden — und nicht nur sie, sondern viele andere mehr.“ Ein ausgezeichneter Kenner Indiens wie auch Rourkelas drückt dasselbe aus: „The German fitters failed to appreciate that things in Rourkela were not the same as in the Ruhr ... Nobody had taken the trouble to teil them the difference in customs, deriving from centuriesold tradition."

Abgesehen von wenigen, innerhalb einiger deutscher Firmen durchgeführten, meist unzureichenden Einführungen, ist das deutsche Montage-Personal in der Tat ohne Vorbereitung, ohne Kenntnisse über Indien und seine Bewohner mit einem Vertrag für mindestens achtzehn Monate nach Rourkela ausgereist. Die Vorstellungen der Monteure von dem, was sie erwartete, waren durch Stereotype entweder positiver oder negativer Art festgelegt, im günstigsten Falle aber unklar und mit Phantasie-Bildern durchsetzt.

Im allgemeinen beschränkte sich die Vorbereitung der Deutschen, die nach Rourkela gingen, auf die notwendigen Schutzimpfungen sowie eine keineswegs bei allen strikt überwachte Tropentauglichkeitsuntersuchung. Vom Standpunkt der Tropenmedizin reicht das kaum aus.

Eine sinnvolle Gesundheitskontrolle müßte sogar jeden Heimkehrer und jeden Neuausreisenden einer sorgfältigen Überprüfung des Gesundheitszustandes unterziehen. Ähnliche Forderungen müssen auch für die richtige Vorbereitung auf eine vernünftige Lebensführung in Rourkela erhoben werden. Dazu gehört auch eine systematische Aufklärung über richtiges Verhalten im tropischen Klima: einwandfreie und zweckmäßige Ernährung, Wohnung und Kleidung, Überwachung von Trinkwasserversorgung, Abortanlagen und Abwasserbeseitigung, Kontrolle des Hauspersonals, Vermeiden von Barfußlaufen u. v. a. m. — Viele Deutsche kamen nach Rourkela, ohne eine Vorstellung davon zu haben, daß es in einem gemischt hinduistisch/islamischen Land schwierig sein würde, Rind-oder Schweinefleisch in ausreichenden Mengen und gewohnt einwandfreier Qualität zu erhalten. Ihnen war noch nie der Gedanke gekommen oder nahe gebracht worden, daß man bei 40 0 Hitze weniger „Schweinernes" essen sollte und auch die „Schnapsflasche" zum Frühstück nicht zu empfehlen ist. Ein Monteur, der anläßlich seines Geburtstages auf der Baustelle — wie von zu Hause gewohnt — zum Frühstück eine „Schnapsflasche" kreisen ließ (Gin), war nicht schlecht erschrocken, als er anschließend mit akuten Sehstörungen den Arzt aufsuchen mußte.

Bedeutsamer noch war das Fehlen einer Vorbereitung auf die grundlegenden Probleme des Landes Indien, das Fehlen des so wichtigen Hinweises auf die Notwendigkeit, Verständnis dafür zu zeigen, daß die dortigen Probleme nicht allein wirtschaftlich-technischer Art, sondern viel umfangreicher und tiefgehender, nämlich allgemein-kultureller und gesellschaftlicher Natur sind. Denn dies bedeutet ja auch, daß selbst die umfassendsten finanziellen und technischen Hilfeleistungen der industrialisierten Länder sinnlos bleiben, ja, u. U. sogar in der Lage sind, Feinde zu schaffen, wenn die Hilfe nicht getragen wird von dem Verständnis dieser grundlegenden, über das Wirtschaftliche weit hinausgehenden Probleme und Zusammenhänge. Die Schwierigkeiten, denen die unvorbereitet nach Indien gekommenen Rourkela-Deutschen beim Einleben, bei der Anpassung in indische Lebensgewohnheiten gegenüberstanden, haben gezeigt, daß eine derart fremde Welt wie Indien sich den Technikern nicht von sich aus erschließt, sondern z. T. sogar zunehmend entfremdet. Hier kommt alles darauf an, inwieweit die deutschen Ankömmlinge von Anfang an in die Kultur und Gesellschaft, die religiösen Bräuche und die durch sie geprägten Denkweisen ihres Gastlandes eingewiesen wurden. Es hätte beispielsweise nicht passieren dürfen, daß ein höher gestellter Rourkela-Deutscher seinen Fahrer, einen Muslim, für eine begangene geringfügige Unregelmäßigkeit mit Sonderdienst ausgerechnet am zweit-höchsten islamischen Feiertag bestrafte! „Knowledge of cultural detail" nennen die Amerikaner so etwas und weisen aus eigenen, teurer bezahlten Erfahrungen mit Recht immer wieder darauf hin, daß auf derartiger Kenntnis Erfolg oder Fehlschlag eines ganzen Projekts beruhen kann. In dieser Hinsicht sind sich alle erfahrenen Kenner der Entwicklungsländer und der besonderen Problematik der personellen Seite der Entwicklungshilfe einig: „Wer mit fundierten Kenntnissen . draußen'ankommt, findet gerade bei den Völkern, die auf ihr Vaterland stolz sind, eine ganz andere Aufnahme als der Neuling, der obendrein der Gefahr vielleicht unbeabsichtigter Taktlosigkeit ausgesetzt ist." „Wer über fremde Institutionen nur darum herabsetzend urteilt, weil ihm ihr eigentlicher Sinn verborgen bleibt, oder darüber verletzende und abfällige Bemerkungen macht, gilt mit Recht als ungebildeter Ignorant ..." „Was wir als , primitiv" einschätzen, ist nicht selten das Unbekannte und das noch mehr Unverstandene ..." Unwissenheit und Unduldsamkeit aber stehen nahe beieinander, „zuweilen stellt sich jener . . . Teufelskreis her, in dem sich Unwissenheit und Unduldsamkeit fortwährend verstärkt."

Eignung und Auswahl

Letzte, doch wichtigste Gesichtspunkte bei der Betrachtung dessen, was der Deutsche „mitbringt", wenn er nach Rourkela geht, sind seine Eignung und — damit verbunden — die Kriterien, nach denen er ausgewählt wird.

Am unbestrittendsten und zugleich am bedeutendsten — wenn es hier überhaupt Vorrangigkeiten geben kann — ist das Kriterium der Tauglichkeit aus der Sicht des Mediziners. Unbestritten einmal deshalb, weil allen Beteilig14 ten unschwer klarzumachen ist, daß eine gute gesundheitliche Verfassung — gegebenenfalls Tropentauglichkeit — Voraussetzung sein muß, bevor größere Aufwendungen für einen Auslandseinsatz in Betracht kommen können. Zum anderen aber auch deshalb, weil der Arzt nach eindeutigen Kriterien, nämlich klaren Befund-ergebnissen, entscheidet und diese oder allenfalls eine zweite, anderwärts eingeholte ärztliche Entscheidung in Form eines schriftlichen Gesundheits-bzw. Tropentauglichkeitszeugnisses unzweideutig bestimmen, ob der Betreffende tatsächlich eingesetzt werden darf oder nicht. Liegt einmal ein Zeugnis vor, das die medizinische Untauglichkeit des Betreffenden bescheinigt, so werden sich Arbeitgeber und Arbeitnehmer in der Regel danach zu richten haben.

Eine derartige Erkenntnis hat im Falle Rourkelas jedoch nicht alle Beteiligten gleicherweise bestimmt, mit dem zu entsendenden Personal entsprechend zu verfahren. Ob in Einzelfällen Montagepersonal oder dazugehörige Familienmitglieder es verstanden haben, bestehende Forderungen auf die Vorlage einer Tropentauglichkeitsbescheinigung oder gleichwertige Untersuchungen durch Firmenärzte zu umgehen, oder ob im Hinblick auf die bestehende vorbildliche ärztliche Betreuung in Rourkela die genannten Grundsätze nicht strikt angewandt wurden, kann hier nicht entschieden werden. Festgestellt sei jedoch, daß in besonderen Fällen Deutsche von den deutschen Ärzten in Rourkela unmittelbar oder kurze Zeit nach ihrer Ankunft zurückgeschickt werden mußten, weil sie nicht tropentauglich waren. Infolge der ärztlichen Schweigepflicht können Einzelheiten derartiger Fälle nicht berichtet werden, wie es auch aus demselben Grund den Ärzten nicht möglich war, gegen die Betreffenden etwas zu unternehmen. Immerhin sind Fälle allgemein bekannt geworden, in denen Ehefrauen im Zustande der Schwangerschaft, ohne gegen Typhus, Pocken und Cholera geimpft zu sein, nach Rourkela kamen, sich als nicht tropentauglich erwiesen und zurückgeschickt werden mußten, ohne in ihrem damaligen Zustand die Impfungen nachholen zu können.

Es war ein „offenes Geheimnis', daß diese Frauen die Behörden in Deutschland mit einem für wenige Rupees in Calcutta auf der Schwarzen Markt erworbenen Impf-Zeugnis beruhigten und so als potentielle Überträger von Seuchen eine Gefahr für ihre Umgebung bildeten. Dieses Beispiel mag für eine Reihe ähnlicher Fälle stehen und die fahrlässige Handlungsweise derer betonen, die, ohne die notwendigen gesundheitlichen Vorsichtsmaßregeln zu beachten, nach Rourkela gingen oder Personal nach Rourkela entsandten.

Weit schwieriger als die Frage der gesundheitlichen Tauglichkeit ist die der charakterlichen Eignung zu beantworten. Einmal fordern Tropenmediziner mit Recht, daß sich der Ausreisende rechtzeitig einer Selbstprüfung unterziehen soll, mit der Fragestellung, ob er in jeder Hinsicht, körperlich und seelisch, der richtige Mann ist. Zum anderen aber liegt die Verantwortung bei der aussendenden Dienststelle oder Firma, die erst nach sorgfältiger Überprüfung der Gesamtpersönlichkeit des Ausreisenden darüber befinden muß, ob sie die Aussendung verantworten kann. Mit Recht und durchaus in Übereinstimmung mit den Erfahrungen aus Rourkela verlangt Rodenwaldt „eine gewissenhafte Prüfung der gesamten Lebenshaltung und Lebensführung", bezeichnet „Beherrschtheit und Selbstdisziplin" als notwendige Voraussetzungen und fordert dasselbe auch für die Ehefrauen der Ausreisenden, wobei er die Zweckmäßigkeit der Entsendung Verheirateter mit ihren Frauen bestätigt. Einzelheiten aus den Erfahrungen mit den Rourkela-Deutschen werden im Abschnitt „Klima und Klimaeinflüsse" noch zu betrachten sein, abschließend sei jedoch aus der Sicht des Mediziners — in Übereinstimmung mit eigenen Beobachtungen in Rourkela — noch erwähnt, daß das Lebensalter der Ausreisenden nicht zu niedrig sein sollte. „Körperlich tauglich sind natürlich auch schon Zwanzigjährige. Daß sie aber im Tropenklima, wenn sie körperlich stark beansprucht werden, leichter versagen als ältere Männer, ist eine der wichtigsten Erfahrungen aus dem Einsatz europäischer Truppen in den beiden Weltkriegen."

Wie wird nun die Frage nach Eignung und Auslese von denen beantwortet, die für die Entsendung verantwortlich sind? Verständlicherweise geht es den entsendenden Industriefirmen in erster Linie darum, die abgeschlossenen Liefer-und Montageverträge termingemäß und den übrigen Bedingungen entsprechend zu erfüllen. Dazu bedarf es nach althergebrachter Meinung in erster Linie entsprechender Fachleute. Immerhin haben die jüngsten Erfahrungen — sicherlich nicht nur in Rourkela — diese althergebrachte Meinung aufgelockert und mehr und mehr die Einsicht vermittelt, daß auch menschlich-charakterliche Eigenschaften beim Einsatz in Entwicklungsländern eine Rolle spielen. Das drückt sich in den Stellungnahmen einiger Industrieller aus, die im Auslandsgeschäft großer deutscher Industriebetriebe tätig sind und in einer Enquete des Instituts für Auslandsbeziehungen zu diesem Thema befragt wurden. „Nur Techniker"

sind für die Montageabteilung nicht geeigB net, da unsere Herren in hohem Maße Anpassungsfähigkeiten besitzen müssen." „Die Auswahl des Personals erfolgt in erster Linie auf Grund der technischen und persönlichen Qualitäten." Allein die Erkenntnis, wie der richtige Mann auszusehen hat, genügt leider nicht, denn „was die Auslese anbetrifft, so könnte gesagt werden, daß sie sich mit den konjunkturellen Verhältnissen im Heimatland verändert." In dieser Bemerkung dürfte z. T. auch die Erklärung dafür liegen, daß die Auswahl für Rourkela in einer Reihe von Fällen einfach gar nicht stattgefunden hat. Das früher zitierte Beispiel des Monteurs, der von der einen Firma nach Deutschland zurückgeschickt und entlassen, von einer anderen jedoch sofort wieder für Rourkela eingestellt wurde (s. S. 4), dürfte darin seine Erklärung finden. „Wem echte Chancen in der Heimat geboten werden, ist ... schwerer für eine Auslandsentsendung zu gewinnen, als der, der im Schatten steht. Obwohl diese Umstände nicht immer einen Maßstab für die Qualifikation darstellen, können sie bei Personalmangel gelegentlich zu einer Auslese in negativem Sinne führen."

Abgesehen von den Notwendigkeiten und den Problemen der Auswahl ist doch keineswegs überall die Erkenntnis durchgedrungen, daß ein durchschnittlich begabter Monteur, der Verständnis für die Asiaten hat, in Asien nützlicher ist als der beste Monteur seiner Firma, der über jede asiatische Nachlässigkeit die Nerven verliert. Zum Teil fühlen sich die Firmen einfach überfordert durch die Maxime, daß als Voraussetzung gute berufliche und fachliche Kenntnisse eine Rolle spielen, daß aber noch viel wichtiger gewisse menschliche Eigenschaften des ausreisenden Personals sind, weil derartige Menschen nicht zur Verfügung stehen. Zum Teil aber ist man auch einfach noch gegenteiliger Auffassung, wie sie beispielsweise in folgendem Zitat ausgerechnet eines Pädagogen hervortritt: „Der Entwicklungsberater ist im Gegensatz zum Kolonial-beamten ins Land gerufen, an sein Umgangs-geschick wird darum nicht die gleiche hohe Anforderung gestellt; er hält sich wegen der Sache, um derentwillen man ihn ins Land geholt hat, nicht auf Grund psychologischer und anderer Herrschaftsmittel, die er einzusetzen hat, dort auf." Wie sich in Rourkela zeigte, haben keineswegs technische Mängel oder Kritik an der Arbeit des Montage-Personals die Rourkela-Deutschen der Jahre 1959 bis 1961 in der indischen und deutschen Öffentlichkeit in einen gewissen Mißkredit geraten lassen, sondern ausschließlich Vorfälle, die auf Verhaltensweisen einiger für einen derartigen Einsatz menschlich offenkundig ungeeigneter Deutscher zurückzuführen waren. Die unverhältnismäßig große Bedeutung des Einflusses dieser — sich meist in Cliquen zusammenfindenden — negativen Elemente auf die Gesamtheit der Rourkela-Deutschen wird im Kapitel „Die Rourkela-Deutschen als soziales Gebilde"

noch ausführlich dargestellt und untersucht.

Gebraucht werden auf Auslandsbaustellen wie Rourkela in erster Linie Männer zuverlässigen Charakters. Querulanten gehören genau so wenig auf eine Auslandsbaustelle wie gleichgültige oder zu weiche Leute. Gesundes Abenteuertum ist genau so notwendig wie die Fähigkeit, sich selbst auf Grund nüchtener Einschätzung in jedem Augenblick kritisch zu kontrollieren. In Übereinstimmung mit den langjährigen Ubersee-Erfahrungen hanseatischer Handelsfirmen kann auch für Rourkela gesagt werden, daß Deutsche, auch wenn sie fachlich in gleichem Grade tüchtig sind, sich „in ihrer Umweltanpassung sehr unterscheiden. Der eine eignet sich nur für Südamerika, der andere kommt in Indien mit Menschen und Umständen besser zurecht als in SchwarzAfrika." So konnte es vorkommen, daß Monteuren, die sich auf der Baustelle Rourkela in menschlicher Hinsicht nicht besonders bewährten, von früheren Baustellen in anderen Teilen der Welt her ganz besondere Befähigung im Umgang mit den dortigen Menschen nachgesagt wurde. Umgekehrt entwickelten Rourkela-Deutsche, für deren Verhalten gewisse Befürchtungen bestanden hatten, ein ungewöhnliches Interesse an ihrer indischen Umwelt und taten damit den wichtigsten Schritt zu einer positiven Einstellung zu Land und Leuten.

Eignung und Auswahl — das ist eine der grundlegenden Erfahrungen aus dem „Fall Rourkela" — bilden einen besonders wichtigen Bestandteil der Planungen und Vorbereitungen von Industrieprojekten, die ein Industrieland in ein Entwicklungsland liefert und dort erstellt. „Jedenfalls muß sich unsere Wirtschaft völlig klar darüber sein, daß ohne die Herstellung menschlicher Kontakte heute kein Geschäft mehr zu machen ist. Die Farbigen sehen hierin mehr als in allem anderen einen wirklichen Beweis unseres guten Willens zur Partnerschaft. Wir werden als Arbeitskameraden am ehesten fremde Völker davon überzeugen, daß oberflächliche Kenntnisse nicht genügen und daß Versäumnisse langer Zeit nicht im Laufe einer Generation aufgeholt werden können. Diese Aufgabe kann nur gelingen, wenn wir qualifizierte Persönlichkeiten stellen können, die zugleich Fachleute und . Psychologen'sind."

Zur Verhaltensweise der Deutschen: Frustration — Aggression

Nach einem kurzen Besuch in Rourkela schrieb der Schweizer Publizist Peter Schmid: „. Wenn man es den Indern fünfmal gezeigt hat und ihnen dann den Rücken kehrt, so machen sie es zum sechsten Mal immer noch falsch!'Dieser Stoßseufzer ist in Rourkela gewissermaßen zum Leitmotiv geworden. , Und wenn sie es dann endlich gelernt haben und man mit ihnen eine neue Arbeit vornimmt, ist die alte Fertigkeit nach kürzester Zeit wieder total vergessen.'Zusammengefaßt: Die brauchen Generationen, bis sie ein Stahlwerk in Gang halten können.'Dieses verächtliche Urteil tönt so unverhohlen, so laut, daß es den Indern selbstverständlich nicht verborgen bleibt. Und Inder sind stolze, empfindliche Menschen. Sie lassen es nicht leicht merken, wenn sie sich getroffen fühlen; aber gekränkt sind sie darum im Stillen nicht minder. Damit hat sich in Rourkela eine seltsame Verhärtung der Gemüter vollzogen: der deutschen Erbitterung und Ungeduld antwortet auf indischer Seite herausfordernder Trotz. Man liebt sich nicht und heuchelt auch keine Liebe. Grobheiten beantwortet der gewaltlose Inder mit einem Lächeln. Aber in seiner Seele treibt er Sabotage. Wenn ich Arbeiter in Rourkela mit deutschen Meistern sprechen sah, so lag etwas in ihrem Blick, das mir nicht gefiel. Und der Deutsche, der diese Feindseligkeit fühlt, sieht über den Inder hinweg, behandelt ihn, wenn er sich aufdrängt, wie Luft. Oder wie ein lästiges Insekt. Auf dem Arbeitsplatz heißt das praktisch: Scher Dich zum Teufel, das mach'ich schon besser selber."

Es soll hier nicht untersucht werden, welche Einzelheiten an dieser Berichterstattung wahr sind und was der Verfasser erfunden hat, ob man auf deutscher Seite von Verachtung sprechen kann und ob Inder ausgerechnet mit Trotz reagieren. Aber abgesehen von einzelnen Unrichtigkeiten und Fehlinterpretationen geben die Zeilen eine gewisse Grundstimmung wieder, wie sie zur Montagezeit in Rourkela etwa geherrscht hat. Die Frage, wie es dazu kommen konnte, soll hier aus einer anderen Sicht nochmals aufgeworfen werden. An anderer Stelle ist bereits darauf eingegangen worden, daß der Deutsche im Ausland eine Reihe von Eigenschaften entwickelt, die sich auf das Zusammenleben und Zusammenarbeiten mit den Indern in Rourkela nicht günstig auswirkten. Desgleichen wurde auf die Schwierigkeiten ausführlich hingewiesen, die sich aus dem engen Zusammenleben der Rourkela-Deutschen für ihr Gesamtverhältnis zu den Indern ergaben. Im folgenden soll abschließend der Versuch gemacht werden, eine Erklärung zu finden für die über ein normales Maß an Gleichgültigkeit oder gar Ablehnung hinausgehenden Einstellungen und Reaktionen, wie sie in Rourkela in individuellen Verhaltensweisen von Deutschen zu Indern oder umgekehrt festzustellen waren, da hierfür die im Zusammenhang mit den Dispositionen von Deutschen und Indern wie auch mit deren Gruppenverhalten gegebene Erklärung nicht immer ganz ausreicht.

Arbeiter, so meint Leonhardt, sind mit negativer Kritik schnell bei der Hand. „Wo der deutsche Arbeiter unzufrieden ist, macht er die Betriebsleitung verantwortlich oder schimpft auf die Verwaltungsbürokratie, schließlich auf die Regierung ..." Eich sagt dasselbe, geht jedoch noch einen Schritt weiter, wenn er schreibt: „Das Bedürfnis, die aufgenötigte Katzbuckelei an anderer Stelle durch Grobheit zu kompensieren, enthüllt einen der folgen-reichsten deutschen Charakterzüge." Eine gleichartige Auffassung findet sich bei einem amerikanischen Beobachter: „Es fehlt nicht an Beweisen dafür, daß der sanfte, unterwürfige Deutsche in der Enttäuschung unleidlich arrogant werden kann. Der geduldige, phlegma-tische Deutsche kann, wenn man ihm einen Strich durch die Rechnung macht, plötzlich in leidenschaftliche Erregung geraten."

Für die Verhaltensweisen der Inder bieten sich andere Erklärungsversuche an, die in er-, ster Linie auf der plötzlichen Konfrontierung mit der Industrialisierung und allen ihren Folgeerscheinungen, speziell der dadurch bedingten Veränderung aller bisher gültigen Richtmaße, fußen. Eine Zusammenfassung derartiger Erklärungen findet sich etwa in dem, was Mitscherlich dazu schreibt: „Die Ablösung von bekannten Lebensformen und die Übernahme von Techniken, ohne Vertrautheit mit dem geschichtlichen Hintergrund, auf dem sie sich entwickelt haben, muß elementare Angst aktivieren. Je weniger die alten Verhaltensmuster Sicherheit zu geben vermögen, desto stärker die regressiven Tendenzen und in ihnen der Durchbruch primitiver Triebäußerungen, inbesondere aggressiver Art." Nur — so verstärkt Fromm diesen Gedanken des Zerfalls der alten Verhaltensmuster — „solange die objektiven Bedingungen der Gesellschaft stabil sind, hat der Sozialcharakter eine vorwiegend festigende Funktion. Wenn die äußeren Bedingungen sich auf solche Weise ändern, daß sie dem traditionellen Sozialcharakter nicht mehr entsprechen, dann entsteht gleichsam ein , Bruch', welcher die Funktion des Charakters oft in ein Element der Zersetzung anstatt der Erhaltung verwandelt, sozusagen in Dynamit anstelle eines gesellschaftlichen Mörtels." Die obigen Zitate sind aus einer Reihe von Stellungnahmen in der Literatur zu der hier interessierenden Fage, wie es zu dargestellten „feindlichen" Verhaltensweisen zwischen Deutschen und Indern kommen kann, willkürlich zusammengestellt worden. Eines ist ihnen allen gemein: die Feststellung, daß bestimmte Bedürfnisse keine Befriedigung gefunden haben und daraus gewisse affektive Reaktionen entstanden sind.

Menschen streben nach der Befriedigung einer großen Anzahl von Bedürfnissen, die von verschiedenen Autoren auf wenige Hauptwünsche oder Grundbedürfnisse zurückgeführt werden.

Fromm nennt Glück, Harmonie, Liebe und Freiheit und sagt, sie seien der menschlichen Natur eingeboren. Körber fordert für den arbeitenden Menschen die Befriedigung von fünf Grundbedürfnissen — Sicherheit, Anerkennung, Gerechtigkeit, Freiheit und Information.

Wiese sagt, „Menschen streben nach Erfüllung von vier Hauptwünschen: nach Sicherheit, nach Erwiderung, nach Anerkennung und nach neuen Erfahrungen."

Gleichgültig, unter welchen Oberbegriffen alle bestehenden und möglichen menschlichen Bedürfnisse subsumiert werden können, die Nichtbefriedigung oder nicht ausreichende Befriedigung einiger dieser Bedürfnisse kann für Deutsche und Inder in Rourkela übereinstimmend festgestellt werden. Zusammenfassend sei nur auf wenige Beispiele nochmals Bezug genommen: Das Bedürfnis nach innerer und äußerer Sicherheit wurde ganz sicher nicht befriedigt; Inder verlieren ebenfalls mit der wachsenden Industrialisierung und deren Anforderungen in zunehmendem Maße die Sicherheit ihrer überkommenen sozialen Systeme (Kasten, Großfamilien); Deutsche in Rourkela empfinden eine Bedrohung durch Tropenkrankheit, die Fremdheit des exotischen Landes, durch ihnen unbegreifliche Politisierung ihrer eigenen Arbeit und nicht zuletzt durch blutige Unruhen militanter, religiöser oder landsmannschaftlicher Gruppen. Dasselbe galt für die Befriedigung des Bedürfnisses nach Anerkennung. Rourkela-Deutsche sahen sich bald nach ihrer Ankunft in der Erwartung betrogen, von Indern mit Dankbarkeit und dem aufrichtigen Willen zur bereitwilligen Zusammenarbeit empfangen zu werden, sie tauschten dafür ein Gefühl ein, „den Indern gegen deren eigenen Willen" zu helfen, während die Inder ihrerseits sich ständig kritisiert sahen und auch deutsche Bemühungen um Einführung und Anlernen auf Grund der wenig glücklichen deutschen Art als Kritik aufnahmen; indische Ingenieure, die manchem Deutschen an theoretischem Wissen und Können überlegen waren, bekamen dies von den Deutschen keineswegs als Verdienst angerechnet, sondern wurden stattdessen zu schmutziger Handarbeit angehalten; von einer Anerkennung der kulturellen Werte und Fähigkeiten, die Indien in reichem Maße zu bieten hat, wurde deutscherseits nicht gesprochen.

Auch das Bedürfnis nach Gerechtigkeit erfuhr vielfach keine Befriedigung; denn wann immer in Streitfällen zwischen Indern und Deutschen zu schlichten war, waren Deutsche bemüht, dem Inder jeweils recht zu geben, und umgekehrt waren auch Inder oft höflich und entgegenkommend genug, ohne Rücksicht auf den wirklichen Tatbestand zugunsten des betroffenen Deutschen zu entscheiden. Daß Deutsche nur in alleräußersten Fällen von indischer Polizei in ein Verfahren verwickelt wurden, mußte von Indern als ungerecht empfunden werden, desgleichen die in solchen — wenigen — Fällen verhängten geringfügigen Strafen (Trunkenheit am Steuer in Tateinheit mit schwerer Körperverletzung: DM 150, — Geldstrafe). Deutsche fühlten sich in ihrer Gesamtheit von der Presseberichterstattung ungerecht behandelt; Inder murrten über die Ungerechtigkeit der ungleich höheren Bezahlung der Deutschen. Sogar das Bedürfnis nach Freiheit wurde nicht uneingeschränkt befriedigt;

die Maßnahmen gegen die Haltung von Ayahs (Hausmädchen), die dauernde Beobachtung ihrer Verhaltensweisen auch in der Freizeit, ja selbst die verkehrsmäßige Abgeschlossenheit in Rourkela und die fehlenden Verkehrsmittel am Ort selbst wurden von den Rourkela-Deutschen als Beschneidung ihrer Freiheit empfunden. Den Indern wird die Freiheit durch die von den Deutschen gelieferte Technik in wachsendem Maße beschnitten: Disziplin und Pünktlichkeit werden verlangt, den Arbeitsplatz dürfen sie nur innerhalb vorgeschriebener Urlaubsbegrenzungen verlassen, Arbeitszeit ist einzuhalten ohne Rücksicht auf Witterung, Erntezeit oder andere „wichtige" Dinge. Das Bedürfnis nach Information wurde in besonderem Maße für die Deutschen nicht befriedigt. Zeitungen per Luftpost waren zu teuer, Seepostlieferungen dauerten viele Wochen, indische Zeitungen konnten die meisten nicht lesen, das indische Rundfunkprogramm verstanden sie nicht, die „Deutsche Welle" konnten nur einige wenige hören, Fernsehen gab es nicht — so blieb der Rourkela-Deutsche vielfach auf Klatsch und Gerüchte angewiesen. Und das Bedürfnis nach Erwiderung, um damit abzuschließen, dürfte, soweit es sich auf Gegenseitigkeit richtete, ebenfalls weder auf indischer noch auf deutscher Seite befriedigt worden sein: Die Deutschen fanden bei den Indern nicht die erwartete Sympathie, die Inder fühlten sich enttäuscht, daß nicht alle Deutschen glühende Verehrer indischer Kultur sind.

Obgleich diese Zusammenstellung keinen Anspruch auf Vollständigkeit erhebt, zeigt sie doch, daß eine Fülle von Grundbedürfnissen der Deutschen wie der Inder in Rourkela nicht oder nicht hinreichend befriedigt werden konnte. Eine derartige Nichtbefriedigung wird als Frustration bezeichnet. (Die teilweise für Frustration benutzte deutsche Übersetzung „Versagung" erscheint wesentlich schwächer, weniger umfassend.) Ein amerikanisches Lexikon für Soziologie erläutert Frustration als: „Emotional tension produced by failure to attain a desired goal or to terminate an act succesfully . . . Mitscherlich schreibt: „Frustration heißt unfreiwillige Entbehrung; diese erweckt zugleich Angst und setzt Aggression zur Abwendung des Zustandes frei." An anderer Stelle sagt er: „Verzichten müssen macht feindselig." König spricht vom „FrustrationsAggressions-Schema", wenn er den gleichen Vorgang beschreibt. Frustration muß nicht zwingend Aggression hervorrufen, es sind durchaus unterschiedliche Reaktionen auf derartige Erlebnisse möglich, jedoch eine dieser Reaktionen ist Aggression. Wichtig ist auch die Feststellung, daß bei einem Deutschen wegen Nichtbefriedigung eines Bedürfnisses hervorgerufene Frustration und daraus entstandene, gegen einen Inder gerichtete Aggression nicht notwendig einen (oder mehrere)

Inder zur Ursache haben muß. Ein Deutscher kann — um im Beispiel zu bleiben — durch-aus Konflikte erleben, die weder mittelbar noch unmittelbar mit irgendeinem Inder in Zusammenhang stehen, und doch können diese Konflikte bei dem Deutschen zu Frustrationsgefühlen führen, die er in Aggression gegen einen (oder mehrere) Inder abzureagieren sucht. „Da der innere Konflikt nicht gemeistert wird . . ., nimmt die durch Frustration erzeugte Aggressivität nicht die Form der Selbstbestrafung, sondern die der Extrapunitivität an. Extrapunitivität bezeichnet den Versuch, andere Personen für das eigene moralische Ungenügen zu bestrafen." Oder anders formuliert: „Tatsächlich dienen Minderheitsgruppen immer und überall als . Blitzableiter'für Frustrationen, unter denen die Majorität aus ganz anderem Anlaß leidet . .. Eigenes Versagen, nicht bewältigtes Unglück, verletzte Eigenliebe führen zur Aggression gegen den Sündenbock..." Die Aggression kann also eine „diffuse Aggressivität sein, wie es beispielsweise das feindliche Verhalten der Rourkela-Deutschen gegenüber einem Bundestagsabgeordneten im Klub deutlich machte.

Abschließend ist festzustellen, daß feindliches Verhalten, wie es in Rourkela von Deutschen in bezug auf Inder, von Indern in bezug auf Deutsche sowie bei Deutschen unter sich beobachtet wurde, keinesfalls ausschließlich auf faktische Interessen-Konflikte oder Gruppen-Konflikte zurückzuführen sein muß, sondern vielfach durch das Frustrations-Aggressions-Schema in Verbindung mit individuellen Konflikten seine Erklärung findet.

Folgerungen

Welche Erkenntnisse, welche Folgerungen für die Zukunft, für andere, Rourkela ähnliche Situationen vermittelt die ausführliche und eindringliche Betrachtung der Rourkela-Deutsehen? Welche Aufschlüsse geben ihre Verhaltensweisen für künftige Vorhaben der deutschen Industrie oder gar der Entwicklungshilfe der Bundesrepublik Deutschland? Kann man aus den Erfahrungen mit den Rourkela-Deutschen den Schluß ziehen, daß Deutsche sich weniger für den Einsatz in Entwicklungsländern eignen als Menschen anderer Industrieländer? Oder war es nur die Größe des Rourkela-Projektes, die in Verbindung mit dem allgemeinen Arbeitskräftemangel in der Bundesrepublik Probleme im menschlichen Bereich entstehen ließen, wie sie in diesem Buche eindringlich dargestellt worden sind? War es mangelnde Vorsorge und Planung oder nicht ausreichendes Verantwortungsbewußtsein der deutschen Industriefirmen, die das Projekt Rourkela im menschlichen Bereich nicht so erfolgreich werden ließen, wie das wünschenswert gewesen wäre? Hat die Regierung der Bundesrepublik Deutschland versagt, weil sie nicht rechtzeitig erkannte, daß das Projekt Rourkela die Grenzen eines privatwirtschaftlichen Auslandsgeschäfts sprengen und zu einem Politikum werden würde? Oder kann bei aller Würdigung der in Rourkela gezeigten technischen und arbeitsmäßigen Leistungen von deutschen Technikern und ihren Familien bei einem derartigen Einsatz grundsätzlich kein anderes Verhalten, keine erfreulichere Einstellung zu Land und Leuten erwartet werden, weil sie damit ganz einfach überfordert wären?

Dies alles sind harte aber wichtige Fragen, die ihre Beurteilung teilweise bereits an ande-rer Stelle gefunden haben, deren Beantwortund aber nochmals dadurch versucht werden soll, daß Wege aufgezeigt werden, die für die Zukunft bei vergleichbaren Großprojekten ein Bessermachen ermöglichen würden. Eignung und Auswahl Wie schwer es ist, über Eignung und Auswahl von Technikern für Auslandsbaustellen allgemeingültige Aussagen zu machen, wurde bereits gezeigt. Dennoch soll hier ein beherrschender Gedanke nochmals herausgestellt werden: die charakterliche Eignung kann auch für einen Techniker hinsichtlich seiner erfolgreichen Tätigkeit auf einer Baustelle im Entwicklungsland wichtiger sein als der Nachweis überragender technischer Perfektion! Im übrigen dürfte Rourkela die Erkenntnis deutlich gemacht haben, daß unter Arbeitsmarktverhältnissen, wie sie gegenwärtig in der Bundesrepublik Deutschland bestehen, die Berücksichtigung entsprechender Eignung und die damit verbundene strenge Auswahl jeweils abhängig ist von der Größe des geplanten Auslandsprojektes. Um auch einige Einzelerfahrungen aus Rourkela nochmals zu erwähnen und zu berücksichtigen, sei auf die unbedingte Notwendigkeit des Nachweises der Tropentauglichkeit eines jeden einzelnen, auch jeden mitreisenden Familienmitgliedes, hingewiesen. Desgleichen sei die Empfehlung, Baustellenpersonal weitgehend mit Ehefrauen ausreisen zu lassen, auch wenn wohnungsmäßige, kalkulatorische oder andere Gesichtspunkte dagegen sprechen sollten, nochmals wiederholt.

Die Frage der Sprachkenntnisse sollte immer ein wichtiges Kriterium für Eignung und Auswahl sein. Die jüngere Literatur, die sich mit Fragen der Entwicklungshilfe befaßt, scheint sich ganz allgemein über die sprachliche Unzulänglichkeit derer, die in Entwicklungsländer gehen, durchaus klar zu sein und untersucht zum Teil die Möglichkeiten einer Abhilfe. Auf einer Tagung der Deutschen Stiftung für Entwicklungsländer wurde 1962 ausgeführt, auch in Unterhaltungen mit Vertretern junger afrikanischer Staaten zeige sich immer wieder, welchen großen politisch-psychologischen Effekt ausländische Fachkräfte bei Einheimischen erzielen, wenn sie nur einige wenige Höflichkeitsfloskeln in der jeweiligen Landessprache sagen können. Auch Drascher berichtet aus eigener Erfahrung, wieviel wärmer der Ton einer Unterhaltung in Entwicklungsländern wird, wenn der Besucher die dortige Sprache nur einigermaßen beherrscht: Aus einem Fremden wird er „zu einem willkommenen Gast, denn diese Kenntnis der anderen Sprache ist ein Beweis der Achtung, welche die Stimmung von vornherein auflockert." Alsdorf bekräftigt die Dringlichkeit der Sprachausbildung auch von wissenschaftlicher Seite. Er stellt fest, daß infolge der Dringlichkeit des vorhandenen Bedarfs zwar nicht an eine gründliche Sprachausbildung im wissenschaftlichen Sinne gedacht werden könne; sondern zugunsten eines fragmentarischen Sprachwissens auf jeglichen Perfektionismus verzichtet werden sollte. „Hauptakzent ist auf die Errichtung von Schnellkursen zu legen, die grundlegende, den jeweiligen Bedürfnissen entsprechende Sprachkenntnisse vermitteln. Schon in kurzer Zeit (ca. 14 Tage bis 6 Wochen) lassen sich wesentliche sprachliche Vorbereitungen erreichen." Damit rückt das Sprachproblem in den Bereich, der sich chronologisch an die Fragen von Eignung und Auswahl anschließen sollte: die Vorbereitung von Fachkräften auf ihren Einsatz im Entwicklungsland. Vorbereitung Auf die Bedeutung der Sprachkenntnisse ausländischer Techniker im Entwicklungsland weist ein schweizer Firmenvertreter eindringlich hin, indem er sagt: „Ich weiß aus eigener Erfahrung, wie die russischen und zum Teil auch die tschechischen und chinesischen Experten uns hier überlegen sind, aber wir können unsere Leute nicht zwingen, wir können nicht kommandieren, daß man in einem Jahr chinesich lernt. In Moskau ist dies möglich, aber in Bern glücklicherweise nicht."

Nichtsdestoweniger sollte für die Vorbereitung eine Möglichkeit gefunden werden, im erwähnten Sinn die herausgehenden Techniker auch sprachlich auszubilden. Dies erscheint um so sinnvoller, als jede erfolgreiche Vorbereitung sich ohnehin nicht in einem sieben-oder zehntägigen Kursus vor der Ausreise erschöpfen sollte, sondern — wie später noch zu behandeln sein wird — ihre Krönung erst durch Fortsetzung und Nachbetreuung am Einsatzort erfährt. Wieweit eine derartige Sprach-ausbildung sich auf die Vermittlung solider Sprachkenntnisse in einer der Hauptfremdsprachen (Französisch, Englisch, Spanisch) oder aber nur auf ein Minimum von 50 bis 200 für den täglichen Umgang dringend notwendigen „Brocken" einer dieser oder sonstiger Landessprachen beschränkt, muß von Fall zu Fall entschieden werden. Aus den Erfahrungen in Rourkela kann überdies angeführt werden, daß ein regelrechter Sprachunterricht in der Vorbereitung wie auch in der Fortsetzung am Einsatzort eine geschickte pädagogische Ausrichtung auf die Augenblicksanforderungen der Baustelle haben sollte. Wenn der Lernende von Stunde zu Stunde merkt, daß er in der unmittelbaren Auswirkung am Arbeitsplatz, beim Einkäufen etc. sichtbare Fortschritte macht, immer neue Worte und Kenntnisse anzuwenden vermag, so wird ihn dies in seinem Lerneifer erheblich beflügeln. Jede Vorbereitung von ausreisendem Personal sollte von den entsendenden Stellen auf das sorgfältigste durchdacht und vorgeplant werden, wenn sie nicht — was ohne Zweifel noch richtiger ist — den dafür bereits bestehenden und spezialisierten erfahrenen Institutionen (Deutsche Stiftung für Entwicklungsländer, Haus Rissen, kirchliche Einrichtungen etc.) übergeben wird. Zu einer derartigen Voraus-planung gehört eine genaue Kenntnis der am Einsatzort zu erwartenden Verhältnisse. Es muß Aufgabe der Vorbereitung sein, von dem möglicherweise zu erwartenden Schock bei der ersten Begegnung mit allem Fremden und Neuen bereits einen möglichst großen Teil vorwegzunehmen. Dies wird nachdrücklich nur funktionieren, wenn die Informationen und Vorbereitungen präzise, sachlich und eindringlich genug waren.

Es sollte allmählich den entsendenden Firmen die Bedeutung entsprechender Vorbereitungskurse nachdrücklich klar werden. Vor allem erscheint es an der Zeit, daß auch die beiden von der Vorbereitung bisher weitgehend ausgenommenen Gruppen, Ehefrauen und Vorgesetzte, miteinbezogen werden. Welche besondere Bedeutung den Verhaltensweisen der Ehefrauen zukommt, ist an anderer Stelle schon hinreichend ausgeführt worden; daß die Bauleiter oder sonstigen Vorgesetzten über die Verhältnisse und Probleme im fremden Land am besten Bescheid wissen sollten, um in entsprechenden Situationen ihre Mitarbeiter richtig beraten und aufklären zu können, liegt auf der Hand. Derartige Erkenntnisse werden gegenwärtig jedoch keineswegs von allen deutschen Firmen, die Personal in Entwicklungsländer entsenden, aufgegriffen und entsprechend ausgewertet. In den Vorbereitungskursen für Roukela wurden beispielsweise noch keineswegs alle nach dort ausreisenden Deutschen erfaßt. In den Zahlen der Deutschen Stiftung für Entwicklungsländer dürfte nur ein Bruchteil aller Rourkela-Deutschen jener Zeit enthalten sein:

Im Jahre 1961 27 Kursteilnehmer Im Jahre 1962 24 Kursteilnehmer Im Jahre 1963 93 Kursteilnehmer Im Jahre 1964 (1. Halbjahr) 12 Kursteilnehmer Mit 35 Mitgliedern des Betriebs-Personals, die derartige Vorbereitungskurse durchlaufen hatten, wurden, nachdem sie bereits einige Monate in Rourkela waren, im Dezember 1963 Kontrollgespräche geführt, die im großen ganzen den Wert der Vorbereitung bewiesen. Die Befragten äußerten sich alle positiv zu den durchlaufenen Kursen und bestätigten, daß ihnen die dort vermittelten Kenntnisse in zahlreichen Situationen sehr geholfen hätten. Besonders erwähnt wurde die durch sachliche Schilderung in Deutschland — allerdings nur teilweise — abgemilderte „Schockwirkung" durch den ersten Eindruck von Elend und Armut in Calcutta. übereinstimmend bestätigten die Befragten die Notwendigkeit, auch die mitreisenden Ehefrauen zu den Kursen einzuladen und den Stoff der Vorbereitung möglichst auf das praktische Zusammenleben, Arbeitsverhalten, Lebensführung in Rourkela etc. abzustimmen. Die Vorbereitung sollte sich jedoch keineswegs in der Behandlung derartiger Fragen erschöpfen, sondern den hinausgehenden Deutschen über die Information und Vermittlung von Sprach-und Alltagskenntnissen hinaus auch einen Einblick in die Problematik der Entwicklungshilfe im Zusammenhang mit der Bedeutung der Entkolonisierung und anderen aktuellen politischen Fragestellungen vermitteln. Die Vorbereitung von Menschen, die in ein Entwicklungsland gehen, kann gar nicht realistisch genug kein. Zu diesem Realismus gehört es auch, die hinausgehenden Techniker über die in der Bundesrepublik Deutschland vielerorts übliche, unglückliche Verquickung von Auslandsgeschäft, Entwicklungshilfe, Völkerfreundschaft und gleicher politischer Einstellung aufzuklären und mit der Vorstellung aufzuräumen, daß Entwicklungshilfe ein „Liebesdienst" ist, der nur an „Freunde" geleistet werden sollte. Es geht auch nicht an, deutsche Techniker in der Erwartung ausreisen zu lassen, sie würden im Entwicklungsland überall von vorneherein mit offenen Armen als gern gesehene Helfer begrüßt. Vielmehr sollte in aller Sachlichkeit auf solche Beurteilungen hingewiesen werden, wie sie beispielsweise der scheidende indische Botschafter Tyabji 1961 über „die" Deutschen abgab, indem er sie als „träge, egozentrisch, verantwortungslos und unwillig zu wirklicher Hilfe für die Not der Welt" bezeichnete. Es sollte zu einer richtigen Vorbereitung gehören, die Frage zu diskutieren, wie der einzelne Deutsche den Problemen der Entwicklungsländer gegenübersteht und was er selbst außerhalb dessen, wofür er in der Regel unverhältnismäßig hoch bezahlt wird, zu leisten bereit ist. Ganz allgemein wird den Deutschen nicht immer zu Unrecht aus den Reihen der Entwicklungsländer vorgeworfen, daß sie hinsichtlich des Elends und der Problematik dieser Länder kein wirkliches Engagement beweisen. Für diese Haltung des einzelnen wie der Gesamtheit trifft zu, was Weiß im Hinblick auf Indonesien schreibt: „Die Bundesdesrepublik tritt auf als ein Handelsland, als ein Warenhaus, reich bestückt mit Gütern des Konsums, pünktlich, preiswert und kulant, doch vor allem interessiert am Profit. Es gibt viele Beobachter, die meinen, daß wir damit auf die Dauer kein gutes Geschäft machen werden."

Realismus ist auch gegenüber der Bevölkerung in Entwicklungsländern ange! acht. So sollte in ähnlicher Weise überlegt werden, wie man die zukünftigen einheimischen Kollegen und Counterparts der deutschen Techniker auf bestimmte Eigenheiten im deutschen Arbeitsverhalten und über typische deutsche Lebensweisen aufklären könnte. Wenn dies gelänge, würde sicherlich einer großen Anzahl von Mißverständnissen von vornherein die Spitze genommen und könnten unliebsame Überraschungen vermieden werden. Das Stereotyp-Denken, wie es früher bereits charakterisiert wurde, ist zweifellos auf beiden Seiten gleich stark. Die Frage, ob man einmal entstandene „Charakterbilder" ethnischer Gruppen durch Andersinformation, Richtigstellung und allgemeine Aufklärung korrigieren oder eliminieren kann, wird in der Literatur sehr unterschiedlich, eher negativ als positiv, beantwortet. Hartley führt aus: „Der Mensch hat die Tendenz, alles, was sich in sein emotionales Schema nicht einfühlen will, einfach zu übersehen; dagegen wird alles betont, was sich mit diesem Schema verträgt und es stützt. Versucht man die Aufmerksamkeit der Menschen auf Tatsachen zu lenken, die die Irrigkeit emotional getragener Ansichten beweisen, so riskiert man eine heftige Abfuhr, unter Umständen sogar Schmähungen oder die Argumente werden als bedeutungslos abgetan. In unserer Gesellschaft geschieht dies zum Beispiel häufig, wenn man starken ethnischen Vorurteilen mit Argumenten begegnet, die sich auf Tatsachen stützen. Auf diese Weise wird die ursprüngliche emotionale Tendenz fortlaufend gefördert." Gehlen weist auf die gleiche Problematik hin.

Trotzdem fehlt es nicht an gewichtigen Stimmen, die dafür sprechen, durch Aufklärung etwas gegen die unsinnigen Stereotypen zu tun. Infolge ihrer Starrheit, Allgemeinheit und relativen Unfaßbarkeit werden präventive Maßnahmen sinnvoller sein als der Versuch, gegen bestehende Stereotype anzugehen. Ein interessantes — sicherlich begrüßenswertes — Experiment wird aus England berichtet, wo man ausgewählte intelligente Leute aus Nigeria als Lehrer für weiße und gemischte Schulen einsetzte, um rassischen Vorurteilen, Fehlinformationen etc. auf diese Weise schon bei oder vor ihrer Entstehung entgegenzutreten.

Ganz allgemein kann gesagt werden, daß Information, Aufklärung und alles, was dem Verständnis und der Kenntnis über fremde (ethnische) Gruppen dient, dem Stereotyp entgegenwirken wird — je früher, desto wirkungsvoller. Das gilt für jegliche vorbereitende Information im Rahmen des allgemeinbildenden Schulwesens, der Erwachsenenbildung und ganz besonders hinsichtlich der Bemühungen der länderkundlichen Vorbereitung von Fachkräften für Entwicklungsländer.

In der Analyse der Verhaltensweisen der Rourkela-Deutschen wurden im Hinblick auf die Problematik der Anpassung drei besonders „neuralgische" Punkte herausgearbeitet. Es handelt sich um das erste Erleben indischer Elendsverhältnisse unmittelbar nach dem Eintreffen in Calcutta, der Schwierigkeit der ersten Eingewöhnung in den Rourkela-Alltag und die Konfrontierung des voller guter Vorsätze und neuer Ideen soeben eingetroffenen „Neuen" mit den sogenannten „alten" Rourkela-Deutschen. Um diese drei. Anpassungshemmnisse leichter und im Hinblick auf die späteren Verhaltensweisen vorteilhafter überwinden zu können, sollte die vor der Ausreise durchgeführte Vorbereitung auf den Einsatz in Rourkela lediglich als ein Anfang betrachtet werden, während die Fortsetzung dieser Vorbereitung unter Einschluß der Betreuung bei der Ankunft in Calcutta und Rourkela sowie einer gezielten „Hilfestellung" bei der Begegnung mit den „Alten" an Ort und Stelle zu erfolgen hat. Eine Vorbereitung in einer Größenordung wie in Rourkela wird also erst dann wirklich sinnvoll sein, wenn sie nahtlos in die Betreuung übergeht, die am Einsatzort für die dort tätig werdenden deutschen Techniker und ihrer Familien tunlichst aufzubauen ist.

Betreuung Das Beispiel des German Social Centre, das in Rourkela für kulturelle, soziale und medizinische Betreuung aller Deutschen im weitesten Sinne verantwortlich war, hat die Bedeutung, die Vielfalt, aber auch die Schwächen und Gefahrenpunkte, die mit einer derartigen zentralen Institution verbunden sind, vorzüglich erkennen lassen.

Oberster Grundsatz jeglicher Betreuung von Deutschen im Entwicklungsland sollte vorab die Klärung der Frage sein, ob und wie weit eine derartige Betreuung unter Einbeziehung der einheimischen Bevölkerung ermöglicht werden kann. Jede Betreuung wird über kurz oder lang erhebliche Probleme mit sich bringen, die keineswegs allein auf dem Gebiet der Versorgung des deutschen Personals mit Dienstleistungen oder Gütern liegen, sondern vielmehr in deren Isolierung von den Einheimischen und ihrer Umwelt. Der Kern einer solchen Betreuungsarbeit sollte von erfahrenen, entsprechend ausgebildeten, hochquali22 fizierten Fachkräften (Sozialarbeiter) geleistet werden. Alle in Frage kommenden Bereiche müssen von ihnen „abgedeckt" sein. Dennoch hat das Beispiel der Rourkela-Deutschen deutlich gemacht, daß — speziell wenn es sich um eine große Anzahl von Deutschen handelt — über den Einsatz hauptberuflicher Betreuer hinaus auch eine gewisse Selbsthille innerhalb der deutschen Gruppe mobilisiert werden muß. Es ist gezeigt worden, daß ein „gegenseitiges In-Zucht-Halten" innerhalb der deutschen Gruppe nicht erwartet werden kann und daß auch eine Einflußnahme auf die schon vorhandene, geprägte Gesamtheit über einzelne Gutwillige, etwa gar Neuhinzugekommene, meistens unwirksam ist. Die Frage, welche Möglichkeiten der Einflußnahme auf die große deutsche Gruppe es im Rahmen einer Selbsthilfe geben kann, beantwortet vielleicht eine Anregung, die Bahrdt einmal zur Verbesserung des Gemeinwohls und verantwortlichen Gemeinschaftsbewußtseins in der Stadt sowie zur Hebung des allgemeinen Niveaus von Stadtgemeinden entwickelt hat und die analog auf Rourkela Anwendung zu finden vermöchte. Bahrdt fordert, die oberen Schichten müßten sich mehr um die städtischen Angelegenheiten kümmern, und „wer sollte dies sein, wenn nicht die Ärzte, Lehrer, die Volkswirte, die Ingenieure und die gesellschaftskritischen Intellektuellen, die alle von ihrem Fachgebiet her einen Zugang finden können, wenn sie sich darum bemühen." In Rourkela war es tatsächlich so, daß die „oberen Schichten", die Bauleiter, die Ingenieure, Pfarrer, Lehrer, Ärzte und Kaufleute sich dort, wo sie die große Gruppe der Monteure allabendlich treffen konnten, „um einen Zugang zu ihnen zu finden", nämlich im Klub, wenig sehen ließen. Sie hatten tagsüber mit den Männern genug zu tun — vielleicht auch genug Ärger — gehabt, sie wußten, daß im Klub ein rüder, unerfreulicher Ton herrschte. Warum sollte man sich dem aussetzen? Was sie vielleicht nicht beachteten und was für zukünftige Fälle von besonderer Bedeutung erscheint, ist, daß sie damit den Abstand zu den Männern und die Unmöglichkeit einer Einflußnahme verschärften und vertieften. König beschreibt in seiner Gemeindeuntersuchung diesen „self-fulfilling prophecy" genannten Zirkelschluß: „Unter dem Druck der Minderbewertung von . oben'reagieren die Unterklassenleute grob und aggressiv, was von denen oben’ erst recht als Beweis für die Wahrheit ihrer Unterstellungen benutzt wird." Und doch erscheint eine gezielte Einflußnahme der „oberen Schichten", ihre Beteiligung am Gemeinschaftsleben, als der einzig gangbare Weg: Bauleiter, Ingenieure, Lehrer, Pfarrer, Ärzte, ihnen allen muß bei künftigen Projekten die dringende Empfehlung, noch besser sogar, die vertragliche Verpflichtung mitgegeben (und dazu selbstverständlich die zeitliche und arbeitsmäßige Möglichkeit eingeräumt) werden, sich zusätzlich zu den hauptberuflichen Betreuern regelmäßig um die deutsche Gruppe zu kümmern. Lenkbar wird sich diese jedoch nur erweisen, wenn eine solche Betreuung regelmäßig geschieht. Die Erfahrung aus Rourkela zeigte, daß der gelegentliche Versuch eines einzelnen Bauleiters, also eines Mannes, der sich auf eine gewisse Arbeitgeberfunktion sowie auf eine Firmendisziplin stützen konnte, beispielsweise in der Krisensituation beginnender Ausschreitungen über einen „seiner Leute" Einfluß auf die Gruppe (unterschiedlicher Firmenangehörigkeit) zu bekommen, sich häutig als Fehlschlag erwies. Mochte es sich auch um „seinen besten Mann" handeln und mochte dieser auch unter seinen Kollegen noch so beliebt sein, sein Einfluß auf die Gesamtheit der Kollegen war in solchen Situationen minimal. Mitscherlich erklärt eine solche Situation, indem er schreibt: „Der drohende Verlust des Gruppenkontaktes ist ein erschrekkendes Erlebnis und löst panische Angst und jede erdenkliche Anstrengung aus, die Übereinstimmung wiederzufinden — nicht nur die zu einer besonnenen Kontrolle der Lage. Der Konflikt des Individuums, das die Verhaltensweise der anderen nicht billigt, würde durch solche Besonnenheit nur noch verstärkt werden. Die freiwillige Isolierung von der Gruppe . . ., mindestens die Enthaltsamkeit von affektiven Erregungen, in denen sie sich befindet, gehört offenbar zu den allerschwersten Kontrolleistungen des Idis. Die mittelalterliche Strafe der Achtung zeigt, daß die Gefahr, die dem Individuum bei Verlust der Gruppen-zugehörigkeit droht, Tod heißt."

Das Erwecken von positiven Eigenkräften im Sinne einer Gestaltung des Lebens innerhalb der deutschen Gemeinschaft erschöpft sich jedoch keineswegs in der Einbeziehung des vorerwähnten Personenkreises in die allgemeine Betreuung. Es muß vielmehr darüber hinaus den hauptamtlichen Betreuern und ihren Helfern gelingen, aus einer Mobilisierung positiver demokratischer Kräfte innerhalb der deutschen Gruppe Hilfsquellen zu erschließen. Warum sollte es nicht einmal möglich sein, funktionsfähige Kontroll-und Aktionskomitees aus den Reihen der deutschen Gemeinschaft für einen Teil der Aufgaben, die im Bereich von Betreuung, Selbstverwaltung, Disziplinargerichtsbarkeit, Freizeitgestaltung etc. liegen, zu gewinnen? Ihre Koordinierung mit den Interessen und Erfordernissen der Bau-leitungen sowie der hauptamtlichen Betreuer wäre von Fall zu Fall neu zu durchdenken und zu planen. Ohne eine solche Koordinierung werden derartige Gremien — auch das hat die Rourkela-Erfahrung gezeigt — nicht lange und auch nicht immer zufriedenstellend funktionieren. Mangelnde Kontinuität infolge schnellen Wechsels des Personals, ungleichmäßige Anforderungen durch Arbeit und ungewohnte Klimaschwankungen, unzulängliche Kenntnisse von Land und Leuten sowie eine Reihe anderer Tatbestände können hierfür als Begründung angeführt werden. Auch sollte nicht übersehen werden, daß die deutsche Gruppe auf einer Auslandsbaustelle keineswegs mit einem Querschnitt der Bevölkerung der Bundesrepublik Deutschland gleichgesetzt werden kann.

Ein anderer, wichtiger Teilaspekt der Betreuungsarbeit innerhalb einer deutschen Gruppe beim Einsatz im Entwicklungsland ist die direkte Wirkung oder indirekte Ausstrahlung dieser Arbeit auf die einheimische Bevölkerung. Wer beispielsweise für eine deutsche Gruppe Filmvorführungen organisiert oder ermöglicht, sollte sich darüber klar sein, daß dies nicht geschehen kann, ohne die eminente Bedeutung einer — positiven oder negativen — Wirkung deutscher Filme auf einheimische Zuschauer zu berücksichtigen. Ähnliche Überlegungen müssen Platz greifen, sobald das Projekt einer deutschen Schule zur Diskussion steht. Auch wenn es sich nur um eine dem Augenschein nach vorübergehende schulische Notlösung für deutsche Kinder aus dem Baustellenbereich handelt, muß die Überlegung geprüft werden, ob nicht eine Gemeinschaftsschule (Begegnungsschule), die auch von einheimischen Kindern besucht werden kann, wegen der Vermeidung der Abkapselung der Deutschen und vielleicht noch mehr wegen der wichtigen kulturellen und anderweitigen Auswirkungen auf die örtliche Bevölkerung vorzuziehen ist. Noch günstiger mag in manchen Fällen die Eingliederung eines deutschen Schulteils in eine vorhandene einheimische Schule sein.

Öffentlichkeitsarbeit Weitergehende Überlegungen hinsichtlich der Auswirkung der Arbeit und der Anwesenheit deutscher Menschen auf einer Baustelle im Entwicklungsland leiten bereits über in das Gebiet der sogenannten Öffentlichkeitsarbeit. Wie bereits früher ausgeführt wurde, soll an dieser Stelle nicht der ganze, für die Arbeit in Entwicklungsländern so bedeutschame Komplex der Öffentlichkeitsarbeit diskutiert werden. Man kann selbstverständlich nicht in Abrede stellen, daß die Information über Entwicklungsländer in der Bundesrepublik sowie die Vermittlung von Kenntnissen über die Bundesrepublik Deutschland und ihre Menschen in den Entwicklungsländen Bestandteil jener Öffentlichkeitsarbeit ist, die im Zusammenhang mit den Fragestellungen und Aussagen dieses Buches im weiteren Sinne von Wichtigkeit sind. Und doch interessieren hier mehr die speziellen Fragen, die im direkten Zusammenhang stehen mit dem Projekt, um derentwillen eine große Anzahl deutscher Techniker im Entwicklungsland tätig ist. Diese auf ein bestimmtes Projekt und dessen Wirkungen ausgerichtete, gezielte Öffentlichkeitsarbeit hat im Falle Rourkela von deutscher Seite viel zu spät und dann anfänglich mit wenig tauglichen Mitteln eingesetzt. Wie aus den Beispielen Bhilai und Durgapur erhellte, muß die gezielte Öffentlichkeitsarbeit in Verbindung mit einem derartigen Projekt bereits zu einem Zeitpunkt einsetzen, an dem noch keinerlei Montage-arbeiten begonnen wurden, also bevor die ersten ausländischen Techniker auf der Baustelle eingetroffen sind.

Für spätere ähnlich gelagerte Fälle brauchen erfreulicherweise jedoch nicht allein die Sowjetrussen und die Engländer zum Vorbild gestempelt werden. Die Art und Weise, wie in Verbindung mit dem Projekt Rourkela im Verlaufe der späteren Aulbaujahre und auch nach der Inbetriebnahme des Werks von einigen beteiligten Firmen, die sich über den schlechten Ruf des deutsch-indischen Gemeinschaftsprojektes in der Öffentlichkeit Gedanken zu machen'begonnen hatten, gezielte Öffentlichkeitsarbeit zugunsten Rourkelas in Indien sowie auch in der Bundesrepublik gemacht wurde und noch heute gemacht wird, ist durchaus beispielhaft und kann sowohl vom Aufbau der Trägerorganisation als auch von der Systematik der Arbeit her als Muster für zukünftige vergleichbare Vorhaben bezeichnet werden. Bedeutungsvoll bleibt daher vor allem die Forderung, sich rechtzeitig der Aufgaben, auch auf dem Gebiet der Öffentlichkeitsarbeit, zu besinnen und die Verantwortung für eine sinnvolle Planung sowie den richtigen Einsatz der Mittel zu übernehmen. Wird das bei einem neuen großen deutschen Projekt im Entwicklungsland gelingen?

Fussnoten

Weitere Inhalte

Jan Bodo Sperling, Dr. rer. pol., geb. 1928 in Braunschweig. Nach Abitur vierjährige Berufsausbildung in Handwerk und Industrie (Gesellenbrief, Facharbeiterbrief), Studium der Wirtschaftswissenschaften; von 1956— 58 Geschäftsführer eines Großhandelsunternehmens, dann bis 1962 erst Mitarbeiter, später Leiter des „German Social Centre" in Rourkela; seit Mai 1962 wissenschaftlicher Assistent im Institut für Politische Wissenschaften an der Technischen Hochschule Aachen.