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Die Exil-Ideologie vom „anderen Deutschland" und die Vansittartisten Eine Untersuchung über die Einstellung der deutschen Emigranten nach 1933 zu Deutschland | APuZ 2/1970 | bpb.de

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Die Exil-Ideologie vom „anderen Deutschland" und die Vansittartisten Eine Untersuchung über die Einstellung der deutschen Emigranten nach 1933 zu Deutschland

Joachim Radkau

/ 42 Minuten zu lesen

Vorbemerkung

Zur Zeit wird die Emigration aus Deutschland nach 1933-einschließlich der aus Österreich nach dem „Anschluß" von 1938 — eine Flucht-bewegung, die eine fast unübersehbare Zahl bedeutender Geister umfaßte — immer mehr als ein Vorgang von großer Tragweite gewertet. Der große Aderlaß für die deutsche Wissenschaft und Publizistik ist offensichtlich; in welcher Weise das Ausland durch die Emigration eine geistige Erweiterung erfuhr und welcher Art die „Emigranten-Einflüsse" sind, ist dagegen schwerer zu ermitteln. Wenn der Umfang der bisherigen Literatur über die Emigration kaum deren Bedeutung entspricht, so ist der Hauptgrund wohl darin zu suchen, daß es sich bei der Emigration um ein höchst uneinheitliches Phänomen handelt, dessen wissenschaftliche Beschreibung und Einordnung in die Zeitgeschichte auf grundsätzliche Schwierigkeiten stößt. Es gab die politische, die literarische, die akademische, die wirtschaftliche Emigration, jeweils untereinander mehr oder weniger zerspalten, sofern im Exil überhaupt Gruppenbindungen aufrechterhalten wurden; ohnehin war der größte Teil der Emigration nicht politisch, sondern „nur rassisch" bedingt. Der Gegensatz zwischen Kommunisten und mit dem Kommunismus Sympathisierenden einerseits und den dezidierten Nichtkommunisten andererseits wurde im Exil vielfach schärfer als je zuvor. Hinzu kam die räumliche Zersplitterung der Emigration, die sich erneut verstärkte, als Prag und Paris, die ersten Zentren der Exilierten, von der NS-deutschen Expansion überrollt wurden. Fast die Hälfte der über 300000 Emigranten fand schließlich in den USA eine neue Heimat.

In den USA trat die Exilpolitik in den Hintergrund. Dort war es der 1933 emigrierte Theo-31 loge Paul Tillich, der — im Verein mit Mitgliedern der linkssozialistischen Gruppe „Neu Beginnen" — eine Vertretung des politischen Exils zu installieren suchte, die alle großen politischen Richtungen umfaßte: das Council for a Democratic Germany (1944/45). Aber dieses Council erlangte keine repräsentative Stellung: Thomas Mann, der zeitweise als geistiger Führer des Exils galt, hielt sich fern; eine distanzierte bzw. schroff ablehnende Stellung bezogen die beiden führenden New Yorker Emigranten-Zeitschriften: der liberale jüdische „Aufbau" und die rechts-sozialdemokratische „Neue Volkszeitung" — ersterer wegen Unklarheit des Council-Manifestes in der Wiedergutmachungsfrage, letztere wegen der Beteiligung von Kommunisten (namentlich Bert Brecht) am Council.

Die heftigsten Angriffe auf das Council kamen von einer grundsätzlich antideutsch eingestellten, zahlenmäßig schwachen Gruppe von Emigranten und Amerikanern, die von ihren Gegnern „Vansittartisten" genannt wurden, da eine entsprechende Richtung im englischen Exil zunächst als Verteidiger von Lord Vansittart an die Öffentlichkeit getreten war. In der bisherigen Literatur richtete sich die Aufmerksamkeit vornehmlich auf die englischen „Vansittartisten", wodurch der irrige Eindruck entstand, als sei der „Vansittartis-mus" vor allem eine Angelegenheit der sozialdemokratischen Emigration gewesen. In der vorliegenden Untersuchung stehen die Auseinandersetzungen unter den New Yorker Emigranten im Vordergrund. Zunächst wird auf die partielle Gegenposition zum „Van-sittartismus" eingegangen: die, wie es scheint, besonders unter den Emigranten verbreitete, aber auch sonst anzutreffende Vorstellung vom „anderen Deutschland".

Das Problem des Selbstverständnisses der Emigration

Eine — wie auch immer geartete — Repräsentation der Emigranten herzustellen, war nicht nur eine rein praktische Aufgabe, sondern setzte bei den Emigranten zunächst ein Gruppenbewußtsein voraus, eine Grundverständigung darüber, als was man sich ansehen wollte. Charakteristisch für diese Emigration war jedoch eine Desorientiertheit in dem Punkt, als was man sich miteinander solidarisch empfinden sollte. Es standen zu viele verschiedene Solidaritäts-Schemata zur Verfügung: Solidarität als Juden, als amerikanische Immigranten (vgl. die Namensänderung von „German-Jewish Club" in „New World Club"), als Antifaschisten, als Opfer des Totalitarismus, oder — im Ausland gefühlsmäßig naheliegend — als Deutsche. Nur unter Annahme der letztgenannten Solidarität war Exil-politik möglich. Für die Emigranten aus den von Deutschland eroberten Ländern war das Verhältnis zum Heimatland normalerweise kein Problem; als Ausnahme wären etwa die emigrierten polnischen Juden zu nennen, die feststellen mußten, daß auch die polnische Widerstandsbewegung und Emigration vom Antisemitismus nicht frei war. Die nichtdeutschen Flüchtlinge konnten sich im Exil ohne weiteres — wenn auch nicht unbedingt mit Berechtigung — als Sprecher ihres unter Fremdherrschaft stehenden Volkes ansehen.

Für die deutschen Emigranten dagegen war es ein Problem, wie sie sich noch als Repräsentanten ihres Landes ansehen konnten; denn sie waren von einer Regierung vertrieben worden, hinter der die stärkste Partei, in der Folgezeit vielleicht sogar die große Mehrheit ihres Volkes stand. Auch gab es offensichtlich Traditionen in der deutschen Geschichte, die das Aufkommen des Nazismus gefördert hatten und möglicherweise sogar in ihm ihre zeitgemäße Verkörperung fanden.

Die Emigranten hatten allen Grund, ihr eigenes Volk als Feind anzusehen; und wenn viele von ihnen vor dieser Konsequenz zurückschreckten, so konnten sich die „Van-

sittartisten" als die Realisten unter den illusionsbereiten Emigranten empfinden. Sogar für die russischen Flüchtlinge nach der bolschewistischen Revolution war es in dieser Beziehung psychologisch noch erträglicher als für die deutschen Emigranten nach 1933, denn sie konnten sich — zumindest noch viele Jahre lang — in der Zuversicht ergehen, daß ihre bolschewistischen Gegner nicht die Masse des russischen Volkes repräsentierten, weil sie die Macht nur durch einen Bürgerkrieg hatten erringen können.

Ebenso unterschied sich ein Teil der russischen Emigration, und auch beispielsweise die spanischen Republikaner, von den deutschen Emigranten durch die Genugtuung, die eigenen Stellungen immerhin nicht kampflos aufgegeben zu haben. Daß man nicht einmal versucht hatte zu kämpfen, daß man überhaupt keine Möglichkeit gesehen hatte, dem Sieg der NS-Bewegung gewaltsamen Widerstand entgegenzusetzen, war zusätzlich deprimierend für die deutsche Emigration. Daß man nicht Deutschland schlechthin repräsentierte, war ziemlich klar; aber unter den gegebenen Umständen war es sogar ein Problem, nachzuweisen, daß man überhaupt „ein" Deutschland repräsentierte, d. h. eine, wenn auch einstweilen unterlegene und niedergehaltene Strömung der deutschen Geschichte. Die russischen Emigranten hatten den Nachweis gar nicht nötig, daß sie ein „anderes Ruß-land" darstellten: denn daß sie gegenüber dem Bolschewismus einen Hauptstrom der russischen Geschichte repräsentierten und daß ihr zaristisches, orthodox-religiöses Rußland eine andere Welt war als der Sowjetstaat, bedurfte keiner Erläuterung. Ein deutscher Emigrant, der Kinderpsychiater Erich Stern, stellte 1937 in Frankreich, dem Hauptaufnahmeland der russischen Emigration, fest: „Viele der Emigranten betrachteten sich als die eigentlichen Vertreter der heimischen Kultur. Das gilt besonders von den russischen Kreisen, die einen viel engeren Zusammenhang haben als viele der deutschen Emigranten." überspitzt kann man sagen, daß sich die deutschen Emigranten das Deutschland, für das sie standen, erst erfinden mußten.

Das „andere Deutschland": die Weimarer Republik?

Die Emigration mußte sich auf irgendeine Weise mit dem Deutschland vor 1933 identifizieren; aber wie sah das Deutschland aus, das man meinte, und war das Deutschland vor 1933 überhaupt ein „anderes" Deutschland? Man sprach vom „Weimarer Deutschland" und dachte dabei nicht nur an die Weimarer Republik, sondern auch an die Weimarer Welt Goethes und Schillers; die intellektuelle Emigration konnte sich als Repräsentant des Deutschland der „Dichter und Denker" empfinden. Das war allerdings ein recht imaginäres Deutschland, von dem man argwöhnen konnte, daß es durch seine Politik-ferne dem Nazismus Vorschub geleistet habe.

Als politische Alternative zur NS-Herrschaft bot sich aus der Vergangenheit die Weimarer Demokratie an, der sich tatsächlich viele prominente Emigranten verbunden fühlen mußten: Sozialdemokraten wie Juden waren in jener Zeit erstmalig in höchste Regierungsämter aufgestiegen; den Intellektuellen war die relative Liberalität der Weimarer Zeit zugute gekommen. Aber war in der Weimarer Republik, deren eigentliche „Blütezeit" nur wenige Jahre umfaßte, wirklich ein anderes Deutschland entstanden? Aus der Rückschau nach 1933 stellte sich diese Zeit für die Emigranten leicht in etwas vergoldetem Licht dar. Aus rationaler Überlegung heraus mußte man diese Zeit aber negativ und verhängnisvoll bewerten, weil sie die Zeit des nationalsozialistischen Aufstiegs war. Rückblickend trug die Weimarer Republik das Stigma der Erfolglosigkeit, und es war teilweise eine Manier, den Exilpolitikern vorzuwerfen, daß sie als Größen der Weimarer Zeit ohnehin keine Zukunft mehr hätten.

Die führenden Gestalten der Weimarer Republik waren nicht durchweg „potentielle" Emigranten gewesen, aber im Exil konnte es scheinen, als seien nur die Letzteren die „eigentlichen" Repräsentanten der Weimarer Zeit. Für Ludwig Marcuse war die Emigration mit seiner Vorstellung von der Weimarer Republik identisch. In der Erinnerung daran, daß er in Hollywood die Emigranten, die sich schon im französischen Sanary zusammengefunden hatten, fast vollzählig wiedertraf, bemerkt er: „So lebte ich zum drittenmal in der Weimarer Republik", fügt allerdings einschränkend hinzu: „dort, wo sie am schönsten gewesen war" Der Emigrantensohn Peter Gay kritisiert zwar die Idealisierungstendenz gegenüber der Weimarer Zeit, nennt aber kurz darauf als seinem Empfinden nach typische Exponenten von „Weimar" lauter zukünftige Emigranten

Es waren im Exil vor allem die Sozialdemokraten, die die Weimarer Republik energisch verteidigten und sie mit ihren Errungenschaften als vorbildlich hinstellten, nicht nur für das zukünftige Deutschland, sondern manchmal auch für die USA. Mit der Weimarer Republik verteidigten die SPD-Führer gegen linke Kritiker ihr Verhalten von 1918/19, das aus dem Rückblick nach 1933 als besonders verhängnisvoll erschien. Allerdings besaß Weimar nicht nur für die radikale Linke, sondern auch für einen Sozialdemokraten der äußersten Rechten wie Wilhelm Soll-mann als Vorbild keine Überzeugungskraft; Sollmann hielt Friedrich Stampfers Meinung, daß „Weimar" die einigende Parole für das Exil sein müsse, für grundfalsch:

„Sie schreiben in Ihrem Programmaufsatz: , Nichts gegen die Republik von Weimar! Sie war die lichteste Stelle im bisherigen Verlauf der deutschen Geschichte.'Schon an diesem Satz muß jeder weitreichende Einigungsversuch scheitern. Was Ihnen und mir heilig ist, eben , Weimar', ist anderen, auch Sozialdemokraten, im besten Falle eine Häufung von Irrtümern, von Schwäche, von Illusionen, von persönlichen Unzulänglichkeiten."

Zahlreiche Exponenten der Emigration hatten seinerzeit zur linken Opposition gegen die „Kompromiß-Republik“ gehört; nicht allen von ihnen wurde „Weimar" als Erinnerung teuer, sondern ihr Mißtrauen gegen die herrschenden Kräfte der Weimarer Republik fand teilweise durch die Ereignisse von 1933 nur die letzte Bestätigung. Leopold Schwarzschild, in den zwanziger Jahren ein unermüdlicher Kämpfer gegen die geheime Rüstung, dachte nicht daran, angesichts des ungleich größeren Ausmaßes der Hitlerschen Aufrüstung sein Urteil über die damaligen Machenschaften zu mil-dem, sondern wurde im Exil noch erbitterter über die deutsche Politik auch vor 1933; 1935 sprach er von Weimar als einer „revanchebrütenden Pseudo-Demokratie", der gegenüber die Westmächte noch viel zu nachgiebig gewesen seien Kurt Hiller, obwohl im Exil ebensowenig wie Schwarzschild linksradikal, übertrumpfte noch die Schmähungen von rechts auf den ersten Reichspräsidenten, indem er (1950) Ebert einen „erbärmlich schlauen, bösartigen Knirps" nannte Mit schneidender Schärfe verurteilte Horkheimer die Idealisierung der Weimarer Republik:

„Die Erinnerung an die vierzehn Jahre hat mehr Reize für die Intellektuellen als für das Proletariat. . . Wenn die Juden die Vorgeschichte des totalitären Staats, Monopolkapitalismus und Weimarer Republik, in verständlichem Heimweh verklären, so behalten die Faschisten gegen sie recht. Sie haben stets ein offenes Auge für die Hinfälligkeit jener Zustände gehabt."

Aus dieser Polemik Horkheimers von 1939 geht immerhin hervor, daß die Romantisierung der Weimarer Zeit unter den Emigranten bereits gängig geworden war. Der Soziologe Karl Mannheim prophezeite, später werde man auf Weimar als auf ein „perikleisches Zeitalter" zurückblicken Wenn die Weimarer Zeit in ihrer konkreten politischen Erscheinungsform als Kultobjekt für einen Großteil der intellektuellen Emigration wenig geeignet war, so gewann ihr kulturelles Leben einen legendären Charakter. Die verschwommen-sentimentale Vorstellung von den „goldenen zwanziger Jahren" enthielt allerdings nichts Programmatisches, sondern gab gerade dem Unwiederbringlichen dieser Zeit gefühlsmäßigen Ausdruck.

Das „andere Deutschland" als das Deutschland der Dichter und Denker

Wenn Thomas Mann auf seine Weise ein Anwalt der Weimarer Republik gewesen ist und seine Sympathie für diese Republik mit den Jahren eher gewachsen als enttäuscht worden war, so war er darin nicht repräsentativ für die literarische Emigration. Heinrich Mann, der als Präsident der Sektion für Dichtkunst in der Preußischen Akademie der Künste (1930— 1933) mehr noch als sein Bruder ein öffentlicher Repräsentant des literarischen Lebens der Weimarer Zeit gewesen war und, anders als sein Bruder, bereits in Wilhelminischer Zeit dem progressiv-republikanischen Geist den Weg bereitet hatte, stand der Weimarer Republik dennoch zunehmend skeptisch gegenüber. Kurz vor Hitlers Machtantritt schrieb er: „Der nationalistische Auftrieb geschah nicht gegen die Republik, sondern mit ihr; das ist die Wahrheit, was immer sonst behauptet wird. Die Republik hat nur wenige Tage ihres Lebens anders gehandelt, als das vorige, kriegerische Reich gehandelt haben würde . . ." Nach zehn Jahren NS-Herrschaft verschärfte Heinrich Mann diese Aussage zu der vernichtenden Feststellung, daß nicht nur der Unterschied zwischen Republik und Kaiserreich gering gewesen sei, sondern auch der zwischen Republik und Hitler-Reich. Die Republik habe ja seinerzeit Hitler mit seiner Kriegshetze gewähren lassen: „Sie hätte das Geschäft selbst besorgt, wenn sie nur wagte. Es ist schnöder Undank, daß er auch gegen sie hetzte. In Wahrheit war er der Tribun der Republik." Schneidender konnte nicht die Vorstellung verworfen werden, daß die Weimarer Republik etwas mit einem „anderen Deutschland" zu tun habe.

Dabei hat gerade Heinrich Mann zu Anfang des Exils so nachdrücklich und pathetisch wie kaum ein anderer prominenter Exilierter die Emigration als das „andere", wenn nicht sogar das „wahre" Deutschland proklamiert und die Emigranten ermutigt, sich zuversichtlich als dieses Deutschland zu fühlen. 1934 schrieb er in einer Broschüre mit dem Titel „Der Sinn dieser Emigration": „Die Emigration steht für Deutschland und für sich selbst, sie enthält menschliche Werte von höherem Lebensrecht als alles, was in dem niedergeworfenen Lande sich breit machen darf . . . Sooft die Emigration öffentlich auftritt, sollte betont werden ihre Überlegenheit, viel mehr als das ihr angetane Unrecht. Zu empfehlen ist Stolz . . . Die Emigration allein darf Tatsachen und Zusammenhänge aussprechen. Sie ist die Stimme ihres stumm gewordenen Volkes. Sie sollte es sein vor aller Welt . . . Die Emigration wird darauf bestehen, daß mit ihr die größten Deutschen waren und sind, und das heißt zugleich: das beste Deutschland."

In diesem Zusammenhang scheint Heinrich Mann die Linke auch zu einer nachträglichen Revision ihrer negativen Einstellung zur Weimarer Republik aufzufordern, wenn er auch nur von der französischen Demokratie spricht. Er äußert die Hoffnung, die Emigranten, die bei der französischen Demokratie Zuflucht gefunden hätten, möchten jetzt anders denken „über die . formale'Demokratie und was ihr in dem verlassenen Deutschland sogar zu besseren Zeiten nachgesagt wurde. Sie galt bekanntlich auch linksgerichteten Deutschen als Falle." Dennoch hatte auch das von Heinrich Mann so emphatisch proklamierte „beste Deutschland" nur geringe Beziehung zur konkreten Weimarer Republik; es war eher vorgestellt als eine Geistesrepublik aller Freiheitsliebenden der deutschen Geschichte. In diesem Sinne schrieb Romain Rolland dem (Exil-) Schutzverband Deutscher Schriftsteller: „Alles von jenem Deutschland, das wir lieben und verehren, ist in Eurem Lager. Bei Euch sind Goethe und Beethoven, bei Euch sind Lessing und Marx. Sie sind mit Euch in dem Kampf, den Ihr führt." Diese Worte setzte Alfred Kantorowicz 1936 einer Sammlung seiner Reden und Aufsätze voran, die er betitelte: „In unserem Lager ist Deutschland."

In London veröffentlichte 1944 der „Club 1943" (Vorsitz: Hans Jose Rehfisch, zu den Mitgliedern gehörte auch Wilhelm Sternfeld) einen aus einem Symposium hervorgegangenen Sammelband mit dem Titel: „In Tyrannos — Four centuries of struggle against tyranny in Germany". Das Werk widmete sich auf der Suche nach deutschen Tyrannenkämpfern nicht nur Münzer, Hutten, Lessing, Heine, Marx, Lassalle und Karl Kraus, sondern auch Leibniz, Hegel und — Nietzsche Es war nichts dagegen einzuwenden, wenn die Emigration Verbündete wie Lessing, Heine und Marx auf den Plan führte; aber im Falle Hegels, Nietzsches und Beethovens war einige Willkür dabei. Dieses geistige Deutschland der Vergangenheit ließ sich teilweise ebensogut von den NS-Propagandisten für ihre spirituellen Heerscharen mobilisieren. Die großen Namen der deutschen Vergangenheit konnten der Emigration höchstens als psychologische Kompensation für den Mangel an aktiven Verbündeten im gegenwärtigen Deutschland dienen.

Auch eine Zeitschrift „Das andere Deutschland" (La otra Alemania, Buenos Aires und Montevideo 1938— 1940) fehite nicht, ebenso-wenig eine Zeitschrift „Das wahre Deutschland" (Paris, London 1938— 1940). Bereits vor 1933 hatte eine von Fritz Küster herausgegebene pazifistische Wochenzeitung den Titel „Das andere Deutschland" getragen die Ideologie vom „anderen Deutschland" stand 1933 für das Exil fertig bereit.

In Analogie dazu schrieb ein prominenter italienischer Emigrant, Carlo Sforza, ein Buch:

„The Real Italians" (New York 1942); ein italienischer Mitemigrant konnte bei der Besprechung dieser Schrift ein leichtes Amüsement nicht unterdrücken: „Sforza ist so durch und durch davon überzeugt, daß das . wirkliche'Italien antithetisch zum Faschismus ist, daß er den Letzteren , ein kurzes Zwischenspiel der Unwirklichkeit'nennt."

Daß die Vorstellung vom „anderen Deutschland" teilweise durchaus ernst gemeint war und daß sie schon in der erstep Zeit des Exils mitunter Formen einer aufdringlichen Ideologie annahm, läßt sich auch aus Gegenstimmen entnehmen. Zu einer etwas makabren Berühmtheit ist der kurz vor seinem Selbstmord geschriebene Brief Tucholskys an Arnold Zweig gelangt, in dem Tucholsky dermaßen in Abscheu vor der Emigration explodierte, daß der Brief auch im „Schwarzen Korps", dem Organ der SS, abgedruckt wurde:

„Man hat eine Niederlage erlitten. Man ist so verprügelt worden, wie seit langer Zeit keine Partei, die alle Trümpfe in der Hand hatte .. . Nun muß, auf die lächerliche Gefahr hin, daß das ausgebeutet wird, eine Selbstkritik vorgenommen werden, gegen die Schwefellauge Seifenwasser ist. . . Was geschieht statt dessen? . .. Statt einer Selbstkritik und Selbst-einkehr sehe ich da etwas von , Wir sind das bessere Deutschland'und , Das da ist gar nicht Deutschland'und solchen Unsinn." * Immerhin erbrachte Tucholsky mit seinem Selbstmord kurz darauf den Beweis dafür, daß es sich ohne die Vorstellung vom „anderen Deutschland" in diesem Exil nicht leicht aushalten ließ, wenn man außerstande war, sein Deutschtum abzuschütteln.

Daß es zwei Deutschlands gab, wurde auch im Ausland leicht zum Allgemeinplatz; ohnehin fangen Charakteristiken eines Volkes üblicherweise damit an, bedeutungsvoll darauf hinzuweisen, daß dies Volk Gegensätze in sich vereine. Die „New York Times" schrieb 1940, Einstein und Hitler „symbolisierten die zwei Sei ten Deutschlands" Der House-Abgeordnet Martin Dies, der als Vorsitzender des Komi tees gegen „unamerikanische Aktivitäten" de Vollständigkeit halber neben den Kommuni sten gelegentlich auch die Faschisten angrifi sagte mit texanischer Bildhaftigkeit: „Hitle und Goethe lassen sich nicht besser mischei als O 1 und Wasser." Gegen Hitler um Goebbels rief er nicht nur den Geist Goethe: und Kants, sondern auch den Richard Wagner: an

Gallup poll of blood

Goethe war nicht eben eine wirkungsvolle Waffe gegen Hitler, und solche Gegenüberstellungen forderten zum Spott heraus. 1944 brachte der „Aufbau" eine Karikatur, die einen riesenhaften Goethe mit Maschinengewehr zeigte, der drei fliehende preußische Offiziere vor sich her trieb; dem letzten guckte ein zwergenhafter Hitler zum Schaftstiefel heraus. Die Unterschrift lautete: „Erst wenn das . andere Deutschland'den Spuk so zerbläst, wird man ihm glauben können."

Das „andere Deutschland" war, wenn auch propagandistisch zu gebrauchen, als Machtfaktor ein Nichts, wenn es nur aus der spirituellen Vereinigung von Emigranten und verstorbenen deutschen Geistesgrößen bestand. Um irgendeine politische Bedeutung zu haben, mußte es auch im gegenwärtigen Deutschland existieren. Als die Verbindungen der Exilierten zu den deutschen Untergrundorganisationen abgerissen waren, blieb ihnen noch die Aufgabe, im Ausland immer neu glaubhaft zu machen, daß es in der deutschen Bevölkerung eine verbreitete NS-Gegnerschaft gebe. Ein wirklicher Nachweis des Widerstandes schien kaum möglich zu sein. Die Emigranten nahmen mit Vorliebe ihre Zuflucht zu dem Argument, daß das NS-Regime eben mit seinem Terror den Beweis dafür liefere, daß es sich im deutschen Volk einer mächtigen Gegnerschäft gegenübersehe. Paul Hagen schrieb am 22. November 1942 in der „Herald Tribune": „Hitler bekam niemals eine Mehrheit in einem demokratischen Volksentscheid. Heute haben wir keine Unterlagen über das Stimmenverhältnis und können auch keinen Gallup-Poll in Deutschland vornehmen. Aber es gibt einen Gallup-Poll von Blut, die lange und immer wachsende Liste exekutierter Menschen..." „Gallup poll of blood" war glänzend gesagt, wie überhaupt dies Argument etwas eindrucksvoll überzeugendes besaß. Aus der Rückschau stellt es sich allerdings im wesentlichen als Fehlschluß dar, wenn der NS-Terror als Gradmesser für die innerdeutsche NS-Gegnerschaft genommen wurde und gerade diese Verbrechen, die Deutschland verabscheuenswert machten, in Beweise für ein „anderes Deutschland" umgemünzt wurden. Wie nicht nur aus den Judenvernichtungen ersichtlich, war der NS-Terror teilweise autonom und weniger Reaktion auf eine Gegnerschaft.

Deutschfreundliche und deutschfeindliche Kritik an der Vorstellung vom „anderen Deutschland"

Die Ideologie vom „anderen Deutschland" war zweischneidig. Das „andere" Deutschland lebte von dem Kontrast zu dem „einen" Deutschland, und je mehr das „eine" Deutschland abgrundtief verworfen gezeichnet wurde, desto klarer und leuchtender gewann das „andere" Deutschland auf diesem düsteren Hintergrund seine Identität — aber politisch in Betracht zu kommen schien allein das „eine" Deutschland. Unter diesen Umständen fiel dem „anderen" Deutschland eine fatale Funktion zu: Wenn es wirklich zwei Deutschlands gab, so bekam Deutschland unter Umständen dadurch ein noch unheilvolleres Aussehen. Sebastian Haffner betitelte dementsprechend sein Deutschland-Buch: „Germany, Jekyll and Hyde" (London 1940), in Anspielung auf Stevensons „Dr. Jekyll and Mr. Hyde", die Geschichte einer sprichwörtlich gewordenen Doppelexistenz von Wohltäter und Verbrecher.

Bezeichnenderweise waren es nicht nur die Apologeten Deutschlands, die von der Vorstellung eines „anderen Deutschlands" ausgingen, sondern in Einzelfällen auch die Kassandrastimmen, die als ceterum censeo die Entmachtung Deutschlands für alle Zukunft forderten. Diese Ideologie konnte dazu behilflich sein, von der deutschen Geschichte ein düsteres Bild ohne Lichtblicke zu zeichnen, indem man die auch im Westen hochgeschätzten Deutschen als „anderes Deutschland" zuvor ausklammerte. Die Ideologie vom „anderen Deutschland" löste das Problem, wie man in diesem negativen Deutschland-Bild etwa Goethe und Beethoven unterbringen sollte. Daher war dieses „dualistische" Deutschlandbild einigen Mitarbeitern der sozialdemokratischen „Neuen Volkszeitung" mit Grund suspekt, und Seger/Marcks Deutschland-Buch verwies in diesem Zusammenhang auf Emil Ludwigs Veröffentlichung „The Germans" (Boston 1941), die in der USA-Emigration den „Vansittarti-sten" -Streit eröffnete. Ludwigs Buch stellte auf dem Umschlag als Kontrast die Bilder Bismarcks und Beethovens gegenüber und bezeichnete sich im Untertitel als „double history of a nation". Siegfried Marek wies treffend darauf hin, wie unüberlegt es sei, wenn man schon vom „anderen Deutschland" spreche, gerade Beethoven zu seinem Repräsentanten zu erwählen: „Von allen Künsten repräsentiert die Musik am wenigsten den Geist ethischer und sozialer Reform, der die Philosophien von Voltaire und sogar Kant charakterisiert. Beethovens Musik ist der Ausdruck der Elementarkräfte der Natur ... Es gibt sogar ein Element ber-serkerhafter Gewalttätigkeit bei Beethoven .. . Nein, die deutsche Musik ist nicht geistig in dem Sinne, wie es die intellektuellen Reformer verstehen. Die deutsche Musik, ja sogar die gesamte deutsche Literatur und bildende Kunst, ist unverkennbar auf den Pferdeteil des menschlichen Kentauren bezogen."

Seger allerdings, der Mitautor des zitierten Buches, hatte sich nicht diese kritische Vorsicht gegenüber der gängigen Vorstellung vom „anderen Deutschland" zu eigen gemacht, sondern präsentierte sie noch Jahre danach so klischeehaft wie nur möglich: Einer Würdigung Ricarda Huchs schickt er voraus, „daß Deutschlands jüngste Geschichtsperiode durch eine Polarisierung charakterisiert ist, die auf der einen Seite Ungeheuer hervorgebracht hat, auf der anderen Seite Heilige und Helden", um dann Ricarda Huch zu den Letzteren zu rechnen

Seger pflegte während des Krieges die Deutschen auf gut Glück in ein Drittel Nazis, ein Drittel Antinazis und ein Drittel Indifferente zu klassifizieren. Andere Emigranten wollten in den Nazis lieber eine noch geringere Minderheit sehen und der „Aufbau", der Seger in diesem Zusammenhang einen der „klügsten und ehrlichsten Antifaschisten unter den Deutschen" nannte, fand seine Rechnung bemerkenswert pessimistisch Der „Aufbau" selbst neigte zu einer ähnlichen Einteilung; ein Leitartikel von Ende 1943 stellte fest, es gebe nicht zwei Deutschlands, sondern drei, wobei in dem dritten, den „hilflosen, labilen" Neutralen, die Hauptmasse gesehen wurde Daß aus solchen statistischen Spekulationen gleich „drei Deutschlands" gemacht wurden, veranlaßte Siegfried Marek, in einem Leserbrief an den „Aufbau" die völlige Vernachlässigung des historischen Denkens zu kritisieren: „Die ganze Abzählerei der . guten’ und der , schlech-ten'Deutschen führt aber wirklich zu gar nichts . . . Völker sind in steter Wandlung und immer im Werden . . . 1919 folgte die Majorität der Deutschen den Friedensfreunden..

Auch ein anderer NVZ-Mitarbeiter, Wilhelm Sollmann, verfocht die These von dem einen Deutschland — anders als Marek in polterndem Ton und sichtlich über das Ziel hinausschießend. Er scheute nicht die für Exilpolitiker fatalen Konsequenzen seiner These, sondern ging so weit, eine Kollektivschuld des deutschen Volkes am Nazismus zuzugeben. Solche Worte waren noch im März 1939 aus dem Munde eines ausgesprochen national eingestellten deutschen Exilpolitikers möglich, als man nicht ahnte, zu welch astronomischen Ziffern das Schuldkonto anwachsen würde. Sollmann schrieb in einer Besprechung von Grzesinskis Buch „Inside Germany":

„Es ist wahrheitsliebend und tapfer, daß Grzesinsky (sic) von einer Gesamtschuld des deutschen Volkes an Hitlers Machtergreifung und seiner Unterdrückungswut spricht. Nur politische Kinder können sich damit amüsieren, ein paar Männer oder einige politische Gruppen herauszugreifen, um sie für alles verantwortlich zu machen. Solche Kindsköpfe hat man freilich auch unter den Historikern, zumal wenn sie nie in Deutschland waren."

Sollmann wußte noch nicht, was er damit anrichten konnte, wenn er, ungeduldig über die Suche nach Schuldigen, die Schuld pauschal dem gesamten Volk aufbürdete. Die Wirklichkeit sieht nicht selten tatsächlich so aus, daß politische Entscheidungen in kleinem Kreis und unter Verantwortung bestimmter Personen gefällt werden, und es kann etwas Mystifizierendes darin liegen, wenn dem „Zeitgeist" und ähnlichen Größen eine ausschlaggebende Rolle in der Geschichte eingeräumt wird. In Sollmanns zornigem Ausbruch klingt offensichtlich der Ärger über die ständige Kritik an der SPD mit — eine Kritik, die häufig vergaß, daß die „Schuld" am Aufstieg des Nazismus zuerst bei den bürgerlichen und Rechtsparteien zu suchen war und die „Schuld" der SPD mehr in Unterlassungssünden bestand. Im übrigen kann man Sollmann soweit Recht geben, daß die Unzulänglichkeiten der SPD tatsächlich etwas mit kollektiven politischen Unzulänglichkeiten des deutschen Volkes zu tun hatten und nur mit Vorbehalt als „Schuld" zu bezeichnen sind.

Es gab noch einen triftigeren Grund, warum manche Sozialdemokraten die Anschauung vom „anderen Deutschland" entschieden ablehnten: Es war eine Anschauung, die sich zum Teil von der Gegenüberstellung „Geist — Macht" herleitete oder sogar mit ihr identisch war und dementsprechend in ihrer Pointe gewöhnlich zugunsten der Intellektuellen und zu Lasten der Politiker ausfiel. Die intellektuellen Wurzeln des Nazismus wurden zu gering bewertet und die Leistungen der Arbeiterbewegung nicht genug gewürdigt. Das „andere Deutschland" war nicht vorzugsweise das Deutschland der Arbeiterbewegung. Schließlich ist aus Marcks und Sollmanns Polemik gegen die Aufteilung des deutschen Volkes in Gute und Böse auch ein „nationaler" Ton herauszuhören: Ein Volk muß zusammenhalten, zusammen die Verantwortung tragen, und es geht nicht an, daß es sich von Teilen seiner selbst distanziert.

Die Ideologie vom „anderen Deutschland" ist also in ihren politischen Konsequenzen ambivalent; es waren nicht in jedem Fall Exil-politiker und prodeutsche Emigranten, die vom „anderen Deutschland" sprachen, und „Vansittartisten", die diese Vorstellung bekämpften. Erika Mann, die 1940 mit Klaus Mann das Buch „The other Germany" veröffentlichte, stand in den letzten Kriegsjahren der „vansittartistischen" Position nahe.

Im ganzen war es jedoch so, daß man etwas Gutes über Deutschland sagen wollte, wenn man vom „anderen Deutschland" sprach, wie überhaupt diese Vorstellung dem Wunsch der politischen und literarischen Emigration entsprungen war, auf irgendeine Weise sich weiter als Deutsche anzusehen. Zwar lebte das „andere" Deutschland vom Kontrast zu dem „einen" Deutschland; aber über die Verabscheuungswürdigkeit der gegenwärtigen politischen Existenz Deutschlands gab es ohnehin keine Diskussion, und daher konnte damals die Hervorhebung eines „anderen" Deutschlands im ganzen nur auf eine positivere Bilanz für das deutsche Ansehen hinauslaufen. Die Vorstellung vom „anderen Deutschland" war geeignet, einen allgemeinen Deutschenhaß in Reaktion auf die NS-Verbrechen zu verhindern. Diese Konzeption entsprang überhaupt teilweise dem Wunsch, ein Gegengewicht gegen das Hassenswerte des aktuellen politischen Deutschlands zu haben, um Deutschland nicht hassen zu müssen. Die Vorstellung vom* „anderen Deutschland" hatte die Tendenz, den nazismusfeindlichen Elementen Deutschlands ein außerordentliches Gewicht beizulegen, so daß sie die nazistischen Elemente moralisch zumindest aufwiegen konnten.

Wenn Emil Ludwig trotz seiner negativen Darstellung der politischen Geschichte Deutschlands die Vorstellung von den „zwei Deutschlands" publizistisch verbreitete, so zeigt das, daß er nicht systematisch Haß gegen Deutschland erwecken wollte. Andere „Vansittarti-sten" dagegen, die es eben darauf abgesehen hatten, bekämpften das „andere Deutschland" als Phantasieprodukt. Die Monatsschrift der amerikanischen „Vansittartisten" veröffentlichte im Mai 1944 einen Artikel von James W. Gerard, einem früheren US-Botschafter in Deutschland, der die Überschrift trug: „There is only one Germany" und in den Anhang der Kongreßprotokolle ausgenommen wurde. Dort heißt es u. a.: „Es gibt noch Leute, die an den Mythos von den zwei Deutschlands glauben. Blödsinn! Leute, die glauben, daß es zwei Deutschlands gebe — ein gutes und ein böses —, übersehen gerne die Tatsache, daß, historisch gesehen, das Land nicht weit vom Primitivzustand entfernt ist . . . Die Nachkommen der Männer, die einst ihre weißen Landsmänner als Sklaven besaßen, herrschen noch in Deutschland .. . Die Deutschen . . . sind ein hoffnungsloses Problem für die Welt. Ihre Fortentwicklung zu einem Zustand, in dem sie nicht länger eine Bedrohung der Zivilisation sind, geht so langsam vor sich wie der Evolutionsprozeß selbst . . . Der biertrinkende Deutsche der alten Schule ist genauso schlecht wie der fanatische junge Nazi . . . Sie haben den gemeinsamen nationalen Charakterzug des Militarismus. Die Frauen sind so schlecht wie die Männer. Alle Deutschen sind sich darin einig, von oben anstatt von unten regiert zu werden."

Die Vansittartisten

An dieser Stelle soll auf die „Vansittartisten" eingegangen werden, obwohl diese Gruppe nicht nur aus Emigranten bestand und obwohl ihr Schwerpunkt nicht in den USA, sondern in England lag und der „Vansittartismus" vornehmlich in der englischen Offentlichheit weite Kreise zog. Die Bezeichnung „Vansittartisten" wurde durch die Gegner dieser Gruppe aufgebracht, bezeichnete aber zutreffend den Ursprung dieser Gruppe, der außerhalb der Emigration lag. Die „Vansittartisten" selbst nannten sich in England „Fight-for Freedom" -Bewegung und in den USA „Society for the Prevention of World War III".

Lord Vansittart, zuvor Ständiger Unterstaatssekretär im britischen Foreign Office, veröffentlichte Anfang 1941 unter dem Titel „Black Record" eigene Rundfunkreden über die Deutschen, in denen er die eigentliche Ursache des gegenwärtigen Krieges in dem immer gleichgebliebenen kriegerischen Charakter des deutschen Volkes sah, der sich bis auf Karl den Großen zurückverfolgen ließe. Es ist immerhin bemerkenswert, daß diese Reden nicht gleichmütig hingenommen wurden als unvermeidliche Klischees der Kriegspropaganda, sondern daß darüber in der britischen Öffentlichkeit sofort eine Diskussion entstand. Die prominenteste Antwort auf Vansittart kam von dem progressiven Verleger Victor Gollancz, einem Abkömmling deutscher Juden, der 1965, kurz vor seinem Tod, geadelt wurde. In seinem Buch: „Shall our children live or die?" warnte er vor der Identifikation der Deutschen insgesamt mit den Nazis

Sehr bald schalteten sich auch deutsche Emigranten in die Debatte ein: Heinrich Fraenkel, Verfasser von Drehbüchern und Kriminalromanen, der im Exil immer mehr als politischer Publizist hervortrat, brachte schon 1941 die Schrift „Vansittart’s gift for Goebbels. A German exile’s answer to the , black record"'heraus. Im folgenden Jahr jedoch formierte sich in der Londoner Emigration eine unerwartet starke Gegenpartei und nahm mit absichtsvoller Taktlosigkeit den wohlmeinenden Gollancz unter Beschuß. Zwei Sozialdemokraten, Curt Geyer und Walter Loeb, von denen der erste sogar bis dahin Mitglied des Parteivorstands war, veröffentlichten eine 70 Seiten umfassende und von dem Labour-Abgeordneten James Walker eingeleitete Broschüre „Gollancz in German Wonderland"; sie traten Gollancz in der Pose des Realisten entgegen, der die Deutschen am eigenen Leibe erfahren hat, und schrieben: „Wir ziehen Lord Vansittarts Fak-tenkenntnis . . .den Wunschträumen des Mr. Gollancz und seiner Freunde vor." Im übrigen gehte es nicht um Vernichtung, sondern lediglich um Umerziehung der Deutschen. Im Vorwort gaben Geyer und Loeb zu, daß mit ihrer Kritik nicht nur Gollancz gemeint sei: „Unsere Antwort richtet sich in diesen Seiten auch gegen all diese sogenannten . politischen Exilierten', deren Ausflüchte, Schleichwege und Unaufrichtigkeit in dem, was das Deutschland von gestern angeht, schon heute, ob sie es wissen oder nicht, zur Vorbereitung des , Dritten Deutschen Weltkrieges'beitragen."

Der beleidigende Stil und die Maßlosigkeit der Beschuldigungen gegen die eigenen Kameraden scheint die Verfasser der Broschüre zu disqualifizieren. Viele sozialdemokratische Emigranten sahen denn auch in diesen „Vansittartisten" Judasse, die sich „verkauft" hatten Wie immer es mit dem Wahrheitsgehalt dieser Verdächtigung bestellt sein mag, so ist doch zumindest offensichtlich, daß die „Vansittartisten" ihr Fähnlein nach dem Winde gehängt hatten: Deutschfeindlichkeit verkaufte sich im England von 1942 selbstverständlich besser als Deutschfreundlichkeit. Wenn auch bei einem Teil der „Vansittartisten" wenig ehrenvolle Motive überwiegen mochten, so heißt das nicht, daß nur solche vorlagen. Es war sicher nicht nur Heuchelei und Reklamemache, wenn es im Vorwort der Anti-Gollancz-Broschüre hieß: „Wir bestreben, nichts von der Wahrheit zu verbergen, und wir übertreiben auch nicht absichtlich. Unser Ziel ist es, der Sache der Wahrheit zu dienen, und damit der Sache der Gerechtigkeit. Wir messen der internationalen Moral, der internationalen Gerechtigkeit und dem internationalen Frieden eine größere Bedeutung bei als dem Nationalismus des . Deutschland, Deutschland über alles'. . ."

Die Sopade warf den „Vansittartisten" englischen Nationalismus vor; jedoch kann man im Falle sozialdemokratischer Emigranten auch eine Dokumentation echten sozialistischen Internationalismus'darin sehen, wenn diese, ohne den Makel des „Verräters" zu scheuen, die Konsequenz zogen aus der — damals naheliegenden — Erkenntnis, daß Deutschland für den humanen Fortschritt in der Welt ein Verhängnis darstelle.

Mochte es auch ein „anderes" Deutschland geben als das nationalsozialistische, so doch kaum ein dem Nazismus entgegengesetztes Deutschland. Die „Vansittartisten" verwiesen mit Recht auf das singuläre Faktum, daß die nazistische Machtergreifung völlig kampflos vor sich gegangen war. Die deutschen Emigranten gingen zwar nicht, wie Lord Vansittart, bis auf Karl den Großen zurück, stellten jedoch in ihrer Erklärung zum zehnten Jahrestag von Hitlers Machtantritt fest: „Der 30. Januar war nicht ein Abbruch, sondern das Resultat der deutschen politischen Entwicklung seit mindestens drei Generationen. . . . Hitler wurde zur Macht emporgetragen von der größten Volksbewegung in der deutschen Geschichte." 1942, im ersten Jahr des amerikanisch-deutschen Kriegszustands, griff der „Van-sittartisten" -Streit — einschließlich der Bezeichnung „Vansittartisten" — auch auf die USA-Emigration über, hatte dort allerdings ein wesentlich anderes Aussehen. Während es sich bei den „Vansittartisten" unter den England-Emigranten um eine Abspaltung von der Sozialdemokratie handelte, befanden sich, soweit bekannt, unter den amerikanischen „Vansittartisten" keine Sozialdemokraten. Der Grund dafür ist — außer in individuellen Zufälligkeiten — darin zu suchen, daß in England sozialdemokratische Emigranten, wenn sie sich dem „Vansittartismus" zuwandten, sich im Einklang mit einem beträchtlichen Teil der Labour Party wußten, während in den USA die pazifistische Socialist Party und die deutschamerikanischen Sozialdemokraten New Yorks solche Tendenzen nicht ermutigten.

Ein weiterer Unterschied war der, daß im ersten Fall die Initiatoren und Wortführer der Debatte Engländer waren — Vansittart und Gollancz —, während sich in den USA die Auseinandersetzung in erster Linie innerhalb der deutschen Emigration abspielte. In Amerika war die Kenntnis der deutschen Geschichte nicht so verbreitet, daß die Diskussion über das Verhältnis des Nazismus zur deutschen Geschichte eine breite Öffentlichkeit hätte beschäftigen können. Außerdem war die Stimmung in den USA während des* Krieges weniger deutschfeindlich als in England; man war dort innerlich nicht so stark in den Krieg engagiert. Zwar hatte auch Henry Morgenthau — selbstverständlich — „vansittartistische" Anschauungen von Deutschland, aber allem Anschein nach entstand der Morgenthau-Plan ganz unabhängig von den amerikanischen „Vansittartisten“.

Emil Ludwig in der Exilpolitik — Auseinandersetzung mit Paul Tillich

Als das Oberhaupt der USA-„Vansittartisten" und ihr brillantester und gefährlichster Wortführer galt bei den Emigranten — ob zu Recht oder zu Unrecht — Emil Ludwig. Er war im strengen Sinne kein Emigrant, denn er hatte sich schon seit 1906 in der Schweiz niedergelassen, was in der Exilbibliographie von Sternfeld/Tiedemann allerdings als Emigration dargestellt wurde. Während des Zweiten Weltkriegs hielt er sich in den USA auf; schon vorher war er, dem Trend der Emigration vorauseilend, längere Zeit dort gewesen und hatte sich auch in den Sujets seiner unablässigen Bücherproduktion auf Amerika umgestellt: Nachdem er 1937 mit einer Kleopatra-Biographie und einem in Moscia erschienenen Buch „Tasso in Moscia" von der Alten Welt zeitweiligen Abschied genommen hatte, wandte er sich 1938 mit einer Roosevelt-und einer Bolivar-Biographie der Neuen Welt zu. Emil Ludwig bereiste die USA schon zu einer Zeit, als sich die literarische Emigration noch an Europa klammerte, und seine Anwesenheit in den USA wurde von den dortigen Emigranten begrüßt; er, der wie Thomas Mann von Roosevelt empfangen worden war, wurde in den ersten vier Jahren von der USA-Emigration als öffentlichkeitswirksamer Repräsentant geschätzt, und seine Roosevelt-Biographie, obwohl recht unpolitisch und inhaltsleer, wurde über längere Zeit hinweg in der „Neuen Volkszeitung" abgedruckt. Die Sozialdemokraten konnten damals Emil Ludwig durchaus als ihnen zugehörig rechnen, denn er stand seit den zwanziger Jahren im Ruf eines erklärten Republikaners, wozu auch seine Fehde mit der konservativen Historikerzunft beigetragen hatte. Eckart Kehr, der im übrigen die historische Belletristik Ludwigscher Art verabscheute, erkannte an: „. .. es konnte kein Zweifel bestehen, daß sich aus diesen Schriften ein republikanisch-demokratisches Denken zu entwickeln begann. . ." In dem Blut-und-Boden-Roman „Morgenluft in Schilda" (1933) von Hjalmar Kutzleb sind es Thomas Mann und „Emil Ludwig-Cohn" (E. L. war tatsächlich als Cohn geboren), die von den negativen Gestalten mit Vorliebe gelesen werden und für die westlich-liberale Kultur der zwanziger Jahre stehen.

Als am 15. Dezember 1935 der Deutschamerikanische Kulturverband gegründet wurde, war Emil Ludwigs Rede laut „Aufbau" das „Hauptereignis" der Veranstaltung und wurde mit Jubel ausgenommen. Er sagte: „Die sechzig Millionen, die im Reiche sitzen, brauchen eine befreiende Aktion der dreißig Millionen Ausländsdeutschen." Wenn er ernsthaft an die Möglichkeit einer solchen Aktion glaubte, dann lebte er noch sehr in den überholten Vorstellungen vom Deutschtum als unzerstörbarer Substanz, der auch die Auswanderung nichts anhaben kann.

In den folgenden Jahren, vielleicht angesichts der Terrorwelle im annektierten Österreich und der ein halbes Jahr später erfolgenden „Kristallnacht", wandelte sich Emil Ludwig zum Verächter Deutschlands. Zwischen 1939 und 1945 veröffentlichte er vier Deutschland-Bücher, die diese neue Einstellung in ständig gesteigerter Form verkünden: „Barbaren und Musiker" (1939), „The Germans, double history of a nation" (1941), „How to treat the Germans" (1943) und „The moral conquest of Germany" (1945).

Emil Ludwig, der unmittelbar vor Hitlers Machtantritt in den „Gesprächen mit Mussolini" außerordentliche Sympathie für den italienischen Faschismus bekundet hatte — eine empfindliche Blöße für die späteren Exil-jahre —, witzelte noch Ende 1935 über Hitler und räumte ein, „daß der Ansichtskarten-künstler a. D. in der Tat ein Verdienst für sich buchen kann: in die farblosen Jahre des Staates von Weimar Buntheit hineingetragen zu haben" Das war eine Zeit, in der auch Einstein dem Phänomen Nazismus noch mit Humor begegnen konnte, wenn er den Juden riet, „den lieben Hitler" nicht zu tragisch zu nehmen Spätestens von 1938 an konnte man unmöglich mehr in solchem Ton über den Nazismus sprechen. Der impulsive Emil Ludwig, der sich leicht von den Wogen der Zeitstimmung mitreißen ließ, stellte sich nun an die Spitze der Ankläger Deutschlands, die im Nazismus den akuten Ausbruch eines Jahrhunderte schwelenden Verhängnisses sahen. Wenn Emil Ludwig ausschließlich das spezifisch Deutsche des Nazismus betonte, so ist leicht zu erkennen, daß ein Teil Verteidigung seiner einstigen Mussolini-Sympathien dabei war: Er mußte schon deshalb seine ganze Angriffs-kraft auf das typisch Deutsche am Nazismus konzentrieren und den allgemeinen „Faschismus" -Begriff zurückweisen, um nicht in einen Widerspruch zu seiner eigenen Vergangenheit zu geraten

Wenn Emil Ludwig in seinem Deutschland-Buch von 1941 den Nazismus als Produkt der gesamten deutschen Geschichte darstellen wollte, so hielt er sich mitunter auf komische Weise an die ihm, dem Biographen, vertraute individualisierende Methode. Der „Aufbau" druckte, vorzugsweise wohl zum Amüsement seiner Leser, u. a. folgenden Abschnitt aus Ludwigs Buch ab: „Adolf Hitler hat bedeutende Ähnlichkeit mit früheren deutschen Kaisern, die wir in diesem Buche betrachtet haben. Barbarossa ähnelt er in seiner Grausamkeit, Heinrich V. im Streben nach Weltmacht, Heinrich VI. in der Gewohnheit der Erpressung. Mit Sigismund hat er die Kunst der Lüge gemein, mit Wenzel die Lust an der Judenverfolgung. An Karl IV. (erinnert er) durch Rache für schlechte Kindheit, an Karl V. durch mystischen Glauben. Auch von den preußischen Königen ... hat Hitler manches übernommen: von Friedrich I. die prunkhaften Bauten, von Friedrich Wilhelm I.den Mangel jeder Bildung, von Friedrich dem Großen die sexuelle Unfähigkeit. . ."

Diese Form des Sündenregisters ist offensichtlich von Bismarcks „Gedanken und Erinnerungen" inspiriert worden, jener bosheitssprühenden Aufzählung der Eigenschaften all der vorhergehenden Hohenzollern, die in Wilhelm II. wieder aufgelebt seien, nur daß es sich bei Emil Ludwig um eine bloße Schimpferei handelte, wobei es obendrein unmotivierter war, Hitlers Antisemitismus auf den spätmittelalterlichen König Wenzel zurückzuleiten als Charakterzüge Wilhelms II. auf seine Hohenzol-lern-Vorfahren.

Erst im folgenden Jahr 1942 begann Emil Ludwig in der Emigration als „Vansittartist" abgestempelt und zur Zielscheibe heftiger Angriffe zu werden, die ihrerseits den erregbaren Schriftsteller wiederum in radikalere Positionen trieben. Es begann damit, daß die „New York Times" am 6. Juli 1942 eine Rede Ludwigs über die alliierten Kriegsziele in verschärfend gekürzter Form wiedergab, und noch dazu unter der Schlagzeile: „Ludwig Asks Fight on . German People'". Der „Aufbau", damals noch unparteiischer als zwei Jahre später in der Frage, ob deutsche Exilpolitik oder nicht, öffnete seine Spalten einer Emil-Ludwig-Debatte, die durch einen ungewöhnlich erbitterten Angriff des Theologen Paul Tillich auf Ludwig ausgelöst wurde. Vor allem durch diese Auseinandersetzung wurde Tillich zum geistigen Vorkämpfer des politischen Exils, so daß zwei Jahre später unter seiner Führung das Council for a Democratic Germany zustande kommen konnte. Die Hauptgefahr für das politische Exil bestand damals darin, daß sich angesichts der Schrek-kensnachrichten aus dem NS-Imperium das deutsche Judentum vom deutschen Exil loslöste und dadurch die personelle Basis der deutschen Exilpolitik zusammenschmelzen ließ. Diese Perspektiven erklären Tillichs Heftigkeit. Tillich wollte diese Möglichkeit von vornherein energisch abwehren und schrieb, von der „New York Times" werde eine Rede Ludwigs zitiert, „die alle anständigen deutschen Juden in Amerika veranlassen sollte, sich von Ludwig entschlossen und sichtbar zu distanzieren. Ein Satz wie . Hitler ist Deutschland'und die Rede vom deutschen . Krieger-volk'ist dem Arsenal der törichtsten antisemitischen Propaganda entnommen . .. Läppich . . . ist der Vorschlag, ein Heer von amerikanischen Lehrern herüberzuschicken, um die Deutschen , mores‘ zu lehren."

Tillichs Worte, von denen man kaum sagen kann, daß sie geschickt gewählt waren, blieben selbstverständlich nicht ohne Entgegnung. Er weckte mit der Formulierung von den „anständigen" Juden Assoziationen an jene joviale Form des Antisemitismus, die wohlwollende Geneigtheit bekundet, die Juden gewähren zu lassen, sofern sie mit Wort und Tat ihre gutdeutsche Gesinnung beweisen. Zumin-des-t taktisch falsch war die brüske Verwerfung der Reeducation-Idee. Wenn Emil Ludwig die Reeducation verfocht, so war er damit keineswegs ein Scharfmacher gegen Deutschland; vielmehr kennzeichnete der Gedanke der Umerziehung gerade die „milden" Deutschland-pläne, die Alternativen zum „Vansittartismus“ Um die Amerikaner von ihren harten Plänen abzubringen, hatte die Vorstellung, Deutschland als zukünftiges Feld für demokratische Erziehungsexperimente in großem Stil zu betrachten, die größten Chancen.

Zwei Wochen später brachte der „Aufbau" einen Angriff Hanah Arendts auf Emil Ludwig, der noch schneidender und hohnvoller war als der Tillichs, obwohl Hannah Arendt andererseits von den deutschen Exilpolitikern nicht viel hielt. Ihr Angriff richtet sich gegen die Person Ludwigs: „(E. L.), der im vorigen Weltkrieg die all-deutsche Couleur des damaligen deutschen Imperialismus trug . . . , versucht es mit einer neuen Großmacht, indem er das amerikanische Volk zu einem bisher Gott sei Dank inexistenten Imperialismus ermuntert... Und da man doch so gerne dabei ist, wenn Überlegenheit die Herrschaft antritt, so sieht sich unser Schriftsteller bereits mit den zukünftigen Siegern als Lehrer der überlegenen Moral durchs Brandenburger Tor ziehen ... Es ist sehr traurig, zu erfahren, daß jeder Sklave dazu neigt, sich als Sklavenhalter zu träumen ..

Als die „New York Times" schließlich den vollen Wortlaut der Rede Ludwigs veröffentlichte, brachte dieser, Siegfried Marek zufolge, „Freund und Feind etwas in Verlegenheit. Was hatte er nämlich wirklich gesagt? In bezug auf die Zukunft gar nichts Schlimmes." Seine Vorschläge hätten mehr auf der Linie der Atlantic Charta gelegen als auf der Vansittarts. Erst durch die gekürzte Wiedergabe sei der antideutsche Ton in so scharfer Form herausgekommen Es ist bemerkenswert, daß gerade Siegfried Marek, der Mitarbeiter der „Neuen Volkszeitung" und spätere Unterstützer des Council, damals Emil Ludwig in Schutz nahm; er hatte ihn offenbar für die Exilpolitik noch nicht aufgegeben. Emil Ludwig hatte allerdings inzwischen die Herausforderung durch die neu aufgestandenen Gegner angenommen und einem Manifest „An die deutschen Patrioten im Exil" jene Schärfe gegeben, die die von der „Times" zitierte Rede in der Originalfassung nicht gehabt hatte

Die „Society of the Prevention of World War III"

In der Folge begab sich Emil Ludwig in eine Front mit den „Vansittartisten", zu denen er bis dahin offenbar kaum Beziehungen gehabt hatte; Friedrich Wilhelm Foerster beispielsweise war, anders als Ludwig, schon seit Jahrzehnten ein scharfer Kritiker Deutschlands gewesen. Im Dezember 1943 wurde die „Society for the Prevention of World War III" gegründet, die keine Emigrantenorganisation sein wollte, sondern auch Amerikanern die Möglichkeit gab, beizutreten. An der Spitze der Gründer stand neben Emil Ludwig der Kriminalschriftsteller Rex Stout, während als der eigentliche Initiator wohl Friedrich Wilhelm Foerster anzusehen ist. Außerdem gehörte u. a. noch Paul Winkler dazu, der soeben das Buch „The Thousand-Year Conspiracy, Secret Germany Behind the Mask" herausgebracht hatte. Das Programm begann mit der Abwehr der Unterscheidung von Nazis und Deutschen unter Berufung auf die deutsche Geschichte:

„Die weitverbreitete Gewohnheit, die Nazis von dem deutschen Volk beiseite zu nehmen, resultiert aus einer Unkenntnis der deutschen Geschichte. . . Die Kräfte in Deutschland, die Hitler zur Macht erhoben und ihn oben hielten, sind identisch mit den Kräften, die hinter Bismarck und Kaiser Wilhelm standen."

Vorspiel und Hintergrund der Society war eine mit Pamphleten und Prozessen geführte Auseinandersetzung zwischen Foerster und Victor F. Ridder, dem Mitherausgeber der „New Yorker Staatszeitung". Diese größte deutschamerikanische Zeitung war schon mehrfach mit den Emigranten zusammengestoßen. Entsprechend der Stimmung unter den Deutsch-amerikanern hatte sie seinerzeit die Emigranten generell als unliebsame Gäste empfangen. Am 13. November 1934 brachte sie zweispaltig die Überschrift: „Europas Regierungen wenden sich gegen die Emigranten-Umtriebe" Dabei sollten die Emigranten später „ein beträchtliches Kontingent ihrer Käufer bilden"

(„Aufbau" 1942)

Der „Aufbau" führte in seinen ersten Jahren eine heftige Kampagne gegen die „Staatszeitung"; Anfang 1936 druckte er einen Leserbrief ab, der der Hoffnung Ausdruck gab, daß „das New Yorker Pressereptil, durch dessen . Neutralität'das Braun deutlich hindurch-schimmert, sobald wie möglich zur Strecke gebracht wird", und behauptete, die Ridders ständen mit deutschen Geheimagenten in Verbindung Die „Staatszeitung" berücksichtigte zwar auch ihre jüdischen Leser mit einer „lustigen Ecke": „Aus Lee Greenspoons Sammelmappe". Diese fingierten Betrachtungen eines alten und leicht trotteligen Juden riefen aber die besondere Empörung des „Aufbau" hervor: Was „Lee Greenspoon" den Lesern vorsetze, sei kein Jiddisch und auch kein Frankfurterisch, sondern ein Kauderwelsch, wie es sonst nur Antisemitenblätter den Juden unterstellten „Lee Greenspoon", der seine Briefe stets mit „Gut Schabbes, Herr Redakteurleben" begann, bewahrte auch seinen Humor, als er die Nachricht schlucken mußte, daß in Frankfurt die nach Juden benannten Straßen umgetauft wurden: „. . . Außerdem geht uns das hier garnischt an; die drieben sollen tun, was sie halten fier recht, un mir hier werden tun, was mir halten fier recht . . . un da haben mir beide genug zu tun." Solche Passagen verraten das Dilemma, in das die „Staatszeitung" durch den Nationalsozialismus allmählich geraten war, und die peinliche Art, wie sie sich diesem Dilemma zu entziehen suchte. Sie wollte es weder mit den Sympathisierenden noch mit den Gegnern des Nazismus verderben; ihr Chefredakteur (bis Anfang 1936) Heinrich Reinhold Hirsch war offenbar jüdischer Abstammung Sie verurteilte die „Kristallnacht" mit scharfen Worten und bekundete Reue, bisher mit Kritik am Nazismus so zurückhaltend gewesen zu sein Aber noch Anfang 1940 entdeckte der „Aufbau" in einer Unterhaltungsecke der „Staatszeitung" ein Rätsel, dessen Lösung eil Ausspruch von Julius Streicher war

Als nach dem Kriegseintritt der USA solch Steine des Anstoßes aus der „Staatszeitung endgültig verschwanden und sich sogar eim Zusammenarbeit zwischen Victor F. Ridde und dem Volksfrontblatt „German American entwickelte waren es Friedrich Wilheln Foerster und seine Mitstreiter, die den Kamp gegen Ridder erneut aufnahmen — wobei ei diesmal mehr um seine Person als um die „Staatszeitung" ging — und ihm zwar nich direkt Nazismus, aber Pangermanismus vor warfen.

Die bloße Tatsache, daß ein Deutschameri kaner deutsche Interessen vertrat, ließ siet als Alldeutschtum definieren, auch wenn ei dies unreflektiert und ohne alldeutsche Ideo logie getan hatte. Das war auch gemeint wenn sogar Emigranten wie Max Brauer vor den „Vansittartisten" unter die Alldeutscher gerechnet wurden; denn wenn ein Deutschei auswanderte und die amerikanische Staatsbürgerschaft beantragte, aber dennoch weitei deutsche Politik betrieb, wurde er dieser Auffassung nach automatisch ein „Alldeutscher". 1944 bezeichnete Emil Ludwig die „United Americans of German Descent", eine im Krieg unter führender Beteiligung Ridders gegründete Organisation, als „germanophile Front"; „germanophil" war sicherlich nicht zuviel gesagt. Ridder verwies darauf, daß diese Organisation von offizieller Stelle angeregt und gefördert worden sei, und sagte, sein Ankläger sei ein Mann, „der unseren Lincoln karikierte, dagegen einen Hymnus auf Mussolini sang".

Die Isolation des amerikanischen Vansittartismus

Im publizistischen Duell mit Emil Ludwig erhielt Ridder sogar enthusiastischen Beifall von der „Neuen Volkszeitung", die sonst mit der „Staatszeitung" nichts gemein haben wollte: „Ein Ereignis im Leben des Deutschamerikaners war die Abrechnung, die Victor F. Ridder . .. mit dem unsäglichen Emil Ludwig vollzog."

Auch beim „Aufbau" fanden Emil Ludwig und die „Vansittartisten" niemals klare Unterstützung, auch nicht in der letzten Kriegszeit, als das Blatt die deutsche Exilpolitik ablehnte. Im März 1945 stellte der „Aufbau" fest, daß die Society for the Prevention of World War III unter den Emigranten ziemlich isoliert dastehe, glaubte allerdings, daß sie „eine sehr weitgehende amerikanische Unterstützung“ habe, namentlich durch Leute, die wie William L. Shirer, Sigrid Schultz, E. A. Mowrer usw.früher lange Zeit in Deutschland waren." Aber das ist nicht soweit zu verallgemeinern, daß ein beträchtlicher Teil der amerikanischen Öffentlichkeit im Einklang mit den „Vansittartisten" gestanden hätte. Als Emil Ludwig sich dem „Vansittartismus" im engeren Sinne zuwandte, folgte er nicht mehr dem Zuge der öffentlichen Meinung in den USA, und er war sich dessen bewußt. Im Juli 1942 sagte er zu einem Gallup Poll, der ergeben hatte, daß 79 0/0 der Amerikaner die deutsche Regierung und nur 6°/0 das deutsche Volk für den Hauptfeind hielten: dann befänden sich 79 % der Amerikaner in einem „falschen und gefährlichen Glauben" und sollten wissen, daß vielmehr „das kriegerische deutsche Volk in seiner Gesamtheit, geführt von seiner Intelligenz, erst dem Kaiser folgte und nun einem Proletarier („sic!" merkte das kommunistische „Freie Deutschland" an) in seinem Wunsch, die Welt zu erobern. Hitler ist Deutschland." Aber sogar ein redaktioneller Artikel der „New York Times" bemerkte:

„Es ist das amerikanische Volk, das recht hat, und Herrn Ludwigs Glaube ist falsch und gefährlich."

Emil Ludwig hatte sich zwischen die Stühle gesetzt, weil er gerade den schärfsten Nazismus-Gegnern teilweise durch sein Mussolini-Buch suspekt war und deshalb in ihrem Kreis nie ganz ausgenommen wurde. Mit seiner Isolation stieg seine Gereiztheit. Als er im Frühjahr 1944 von einer liberal-jüdischen Gemeinde in Cleveland eingeladen wurde, im Rahmen eines Gottesdienstes zu sprechen, übte er in seiner Ansprache derart scharfe Kritik an den deutschjüdischen Emigranten, die immer noch Deutschland anhingen, daß der Vortrag von der Gemeinde als Brüskierung empfunden wurde

1945 vervollständigte Ludwig sein Riesenwerk von Biographien großer Männer noch durch eine Stalin-Biographie, von der vorher bereits Teilabdrucke erschienen waren und die mit ihrer ungetrübten Bewunderung unter der nichtkommunistischen Stalin-Literatur ziemlich einzig dasteht. Die Freundschaft der Kommunisten brachte sie ihm aber nicht ein; denn die kommunistischen Emigranten wollten ebensowenig mit den „Vansittartisten" zu tun haben wie die anderen politischen Exilgruppen. Für das „Freie Deutschland" war Emil Ludwig eine Blüte des Hochkapitalismus, nichts als der Fimenname eines „literarischen Warenhausbetriebes", dessen Verdienst es sei, erstmalig „die Methoden von Woolworth auf die Literatur übertragen" zu haben.

Politische Einordnung des Vansittartismus

Wenn auch in den USA die Progressiven generell Deutschland ablehnender gegenüberstanden als die Konservativen, so hatte doch der „Vansittartisten" -Streit kaum etwas mit „links" und „rechts" zu tun. Zwar stellte es sich in mancher Beziehung so dar, daß die „Vansittartisten" die alte antinazistische Position — die die völlige Vernichtung des Nazismus über alle anderen Ziele stellte — in ungeminderter Rigorosität wahrten in einer Zeit, da die anderen politischen Exilgruppen anfingen, mit Rücksicht auf ihre politische Zukunft in Deutschland zu handeln und nicht mehr die Anklage der deutschen Regierung, sondern die Verteidigung des deutschen Volkes zu ihrem Hauptanliegen zu machen — eine Zielsetzung, die der ersten nicht notwendig widersprach, aber doch eine Verände-* rung der Frontrichtung mit neuen Gegnern und mit neuen Verbündeten bedeutete. Das politische Exil war nunmehr weniger durch die Aussicht auf ein untergründiges Weiterbestehen des Nazismus zu alarmieren als durch allzu eingreifende Deutschlandpläne der Sieger; die alte antinazistische Gemeinsamkeit der Exilierten —-die ohnehin nur selten praktische Form angenommen hatte — wurde sekundär oder ganz vergessen. Insofern könnte man den „Vansittartismus" als einen Versuch interpretieren, die Atmosphäre der ersten Exiljähre auch für die Kriegs-und Nachkriegsjahre zu bewahren.

Aber die meisten führenden „Vansittartisten" waren alles andere als ausgesprochene Vertreter des Volksfront-Antifaschismus der dreißiger Jahre. Was Lord Vansittart selbst betraf, so war seine Deutschenfeindschaft nicht erst angesichts des Nazismus entstanden, sondern ihre Ursprünge reichten bis in die Zeit des Burenkrieges zurück, die Vansittart unglücklicherweise in Deutschland verbracht hatte Curt Geyer, der in der USPD und KPD angefangen hatte, war auf dem rechten Flügel der SPD angelangt, als er der Wortführer der „Vansittartisten" unter den englischen Emigranten wurde; bei Bernhard Menne war der „Vansittartismus" ebenfalls eine Etappe in seiner Entwicklung nach rechts. Leopold Schwarzschild, der 1943 von Siegfried Marek unter Berufung auf sein Buch „World in Trance" (New York 1942) ein „Uber-Van-sittartist" genannt wurde, war zwar eine Zentralgestalt der ersten Exiljahre gewesen, und seine Hoffnungslosigkeit in bezug auf Deutschland hatte durchaus „linke", pazifistische Ursprünge; aber 1942 hatte er sich bereits zum Antikommunisten und zum Vorkämpfer des Wirtschaftsliberalismus und der „harten" Außenpolitik entwickelt.

Der Friese Tete Harens Tetens, ein Mitarbeiter Foersters, hatte sich in den ersten Exiljahren einige Verdienste erworben im Rahmen der Bemühungen der Emigranten, das Ausland auf die Größe der vom Nazismus drohenden Gefahr aufmerksam zu machen; die Wirkung seiner Broschüre „Was will Hitler?" (Liestal/Schweiz 1935) soll in der Schweiz „enorm" gewesen sein Aber seine besondere Wirkung beruhte eben darauf, daß er nicht zu den linken Antifaschisten gehörte, sondern die kirchenfeindlichen und „bolschewistischen" Züge des Nazismus so kraß und ausschließlich wie möglich herausstellte.

Bei dem Pädagogen Friedrich Wilhelm Foerster war das politische Engagement als „Van-

sittartist" nur die Fortsetzung einer jahrzehntelangen, von moralischer Empörung getragenen Ablehnung des Deutschen Reiches. Den großen Feind sah er nicht im Nazismus, sondern im Preußentum. Im Ausgang des Ersten Weltkrieges sah er bereits ein verdientes Strafgericht der Weltgeschichte über das Reich. In seinen beständigen Zusammenstößen mit den herrschenden Mächten Deutschlands suchte er „nicht — wie in solchen Fällen fast üblich — Anschluß an die politische Linke, sondern bezeigte Sympathien für Gebilde wie den Habsburger Staat" Er war also eigentlich ein „Reaktionär" im wörtlichen Sinne und schien eine Rettungsmöglichkeit in der Regression in das vor-nationalistische und vor-imperialistische Zeitalter zu sehen, scheute allerdings die üblichen konservativ-habsbur-ger-freundlichen Verbündeten, die sich bei solchen Auffassungen angeboten hätten. Zeitweise hatte er unter dem Einfluß des groß-deutschen Bismarck-Gegners Constantin Frantz gestanden Im Exil nach 1933 erfreute er sich gelegentlich der Protektion des portugiesischen Staatschefs Salazar Foerster war die längste Zeit seines Lebens Protestant. Noch 1941 bedauerte der Soziologe Goetz Briefs, daß Foerster bei all seiner erbitterten Anklage gegen Preußen mit keinem Wort die „furchtbare Rolle" berühre, „die der lutheranische Protestantismus in dem Aufstieg und der Politik des preußischen Staates spielte" In der Folge zog er jedoch die Konsequenz, zum Katholizismus überzutreten

Schon damals argwöhnte man in sozialdemokratischen Kreisen, daß sich hinter dem „Vansittartismus" in den USA eine katholische Machenschaft verstecke. Stampfer schrieb 1943 an die Sopade: „E(mil) L(udwig) ist nicht ungefährlich, weil er mit einem großen Racket arbeitet, in dem er der einzige Nichtkatholik ist. Der Plan, Preußen als selbständigen Staat aus Deutschland herauszuschälen, richtet sich dem äußeren Anschein nach gegen das , milita-ristische', in Wirklichkeit gegen das protestantische Preußen."

Dieser Verdacht, daß der „Vansittartismus" insgesamt ein Werkzeug katholischer Bestrebungen sei, war allem Anschein nach aus der Luft gegriffen: Der amerikanische Katholizismus war — sei es aus irischer England-Feindschaft oder aus italienischer Mussolini-Verehrung —-eher deutschfreundlich orientiert; aber die Sozialdemokraten der „Neuen Volks-zeitung" liebten es mitunter, kulturkämpferische Reminiszenzen zu wecken. In Wirklichkeit war die Preußenfeindschaft in den USA viel mehr für die Liberalen als für die Katholiken typisch.

Jedoch lag es gewöhnlich den westlichen Liberalen fern, die Kreuzzugsstimmung von 1917 zu wiederholen und in ihrer Ablehnung des „militaristischen" Deutschlands bis zum „Vansittartismus" zu gehen. John Dewey, der berühmteste amerikanische Liberale seiner Zeit, unterstützte das Council for a Democratic Germany. Nicht nur rechtsgerichtete business-Kreise, sondern auch die militante Linkszeitschrift „PM" vertraten die Auffassung, daß es im Interesse Europas unklug sei, die deutsche Wirtschaft zu zerstören Victor Gollancz, der prominenteste Gegner der „Vansittartisten" in der britischen Öffentlichkeit, war als Gründer und Leiter des „Lest Book Club" ein Hauptexponent der „linksstehenden, antifaschistischen, prosowjetischen Antikriegsund Volksfront-Intellektuellen" Harold Laski, der lange Zeit als das geistige Oberhaupt der englischen Linksintellektuellen galt, wirkte dem Einfluß des „Vansittartismus" in der Labour Party entgegen und wies auf eine entscheidende Schwäche der Vansittartschen Auffassung hin: „Die Ansichten Vansittarts gründen sich auf die Lehre von der Unveränderlichkeit des Volkscharakters. Es gibt nichts, was diese Annahme bestätigen würde. Im 17. Jahrhundert betrachteten die Franzosen die Engländer als ein wildes Volk, das seine Freizeit ausfüllt mit der Köpfung der Könige ..."

Schützenhilfe’ erhielten die „Vansittartisten" dagegen von Nicholas Murray Butler, dem sehr konservativ eingestellten Präsidenten der New Yorker Columbia-Universität, der 1944 der Schriftenreihe in „Prevent World War III schrieb, bei Kriegsende könnten die Deutschen einzig und allein als „überführte Verbrecher" behandelt werden, und es werde einer mindestens 25jährigen geistigen Säuberung der Deutschen bedürfen, ehe man mit ihnen international wieder auf gleichem Fuß verkehren könne

Der „Vansittartismus" stand schon aus dem Grunde Liberalen nicht, gut an, weil er den Geist der Vergeltung atmete und von den Segnungen einer „harten" Außenpolitik überzeugt war. Außerdem geriet der „Vansittartismus" in krassen Widerspruch zu linken Grundanschauungen, wenn er, über die Brandmarkung von Junkertum und Schwerindustrie weit hinausgehend, das gesamte deutsche Volk als Träger des Nationalsozialismus ansah und dadurch von der Schuld der Ersteren ablenkte.

Der wundeste Punkt des „Vansittartismus" und das stärkste Argument seiner Gegner war die Tatsache, daß seine Grundthese „Hitler ist Deutschland" identisch war mit der Grund-these der NS-Propaganda; wie der „Vansittartismus" auch in seiner Deutung der deutschen Geschichte nichts anderes tat, als eine seit der Romantik verbreitete konservativ-deutsche Selbstinterpretation mit negativem Akzent neu zu präsentieren: daß Untertanen-treue und germanisch-reckenhafter Sinn die Deutschen von jeher ausgezeichnet hätten und ihrem wahrsten Wesen entsprächen, hatten ja von jeher konservative und nationalliberale Geschichtsinterpreten behauptet.

Wenn diese Argumente zeigen, daß das Geschichtsbild des „Vansittartismus" aus stark voreingenommener Quelle stammt, so beweisen sie noch nicht, daß dies Geschichtsbild grundfalsch ist. Es entsprach der historischen Realität mindestens ebenso wie die in gleicher Weise klischeehafte Vorstellung vom „anderen Deutschland", die im übrigen oft eine Art Komplementärideologie zum „Vansittartismus" bildete.

Wenn der „Vansittartismus" den Nationalsozialismus ganz aus typisch deutschen Voraussetzungen herleitete, so bewegte er sich nicht nur insofern auf ausgefahrenen Gleisen, als er sich in negativer Weise jene deutsch-nationalistische Vorstellung zu eigen machte, daß Deutschland etwas Besonderes sei und von jeher einen anderen Weg als die westliche Welt genommen habe, sondern auch insofern, als er den westlichen Nationalismen schmeichelte und auf diese Weise die Empörung über den Nazismus in unproduktive und herkömmliche Kanäle leitete.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Erich Stern, Die Emigration als psychologisches Problem, Boulogne-sur-Seine 1937, S. 40.

  2. Ludwig Marcuse, Mein zwanzigstes Jahrhundert, Fischer-Bücherei Nr. 884, S. 222.

  3. Peter Gay, Weimar Culture: The Outsider as Insider, in: The Intellectual Migration, ed. D. Fleming /B. Bailyn, Harvard University Press 1968, S. 13 (eine deutsche Übersetzung erscheint in Kürze).

  4. Neue Volkszeitung (NVZ), New York, 8. 10. 1938, S. 3.

  5. Neues Tagebuch, 23. 3. 1935, zit. n. Leopold Schwarzschild, Die Lunte am Pulverfaß, Hamburg 1965, S. 120.

  6. Kurt Hiller, Köpfe und Tröpfe, Hamburg /Stuttgart 1950, S. 113.

  7. Zeitschrift für Sozialforschung, 8. Jg., 1939, H. 1— 2, S. 122/135.

  8. Intellectual Migration, S. 12.

  9. Der Spiegel vom 8. 10. 1958, S. 56.

  10. Freies Deutschland (Mexiko) August 1944, S. 30.

  11. Heinrich Mann, Der Sinn dieser Emigration, Paris 1934, S. 28 und 33, zit. n. Exil-Literatur 1933 bis 1945 (Ausstellungskatalog), Frankfurt 19662 S. 160.

  12. Ebenda.

  13. Exil-Literatur, S. 231.

  14. NVZ, 23. 11. 1946, S. 7.

  15. Social Research, 11/1944, S. 112.

  16. Neue Weltbühne, Jg. 1936, No. 6, S. 160 ff., zit.

  17. Zit. n. Aufbau (New York), 28. 6. 1940, S. 2.

  18. Martin Dies, The Trojan Horse in America, New York 1940, S. 316.

  19. Ebenda, S. 317.

  20. Aufbau (AU), 12. 5. 1944, S. 32.

  21. In: Nachlaß Paul Hertz, Mappe F (Amsterdam, Internat. Institut für Sozialgeschichte).

  22. Gerhart H. Seger und Siegfried Marek, Germany: to be or not to be?, New York 1943, S. 63.

  23. NVZ, 22. 11. 1947, S. 4.

  24. AU, 3. 3. 1944, S. 4.

  25. AU, 3. 12. 1943, S. 4.

  26. AU, 24. 12. 1943, S. 27.

  27. NVZ, 4. 3. 1939, S. 5.

  28. Congressional Records, vol. 90, part 10 A 3084.

  29. Erich Matthias, Sozialdemokratie und Nation, Stuttgart 1952, S. 268 f.; Exil-Literatur, S. 112.

  30. Zit. n. Exil-Literatur, S. 113.

  31. E. Matthias, Sozialdemokratie und Nation, a. a. O., S. 271.

  32. Fyil-T iteratr 's 11 3

  33. Kurt Großmann, Hans Jacob, The German Exiles and the „German Problem". Journal of Central European Affairs 4/1944— 45, S. 184.

  34. Eckart Kehr, Das Primat der Innenpolitik (hrsg. v. H. -U. Wehler), Berlin 1965, S. 273.

  35. AU, 6. 1. 1936, S. 2.

  36. AU, 6. 1. 1936, S. 2.

  37. AU, 1. 4. 1935, S. 2.

  38. Auch andere Emigranten setzten anfangs Hoffnung auf Mussolini: vgl. Schwarzschild, S. 59; Hans Habe, Ich stelle mich, Wien /München /Basel 1954, S. 234 f.

  39. AU, 7. 11. 1941, S. 3.

  40. AU, 17. 7. 1942 S. 6.

  41. Gunter Moltmann, Amerikas Deutschlandpolitik im Zweiten Weltkrieg, Heidelberg 1958, S. 21

  42. AU, 31. 7. 1942, S. 6.

  43. NVZ, 12. 9. 1942, S. 1.

  44. Ebenda. .

  45. AU, 17. 12. 1943, S. 1.

  46. AU, 1. 2. 1935, S. 5.

  47. AU, 3. 7. 1942, S. 5.

  48. AU, Januar 1936, S. 10.

  49. AU, Sept. 1935, S. 9.

  50. Ebenda.

  51. AU, 1. 4. 1936, S. 5.

  52. AU, Sept. 1935, S. 8.

  53. AU, 9. 2. 1940, S. 1 (= Staatszeitung vom 21. 1. 1940).

  54. AU, 23. 2. 1945, S. 3.

  55. NVZ, 15. 4. 1944, S. 4.

  56. AU, 2. 3. 1945, S. 7.

  57. Freies Deutschland, August 1942, S 29

  58. AU, 14. 4. 1944, S. 9.

  59. Der Spiegel, 7. 5. 58, S. 41.

  60. Karl Lange, Hitlers unbeachtete Maximen, Stuttgart 1968, S. 84.

  61. George W. F. Hallgarten, Das Schicksal des Imperialismus im 20. Jahrhundert, Frankfurt 1969, S. 70.

  62. Review of Politics 3/1941, S. 432 (G. Briefs).

  63. Alfred A. Häsler, Das Boot ist voll, Zürich /Stuttgart 1967, S. 96.

  64. Review of Politics 3/1941, S. 436.

  65. Hallgarten, a. a. O.

  66. Erich Matthias (Hrsg.), Mit dem Gesicht nach Deutschland .. . Aus dem Nachlaß von Friedrich Stampfer . .. , Düsseldorf 1968, S. 619.

  67. PM, 3. 5. 1944, zit. n. K. O. Paetel, Bericht über Presseäußerungen, in Nachlaß Paul Hertz, S. 16— 1 c.

  68. Stuart Samuels, in: Die europäischen Linksintellektuellen zwischen den beiden Weltkriegen, München 1967, S. 96.

  69. Zit. n. Freies Sept. 1942, S. 29.

  70. „Prevent World War III", vol. 1, no. 2 (JuneJuly, 1944), S. 7.

Weitere Inhalte

Joachim Radkau, geb. am 4. Oktober 1943, hat vor kurzem in Hamburg eine historische Studie über „Die deutschen Emigranten und die Ära Roosevelt: Gruppierungen und politische Tendenzen in der USA-Emigration 1933— 1945" abgeschlossen, der der nachfolgende Aufsatz entnommen ist.