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Der sowjetisch-chinesische Konflikt Zur Vorgeschichte der Konfrontation im ostsibirischen Raum und in Zentralasien | APuZ 10/1970 | bpb.de

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APuZ 10/1970 Sinkiang im sowjetisch-chinesischen Spannungsfeld Der sowjetisch-chinesische Konflikt Zur Vorgeschichte der Konfrontation im ostsibirischen Raum und in Zentralasien

Der sowjetisch-chinesische Konflikt Zur Vorgeschichte der Konfrontation im ostsibirischen Raum und in Zentralasien

Erwin Erasmus Koch

/ 49 Minuten zu lesen

Vorbemerkung

Karte 2 (zum Beitrag von E. E. Koch): Das russisch-chinesische Grenzgebiet zwischen Baikal-See und Wladiwostok

Unmittelbar vor der sowjetisch-chinesischen Konferenz in Peking im Herbst 1969 hatten auf dem Amur erneut Zusammenstöße zwischen Grenztruppen und Grenzbewohnern beider Seiten stattgefunden. Ebenso kam es an den Grenzen Sinkiangs und Kasachstans und am Pamir abermals zu Schießereien. Die Regierungen der UdSSR und der VR China enthielI ten sich dazu der vorher bei derartigen Gelegenheiten üblich gewordenen martialischen Drohungen; sie hüllten sich im Hinblick auf die bevorstehenden Verhandlungen in Schweigen.

Sowjetische Diplomaten erklärten nach Presseberichten im November 1969 in Bonn und anderen europäischen Hauptstädten — sinngemäß — tast gleichlautend zur Lage: „Wir verhandeln in Peking; es geht um die Erörterung von Vorschlägen zur Lösung der Grenzprobleme. Es geht uns dabei nicht zuletzt auch um die Wiederherstellung der freundschaftlichen Bande und die volle Wiederaufnahme der diplomatischen Beziehungen, ferner um den Austausch von Wirtschaftsgütern und die Zusammenarbeit, wie es früher üblich war. Die Regierung der VR China wünscht zweifellos ebenfalls keine Verschärfung der Situation. Sollten unsere Bemühungen aber fehlschlagen, wäre die Lage an den Grenzen in Fernost, in Ost-Sibirien und im Grenzland der zentralasiatischen Sowjetrepubliken wahrscheinlich ernster denn je zuvor. Aber die UdSSR will ihr Äußerstes tun, um zur Beilegung der Streitigkeiten beizutragen."

Einige Andeutungen sowjetischer Diplomaten dem Autor gegenüber bestätigten die pessimistische Prognose für den Fall eines Scheiterns der Verhandlungen: „Falls China darauf beharrt, daß alle Territorien des Festlandes östlich des Baikalsees eigentlich chinesisch und nur durch angeblich ungleiche Verträge russich geworden seien, wie es Mao Tse-tung bereits zum Ausdruck brachte, wenn China also unter dieser Argumentation Landforderungen geltend machen sollte, werden Verhandlungen zur Demarkation der Grenze zwecklos sein. Die Sowjetunion wird niemals einen Fußbreit Bodens ihres Territoriums preisgeben. Es wäre von den Chinesen töricht, das Rad der Geschichte zurückbewegen zu wollen. Sibirien und Zentralasien, soweit es sich um Sowjetrepubliken handelt, sind in einem historischen Entwicklungsprozeß russisch geworden, aber niemals durch Landraub, wie die Chinesen behaupten. Betrachten Sie die Geschichte Tibets, dann wissen Sie, wer in Asien Landraub begangen und auf diese Weise insgesamt schließlich ein imperialistisches Reich, das größte der Erde, gebildet hat. Sinkiang und die Innere Mongolei gehören ebenso wie ganz Südchina zu den eroberten Gebieten. China hat daher eine 5000jährige Erfahrung Schwächeren ungleiche Verträge aufzuerlegen."

Sieht man von dem polemischen Ton in den Äußerungen der sowjetischen Diplomaten — die ungenannt bleiben wollten — ab, so kann nicht bestritten werden, daß sich auch die kommunistischen Chinesen „ungleicher Verträge" bedienten. Im Falle Tibets ist das ganz eindeutig. Unter den westlichen wie den zum Ostblock gehörenden Beobachtern der mutmaßlichen Einstellung der Führer im Kreml herrscht — und das stimmt mit dem Vorstehenden überein — die Ansicht vor, daß ein offenkundiger Fehlschlag der Verhandlungen in Peking Grenzkriege oder auch einen größeren sowjetisch-chinesischen Krieg nach sich ziehen würde. Vom Ausgang der Gespräche hängt also Entscheidendes ab — nicht nur für die unmittelbar beteiligten beiden Mächte.

Die Konfrontation in Ost-Sibirien und in Fernost

Karte 3: Die ungleichen Verträge und ihre territorialen Konsequenzen in chinesischer Sicht

Im folgenden wird vor allem über die jahrhundertealte Vorgeschichte der Konfrontation der beiden Großmächte in Asien berichtet, aus der Überzeugung heraus, daß erst die Kenntnis dieser Dimension die Bildung eines begründeteren eigenen Urteils über die aktuelle Situation erlaubt — und über die Hypotheken, die auf den gegenwärtigen Grenzverhandlungen lasten.

Der Vertrag von Nertschinsk und der Kampf um seine Annullierung Am 24. Tage des 7. Monats im 28. Jahr des Kaisers Kiang-H'si aus der Ch'ing-Dynastie, dem Geschlecht der Mandschu, am 6. September 1689, war in Nertschinsk nahe der Schilka von russischen und chinesischen Gesandten ein Vertragswerk unterzeichnet worden (Vgl. hierzu und zum folgenden Karte 1 auf S. 32/33 und Karte 2 auf S. 49.) Die Chinesen hatten zuvor 15 000 Mann östlich der Schilka, eine vielfache Übermacht gegenüber der Kosaken-Eskorte des russischen Gesandten Golowin, versammelt, und gleich zu Beginn der Verhandlungen ließ der chinesische Prinz Songgotu die militärische Stärke des Himmels-sohnes Kiang-H'si durchblicken. Im Gefolge Songgotus befanden sich übrigens zwei Jesuiten-Padres, die Geographen und „Grenzfachleute" Gerbillon und Pereyra. Sie hatten für Kiang-H'si ein kartographisches Werk ausgearbeitet, so daß dieser wohl der erste chinesische Kaiser war, der eine annähernd richtige Vorstellung von den Grenzen Chinas hatte. Die Chinesen wollten „reinen Tisch machen". Aus den Protokollen über die Vorgänge geht hervor, was die Chinesen — wohl bis heute — letztlich von Sibirien beanspruchen: „das ganze Land östlich des Baikalsees". Die Chinesen drängten, Zar Peter möge anerkennen, daß diese Gebiete chinesischer Besitz seien; der Baikalsee sollte zur Grenzscheide werden. Da Rußland damit ganz Ost-Sibirien aufgegeben hätte, mußte Golowin ablehnen. Erst nach langen Verhandlungen erklärte Songgotu, er bestehe nicht mehr auf der Baikalsee-Grenze, aber dann müßte die Schilka von ihrer Mündung bis Nertschinsk die Trennungslinie bilden.

Golowin willigte gemäß den ihm vom Zaren erteilten Weisungen jedoch nur in die Abtretung des Gebietes am Amur bis zur Festung Albasin ein, einer Grenzsiedlung in Daurien östlich des Jablonoi-Gebirges, etwa in der Mitte „des ganzen Lands östlich des Baikalsees" gelegen. Das war Prinz Songgotu zu wenig. Die Jesuiten vermittelten: Die Grenze sollte an der Gorbitza verlaufen, einem Nebenfluß der Schilka. Damit wiederum durfte sich der Gesandte des Zaren nicht einverstanden erklären, so daß der Abbruch der Verhandlungen unvermeidbar schien. In der folgenden Nacht setzten dann die 15 000 chinesischen Soldaten über die Schilka. Die Umzingelung Nertschinsks veranlaßte Golowin zum Nachgeben. Einige Tage später wurde der Vertrag unterzeichnet. (170 Jahre später beriefen sich die Russen den Chinesen gegenüber auf diese militärische Demonstration, als sie den Vertrag von Nertschinsk als erpresserisches Diktat bezeichneten und ihn für nichtig erklärten.) Der Grenzverlauf blieb jedoch zu großen Teilen ungenau oder völlig verschwommen. Eine genauere Fixierung der Grenze wurde — im Westen — lediglich bis zum Fluß Gorbitza und weiter am Argun entlang vorgenommen. Irgendwo in der Mongolei verlief sie sich. Im Osten sollte sie vom Stanowoi-Gebirgskamm gebildet werden. Alle Flüsse „aus der mittäglichen Seiten" des Gebirges sollten zu China gehören. Im äußersten Osten blieb sie wieder unbestimmt. Die Russen wußten nur wenig, die Chinesen aber gar nichts vom Land am Ochotskischen Meer.

Aber eines stand fest: Der Amur sollte auf beiden Ufern zum chinesischen Reich gehören. Der Verlust des Stromes wurde in Moskau zunächst keineswegs bedauert. Der Amur lag ja „so weit weg". 1969, im Zeichen der Konfrontation, wurde von sowjetischer Seite behauptet, der Vertrag von Nertschinsk sei ein Diktat und daher nichtig gewesen. Die Verträge von Aigun (1858) und Peking (1860) seien de facto an die Stelle des Nertschinsker Diktats getreten (zwei Abkommen, die die Chinesen nun ihrerseits als Diktat, als „ungleiche Verträge" bezeichnen).

Tatsache ist, daß die Regierung des Zaren 1728 ohne jeden Zwang den Nertschinsker Vertrag ausdrücklich bestätigte, um den russischen China-Handel — der strengen Absperrung des Reichs der Mitte zum Trotz — endlich regeln zu können. Ein Kaufmann deutscher Abstammung, Lorenz Lange, von Beruf „Karawanendirektor", hatte etwa 40 Jahre nach dem Abschluß des Nertschinsker Vertrages — es war 1728 — einen Staatsvertrag zur Regelung des Karawanenhandels mit China vorbereitet. Der Handel sollte allerdings ausschließlich über den Grenzort Kjachta, südöstlich des Baikalsees, und über die Seidenstraße durch die Mongolei abgewickelt werden. Die chinesische Regierung verlangte im Kjachta-Abkommen die Bestätigung des Vertrages von Nertschinsk. Lange setzte sich durch, während die Chinesen als Gegenleistung die „ewige" Dauer des Kjachta-Vertrages bekräftigten.

Als aber bald danach die Uiguren in der Dsungarei einen Aufstand zur Abspaltung der Nordwest-Provinz vom Reich begannen und das chinesische Heer mit der Niederschlagung der Revolte beschäftigt war, verlangte Lorenz Lange in der veränderten Situation — als erster in einer langen Reihe von russischen Politikern und Militärs —, daß „der Nertschinsker Vertrag unter allen Umständen revidiert" werde. Er hatte jedoch keinen Erfolg'damit. (Im übrigen wurde auch der Kjachta-Vertrag bald wirkungslos.)

Wiederum einige Jahre später, 1740, reiste der deutschstämmige „Reichshistoriograph" G. F. Müller im Auftrage der Zarin Anna Iwanowna in das Amur-Grenzgebiet. Er sollte erkunden, ob es möglich wäre, von Sibirien einigermaßen sicher nach Kamtschatka zu gelangen. Wenige Jahre zuvor (1716) hatte die Tragödie der Kamtschadalen begonnen. Kosaken rotteten innerhalb von zwei Jahrzehnten die Urbevölkerung nahezu aus.

Kamtschatka sollte als ferner Stützpunkt russicher Macht „unverbrüchlich" bei der Krone des Zaren bleiben, ebenso wie die entlegene Taimyr-Halbinsel. Aus Müllers Bericht wurde deutlich, daß der Amur doch nicht „so weit weg" und keineswegs für Rußland ohne besonderen Wert war. Denn der einzige annehmbare Weg nach Kamtschatka, so Müller, führe über den Amur und durch das freie Meer. In einer „Denkschrift über den Amur" für die Zarin schilderte er (1741) „den leicht befahrbaren, klippenlosen Strom von ansehnlicher Tiefe, die es ermöglichte, daß ihn auch Seeschiffe befahren können" Erneut warf er die Grenzfrage mit China auf: „Der Nertschinsker Vertrag war erzwungen und wider das allgemeine Völkerrecht, Rußland ist von China in Nertschinsk hintergangen und vervorteilet worden. Die Zeit ist gekommen: China muß das Rußland angetane Unrecht vorgestellt werden." Rußland könne von China sogar Reparationszahlungen verlangen

Die höchsten Stellen in Moskau wurden nachdenklich. Einerseits war der Amur ausdrücklich an China abgetreten, andererseits war ohne Frage die Unterzeichnung des Vertrages von Nertschinsk unter der Androhung von Waffengewalt erzwungen worden.

Lorenz Lange, nunmehr „Vize-Gouverneur von Sibirien", unterstützte Müllers Denkschrift mit einem eigenen Aide-memoire, dessen Hauptthese war, daß der Vertrag von Nertschinsk zu annullieren sei. Mit dem Amur verband sich ständig mehr der Gedanke an „die Unverletzbarkeit des russischen Territoriums Kamtschatka". 1753, unter der Regierung der Zarin Elisabeth, wurde in Nertschinsk mit der Ausrüstung einer Expedition begonnen; sie sollte „über die Schilka und den Amur nach Kamtschatka auch Japan und die amerikanische Küste" erreichen. Ssemjonow, ein Mitarbeiter Peters des Großen, war zum Leiter der Expedition ernannt worden. Bereits 1722 hatte er dem Zaren das Konzept dieser „Erkundungsfahrt nach neuen Ländern" vorgetragen: Der Amur würde ein wichtiges Glied für den Zusammenhalt des russischen Weltreiches bilden. Ssemjonow kam indessen mit den Vorbereitungen der Expedition nicht voran. Er ließ lediglich das Fahrwasser der Schilka untersuchen. Ein weiterer deutschstämmiger „Sibirier" trat inzwischen auf den Plan, Wilhelm Jakobi der Kommandant der sibirischen Festung Selenginsk. Er riet in seinem Bericht der Zarin (Katharina), sie möge soviel Militär wie möglich zwischen Nertschinsk und Selenginsk zusammenziehen. Dann erst sollte China zu Verhandlungen aufgefordert werden; falls die Chinesen ablehnten, sei ohne weiteres das linke Ufer des Amur zu besetzen.

Katharina zögerte noch; sie forderte schließlich Müller zur Eingabe einer neuen Denkschrift auf (1763). Mehr als ein Jahrhundert, bis 1882, blieb diese Analyse übrigens in den Geheim-archiven verborgen. Müller begründete „das Recht Rußlands auf den Amur und die Mehr-zahl des mongolischen Volkes". Der Krieg sei unvermeidlich: „China muß beizeiten und endgültig in seine Grenzen verwiesen werden". Von Müller stammt auch der Plan einer Grenzziehung, der, von wenigen Einzelheiten abgesehen, genau der sowjetisch-chinesischen Grenze entspricht, die Peking heute unter allen Umständen zu korrigieren wünscht. Müllers Grenzplan nahm auch schon die Okkupation und Besitzergreifung von Tannu-Tuwa vorweg, das — im äußersten Nordwesten der Mongolischen Volksrepublik dicht vor Sinkiang gelegen — 1944 als Autonomes Gebiet Tuwa der Sowjetunion eingegliedert wurde. Weiter empfahl Müller die Besetzung der gesamten Mongolei. Sein strategisches Konzept lief auf die Annexion Nordost-China hinaus. Katharina wagte jedoch den Krieg nicht. Ebensowenig fanden sich die ihr nachfolgenden Zaren dazu bereit.

Die russische Haltung in diesen Jahren dokumentierte der Sekretarius der Zarin Katharina, Chaprowitzky. Er schrieb am 13. April 1788 in sein Tagebuch: „Vor dem türkischen Krieg hätten wir vielleicht doch die chinesischen Angelegenheiten in Angriff nehmen sollen. Sechs Regimenter standen dazu bereit, und wir würden uns nicht in einen allgemeinen Krieg verwickelt haben."

Chaprowitzky fügte später einen Nachsatz an.

„Rußland wird jedenfalls auf den Amur nicht verzichten können." Diese Ansicht entwickelte der Admiral der russischen „Ost-Flotte", Gawril Ssarytschew (1793) weiter: „Hätte Rußland den Amur, wäre es Herr des östlichen Ozeans. Rußland könnte den Handel auf den dortigen Meeren mit weit größerem Vorteil als irgendeine andere europäische Macht führen."

Den Gedanken an den Amur drängte allerdings zeitweise ein anderes russisches Abenteuer etwas in den Hintergrund Zar Paul setzte am 8. Juli 1799 seinen Namen und sein Siegel unter die Konzession der „im Allerhöchsten Schutz stehenden Russisch-Amerikanischen Kompanie".

Die Gesellschaft erhielt die Zusicherung des Beistandes „unserer (der kaiserlichen) Land-und Seestreitkräfte", das Recht auf Jagd und Fischfang und auf Ausbeutung der anderen Naturschätze an der amerikanischen Küste vom 55. Grad nördlicher Breite bis zur Beringstraße, ferner „neue Entdeckungen auch südlich des 55. Breitengrades zu machen und die von ihr entdeckten Gebiete in Besitz zu nehmen. ..."

Die russische Erschließung Alaskas begann. Sibirien hatte zwar nicht den Amur, den Grenzfluß, jedoch eine Subkolonie erhalten, ein Land ungeheuer reich an Pelztieren, aber sonst, wie es schien, ohne Wert. Das Intermezzo dauerte ungefähr 70 Jahre. Am 18. Oktober 1867 wurde Alaska in Sitka auf der Baranow-Insel durch den Kapitän Alexej Petschurow nach Niederholen der Fahne des russischen Gouverneurs dem amerikanischen Kommissar, General L. H. Rousseau, übergeben. Bestimmend für diesen Schritt der Russen war auch der Umstand, daß der russische Generalstab keine Möglichkeit sah, Alaska im Ernstfall zu verteidigen.

Auch während des Zwischenspiels in Alaska ruhte jedoch nicht der Kampf um den Amur und die Revision des Vertrages von Nertschinsk. 1801 faßte der Gouverneur und Militärbefehlshaber von Ost-Sibirien, General von Strandmann, in einem Aide-memoire für den Zaren Alexander I.seine Vorstellungen so zusammen: „Wir müssen mit den Chinesen in Verhandlungen über die Grenzrevision und die Amur-Schiffahrt eintreten. Sollten sie nicht darin einwilligen, dann müßte Gewalt gebraucht werden."

Strandmanns Vorschläge hatten zur Folge, daß Zar Alexander eine Delegation, geführt vom Grafen Juri Golowkin, nach Peking entsandte. Mandarine des Kaisers von China hielten sie jedoch im mongolischen Urga fest. Die Formalitäten nahmen kein Ende, so daß Golowkin schließlich umkehrte. Die Russen hatten nicht allein über den Amur unterhandeln sollen, sondern auch über die russisch-chinesische Handelsschiffahrt. Es sollte eine Schiffslinie von Kronstadt nach Tientsin und Schanghai eingerichtet werden.

Graf Juri Golowkin traf 1812 mit Goethe zusammen. In Goethes Tagebuch sind die Ansichten Golowkins und seines Begleiters aus dem Außenministerium des Zaren, des deutsch-stämmigen Wiegel, zusammengefaßt: „Rußland müßte — ohne China zu fragen — an der Mündung des Amur einen der größten Kriegs-und Handelshäfen seiner Besitzungen im Fernen Osten anlegen. Es sollte sich nicht mit diesen jämmerlichen Häfen Petropawlowsk (Kamtschatka) und Ochotsk (Ochotskisches Meer) aufhalten. Der Hafen an der Amur-Mündung wäre hundertmal nützlicher als die törichten russischen Besitzungen in Amerika. Es gibt in Irkutsk, Nertschinsk und Transbaikalien kaum einen Menschen, der nicht über Daurien redet. Es sei das verlorene Paradies." Etwas später (1824) schrieb Graf N. S. Mordwinow von der Russisch-Amerikanischen Kompanie an den Außenminister des Zaren, Graf Nesselrode:

„Wir hätten den Amur niemals China überlassen dürfen, aber wir verachteten die Wildnis der abgetretenen, fernen Gegenden. Heute trauern wir, daß der einzige ins freie Meer führende Strom Ost-Sibiriens nicht in den russischen Grenzen liegt. Wir betrauern einen ungeheueren Verlust. Kann er wiedergutgemacht werden?"

Der historische Verlauf der Wiedergewinnung des Amur durch Rußland ist abenteuerlich.

Juri Wassiljew, Zwangsarbeiter in Ost-Sibirien, floh 1815 aus einem Sträflingslager im Norden Er verbarg sich in der Taiga, aber tungusische Nomaden stöberten ihn auf. Ein kostbarer Fang; denn der Gouverneuer hatte ein Kopfgeld (drei Rubel) auf jeden entsprungenen und wieder gefangenen Zwangsarbeiter ausgesetzt. Wassiljew kam ins Lager zurück, floh abermals, wurde wieder gefaßt und nach Nertschinsk gebracht. Der Deportierte gab nicht auf; er floh ein drittes Mal und hatte mehr Glück, In der fremden Wildnis stieß er auf einen großen Strom: den Amur. Auf einem kleinen Boot fuhr er den Fluß hinab, fiel allerdings den Mandschu in die Hände, die ihn zur chinesischen Festung Aigun brachten. Wassiljew entkam auch den Chinesen. Er ließ sich mit einem Boot den Amur weiter hinab der Mündung zu treiben, in den Liman, das zum Teil flache Meer zwischen dem Strom-Delta und der Insel Sachalin. Noch einmal nahmen ihn Tungusen gefangen, und wieder lieferten sie ihn den Russen aus.

Aus dem Bericht Wassiljews über seine Flucht erfuhren die Behörden in Petersburg, daß die Amurmündung entdeckt worden war (1828). Nach Wassiljews Angaben konnte der Amur auch von größeren Handelsschiffen befahren werden. Außerdem stand nach seinen Schilderungen fest, daß die Chinesen das Amur-Gebiet weder befestigt noch besiedelt noch eigentlich in Besitz genommen hatten; den Unterlauf des Stromes kannten sie offenbar nicht einmal.

Auch Generalgouverneur Murawjew las den Bericht Wassiljews. Berichte über Mißstände, die ein Senator, Graf Tolstoi, in der sibirischen Administration aufgedeckt hatte — Korruption, Vetternwirtschaft, Gesetzlosigkeit, Bürokratismus und in den Goldminen Fälle unglaublicher persönlicher Bereicherung von Beamten —, hatten den Zaren Nikolaus I. veranlaßt, den jungen Murawjew an die russische Ostgrenze zu entsenden (1847). Der neue Generalgouverneur sollte in einem der entferntesten Winkel des russischen Reichs Ordnung schaffen.

Außerdem hatte Murawjew, gestützt auf den Bericht Wassiljews, den Zaren überzeugt, daß der Amur unter allen Umständen wieder russisch werden müßte. Es gelte eigentlich nur, herrenloses Land mit wahrscheinlich unerhört reichen Bodenschätzen förmlich in Besitz zu nehmen. Das — auch durch die Folgen der Opiumeinfuhren Englands — innerlich geschwächte China würde militärisch nichts dagegen unternehmen. Es hätte fast 200 Jahre lang kein Interesse mehr für die Territorien am Pazifik bis zum Amur und darüber hinaus gezeigt.

Kurz bevor Murawjew Generalgouverneur von Ostsibirien wurde, hatte ein deutscher Einwanderer, A. v. Middendorf im Verlauf einer Expedition (1845) zur Erforschung der Halbinsel Taimyr und des Gebietes der Jakuten die chinesisch-russische Grenze im Nordosten auf dem Rückweg in das russische Transbaikalgebiet mehr zufällig inspiziert. Middendorf war an die Küste des Ochotskischen Meers gelangt, in die späteren „Maritimen Provinzen". Er stellte fest, daß die Chinesen nicht einmal Grenzzeichen aufgestellt hatten, wie es der Vertrag von Nertschinsk vorsah. Es waren zwar Steinpyramiden mit Beschriftungen zur Kennzeichnung des Grenzverlaufs errichtet worden. Sie standen aber viel weiter südlich an den Nebenflüssen des Amur. Der Nertschinsker Vertrag hatte einen nördlicheren Verlauf festgelegt.

Offenbar waren die Chinesen an der Grenze und dem Grenzland wenig interessiert. Sie hatten sogar das linke Ufer des Amur einem kleinen Volk überlassen, den Giljaken. Diese Fischer, Jäger und Ackerbauer mongolischer Herkunft waren vom Gebiet im Delta des Amur nach Süden gezogen. Middendorf stellte in seinem Bericht fest, daß südlich des Flusses Tugur und dem letzten russischen Grenzposten bis zur Mündung des Amur sich ein wildes Niemandsland ausbreite. Die Chinesen hätten nirgendwo die Oberhoheit.

Später schlug Middendorf Murawjew eine Informationsfahrt von der Mündung des Amurstroms aufwärts vor. Insbesondere sollte die Tiefe des Flusses möglichst genau gemessen werden. Nur wenn die Seeschiffahrt vom östlichen Meer her auf dem Amur fortgesetzt werden könnte, bekäme der Besitz des Stromes für die Russen ein solches Gewicht, daß man den Vertrag von Nertschinsk annullieren sollte.

Am Hof von Petersburg hatte sich inzwischen eine nicht unbedeutende „Anti-Amur-Clique" gebildet; außerdem gaben die angespannten Beziehungen zwischen Rußland und der Türkei zu denken: Rußland könne keinen „Anderthalbkrieg" führen, nicht zugleich mit den Türken im großen Krieg stehen und gegen die Chinesen einen kleinen Krieg unternehmen.

So ging denn die Inbesitznahme des Amurgebietes zum Teil gegen den Willen und ohne Kenntnis des Petersburger Außenministeriums vor sich. Der Bericht Wassiljews war (1832) in einem Unternehmen des Obersten Ladyschenskij auf ausgedehnten Bootsfahrten nachgeprüft worden. Der Oberst hatte darauf eine Art Generalstabsplan zur militärischen Besetzung des gesamten Amurgebietes ausgearbeitet. Die Soldaten könnten aus den Deportierten und den Zwangsarbeitern in den „Kabinettsbergwerken" — es waren vorwiegend Goldgruben der Romanows — rekrutiert werden. 1848 hatte auch der Kapitänleutnant G. P. Newelskoi ein Freund Murawjews, auf eigene Faust den Amur von der Mündung aus befahren. Er stellte außerdem fest, daß Sachalin entgegen der verbreiteten Annahme keine Halbinsel, vielmehr eine Insel war; er habe dort die russische Flagge gehißt. Sachalin, einer der Brückenpfeiler auf dem Weg nach Japan und China, sollte sich mit seinen reichen Vorkommen an Steinkohle und Erdöl bald zur fernöstlichen Randzone des russischen Imperiums entwickeln.

Die Erforschung des Amur durch Newelskoi stand ebenso im Gegensatz zu den Anweisungen des Außenministeriums in Moskau wie auch seine weiteren Unternehmungen.

1850 segelte er mit der „Baikal" zum Liman an der Amurmündung. Nesselrode sollte nicht mehr ungeschehen machen können, was er,

Newelskoi, auszuführen gedachte. Am nördlichen Ufer des Limans befand sich eine zum Ankern geeignete windgeschützte Bucht. Newelskoi entschloß sich, an ihrem Ufer die erste Befestigung zur Kontrolle der Amurmündung anzulegen; sie wurde zugleich ein Winterlager (Petrowskoje). 25 Kilometer stromaufwärts hißte er abermals die russische Fahne und legte eine zweite Festung an, Nikolajewsk. Murawjew und Newelskoi trafen im Hafen Ajan am Ochotskischen Meer zusammen. Der Generalgouverneur sah sich seinem Ziel näher: Auf jeden Fall war nunmehr der Nertschinsker Vertrag nur noch ein Stück Papier. Der Amur war mit seiner Mündung russisch. Es mußte nunmehr den Chinesen noch beigebracht werden, daß auch der übrige Stromlauf zu Rußland gehörte.

Graf Nesselrode, der das eigenmächtige Handeln Newelkois nicht gutheißen konnte, berichtete dem Zaren, daß, während das Außenministerium alles Erdenkliche zur endgültigen Regelung der russisch-chinesischen Grenze im Sinne des Nertschinsker Vertrages tue, Newelskoi auf chinesischem Territorium russische Grenzfestungen errichtet habe. Der Thronfolger Alexander (der spätere Zar Alexander II.), der bei der Audienz zugegen war, schwenkte auf die Seite Newelskois über: Da der Kapitän Newelskoi an der Mündung des Amur die Fahne Rußlands gehißt habe, dürfe sie nicht wieder eingezogen werden. Der Zar stimmte seinem Sohn schließlich zu.

Inzwischen war der Krieg zwischen Rußland und der Türkei ausgebrochen. Die Großmächte England und Frankreich, so fürchtete man in Petersburg, würden in der kommenden Auseinandersetzung wahrscheinlich der Türkei zu Hilfe kommen, im Fernen Osten könnten sie auf der Kamtschatka-Halbinsel, auf Sachalin und im Amurgebiet landen. Unter diesen Umständen mußte schnell und entschlossen gehandelt werden.

Murawjew war (1853) zur Berichterstattung nach Petersburg befohlen worden. Er hatte zur Amurfrage ein Aide-memoire entworfen, das er Zar Nikolaus vortrug: Rußland solle keineswegs auf Daurien und die Amur-Territorien bis zur Küste des Pazifik verzichten. Wohl aber werde es Alaska aufgeben und nach dem Beispiel der Amerikaner „den großen Bahn-bau" beginnen müssen. Wie die Vereinigten Staaten bald Alaska durch den Bahnbau an sich binden würden, so müsse Rußland eine transsibirische Bahn von Moskau zum Pazifik bauen. Murawjew fuhr fort, daß der Nert-schinsker Vertrag hinfällig geworden sei. Möge die Grenzbestimmung auch in zahlreichen Fällen ungelöst bleiben und für künftige Konflikte vielleicht Anlaß bieten, es stehe jedenfalls fest, daß weder das linke Ufer des Amur in seinem Lauf entlang den Siedlungsgebieten der Mandschu noch an der Mündung auf beiden Ufern unter tatsächlicher chinesischer Hoheit stehe. Die Befürchtungen des Zaren, daß bei etwaigen militärischen Schwierigkeiten mit den Chinesen es an Streitkräften fehlen würde, zerstreute Murawjew mit dem Hinweis auf die große Zahl der Dekabristen und der anderen Verbannten: Er werde aus den Zwangsarbeitern eine Elite von Grenztruppen rekrutieren.

Im Verlauf der Verhandlungen in Petersburg verlor die „Anti-Amur-Clique" an Einfluß und Glaubwürdigkeit. Es setzte sich die Überzeugung durch, daß China Rußland nach der offiziellen Besitzergreifung von Daurien und der Gebiete vom Amur bis zum östlichen Meer sehr wahrscheinlich nicht angreifen würde. Der Zar gab schließlich seine Einwilligung, daß Murawjew Truppen den Amur hinabtransportierte. Der Generalgouverneur von Ost-Sibirien erhielt im Januar 1854 vom Zaren die Bestätigung: „Mit der Regierung von China sind unverzüglich Verhandlungen in Ost-Sibirien zur Neuregelung der Grenzen und damit zur Annullierung des Nertschinsker Vertrages aufzunehmen" Der Zeitpunkt war günstig, um offen auf die „unerläßliche Revidur des Nertschinsker Vertrages" zu pochen, da der beginnende Taiping-Aufstand (1851— 1864) das Gefüge der Mandschu-Dynastie erschütterte und die chinesische Staatsmacht von völligem Verfall bedroht war.

Unterdessen hatte sich Newelskoi auf eigene Initiative eine kleine Truppe aus Giljaken geschaffen und die Gebiete des Kisi-Sees und der Bucht de Castries am tatarischen Golf gegenüber von Sachalin besetzt. Ein neuer Stützpunkt, der Imperatorhafen, war in der Tatarischen Meerenge entstanden, der spätere wichtigste Flottenstützpunkt der UdSSR im Fernen Osten, Sowjetskaja Gawan.

Newelskoi rechnete damit, daß Sachalin in eine künftige Konfrontation Rußlands und Chinas einbezogen werden könnte. Eine Bedrohung Kamtschatkas und der Tschuktschen-Halbinsel an der Bering-Straße war durch die Flottenmächte Europas im russisch-türkischen Krieg mehr denn je gegeben. An allen gefährdeten Punkten, vom Nördlichen Eismeer südwärts zum Ochotskischen Meer weiter zur asiatischen Küste des Östlichen Meers (Pazifik), am Amur, an der Bureja, an der Seja und Schilka müßten Befestigungsanlagen entstehen. Das Land selbst würde den Soldaten eine ausreichende Versorgungsbasis liefern.

Im April 1854 machte sich Murawjew erneut nach Sibirien auf den Weg. Er hatte die Vollmachten des Zaren, China zu veranlassen, die neuen Grenzen anzuerkennen. Er durfte ferner aus den „Kabinettsbergwerken", den Gruben des Zaren, die geeigneten Zwangsarbeiter zum Wehrdienst heranziehen. Der Generalgouverneur von Ost-Sibirien war davon überzeugt, daß er seine Armee nicht nur aus den Zwangsarbeitern würde bilden können, die froh waren, ihr Los mit dem besseren der Soldaten vertauschen zu dürfen, er rechnete auch damit, daß die wehrfähigen Deportierten sich ihm anschließen würden. Sein Kalkül ging auf: Er brachte es tatsächlich fertig, ein Heer von 27 000 Zwangsarbeitern und Deportierten aufzustellen.

Ende 1854 nahm die erste chinesisch-russische Konfrontation um den Amur ihren Anfang. Allerdings war China militärisch so schwach, daß es bei einer diplomatischen Auseinandersetzung blieb. Wie schon erwähnt, erlebte „das Reiche der blühenden Mitte" der Ch'ing-Dynastie (Mandschu) Anfang der fünfziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts einen tiefgreifenden Umbruch. Das „Mandat des Himmels" war wieder einmal brüchig geworden. Die Mandschu, die ihrerseits die Ming-Dynastie in der Mitte des 17. Jahrhunderts gestürzt hatten, sahen sich durch den von der Taiping-Sekte in Südchina entfesselten Aufstand ernstlich bedroht. Murawjew brauchte daher nicht zu befürchten, daß das geschwächte China ihn in einen Krieg verwickeln würde. Andererseits — es war die Zeit des Krimkrieges — mußte mit Aktionen der mit den Türken gegen Rußland verbündeten Mächte England und Frankreich gerechnet werden. Und es kam in der Tat zu einem bedrohlichen militärischen Zwischenspiel. Wie es Newelskoi vorausgesehen hatte, tauchten 1854 britische und französische Fregatten zur Eroberung Kamtschatkas, Sachalins und offenbar auch der Maritimen Territorien im östlichen Meer auf. Murawjew hatte jedoch heimlich auf Newelskois Ersuchen eine Kriegsflotte (Fregatten und mit Kanonen bestückte Frachtschiffe) nach Petro45 pawlowsk, dem besten Hafen Kamschatkas, entsandt und für den Aufbau von Geschütz-stellungen gesorgt. Im Imperatorhafen lagen die Fregatte „Pallada", der Dampfer „Wostok", zwei bewaffnete Frachter und zwei Fregatten der Russisch-Amerikanischen Kompanie. Auf der Reede vor Petropawlowsk formierte sich die feindliche Flotte. Während der ersten Beschießung, die einen ganzen Tag dauerte, konnte ein Landungsversuch abgeschlagen werden. Nach wenigen Tagen wiederholten die Alliierten die Offensive, die abermals zusammenbrach. Petropawlowsk wurde von insgesamt etwa 1000 Kosaken, einigen hundert Soldaten Murawjews und zu den Waffen gerufenen Bürgern verteidigt. Die Flotte der Briten und Franzosen verschwand so plötzlich, wie sie aufgetaucht war.

Murawjew hatte nun wieder Handlungsspielraum, den er nutzte, um eine zweite Amurexpedition durchführen zu lassen (1855). Kundschafter berichteten ihm, auf der chinesischen Seite „im Wüstengebiet" am Amur sei — entgegen den Erwartungen Murawjews — eine chinesische Streitmacht unter dem „Dsan-Sun" (Oberbefehlshaber) Prinz I-Shan aufmarschiert. Bemerkenswert erscheint, daß, während Murawjew noch die chinesische Seite zu Verhandlungen über die Amur-Grenze aufforderte, in Petersburg die Bildung einer neuen Provinz Rußlands, des „Seegebiets", nach der Konzeption Murawjews längst beschlossene Sache und auch bereits intensiv in die Wege geleitet worden war. Die Provinz bestand aus Kamtschatka, der Ochotskischen Küste und den Amur-Territorien. Sachalin bildete eine Kolonie für sich.

Im Zusammenhang mit diesen Ereignissen hatte Murawjew eine „Gesellschaft zur Erschließung des Amur" gegründet; sie sollte für die Schatulle des Zaren die Goldvorkommen erforschen und ausbeuten. Aus den Gefängnissen Rußlands ergoß sich eine weitere Flut von Zwangsarbeitern und Verbannten nach Ost-Sibirien. Aus neuen Ostrogs (befestigten Dörfern), die eilends aufgebaut worden waren, wuchsen neue Städte, so z. B. Blagoweschtschensk.

Die Verträge von Aigun, Tientsin und Peking Murawjew hatte unterdessen eine neue Karte der russischen Ostgrenze und des kolonialen Besitzes anfertigen lassen. Sie nahm vorweg, was China bald darauf akzeptieren mußte

Am 11. Mai 1858 kam es in Aigun auf dem linken Ufer des Amurlunter beiderseitigem militärischem Aufwand — einer Farce, soweit es die Chinesen betraf — zu Verhandlungen. Murawjew wurde von einem Vertreter des Außenministeriums begleitet; Prinz I-Shan führte die chinesische Delegation.

In dem Vertrag von Aigun, dem Ergebnis dieser Gespräche, fiel das Wort „Grenzziehung" offiziell nicht. Es war nur (im Artikel 1) davon die Rede, daß das linke Ufer des Amur vom Fluß Argun bis zur Mündung „Besitz" des Russischen Reiches sei.

In den Verhandlungen vom Oktober 1969 könnte diese Formulierung wieder eine Rolle gespielt haben: Bedeutete die Umreißung des Besitzes im Staatsvertrag zugleich auch eine Fixierung der Staatsgrenze?

Artikel 2 des Vertragswerks bestätigte: „Das rechte Ufer des Amur bis zur Mündung des Ussuri ist Besitz des chinesischen Reichs."

Artikel 3 lautete: „Das Land zwischen dem Ussuri und dem Meer soll bis zur Festsetzung der dortigen Grenze den gemeinsamen Besitz des Kaiserreichs Rußlands und des Kaiser-reichs China bilden."

Eine Art Schiffahrts-und Handelsabkommen schloß sich an: „Der Schiffsverkehr auf den Flüssen Amur, Sungari und Ussuri steht nur Rußland und China offen." Im Interesse der Freundschaft beider Staaten solle es gestattet sein, daß sie miteinander Handel treiben. Murawjew und I-Shan unterzeichneten die russischen, mandschurischen und mongolischen Niederschriften des Vertrags.

Den russischen Soldaten wurde Murawjews „Befehl an die Truppe und Marine im Fernen Osten" verlesen: „Soldaten, der Amur ist ein Teil Rußlands geworden!" Am Zusammenfluß von Ussuri und Amur gründete Murawjew wenige Tage später eine neue Grenzfestung: Chabarowsk. Zar Alexander II. dankte ihm durch besondere Ehrungen: Der Generalgouverneur erhielt den Rang eines Generals der Infanterie und den Titel „Graf Murawjew-Amurski".

Während der Verhandlungen zwischen Murawjew und Prinz I-Shan hatte die russische Regierung einen weiteren Emissär, den Grafen Putjatin, nach Tientsin, dem Peking vorgelagerten Hafen, entsandt. Putjatin schloß ein zweites Abkommen, ohne etwas von den Vorgängen in Aigun zu wissen. Im Juni 1858 brachte der Graf einen Staats-und Handelsvertragzustande, in dem u. a. festgelegt wurde, daß über die Grenzfrage und die russischen Ansprüche auf die Amurterritorien in künftigen Verhandlungen entschieden werden solle. Mehr als die Frage, welcher Vertrag nun rechtens war, interessiert im Blick auf die heutige Situation das Problem, ob es sich 1858, wie die Chinesen behaupten, um „ungleiche Verträge" gehandelt hat. Nach den verfügbaren Dokumenten scheint das nicht der Fall zu sein — trotz der durch Murawjew von vorneherein kartografisch festgelegten Grenzen. Gewiß war China im Zeichen der zusammenbrechenden Dynastie schwach. Rußland hatte diese Schwäche aber nicht wie andere Mächte bedenkenlos ausgenutzt; es hatte weder an der Okkupation von Teilen Chinas noch zwei Jahre später an der Besetzung und Plünderung Pekings durch Briten und Franzosen teilgenommen, es hatte nicht gewaltsam wie die westlichen Alliierten sein vermeintliches Recht in China, vor allem die Öffnung von Häfen und die dauernde Einrichtung einer diplomatischen Niederlassung durchgesetzt. Immerhin ist bemerkenswert, daß schon ein Jahr später (1859) der erste chinesische Protest gegen die Vertragswerke erfolgte. Ein russisches Emissär, General Ignatjew, erhielt in Peking vom Bogdo Khan (Kaiser) den Bescheid, Murawjew habe den Prinzen I-Shan durch die skizzierte Landkarte getäuscht und dabei „zweifelsfreies chinesisches Territorium" in die russischen Grenzen einbezogen. Der Amur sei „von Anfang bis zu Ende" ein chinesischer Strom, sein Name von alters her Heilungkian (Schwarzer Drachen).

Andererseits wurde die Gültigkeit der Verträge von Aigun und Tientsin im November 1860 in Peking durch den Bruder des Bogdo Khan, Kong Sin-Fan, durch Ratifizierung bestätigt Kong Sin-Fan war Reichsverweser für den vor den britischen und französischen Alliierten geflohenen Kaiser. (Der russische Emissär Ignatjew hatte übrigens die Bombardierung Pekings durch die Alliierten mit einer diplomatischen Intervention verhindert.) Kong Sin-Fan erkannte jetzt die Grenze Rußlands auf den Murawjew'schen Karten unter Einbeziehung von bisher noch strittigen Gebieten an.

Murawjew hatte indessen das von Putjatin in Tientsin unterzeichnete Vertragswerk über die spätere Festsetzung der Grenzen auf seine Weise gedeutet. Er entsandte ein Militärkommando in die Urwälder am Ussuri und ließ es die neue Grenze abstecken. An der Mündung wurde ein zum Kriegshafen geeignetes Fischerdorf entdeckt, Hai-schen-wei. Murawjew nannte den Hafen Wladiwostok, „Beherrscherin des Ostens".

Die „Saga vom Amur" hatte damit ihr vorläufiges Ende gefunden.

Die Konfrontation in Sinkiang

Sinkiang — von den ersten Mandschu-Herrschern bis'Stalin Sinkiang im fernen Nordwesten Chinas, 2000 Jahre lang eine fast vergessene Kolonie des Reichs der Mitte und seiner zahlreichen Dynastien, ein „Wüstenareal", neuerdings, seit dem Beginn der atomaren Rüstung Chinas im Lopnor-Distrikt, das Testgebiet für rotchinesische Kernwaffen — diese Autonome Region der Volksrepublik China mit einer Fläche von 1 647 000 Quadratkilometer ist zweifellos eine der wundesten und gefährlichsten Stellen im langgezogenen sowjetisch-chinesischen Grenzverlauf (Vgl. hierzu Karte 1 auf S. 32/33).

Die ersten Mandschu-Herrscher festigten im 17. Jahrhundert zunächst die Kontrolle über Sinkiang; sie regelten besser als bisher die Einziehung der Tribute. Der Kaiser Kiang-H’si, Erbauer des Groß-China-Reichs und Eroberer, zerstörte die Oirot-Jungar Khanate. Es waren muslimische Herrschaftsgebiete der Turkvölker. Kiang-H’si verlegte die Grenzen Chinas 300 Meilen weiter westlich in das Gebiet der späteren Sowjetrepubliken Kasachstan und Kirgisistan. 1758 unterwarf sich auch Taschkent dem Mandschu. Der zentralasiatische Khan von Kokand verpflichtete sich zwei Jahre später zur Tributleistung an den Himmelssohn.

Die russische Kartographie bestätigte die chinesischen Eroberungen. Ein Kartenwerk von 1824 weist den Saissan-See, den Balchasch-See und den Issyk-kul-See innerhalb der chinesischen Grenzen auf. Dagegen zeigt eine sowjetische Landkarte von 1954 den Issyk-kul innerhalb der Kirgisischen SSR, den Saissan-See und den Balchasch-See innerhalb der Kasachischen SSR.

Nach Ansicht von Beobachtern der sowjetisch-chinesischen Grenzverhandlungen in Peking (Konferenzbeginn 20. Oktober 1969) dürfte China diese alten Karten den Sowjets präsentiert und vor diesem Hintergrund von der UdSSR abermals verlangt haben, entsprechend den feierlichen Zusicherungen in der Regierungsepoche Lenins die China entrissenen Territorien zurückzugeben.

Um die Mitte des vorigen Jahrhunderts (1853) hatte sich Rußland zur militärischen Eroberung Sinkiangs entschlossen. Russische Soldaten, vor allem Kosaken, drangen nach Südosten bis zum Balchasch-See vor und gründeten die Stadt Vernij. das spätere Alma Ata. Als sich 1864 die mohammedanischen Minderheiten in Sinkiang gegen das chinesische Joch auflehnten — der Aufstand dauerte 15 Jahre —, drangen russische Truppen tief in Sinkiang ein und nahmen Ili. Die militärisch veränderte Situation und der völkerrechtliche Schwebezustand machten Verhandlungen unumgänglich, die 1879 zum Grenzvertrag von Livadia führten. Rußland willigte in den Rückzug seiner Truppen von Ili ein; China mußte sich zur Abtretung des Tekes-Tales und der Pässe am Tien-Schan-Massiv verpflichten. Die Mandschu-Regierung verweigerte jedoch die Ratifizierung dieses Vertrages. Erst 1881 wurde in Petersburg der Friede besiegelt. Der „Ili-Vertrag" teilte das Ili-Tal: Alle Pässe und das Tekes-Tal (der an kostbaren Mineralen reichere Teil der Ili-Region) kamen zu China; Rußland gewann das Gebiet westlich des Holkutz-Flusses, weil die Einwohner — nach russischer Lesart — wünschten, Bürger des Zarenreiches zu werden.

Knapp 90 Jahre später trug die „Ili-Tal-Frage" wesentlich zur Verschärfung der chinesisch-sowjetischen Konfrontation entlang der sich über 7000 Kilometer hinziehenden Grenze bei.

Das Regime in Peking vertrat 1969 den Standpunkt, daß der Ili-Tal-Vertrag zu den russischen Diktaten, den „ungleichen Verträgen" der Zaren gehöre. Die Grenze sei willkürlich mitten durch das Kasachen-Uiguren-Land gezogen worden.

Zweifellos befand sich dieses Gebiet in zurückliegenden Jahrhunderten unter chinesischen Jurisdiktion. Die chinesische Herrschaft hatte aber mehr und mehr nur noch nominel-j len Charakter, zumal China die „barbarischen Ländereien Zentralasiens" ohnehin lediglich in Satrapien an sich gebunden hatte. Die früheren Herrscher, Emire und Khane, waren ‘ schließlich von den Kosaken und anderen Truppen der Zaren verdrängt worden, und die Kosaken-Hetmane zeigten sich als die eigent-I liehen Herren. Der chinesische Kaiser und seine Mandarine waren weit weg. Tatsächlich stand das Land der Kasachen und Uiguren unter russischer Kontrolle.

Lenins „Manifest an den Osten" (1920) verkündete, daß die den Völkern Asiens von den Zaren geraubten Gebiete und insbesondere die China entrissenen Territorien den ursprünglichen Eigentümern zurückzugeben seien.

Das Manifest wird konkretisiert in zwei Erklärungen des Kommissars für Auswärtige Angelegenheiten, Leo Karakhan.

Sie spielen in den Grenzverhandlungen von Peking, seit Januar 1970, abermals eine Rolle. Karakhan verkündete in der Deklaration vom 25. Juli 1919: „Die Räte-Regierung erklärt sämtliche geheimen Verträge für null und nichtig, die früher von Rußland mit Japan, China und den Ex-Alliierten (Frankreich und England) geschlossen worden waren. Diese Verträge dienten den Regierungen der Zaren und der Alliierten zur Versklavung der Völker des Ostens und insbesondere Chinas." 1920, in der zweiten Deklaration, drückte sich Karakhan noch genauer aus: „Die Regierung der Russischen Sozialistischen Föderativen Sowjetrepubliken erklärt sämtliche von den früheren Regierungen Rußlands mit China geschlossenen Verträge für null und nichtig und widerruft die Gültigkeit aller Annektierungen chinesischen Territoriums sowie aller Konzessionen in China und gibt China, frei von Abgaben und für immer, alles zurück, was ihm durch die Zaren und die russische Bourgeoisie geraubt wurde." 1) Lehrbuch der modernen Geschichte Chinas, erschienen (1) Lehrbuch der modernen Geschichte Chinas, erschienen 1954 in Peking; 2) Historical and Commercial Atlas of China by A. Herrmann, Harvard University Press 1953; 3) den im „Archiv der Gegenwart" fortlaufend veröffentlichten chinesischen und sowjetischen Darstellungen im Rahmen der gesamten Auseinandersetzung; 4) Bruno Skibbe: China, eine Landeskunde; Keysersche Verlagsbuchhandlung, Heidelberg 1959. — Die chinesische Karte zeigt (hier dicke blaue Linie) den Grenzverlauf des chinesischen Imperiums „Vor der imperialistischen Einkreisung Chinas 1840 bis 1919“; diese Grenze entspricht auch den Souveränitätsforderungen der Ersten Republik China.

Es ist in diesem Zusammenhang bemerkenswert, daß eine am 15. Mai 1950 in Moskau erschienene Wandkarte Chinas sowohl das auf der Skizze mit B bezeichnete Territorium (Aksai-Chin-Plateau) wie auch das damals noch zu Tibet gehörende Osttibet wie auch das von der VR China beanspruchte Territorium südlich der soge-nannten MacMahon-Linie in der North-East Frontier Agency Indiens bereits als chinesische Territorien zeigt: das Aksai-Chin-Plateau als Teil Sinkiangs, Osttibet (Tschamdo) als Sikan, die Gebiete südlich der MacMahon-Linie östlich von Bhutan bis zur Südverlängerung der Grenze zwischen Tibet und Tschamdo als Teil Tibets, östlich dieser Südverlagerung als Teil Sikans.

Die in der folgenden Erläuterung der Ziffern und Buchstaben der Karte in Anführungszeichen gegebenen Erklärungen entstammen der genannten chinesischen Karte von 1954.

(A) Ili-Tal: Im Vertrag von St. Petersburg 1831 an China zurückgegeben.

(B) Von China beanspruchtes Gebiet des kaschmirischen Ladakh (Aksai-Chin-Plateau), um das China mit Indien Krieg führte.

(C) Kaschmir (1. Pakistanisch-Kaschmir, 2. Indisch-Kaschmir); endgültige Regelung der Zugehörigkeit beider Gebiete zu einem der beiden Staaten oder Separierung nach dem gegenwärtigen Verwaltungsstand steht noch aus.

I. Afghanistan, II. Pakistan (1. West-, 2. Ost-Pakistan). (1) Der „Große Nordwesten" wurde von der „Pest Asiens, dem russischen Imperialismus" 1864 okkupiert und im Vertrag von St. Petersburg 1881 bestätigt; das Gebiet gehört heute zu den Sowjetrepubliken Kasachstan, Kirgisistan, Tadschikistan. (2) Gehörte ebenfalls zum Mandschu-Imperium, wird aber schon nicht mehr als Erbmasse dieses Reiches angesehen. (3) Das Pamir-Plateau wurde „ 1896 heimlich zwischen England und Rußland geteilt". (4) Nepal „fiel 1898 an England, nachdem es ihm die Unabhängigkeit versprochen hatte". (5) Sikkim „wurde 1889 von den Engländern okkupiert". (6) Bhutan „fiel den Engländern 1865 anheim". (7) Assam „wurde 1876 von Burma unbefugt den Engländern abgetreten“; um die Nordostecke (östlich von Bhutan) führten China und Indien Krieg. (8) Burma „wurde 1866 Teil des britischen Reiches". (9) Die Andaman-Inseln „fielen gleichfalls an die Briten". (10) Malaya „wurde 1895 von England okkupiert". (11) Thailand „gelangte unter anglofranzösische Kontrolle und wurde 1904 . unabhängig’ erklärt". (12) (1. Laos, 2. Nord-und 3. Süd-Vietnam, 4. Kambodscha) Annam „wurde 1895 durch die Franzosen gestohlen". (13) Taiwan (Formosa) und die Penghu-Inseln (Pescadores) „wurden Japan 1895 im Vertrag von Shimonoseki überantwortet". (14) Die Sulu-Inseln „wurden von den Briten okkupiert". (15) Die Ryu-Kyu-Inseln „wurden 1910 von Japan annektiert". (16) (1. Nord-, 2. Süd-Korea) „vor 1895 chinesisches Dominion, 1885" (durch den Vertrag von Shimonnoseki) „unter Japan . unabhängig', 1910 durch Japan annektiert". (17) (18) „Der Große Nordosten fiel durch Verträge von 1858 in Aigun" (westlich des Amur-Unterlaufes) „an die Russen. Er gehört zum Landraub in Ostsibirien". (19) Die Kurilen „wurden zwischen Japan und Rußland aufgeteilt". Das Manifest Lenins und die Erklärungen Karakhans wurden aber nach Stalins Machtergreifung im Kreml bald anders interpretiert: Die meisten dieser Völker hätten sich bereits zur Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken bekannt, und die im Lauf des siebzehnten Jahrhunderts im Auftrage des Mandschu-Kaisers Kiang-H'si angefertigten Landkarten Chinas und vor allem die Demarkationslinien gegenüber Rußland seien „Phantasiegebilde. Das gleiche gelte für Chinas Ansprüche auf das Land östlich des Amur, zwischen dem Strom und dem Pazifik, das nie „chinesische Provinz" gewesen sei. Dieses Territorium, die Maritimen Provinzen, hätten niemals unter chinesischer Jurisdiktion oder Administration gestanden. Russische Pioniere und Bauern hätten das herrenlose Land in Besitz genommen.

Stalin erkannte frühzeitig die Gefahr, die östlich des Baikalsees dem sowjetischen Imperium drohte. Er ordnete die Zwangsbesiedlung Sibiriens an. Junge Bauern mußten sich nach Ableistung ihres Wehrdienstes verpflich -ten, die Einöden der zwischen Taiga Jenissej und Amur zu besiedeln. Die Strafgefangenen der Zuchthäuser und Konzentrationslager konnten durch das Dekret Stalins in Ost-Sibirien ihre Freiheit wiedererlangen. Ähnlich, wenn auch nicht mit gleicher Dringlichkeit, sollte die Besiedlung der zentralasiatischen Sowjetrepubliken, bisher zumeist von Viehzüchter-Nomaden oder Bergstämmen bewohnt, vorangetrieben werden.

Jenseits der Grenzgebirge lag die von den eigentlichen Chinesen, den Han, nicht besiedelte, den Karten nach aber chinesische Provinz Sinkiang Sie hatte viele Jahrhunderte nach einem eigenen Staatswesen gestrebt, hatte ihre eigene Jurisdiktion und zeigte offen ihre Feindschaft gegen die „Han-Leute", die überheblichen Chinesen aus der Herrenrasse, die zumeist als Händler ins Land kamen.

Stalin ließ erkennen, daß er die Gründung eines autonomen Staates Sinkiang begrüßen würde. Zugleich mit seinem Bemühen, Sibirien und Zentralasien durch russische Siedler aufzufüllen, leitete er zum erstenmal in der Geschichte Asiens wirksame und kontinuierliche Entwicklungshilfe in den Nordosten — die Gebiete östlich des Baikalsees — und in die zentralasiatischen Sowjetrepubliken; auch das, wie es schien, mehr oder weniger herrenlose Sin-kiang wurde einbezogen. Dagegen war in Peking auch zur Zeit der Herrschaft Tschiang Kai-scheks der „Ferne Nordwesten" fast vergessen. Schon bald nach der Eingliederung der Territorien und Völkerschaften Russisch-Zentralasiens in die Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken entwickelte Moskau eine Auf-bauplanung zur Industrialisierung dieser entlegenen, oft wüstengleichen Länder. Man konnte sich dabei auf eine solide Rohstoffbasis, auf große Fundstellen von Kohle, Eisen und strategisch wichtigen Metallen stützen. Der Entwicklungsprozeß ist noch nicht abgeschlossen. Die neuen, sich immer mehr entfaltenden Industriegebiete um Karaganda und Pawlodar, bei Alma Ata und Dshambul sowie in der Kirgisischen SSR sind Beweise für das, was die Sowjetunion hier technisch-ökonomisch leistet.

Moskau hatte zunächst Geologen, Bergbau-experten und Fachleute für Brunnenbau und Bewässerungsanlagen nach Zentralasien und Sinkiang gesandt und ferner zu den Khans der Nomadenstämme — Turkvölkerschaften, Tadschiken — erfahrene Viehzüchter und Veterinäre. In Sinkiang bei Karamai lockten ungewöhnlich reiche Olfeider, in den Gebirgen und Wüsten hatte man seltene, strategisch wertvolle Minerale, Diamanten, Gold, Platin und Silber gefunden. Auch „Pechblende", unter den Wissenschaftlern damals schon Uran genannt, wurde festgestellt. Für die Gewinnung von Radium lagen die Fundstätten allerdings bei weitem zu „verkehrsfern".

In den dreißiger Jahren hatten Chinas Kommunisten von Sinkiang aus versucht, ihre eigene, von den Weisungen der Komintern unabhängige Revolution auszubreiten. Mao Tse-ming, der Bruder Mao Tse-tungs, war nach Sinkiang gekommen, um hier einen kommunistischen Brückenkopf zu errichten und eine eigene Volksrepublik, den separatistischen Staat Sinkiang zu gründen, Stalin vereitelte die Pläne Mao Tse-mings. Die Uiguren vertrieben den chinesischen Eindringling und seine Funktionäre. Mao Tse-ming ist nach dem Großen Marsch umgekommen.

Damals hat es also bereits eine von den Kommunisten herbeigeführte sowjetisch-chinesische Konfrontation gegeben. Sie bestand fort, solange Tschiang Kai-schek auf dem Festland-kämpfte. Es kann angenommen werden, daß Stalin kurz nach dem Zweiten Weltkrieg demGeneralissimus der Kuomintang-Armeen umfassende Hilfe, auch gegen die Streitkräfte Mao Tse-tungs, angeboten hat. Eine sowjetische Note vom 21. Januar 1946 schlug der chinesischen Nationalregierung u. a. auch die gemeinsame Verwaltung der Mandschurei vor. Von verschiedenen China-Experten wird die Ansicht vertreten, Tschiang Kai-scheks Entscheidung gegen die Überlassung der Mandschurei an die UdSSR se Januar 1946 schlug der chinesischen Nationalregierung u. a. auch die gemeinsame Verwaltung der Mandschurei vor. Von verschiedenen China-Experten wird die Ansicht vertreten, Tschiang Kai-scheks Entscheidung gegen die Überlassung der Mandschurei an die UdSSR sei ein wesentlicher Grund dafür gewesen, daß Mao mit seiner Armee und Partei schließlich nach dem Zweiten Weltkrieg in China die Macht ergreifen konnte. Stalin hätte bei einem Entgegenkommen Tschiangs diese Entwicklung bis zuletzt zu verhindern versucht 18). Die schon wenige Jahre nach Maos Machtergreifung sichtbar werdende sowjetisch-chinesische Spannung läßt sich aus diesem Ursprung jedenfalls zum Teil erklären 19). Ein anderer Umstand kommt hinzu, der vielleicht sogar primär für den Haß der kommunistischen Han-Leute auf „die neuen Zaren" verantwortlich ist. Stalin ließ, ehe die Mandschurei 1949 unter die Hoheit der VR China gelangte, die von den Japanern in der Mandschurei aufgebaute Schwerindustrie demontieren. Die Volksrepublik China mußte der UdSSR guasi Reparationen für die Rückgabe der Mandschurei zahlen. Auch aus Sinkiang wollte Stalin, wenn es schon einstweilen in chinesischen Händen blieb, möglichst viel herausholen.

Am Vorabend der kommunistischen Machtübernahme in China schrieb ein hervorragender Kenner der Situation Asiens, Owen Lattimore, aus der Sinkiang-Hauptstadt Urumchi, damals nur eine Karawanserei an der Seidenstraße: „Infolge der sowjetischen Entwicklungshilfe ist Sinkiang im Grunde genommen eine Provinz der UdSSR."

Ob nun Sinkiang wirklich zu China gehörte oder nicht, war noch im Zweiten Weltkrieg und auch in den ihn überdauernden chinesischen Wirren umstritten. Erst Mao Tse-tung machte es sofort nach seiner Machtergreifung im Herbst 1949 klar: Die Autonome Region Sinkiang ist ein Teil Chinas.

Sowjetisch-chinesische Abkommen nach der Machtergreifung Mao Tse-tungs Mao Tse-tung folgte am 14. Februar 1950 einer sowjetischen Einladung, um im Kreml folgende Vertragswerke zu unterzeichnen 20): den Vertrag über Freundschaft, Bündnis und gegenseitige Hilfe;

das Abkommen über die Rückgabe der Tschang-tschun Eisenbahn sowie über Port Arthur und Dairen;

das Abkommen über die Gewährung eines Kredites an die Volksrepublik China.

Daran schlossen sich am 27. März 1950 nach zäh geführten Verhandlungen an: der Vertrag über die Gründung der chinesisch-sowjetischen Aktiengesellschaft für Erdöl und Buntmetall in Sinkiang (Buntmetallgesellschaft Sinkiang) und der Vertrag über die Gründung der sowjetisch-chinesischen Aktiengesellschaft für die Zivilluftfahrt.

Die Geltungsdauer des Sinkiang-Buntmetallund Erdölvertrages lautete auf 30 Jahre. Aber nach kaum sechs Jahren der Durchführung, wobei sich die UdSSR den Hauptnutzen aus den Rohstoffvorkommen Sinkiangs verschaffte, wurde dieser Vertrag durch Peking fristlos gekündigt.

Trotz dieser provokatorischen Kündigung leistete die UdSSR zunächst die Entwicklungshilfe weiter. Moskau hatte vertragsgetreu die gemeinsame sowjetisch-chinesische Verwaltung der Tschang-tschun-Eisenbahn bis 1952 betrieben. Auch Port Arthur war China zurückgegeben worden. Wegen der Rückgabe Dairens fanden Verhandlungen statt 21).

Mit einer Teilzahlung auf den 1950 gewährten Kredit hatte die Sowjetunion dem Peking-Regime 300 Millionen US-Dollar „für die Bezahlung von Industrieausrüstungen und anderen Materialien" zur Verfügung gestellt.

Moskau lieferte gemäß den im einzelnen getroffenen Abmachungen „Anlagen für Kraftwerke (insbesondere auch für Sinkiang), ferner Hütten-und Maschinenbauwerke, Einrichtungen für Kohle-und Erzbergwerke, für Eisenbahn-und sonstige Verkehrsanlagen, für Schienen und andere Materialien zum Wiederaufbau" (der Mandschurei).

Gemäß dem Luftfahrtabkommen wurden die inneren chinesischen Fluglinien eingerichtet. Große chinesisch-sowjetische „Freundschaftslinien" im Luftverkehr entstanden: Peking-Tschita, Peking-Irkutsk, Peking-Alma Ata. Ein weiterer Vertrag, das „Abkommen über wissenschaftliche und technische Zusammenarbeit", in dem ein „Erfahrungs-und Informationsaustausch und der Austausch von technischen Daten und Fachleuten" vereinbart wurde, ist am 12. Oktober 1954 unterzeichnet worden. Damit begann die UdSSR, das System Mao Tse-tungs mit den Grundlagen der nuklearen Forschung bekanntzumachen.

Aufgrund dieser sowjetischen Hilfe war es der VR China möglich, ein oder gar zwei Jahrzehnte der nuklearen Forschung und des Experimentierens zu überspringen. Das erste atomare Forschungszentrum wurde durch sowjetische Fachleute in Urumchi errichtet; damit wurde Sinkiang zur „Kernforschungsregion". Der Aufbau der chinesischen Atomrüstung hätte ohne die sowjetische Hilfe in Sinkiang bei weitem nicht im gleichen Ausmaß betrieben werden können. Peking hatte es der UdSSR zu verdanken, daß allein bis Ende 1954 nach geologischen Forschungen im Altai, im Tienschan und im Pamir 15 Gruben zum Abbau strategischer Metalle einschließlich Uran errichtet wurden. Seitdem soll sich die Zahl derartiger Bergwerke verdreifacht haben.

Der „Erdölhorizont" in Sinkiang, das große unterirdische Vorkommen von Wusu, war schon durch Stalins Entwicklungshilfe erschlossen worden. Sie wurde gewährt im Sinne sowjetischer Subversion, um nach der wirtschaftlichen Expansion der UdSSR im Nordwesten Chinas ein Protektorat wie die Mongolische Volksrepublik zu schaffen. Die Erdölgesellschaft Sinkiang, ein sowjetisch-chinesisches Gemeinschaftsunternehmen, baute die große Raffinerie von Tu-schan-tzu: In Wahrheit war aber die UdSSR der alleinige „Bauherr".

Mit sowjetischer Hilfe war bereits Ende der dreißiger Jahre — allerdings nicht vergleichbar mit den Sinkiang-Vorkommen — das Erdölrevier Yümen in Kansu, damals das größte Chinas, abgebaut worden.

Mit der Entwicklungshilfe der UdSSR zur Erschließung dieses strategischen Rohstoffs in der VR China, so glaubte auch Chruschtschow, werde er China eng an Rußland binden können. Mit sowjetischer Unterstützung wurden drei weitere große Vorkommen nutzbar gemacht: im Tsaidam-Becken im Nordwesten (vor Tibet) im Karamai-Revier in der Dsungarei (Nord-Sinkiang) sowie in Zentral-Szechuan die Lagerstätten von Lung-nü-ssu und Nan-ch’ung.

Radio Peking dankte den sowjetischen Genossen am 18. Oktober 1956 für „wertvolle Hilfe im Niederbringen der Olbrunnen durch die Lieferung modernsten Bohrgeräts wie der Turbinenbohranlagen" .

Nach chinesischer Darstellung verband sich mit der Arbeit sowjetischer Experten in Sinkiang und im übrigen Nordwest-China die politische Unterwanderung vor allem der Uiguren und Kasachen durch geschulte Agenten Moskaus. Zunächst wurde kein Anstoß daran genommen, daß diese Stämme diesseits und jenseits der chinesich-sowjetischen Grenze mit ihren Herden die Weideplätze aufsuchten. Später behaupteten dann die chinesischen Behörden, Kasachen und Uiguren schmuggelten große Mengen von Waffen nach Sinkiang. In Peking regte sich infolge dieser Entwicklung wieder die Fraktion, die von vornherein die gemeinsame chinesisch-sowjetische Ausnutzung der Ressourcen abgelehnt hatte; für sie waren die Sowjets wie alle anderen Russen Imperialisten. Es würde gefährlich sein, sich mit ihnen einzulassen. Doch die Gegenstimmen im Pekinger Politbüro behielten das Übergewicht. Sie wiesen darauf hin, daß die Hilfe der Sowjetunion für die Industrialisierung Chinas unerläßlich sei. Dieses Argument ließ sich hören. Im Jahre 1953 hatte Moskau die Errichtung von 141 großen Industrieprojekten in China zugesagt. Stahlkombinate, Bunt-metallwerke, Kohlengruben, Erdölraffinerien, Maschinenfabriken, Automobilwerke, Traktorenfabriken, Kraftwerke wurden in Angriff genommen und innerhalb der gesetzten Fristen beendet. Dazu kamen weitere 15 und dann abermals 55 Großprojekte im Werte von 2, 5 Milliarden Rubel. Die Sowjetunion hatte deren Verwirklichung sogar noch zu einer Zeit zugesagt, als die Fortsetzung der Gemeinschaftsarbeit in der Sinkiang-Buntmetall-Gesellschaft bereits in Frage stand, nämlich am 7. April 1956

Noch ein weiteres Abkommen wurde getroffen. Die Sowjetunion verpflichtete sich am 7. Februar 1959, obwohl in Sinkiang und am Amur die Zahl der Grenzzwischenfälle zu-nahm, mit einem Aufwand von 5 Milliarden Yüan (1 Yüan = 0, 406 US-Dollar) zum Aufbau von 78 Großbetrieben der Metallurgie, der Chemie, des Mineralölbereichs, des Bergbaus, der Maschinen-und Bauindustrie und der Energiewirtschaft.

Zweifellos wollte damals die sowjetische Führung unter Chruschtschow China noch einmal durch Entwicklungshilfe und Waffenlieferung an die Kommunistische Internationale Moskauer Prägung binden. Aber Chinas Konzeption von der Errichtung eines eigenen Imperiums stand den sowjetischen Absichten entgegen.

Das Absurde an dieser Situation war, daß die Sowjetunion mit ihrer Hilfe für den gigantischen Konkurrenten dessen nukleare Rüstung einschließlich der Rüstung mit den Trägerwaffen wesentlich, wahrscheinlich um Jahrzehnte vorangetrieben hat.

Die USA „lieferten" perfekte Kern-und Raketenphysiker chinesischer Abstammung, die in den USA zu Kapazitäten aufgestiegen waren, so den Nuklear-Physiker Chao Chung-yao und den Raketenphysiker Tsien Hsue-shen, den „Vater der chinesischen Fernraketen".

Die VR China ist im Urteil maßgebender militärischer Experten gegenwärtig bereits zur Zerstörung der wichtigsten Produktionsanlagen der UdSSR in den Industriegebieten Zentralasiens am Balchasch-See (Karaganda, Semipalatinsk, Alma Ata, Dsambul) in der Lage; sie kann ebenso Sibirien verheerend treffen, von den Maritimen Provinzen (am Pazifik) ganz abgesehen.

Vor diesem Hintergrund wirkt auch die Tatsache unverständlich, daß die Sowjetunion (aufgrund des Vertrags vom 12. Oktober 1954) die strategisch wichtige Eisenbahn Lanchou-Urumchi-Alma Ata mit chinesischen Zwangsarbeitern (vorwiegend aus den Konzentrationslagern der Inneren Mongolei und der Dsungarei) für die VR China gebaut hat. Die Chinesen, deren gesamtes Streckennetz nur ungefähr 40 000 Kilometer umfaßt, hätten diese Bahn nicht in annähernd so kurzer Zeit fertigstellen können.

Die Minderheiten in Sinkiang Die Zahl der Nichtchinesen in China beträgt ungefähr 50 Millionen. Ihre Zahl für Nordwest-China genauer anzugeben, ist deshalb schwierig, weil die rotchinesische Statistik (im „Volkshandbuch") undurchsichtig ist. Nach Schätzungen beträgt die Zahl der in Nordwest-China (einschließlich der Provinzen Tschinghai, Kansu und Schensi lebenden Nichtchinesen etwa 30 Millionen.

Moskau ging zu einer besonderen Art der Unterwanderung der Turkvölker und Mongolen über. Zunächst wurden die Nomaden mit Transistorradiogeräten versorgt. In den Grenzdörfern erhielten alle Sippen der Klans auch größere Radiogeräte. Der Sender „Freies Sinkiang" im Gebiet der Uiguren von Kasachstan rief in regelmäßigen täglichen Sendungen auf uigurisch, usbekisch und mongolisch zum „Befreiungskampf gegen die imperialistischen Usurpatoren" auf.

Soweit es sich zurückverfolgen läßt, begannen diese Sendungen bereits 1957. Chinesische Proteste sollen in Moskau damit beantwortet worden sein, daß es sich um „unaufspürbare Partisanen-Sender" handele. Es sei im übrigen keineswegs erwiesen, daß der Standort der Station auf sowjetischem Territorium liege.

Aus diesen Disputen entwickelten sich, wie leicht vorauszusehen war, abermals Streitigkeiten über den Grenzverlauf. Er war trotz des Ili-Vertrags (1881) nicht markiert worden. Da und dort standen zwar Grenzsteine, aber es gab keine exakte Grenzziehung. In der Festlegung des Grenzverlaufs wichen chinesische und sowjetische Landkarten erheblich voneinander ab. Seit 1957 wurden in Peking gedruckte Landkarten mit dem Titel „Der Nordwesten Chinas" verteilt. Danach gehörte das gesamte Ili-Becken, also die Kasachische SSR, zur Volksrepublik China.

Die Chinesen waren nach und nach dazu übergegangen, die Minoritäten in ganz Nordwest-China zum Kommunismus zu zwingen. Die Viehzüchter-Uiguren und Usbeken sollten sich in Kollektiven zusammenschließen und möglichst sogar Kommunen bilden. Kommunistische Funktionäre verhöhnten die strenggläubigen Muslims, sie seien „abergläubische Speichellecker des Propheten-Götzen". Bewaffnete Trupps der Uiguren liquidierten daraufhin einige der Funktionäre aus Urumchi. Lokale Aufstände loderten täglich auf. Von chinesischen Funktionären — und vor allem den Steuereintreibern — bedrängte Uiguren-Nomaden zogen mit ihren Herden nach Kasachstan, in die „herrliche UdSSR", wie es in den Propaganda-Sendungen der Sowjetunion hieß.

Peking ordnete eine stärkere chinesische Besiedlung des Grenzbereichs an. Uigurische Partisanen schossen nachts die befestigten Han-Dörfer in Brand und vergifteten ihre Brunnen. Es wurde für die Chinesen äußerst gefährlich, unter den Usbeken, Uiguren und Mongolen zu leben. Uiguren und Usbeken aus Sinkiang schilderten in Alma Ata die Zwischenfälle Der Autor befand sich zu dieser Zeit im Karakorum, an der Grenze von Sinkiang. Uigurische Klans flüchteten mit ihren Schafen ins Gebirge. Männer und Frauen waren bis an die Zähne bewaffnet. Die pakistanischen Grenzwachen kamen in Verlegenheit. Das Flüchtlingsproblem sollte zu keiner Belastung der pakistanisch-chinesischen Beziehungen führen. Die uigurischen Glaubensbrüder verlangten Asyl, das schließlich gewährt wurde. Allerdings hieß es offiziell, „chinesische Nomadenpersonen" seien an der Grenze zurückgewiesen worden. Das traf sogar zu, war aber praktisch belanglos, da die nicht einmal markierte Grenze an jeder beliebigen anderen Stelle des wildzerklüfteten Massivs unbemerkt überschritten werden konnte.

Diese Uiguren bestätigten Berichte von Massenübertritten ihrer Volkszugehörigen in die Sowjetunion. Eine regelrechte Völkerwanderung habe nach Kasachstan stattgefunden, 60 000 oder noch weit mehr Uiguren seien hinübergezogen

Allmählich sickerte es durch, daß auch der Stellvertretende Militärkommandeur von Sinkiang, der Uigure General Zunun Taipow, mit seinen Uiguren-Regimentern zu den Sowjets desertiert war. Ein Hirte schilderte, wie die „Han-People" (Han-Leute), zumeist junge Burschen, neuerdings mit roten Fahnen, „ins Land der Gräser", ins Weideland der Nomaden, einfielen und alles Vieh zu Staatseigentum erklären wollten. Die Folge seien regelrechte Schlachten zwischen Uiguren und Roten Garden gewesen. Starke, bewaffnete Uiguren-Trupps würden in Sinkiang eindringen und die Han-Siedlungen zerstören, Brücken und Knotenpunkte der Sinkiang-Eisenbahn sprengen. Die Trupps würden sich dann wieder zurückziehen, ehe die Chinesen zuschlagen könnten.

Zur militärischen Lage

Im Sinne der Strategie bilden die sowjetischen Republiken in Zentralasien und Ost-Sibirien trotz der gewaltigen Ausdehnung des Raumes eine Einheit. Die Grenzziehung ermöglicht einen Zangengriff der UdSSR gegen die chinesischen Nordwest-Provinzen. Die Tatsache, daß die Sowjetunion das Protektorat über die mongolische Volksrepublik, also das Zentral-Sibirien vorgelagerte Aufmarschgebiet der Sowjetunion, innehat, vervollständigt das Bild der halboffenen Zange Sollte es je zu einem großen Krieg zwischen der UdSSR und der VR China kommen, wären wahrscheinlich auch die Territorien der Nord-grenzen Indiens und — wegen des natürlichen Zusammenhangs mit dem sowjetischen Pamir — auch Teile Pakistans das Aufmarschgebiet sowjetischer Armeen. Nordwest-China wäre dann völlig im sowjetischen Bogengriff.

Unmittelbar an der sowjetischen Ostfront dürften gegenwärtig etwa 50 kriegsstarke Divisionen entlang dem Grenzverlauf von der Südspitze Tuwas bis zum Pamir aufrarschiert sein. In Ostsibirien ist die Zahl der sowjetischen Streitkräfte mit Sicherheit gleich hoch. Im Hinterland Sowjetisch-Zentralasiens und Ostsibiriens stehen nach Ansicht der militärischen Aufklärung Japans und der USA allein östlich des Urals weitere 50 Angriffs-Divisionen. Die Fronttruppe könnte also im Airlift jederzeit „hinreichend" verstärkt werden. Aus Westrußland seien „ausgedehnte Truppenbewegungen" jederzeit mit der Trans-sibirischen Bahn möglich. Ende 1969 waren zumindest zehn kriegsstarke sowjetische Divisionen in der Mongolischen Volksrepublik zusammengezogen, darunter zwei Panzerdivisionen. Am Rande des Mongolischen Altai, in der Äußeren Mongolei, wurden unabhängig von den sowjetisch-chinesischen Grenzverhandlungen in Peking die Flugplätze für Fern-57 bomber der UdSSR ausgebaut, und die Äußere Mongolei, die Mongolische Volksrepublik, ist ein verläßlicher Partner der Sowjetunion. Nach den Zwischenfällen (vom 8. Juli) auf der Goldinskij/Pacha Insel stellte UNEN, die maßgebende Zeitung der VR Mongolei, fest, das mogolische Volk werde unter allen Umständen die UdSSR gegen die böswillige chinesische Politik der fortdauernden Provokationen unterstützen: „Die Maoisten sind darauf aus, alles zur Verschlechterung der Lage an der Grenze und der chinesisch-sowjetischen Beziehungen zu tun. Dieses Verhalten geht nicht mehr nur die Sowjetunion und die VR China an; es berührt die ganze kommunistische Bewegung." UNEN wandte sich weiter gegen die „bewaffneten chinesischen Provokationen in Sinkiang und bei Semipalatinsk". Mit den Streitkräften der UdSSR und „der anderen kommunistischen Mächte" verteidigt auch die Armee der Mongolischen Volksrepublik auf ihrem Frontabschnitt „die Freiheit und den Frieden Asiens".

Verkannt oder wenig beachtet wurden bisher die sowjetischen „Seeoperationen". In Wladiwostok und Nachodka, an der Südspitze der Maritimen Provinzen, dürften 150 sowjetische Unterseeboote versammelt sein, in verschiedenen Häfen der Kamtschatka-Halbinsel wenigstens 100 U-Boote. Einige der neuesten sowjetischen atomgetriebenen, dem Polaris-Typ verwandten Unterwasser-Raketenträger sind gleichfalls an der äußerst verwundbaren Ost-küste Chinas zusammengezogen.

Das seestrategische Konzept der UdSSR in der Konfrontation mit der VR China sieht offenbar keine Landeunternehmungen vor, jedoch kombinierte Raketenangriffe und Blockademaßnahmen. Die Völker Zentralasiens, Kasachen, Usbeken, Kirgisen, unterhalten an der sowjetischen Ostgrenze eigene militärische Einheiten unter dem Oberkommando der sowjetischen Streitkräfte, überdies haben die Uiguren eine eigene Guerilla-Armee aufgestellt. Sie soll (Ende 1969) 200 000 Mann zählen; kleine Trupps werden auch für Sabotageaktionen ausgebildet.

Die Aufstellung solcher Guerillatruppen könnte auf die Möglichkeit hinweisen, daß die UdSSR gegen die VR China notfalls einen un-erklärten, offiziell nicht bestehenden Krieg zu führen gewillt ist.

Wie sieht es auf der chinesischen Seite aus? Eine Zeitung der Roten Garden, „Hung Wei Ping Pao", hatte im Juli 1968 eine für die gespannte Entwicklung bezeichnende Meldung veröffentlicht: „Verteidigungsminister Lin Piao hat am 4. und 9. April die Kommandeure der 63. und 69. Armee und zugleich die Kommandeure des Militärbezirks Peking empfangen. Lin Piao erläuterte ihnen den Aufbau der Verteidigung in den Wüsten-Arealen: in Sinkiang, in der Inneren Mongolei, Kansu, Tsing-hai, Schen-si und Ning-hsia Hui." Anderthalb Jahre später, Ende 1969, war das Verteidigungswerk fertiggestellt. Es verteilt sich über 600 000 Quadratkilometer.

Eine durchgehende Anlage von Bunkern und Raketenbasen reicht in einer Länge von 1700 Kilometer von Silinhot (Tschachar, östliche Innere Mongolei) bis zur Patanlinchi-Wüste im Westen. Bunker und Raketenbasen setzen sich als Teil der Befestigungsbauten, die mehrere Millionen Milizsoldaten errichteten, im Tarim-Becken und der Dsungarei fort.

Lin Piao gab den Militärkommandeuren Nord-chinas die Bildung des Militärgebiets Innere Mongolei bekannt. Das Oberkommando führt der Befehlshaber der Militärregion Peking, Liu Hsien-chuan, ein enger Vertrauter Lin Piaos. Damit wurde klar, daß der Inneren Mongolei und den mit ihr in der Verteidigung koordinierten anderen Gebiete Nordchinas die Aufgabe des Schutzes von Peking im Falle eines sowjetischen Versuchs des Durchstoßes auf die Hauptstadt übertragen worden war. Sendungen von Radio Peking (August 1969) warnten die Sowjets vor „weiteren Herausforderungen des chinesischen Volkes". Die „sowjetischen Kolonial-Sozialisten" sollten sich vor allem davor hüten, den Krieg gegen das chinesische Volk in die Innere Mongolei zu tragen.

Die Nachrichtenagentur „Neues China" berichtete am 6. Juli 1969: „Durch eine Reihe ungleicher Verträge und Übereinkommen, die durch die sowjetische revisionistische Renegaten-Clique der Mongolei aufgezwungen wurden, gelang es der imperialistischen UdSSR, eine große Zahl ihrer Truppen in der Mongolischen Volksrepublik festzusetzen. Die sowjetischen Revisionisten haben weiter nach Belieben ihre Experten und Berater zur unmittelbaren Kontrolle der Mongolischen Partei, der Regierung und Armee in die Mongolei entsandt. Die Kolonialherrschaft der Sowjetrevisionisten über die Mongolei ist, seit Breschnew zur Macht kam, im besonderen Maße verstärkt worden."

Das Volk von China wird in der gleichen Erklärung gewarnt: Die Sowjetunion wolle China in die Zange nehmen. Der Sowjetisch-Mongolische Freundschaftsvertrag (1966), von Breschnew unterzeichnet, biete die Grundlage für die Vorbereitung des Angriffs auf das chinesische Volk. Seit dem Vertragsabschluß seien die sowjetischen Truppen an allen strategisch wichtigen Punkten der Mongolei ständig verstärkt und entlang der gesamten mongolisch-chinesischen Grenze seien Basen für weittragende Raketen aufgebaut worden. Die Kriegsvorbereitungen würden unbegrenzt weitergehen. Ständige Manöver der Satellitenarmeen aus den War-schauer-Pakt-Staaten und der mongolischen Satellitenstreitmacht wiesen auf den Ernst der Lage hin. Die nahezu täglichen, zumeist von beiden Seiten verschwiegenen Grenzzwischenfälle südöstlich der großen Mauer, vor Heilungkiang (Mandschurei), griffen auf die gesamte Region der Gobi über.

Westliche Diplomaten in Ulan Bator halten die starken Truppenkonzentrationen auf beiden Seiten der Grenze zwischen der Äußeren und der Inneren Mongolei für nahezu ebenso gefährlich wie die Situation im Grenzgebiet Sinkiangs und Kasachstans. Sie verweisen auf die „angesammelte, ungeheure Feuerkraft der Sowjets". In der Inneren Mongolei seien dagegen „mindestens 500 000 Mann der Miliz und 20 Divisionen der regulären rotchinesischen Armee auf alle Fälle bereitgestellt, und zwar ausnahmslos Elite-Divisionen Lin Piaos, zur Verteidigung Pekings".

Die militärische Aufklärung der Republik China (Taiwan) gab — insbesondere für die UdSSR — wichtige Einzelheiten des Aufbaus der Verteidigungsanlagen Rotchinas in den Wüsten-Arealen bekannt. Die großen Volks-kommunen und Dörfer wurden untereinander mit Bunkerketten verbunden. In Sinkiang wie in der Inneren Mongolei haben Millionen Milizsoldaten in ununterbrochener Arbeit Fernstraßen gebaut, in der Inneren Mongolei allein 18 000 Kilometer.

Soweit es möglich war, sind die Minderheiten aus festen Dörfern entlang den Grenzen ins Innere der Regionen umgesiedelt worden. Militärpatrouillen versuchten die Vertreibung der Uiguren-und Usbeken-sowie der Kasachen-Nomaden aus den Grenzgebieten.

Alles in allem waren die VR China und die UdSSR nach den Zusammenstößen bei Yumin in Sinkiang im August 1969 dem Kriege näher, als es im allgemeinen zugegeben wird. Yumin, in dessen Nähe nach chinesischen Behauptungen die Sowjets ihre Vorhuten auf chinesisches Gebiet verlegt hatten, liegt nur 150 Meilen von den reichen Olfeldern bei Karamai und Tu-schan-tzu entfernt, und nur 500 Meilen von Lopnor, dem atomaren Testgelände in der Takla-makan-Wüste.

Der Propagandakrieg

Eine diplomatische Vertretung in Peking, die Botschaft einer „nicht-verpflichteten" (neutratralen) Nation, hat in einer Dokumentation die lange Reihe der Grenzzwischenfälle vor Sinkiang und am Amur zusammengestellt und deren — auch propagandistische — Eskalation aufgewiesen. In Anlehnung an diese Dokumentation versuchen wir im folgenden zu zeigen, wie die Verschärfung der Lage ihren Reflex im Ton der Verlautbarungen auf beiden Seiten findet.

Mao Tse-tung äußerte am 10. Juli 1964 gegenüber den zu Besuch in Peking weilenden Mitgliedern einer Mission der Sozialistischen Partei Japans: „Die Führung der Sowjetunion hat erklärt, daß Sinkiang und die Mandschurei der Sowjetunion einverleibt werden müssen. Wenn es notwendig werden sollte, werden wir auch mit den Sowjets einen 25jährigen Krieg führen. Erst vor 100 Jahren ist das gesamte Gebiet östlich des Baikalsees russisches Territorium geworden — mit Wladiwostok, Chabarowsk und der Kamtschatka. Wir haben dafür unsere Rechnung noch nicht aufgemacht."

Die chinesischen Massenmedien erinnerten zur gleichen Zeit an die Erklärung des Kommissars für Auswärtige Angelegenheiten, Lev Karakhan, vom 25. Juli 1919. Radio Peking, „Jen Min Jih Pao" und „Hsinhua" holten dann auch die zweite Karakhan-Erklärung hervor.

Nach ersten Grenzverhandlungen zwischen beiden kommunistischen Regierungen Anfang 1964, die jedoch bald ergebnislos abgebrochen wurden, ging die Kampagne weiter.

Der Vierte Volkskongreß der Autonomen Ili-Region (Sinkiang) erhob durch den Vorsitzenden Irhali am 24. August 1964 die Anklage gegen die UdSSR, der sowjetische Propaganda-Apparat wecke in Sinkiang „Anti-Han-Gefühle", um die Uiguren gegen die Chinesen zum Aufruhr zu veranlassen. Das Organ der Volks-befreiungsarmee „Rote Fahne" (laut „Hsinhua" vom 20. November 1964) bezichtigte den gestürzten Chruschtschow: „Chruschtschow trieb die Grenzstreitigkeiten zwischen der UdSSR und der Volksrepublik China auf die Spitze. Vor allem führte er in Sinkiang eine das gesamte Land umfassende Subversion zum Abfall von China durch." Tschou En-lai sagte vor dem Nationalen Volkskongreß 1964/65: „Eine verräterische konterrevolutionäre bewaffnete Rebellion hat in Ining (Sinkiang) stattgefunden. Sie wurde von reaktionären lokalen Nationalisten durchgeführt und von einer auswärtigen Macht unterstützt." Tschou stellte die Niederwerfung der Revolte fest. Der Außenminister der Volksrepublik China, Chen Yi, erklärte skandinavischen Journalisten im Mai 1966, daß sowjetische Truppen von 1960 bis 1966 insgesamt 5000 Grenzzwischenfälle in der Sinkiang-Region verursacht hatten. „Dabei nahmen die sowjetischen Streitkräfte willkürliche Grenzkorrekturen vor."

Uber die Zahl der Zwischenfälle im Nordosten wurde zu jener Zeit nichts bekannt. Indes gingen den späteren schweren Zwischenfällen von 1969 an Amur und Ussuri gegenseitige Provokationen durch Patrouillenschiffe und die bewußte Verletzung der Grenze in der Mitte der Ströme voraus.

Die Chinesen verschärften 1966 die Lage durch die Anordnung, daß jedes Schiff auf chinesischen Gewässern die chinesische neben der eigenen nationalen Flagge führen muß. „Der fremdländische Kapitän hat auf Verlangen eine vollständige Liste des gesamten Inventars des Schiffes, der Ladung, der Passagiere und Mannschaft vorzuweisen und sie in jedem Fall den chinesischen Behörden nach dem Anlaufen eines Hafens abzuliefern. Alle Waffen, Signale, Radargeräte und andere Geräte zur Nachrichtenübermittlung sind zu versiegeln. Sie dürfen in chinesischen Gewässern nicht benutzt werden. Niemand an Bord darf photographieren, zeichnen, skizzieren, fischen, jagen oder irgend etwas über Bord werfen."

Die UdSSR reagierte entsprechend. Nach den Besuchen von Breschnew Ende Mai 1966 in Wladiwostok und in den Maritimen Provinzen sowie von Podgorny in Chabarowsk und den Ansprachen dieser sowjetischen Führer an „die tapferen Soldaten der Fernostarmee" begann der verstärkte Aufmarsch; der Ton der Auseinandersetzung verschärfte sich zunehmend, bis hin zu den Ereignissen von Anfang und Mitte 1969, den Grenzgefechten am Ussuri im März und der Konfrontation im Grenzgebiet von Sinkiang Anfang 1969.

Leitartikel der „Jen Min Jih Pao" („Tägliche Volkszeitung", Peking), veröffentlicht am 4. März 1969, und der „Prawda" vom 17. März 1969 rührten nun nicht nur mehr die Propagandatrommel. „Jen Min Jih Pao" warnt: „Dieser ernste Grenzzwischenfall (auf der im Chinesischen Chenpao, im Russischen , Damanski'genannten Insel des Ussuri vom 2. März 1969) war von langer Hand vorbereitet und von der revisionistischen sowjetischen Renegatenclique bewußt inszeniert worden . . . Selbst nach dem chinesisch-russischen Vertrag von Peking, einem ungleichen Vertrag, der dem chinesischen Volk 1860 vom zaristischen russischen Imperialismus aufgezwungen worden war, gehört die Insel Chenpao zu China. Sie hat immer unter chinesischer Jurisdiktion gestanden . . . Die wiederholten (sowjetischen) Einfälle in chinesisches Territorium geschehen auf den Befehl einer Handvoll ausgesprochener Sozialimperialisten, der neuen Zaren . . . Sie haben große Territorien in Osteuropa zu ihrem Einflußgebiet erklärt, , 11m ein neues Kolonial-imperium zaristischen Typs zu errichten. In Asien wollen sie es genauso halten . . . Sie haben nicht nur die Mongolische Volksrepublik zu ihrer Kolonie gemacht, ... sie versuchen auch, chinesisches Territorium zu besetzen . .. Sie strecken ihre Hände nach Gebieten aus, die die Zaren nicht besaßen, sie sind noch gieriger als die Zaren . . . Wir werden nicht zuerst angreifen, . . . aber ganz gleich, in welcher Stärke sie kommen, wir werden sie auslöschen, gründlich, voll und ganz ..."

Die „Prawda" etwas später: „Die frechen bewaffneten Provokationen Chinas an der sowjetischen Grenze haben und werden künftig die gebührende Antwort erhalten . . . Aber man muß zwischen der chauvinistischen Mao-Clique und dem chinesischen Volk unterscheiden . . . Die Mao-Clique setzt die Interessen des chinesischen Volkes, seine sozialistischen Errungenschaften, die Freundschaft der Sowjetunion und Chinas aufs Spiel. . . Die verräterische . . Mao-Clique wird unausbleiblich zugrundegehen."

Radio Peking dagegen am 18. März 1969: „. . . Die Kommandierenden und Kämpfer der Volksbefreiungsarmee bauen in der Inneren Mongolei einen unzerstörbaren Wall . .. Sie bereiten sich auf den Kriegsfall vor ... Im nördlichen Grenzgebiet werden der sowjetre-visionistischen Renegatenclique furchtbare Schläge versetzt werden . . . Die Soldaten der Volksbefreiungsarmee sind an den langen Grenzen aufmarschiert . . . Sie treffen alle erforderlichen Vorbereitungen zum Kampf..."

Der „Prawda" -Artikel machte deutlich: Es geht der UdSSR um den Sturz Mao Tse-tungs und seiner „Clique". Das sowjetische Ziel wäre nach dem Abgang Maos und der auf ihn ein-geschworenen Führungsgruppe die Wiederherstellung der Freundschaft zwischen den beiden größten kommunistischen Mächten; das würde zugleich das Ende der Bedrohung Sibiriens, des sowjetischen Fernen Ostens und der zentral asiatischen Sowjetrupubliken durch China bedeuten.

Unterdessen bleibt es ungewiß, ob am Tien An Men, der Konferenzstätte am Platz des himmlischen Friedens in Peking, eine Lösung gefunden wird, die das Schlimmste verhütet.

Die Verhandlungen in Peking standen jedenfalls von Anbeginn unter hartem militärischem Druck. Uber die letzte Entwicklung fehlen zwar zuverlässige Daten. Insbesondere läßt sich nichts Generelles über die Ballung schwerer und schwerster Waffen in den sowjetischen Grenzgebieten sagen, wahrscheinlich ist hier aber die stärkste Feuerkraft seit dem Ende des 2. Weltkrieges konzentriert.

Die in der Dokumentation der neutralen Botschaft in Peking zusammengetragenen Tatsachen und zahlreiche andere Berichte und Informationen rechtfertigen Zweifel daran, ob es im gegenwärtigen Stadium der sowjetisch-chinesischen Beziehungen zu erfolgreichen, d. h. endgültigen Grenzverhandlungen kommen kann. Immer wieder haben es die Sowjets seit Bestehen der Volksrepublik China abgelehnt, die Existenz „ungleicher" und damit im Grunde ungültiger Verträge bezüglich der Grenzräume zuzugeben, und von dieser Position können sie bei den Verhandlungen in Peking schwerlich abrücken.

Einstweilen, so sehen Beobachter in Ulan Bator, Chabarowsk und Peking die nächste Phase der sowjetisch-chinesischen Gespräche, dürfte man sich auf ein „Einfrieren des bisher auf beiden Seiten vollzogenen militärischen Aufmarsches" einigen.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. G. F. Müller, Geschichte über die Länder am Amur gelegen, Reiseberichte, Instruktionen usw. in den „Akten" und „Ergänzungen", 1757; ferner P. A. Slowtzow, Historische Übersicht Sibiriens, 1886; S. 58 ff.

  2. G. F. Müller, a. a. O.

  3. Vgl. J. Semjonow, Sibirien, Berlin 1958, S. 288.

  4. Vgl. P. Schumacher, Der Vertrag von Aigun. Zur Geschichte der Erwerbung des Amur, Russkij Archiv, 1878, III.

  5. J. Semjonow, Sibirien, a. a. O., S. 290 ff.

  6. V. Farrar, The Background of the Purchase of Alaska, Wash. Hist. Quart., B 13, 1922; B. P. Thomas, Russo-American Relations 1815— 67, 1930.

  7. Semjonow, a. a. O., S. 291.

  8. Chaprowitzky, Amur-Saga, Russkij Archiv, 1901.

  9. Ebenda.

  10. Vgl. A. Th. v. Middendorf, Reise in den äußersten Norden und Osten Sibiriens, 4 Bde, 1847/1875, zitiert in: Semjonow, Sibirien, S. 96, 231, 283 f., 293, 296.

  11. G. P. Newelskoi, Ruhmvolle Taten, 1947.

  12. Barssukow, Graf Murawjew-Amurskij, 1891, zitiert in: Semjonow, Sibirien, S. 302 ff.

  13. Vgl. Imago Mundi in: Review of Early Cartography, 1897; P. Schumacher, Der Vertrag von Aigun. Zur Geschichte der Erwerbung des Amur, Russkij Archiv, 1878, III.

  14. Vgl. H. Langer, The Diplomacy of Imperialism, 1935.

  15. Vgl.den Bericht über die gesamten chinesisch-sowjetischen Grenzfragen im sowjetischen Journal „International Life", Moskau 1964; ferner Jen Min Jih Pao vom 8. März 1963.

  16. Vgl. Die Geschichte Sinkiangs, in: E. E. Koch, Rotchina ist anders, Freiburg 1964.

  17. Zum Separatismus in Sinkiang siehe auch E. E. Koch, a. a. O.

  18. Ebenda.

  19. Vgl. Vsevolod Holubnychy, Soviet Economic Aid to China, Bulletin of the Institute for the Study of the UdSSR, Vol III, 1956; Die Verträge der Volksrepublik China mit anderen Staaten, in: Band I der Schriften des Instituts für Asienkunde, Hamburg 1957.

  20. Vgl. V. M. Khrostow im sowjetischen Journal „International Life", Nr. 10, 1964.

  21. Vgl. einen Bericht in der chinesischen „Roten Fahne" vom 4. Februar 1964; ferner ein Rundschreiben des Zentralkomitees der KPCh vom 29. Februar 1964 über die sowjetische Subversion in Sinkiang.

  22. Vgl. zur militärischen Lage die Berichte in der „Kazakhstanskaya Prawda" von 1964 bis 1969 und insbesondere den Aufruf an die Bevölkerung der Grenzgebiete vom 12. Januar 1964, ferner „Times" vom 12 Dezember 1968 und die Berichte des Institute of Strategie Studies, London 1968/1969.

Weitere Inhalte

Erwin Erasmus Koch, geb. 1905, Studium der Philosophie, Geschichte und Volkswirtschaft in Wien. Seit 1937 Ausländskorrespondent für den Fernen, Mittleren und Nahen Osten. — Veröffentlichungen: Auf dem Dach der Welt — Tibet, Frankfurt 1960; Gelbe Götter, goldene Kaiser, rote Sterne — 10 000 Jahre Asien, Frankfurt 1962; Rotchina ist anders, Freiburg 1964.