Dieser Beitrag ist die erweiterte Fassung eines Vortrags, der im Rahmen der RIAS-Funkuniversität gehalten wurde.
I. Glück und Würde
Bei Ernst Bloch, in seiner berühmten Schrift über „Naturrecht und menschliche Würde", finden wir einen Satz, der uns helfen kann, einen ersten unterscheidenden Begriff von der Bedeutung und der Rolle des Glücks in verschiedenen politischen Systemen zu gewinnen. „Die Sozialutopien", heißt es da, „gehen überwiegend auf Glück, mindestens auf die Abschaffung der Not und der Zustände, die diese erhalten oder produzieren. Die Naturrechtstheorien gehen . . . überwiegend auf Würde, auf Menschenrechte, auf juristische Garantien der menschlichen Sicherheit oder Freiheit, als Kategorien des humanen Stolzes. Demgemäß richtet sich die Sozialutopie vor allem auf Abschaffung des menschlichen Elends, das Naturrecht vor allem auf Abschaffung der menschlichen Erniedrigung. Die Sozialutopie will wegräumen, was der Eudämonie aller, das Naturrecht, was der Autonomie und ihrer Eunomie im Wege steht."
Was uns hier thesenhaft, fast ein wenig pedantisch mitgeteilt wird, darf bei einem so dialektischen und mithin , offenen'Denker wie Bloch nicht als dogmatische Klassifizierung und schon gar nicht als Endprodukt einer geistigen Bemühung verstanden werden; es will vielmehr Anstoß und Ausgangspunkt zu neuen Fragen und neuen Antworten sein. Versuchen wir es.
Zunächst einmal liegt es nahe, Sozialutopie und Naturrechtslehre einem uns geläufigeren und gewiß ähnlich konfliktreichen Begriffs-paar zuzuordnen, sie auf die moderne Unterscheidung von Sozialstaat und Rechtsstaat zu beziehen. Dann wäre, wenn wir Ernst Blochs Terminologie zugrunde legen, für das Glück der Bürger am besten in einem sozialstaatlich verfaßten Gemeinwesen gesorgt, während ein politisches System, das sich zuvörderst als Rechtsstaat begreift, die Würde und Mündigkeit des einzelnen zum Leitbild und Maß aller öffentlichen Dinge erheben wird. Aber Glück und Würde, Abschaffung der Not und Gewähr von Menschenrechten — sind es wirklich Gegensätze, sind es Alternativen, vor die sich je eine menschliche Gesellschaft gestellt sah, um zwischen ihnen zu wählen? Ist es überhaupt vorstellbar, daß Menschen eine solche Wahl zu treffen bereit sind, daß sie sich als politische Wesen um den Preis der Würde für das Glück entscheiden oder umgekehrt für ein Mehr an Freiheit materielle Not in Kauf nehmen?
In Einzelfällen mag diese Bereitschaft vorhanden und begründet sein; im Regelfall ist sie es nicht. Daraus folgt, daß die Beziehung zwischen Glück und Würde, zwischen Wohlstand und Freiheit nichts von einem unverbindlichen Entweder-Oder an sich hat, ganz abgesehen davon, daß ja noch gar nicht ausgemacht ist, ob Wohlstand ohne Freiheit Glück bedeuten, als Glück empfunden werden kann und ob andererseits Freiheit dem, der Not leidet, als ein Garant seiner Würde erscheint. Nein, was hier modellhaft vor uns aufgerichtet wird, sind Grundbedingungen des menschlichen Daseins, sind zwei Seiten ein und derselben Sache, die beide danach drängen, politisch verwirklicht und in Harmonie miteinander gebracht zu werden
II. Die Legitimation am Gemeinwohl
Glück, menschgemäßes Glück — ist das überhaupt eine politische Kategorie? Ist Glück sichtbar, greifbar, meßbar? Kann und soll politisches Handeln sich privates Glück, die Wohlfahrt jedes einzelnen oder doch einer möglichst großen Zahl von einzelnen, zum Orientierungs-und Zielpunkt setzen? Feststeht, daß die Menschheitsgeschichte arm an Epochen ist, in denen politische Herrschaft sich erkennbar von diesem Ziel leiten und bestimmen ließ. Um Herrschaft in den Augen der Beherrschten zu legitimieren, bedurfte es jahrhundertelang nicht einmal eines glückverheißenden Lippenbekenntnisses, einer philanthropischen Geste sozialer Gerechtigkeit und Großmut. Eben dies besagt und bezeugt ja der Begriff der Sozialutopie als einer, wie Ernst Bloch sie genannt hat, Traumart von einem besseren gesellschaftlichen Leben. Daß sich von ihm träumen und das Geträumte sich mitteilen ließ, war immerhin nicht wenig, und wir Heutigen stünden anders da, hätte es die Träume und Visionen, die Erkenntnisse und Lehren abendländischer Philosophie nicht gegeben.
Es ist hier nicht der Ort, die mit Aristoteles beginnende geistige Entwicklungslinie nachzuzeichnen, die das Glück der Bürger mit dem Zweck des Staates verbindet. An der Schwelle des demokratischen Zeitalters war es insbesondere John Locke, der über political happiness als Staatsziel reflektierte. Ein anderer Engländer, der Vater des Utilitarismus, Jeremy Bentham, den manche zugleich als Begründer des Staatssozialismus betrachten, hat ein Jahrhundert später die Schlüsselworte geprägt, von denen das „Prinzip des größten Glücks der größten Zahl" noch heute geläufig ist.
Benthams berühmte Declaration ot Principles, 1831 als Wahlversprechen eines Parlaments-kandidaten formuliert, beginnt mit dem Satz: „Ich erkenne an, als das einzige Recht und eigentlichen Zweck der Regierung: das größte Glück der Mitglieder der Gemeinschaft . .
Daß sich der Inhalt des Glücks und die Formen seiner Verwirklichung mit den Zeitläuften kräftig gewandelt haben, ist selbstverständlich. Die fortschreitende Säkularisierung ist dabei nur ein Faktor unter vielen gewesen. Geblieben aber ist ein spezifisch amerikanisches, aus der Glücksidee abgeleitetes und von ihr gespeistes Sendungsbewußtsein, kraft dessen sich das Volk der Vereinigten Staaten unausgesprochen wohl noch heute als „inventor and practitioner of a way of life far surpassing all others in possibilities for justice and happiness"
Ob es recht daran tut, ob die freundliche Zeile „Amerika, du hast es besser" auf das Glück seiner gegenwärtigen Bewohner in vollem Maße zutrifft, ist hier nicht zu entscheiden. Als sicher darf jedoch gelten, daß uns Deutschen die Integration des persönlichen Glücksstrebens in den Staatszweck besonders schwer gefallen ist. Der konstitutionellen Monarchie des Kaiserlichen Deutschland, die immerhin einen nahezu intakten Rechtsstaat und eine ansehnliche Reihe kleiner Schritte im sozialen Bereich vorzuweisen hatte, war der Gedanke einer Selbstverpflichtung der Herrschaft auf das Glück ihrer Bürger fremd. Man empfand es als Schwächung, ja als Entwertung der höheren Ziele des Staates und der Nation, ein banales bürgerliches oder gar proletarisches Glück als diesen Zielen adäquat zu betrachten. Ein Beispiel mag diese Denkungsart verdeutlichen.
III. „Kulturideal und Glücksidee" — ein deutsches Dilemma
Max Haushofer, um die Jahrhundertwende ein namhafter Repräsentant des nationalliberalen Bildungsbürgertums und Vater des Geopolitikers Karl Haushofer, sah Kultur und Glück, „Kulturideal und Glücksidee" — wie er nuancenreich formuliert — als Gegensätze. Im Nachlaß Haushofers, der 1906 als Professor für Wirtschaftswissenschaft an der Königlich Technischen Hochschule zu München starb, fand sich der Torso eines Lehrbuchs der Politik, das einige Jahre später unter dem Titel „Das Volk und -sein Staat" veröffentlicht wurde
Vielleicht ist es diese Unbestimmtheit dessen, was Glück im Dasein des einzelnen ausmacht, vielleicht ist es aber auch das im deutschen Staatsdenken traditionell vorherrschende Bekenntnis, daß der einzelne wenig, sein Volk hingegen sehr viel sei, — jedenfalls fin-det unser Autor als Antwort auf die Frage „Ist der Zweck des Staates das Glück seiner Angehörigen?" ein halbes Ja und ein halbes, aber gleichwohl mächtigeres Nein angemessen. Ein Ja insofern, als der Staat dafür sorgen müsse, jene äußeren Zustände zu schaffen, die gemeinhin als Bedingungen des privaten Glücks angesehen werden: persönliche Sicherheit, Garantie des Eigentums, Freiheit der Lebensführung, Schutz der Volksgesundheit und ähnliches. Ein kräftiges Nein insofern, als der „große Unterschied zwischen den Lebenszielen des einzelnen und der Gemeinschaft" im Konfliktfalle gebiete, das Glücksziel dem soge-nannten Kulturzweck hintanzusetzen. „Der einzelne wird, wenn er vor die Wahl gestellt ist, ob er das will, was seinem Glück zuträglich ist, oder dasjenige, was ihn vollkommener, edler, menschlicher macht, in neunundneunzig unter hundert Fällen das erstere wählen. Die Gesamtheit aber", so fährt Haushofer fort, „verfolgt in erster Linie den Kulturzweck . .. Und alle geistigen Führer der Gesamtheit, alle jene hinreißenden geistlichen oder weltlichen Autoritäten,, welchen jemals Völker enthusiastisch folgten, haben es stets verstanden, die von ihnen geleiteten Völkermassen ihr Glücksideal vergessen zu lassen und sie auf ein wahres oder mißverstandenes Kultur-ideal hinzulenken."
Ein wahres oder mißverstandenes Kulturideal, das dem Streben nach dem kleinen Glück den Weg verlegt — fürwahr, die Geschichte, zumal die deutsche Geschichte, hält Beispiele genug für diesen Vorgang bereit. Man braucht dazu nicht einmal auf so unmenschliche und glücksferne Parolen wie „Du bist nichts, dein Volk ist alles" zu verweisen (eine Maxime übrigens, die weder dem einzelnen noch dem Volke bekömmlich zu sein pflegt). Es genügt, daran zu erinnern, daß hierzulande etwa die Aufrechterhaltung von Ruhe und Ordnung generationenlang als verbindliches Kultur-ideal, als erste Bürgerpflicht gegolten hat; sie zu erfüllen, stand in Staat und Familie ein nicht minder glückloses, glückentleertes Gehorsamkeitsideal zu Diensten. Das mitunter schmerzliche Glück der Unruhe, der Vereinzelung, in einem literarischen Titel wie „Unordnung und frühes Leid" doppelsinnig aufgehoben, hatte in dieser wilhelminisch geprägten Kulturlandschaft kein Lebensrecht.
Daß Staatsräson und Bürgerglück sich selten vertragen, bedarf keiner Worte. Der Konflikt, der aus dieser Unverträglichkeit entsteht, kann in aller Regel nur durch ein hartes Entweder-Oder gelöst werden. Aber dies ist heute leichter gesagt als getan. Der autoritäre Staat, die herrschende Klasse, die führende Partei oder wer immer sonst beansprucht, im Namen des menschlichen Fortschritts das Glück des einzelnen in seine Obhut zu nehmen, es zu definieren und zu regulieren, müssen sich vorsehen. Der Haushofersche Gegensatz zwischen dem, was — nach Ansicht des einzelnen — „seinem Glück zuträglich ist", und jenem, was — nach Meinung der Mächtigen — „ihn vollkommener, edler, menschlicher macht", enthält in nuce das ganze Dilemma einer latent totalitären Gesinnung. Die Zeitgenossen sind diesen Tönen gegenüber hellhörig und reizbar geworden. Deshalb wird ihnen, wie eine Fülle von Beispielen belegt, gern ein verschleierndes, ganz auf den Glücksbegriff gestimmtes Vokabular vorgesetzt, das die Reizung mindert. Sich von ihm nicht beirren zu lassen, setzt voraus, seine Funktion zu durchschauen.
Aber auch die Gesinnung wird selten noch konsequent durchgehalten. Ein Staat, der seinen Bürgern das Glück privater Zufriedenheit rigoros verwehrt, der den Raum einer freien Persönlichkeitsentfaltung übermäßig einengt, muß heute damit rechnen, mit solchen Übergriffen seine innere Stabilität aufs Spiel zu setzen. Selbst die gegenüber einer Kritik von unten bemerkenswert unempfindliche DDR-Führung hat sich mehr als einmal veranlaßt gesehen, den der Bevölkerung auferlegten Informations-, Reise-und Konsumverzicht (um nur diese drei Aspekte zu nennen) dialektisch zu rechtfertigen oder gar mit dem Versprechen ernstlicher Abhilfe an die Geduld ihrer Bürger zu appellieren. Ein Beispiel dafür ist die berühmte Lebensstandard-Parole, die Walter Ulbricht auf dem V. Parteitag der SED am 10. Juli 1958 verkündet hat. „Unser V. Parteitag", so ließ Ulbricht sich damals vernehmen, „hat die ökonomische Hauptaufgabe für den nächsten Abschnitt unseres Weges zu beraten, und ich schlage daher im Auftrag des Zentral-komitees vor, als ökonomische Hauptaufgabe zu beschließen: Die Volkswirtschaft der Deutschen Demokratischen Republik ist innerhalb weniger Jahre so zu entwickeln, daß die Überlegenheit der sozialistischen Gesellschaftsordnung der DDR gegenüber der Herrschaft der imperialistischen Kräfte im Bonner Staat eindeutig bewiesen wird und infolgedessen der Pro-Kopf-Verbrauch unserer werktätigen Bevölkerung mit allen wichtigen Lebensmitteln und Konsumgütern den Pro-Kopf-Verbrauch der Gesamtbevölkerung in Westdeutschland erreicht und übertrifft . .. Wir schlagen der Arbeiterklasse und der ganzen werktätigen Bevölkerung der Deutschen Demokratischen Republik vor, durch gemeinsame größere Anstrengungen in den nächsten drei Jahren die ökonomische Hauptaufgabe bis 1961 zu lösen."
Daß dieser Termin klanglos verstrichen und der als ökonomische Hauptaufgabe bezeichnete, übrigens nur scheinbar auf ein echtes Einholen der Bundesrepublik im Konsumgüter-sektor abzielende Plan bis heute unerfüllt geblieben ist, sei nur am Rande bemerkt. Aufschlußreicher ist, daß damals in der UdSSR wie in der DDR die Gralshüter der marxistischleninistischen Ideologie erstmals zum Tanz um das Goldene Kalb der westlichen Konsumgesellschaft angetreten sind. Ohne die Vorstellung, daß Glück und materieller Wohlstand einander bedingen (wobei kurioserweise am imperalistischen Westen beeindruckt Maß genommen wird), sind offenbar Programm und Praxis des Sozialismus, der sich auf seine immateriellen Errungenschaften und humanistischen Perspektiven so viel zugute hält
Zumindest in diesem Bereich wird auf lange Sicht an Bedeutung und Gültigkeit verlieren, was ein jüngerer westdeutscher Politikwissenschaftler vor einigen Jahren allzu apodiktisch so formuliert hat: „Das Handeln der demokratischen Regierung unterscheidet sich vom Handeln nicht-demokratischer Regierungen durch sein Ziel: das Glück der Bürger. Wie sehr auch andere Regierungstypen hervorheben mögen, daß auch ihr Handeln letztlich darauf abziele, das Wohl der Menschen zu fördern, so ist doch erwiesen, daß in nicht-demokratischen Gesellschaften sehr häufig das Glück der Menschen zurücktreten muß hinter dem Ansehen der Regierenden, hinter dem Prestige der Nation, hinter den Eroberungsplänen der herrschenden Schicht."
Andere Beobachter haben demgegenüber festgestellt, daß die Scheidung in demokratische und nicht-demokratische Systeme für die menschliche Glücksverwirklichung nur noch wenig besagt. „Eudämonismus und Staatsräson", lesen wir etwa in der — übrigens von einem betont konservativen Weltbild geprägten — „Allgemeinen Staatslehre" des Hamburger Staatsrechtlers Herbert Krüger, „sind heute keine Gegensätze mehr: Gerade die Staatsräson verlangt, daß der Staat so viele seiner Bürger wie möglich so glücklich mache wie möglich ... Staatsräson und Glück haben sich gefunden, weil . unglückliche'Menschen heute ein schwacher Punkt eines jeden Staates sind."
IV. Staatliche Glückslehren auf Kosten des einzelnen
Aber abgesehen davon, ist es nicht ohne makabren Reiz zu entdecken, daß kein deutscher Politiker häufiger und emphatischer vom Glück und Glücklichsein gesprochen hat als Adolf Hitler. Verfügte er über eine klare Vorstellung dessen, was das Glück der Volks-genossen im nationalsozialistischen Staat ausmachen sollte? Man wird dies bejahen und dabei auf einen Satz verweisen können, in dem Hitler, ganz gegen seine sonstige Gewohnheit, von einem negativen Glücksbegriff ausgeht: Der Nationalsozialismus, erklärt er am 30. Januar 1936, sei keine „Lehre des Glücks . . ., sondern eine Lehre der Arbeit, eine Lehre des Ringens und damit auch eine Lehre der Opfer"
Haben die Deutschen diese heroische Lehre, die zweifellos manche verschüttete Neigung zum wilhelminischen „Kulturideal" für sich zu nutzen verstand, innerlich akzeptiert, hat sie ihnen eingeleuchtet, ist sie der deutschen Mentalität am Ende gar wahlverwandt und wesensgemäß? Je mehr wir heute, ein Viertel-jahrhundert nach dem Untergang des Dritten Reiches, darüber zu wissen meinen, desto schwerer fällt es, die Frage für beantwortbar zu halten. Doch mag daran erinnert sein, daß Thomas Mann es war, der sich im Kriegsjahr 1942 mit ganz unzeitgemäßer Schärfe gegen die Annahme wehrt, das deutsche Volk liebe die Welt, die ihm „dieses Mißgeschick von Führer" beschert hat: „Wer das behauptet, ist ein analphabetischer Schwätzer, der etwas von deutscher Tiefe hat läuten hören, die nicht nach dem Glück, sondern nach einem heldenhaften Dasein verlangt."
Eben dies hat Hitler geglaubt — oder doch zu glauben behauptet: „Was ich will, ist das Glück meines Volkes."
Totalitäre Regime ähneln sich, an der Oberfläche zumindest. Aber in dieser Hinsicht unterscheidet sich der sozialistische Staat deutscher Nation nicht unerheblich vom national-sozialistischen. Die Führer der DDR gehen — vor allem dort, wo es Gegenwärtiges zu beschreiben gilt — mit dem Begriff des Glücks ungleich sparsamer um. Gewiß betrachten sie es, um ein Beispiel zu nennen, als „Glück für das deutsche Volk, daß auf dem Gebiete der DDR mit der verhängnisvollen Spaltung der Arbeiterklasse ein für allemal Schluß . . . gemacht worden ist"
So gesehen ist es nur folgerichtig, wenn der SED-Staat immer wieder die „glückliche Zukunft der Menschheit im Sozialismus" beschwört, wenn er seine Glücksverheißung mit Vorliebe in Worte kleidet, in denen sich Ansporn und Vertröstung mischen: „Wir wollen heute wie Sozialisten arbeiten, weil wir morgen auf sozialistische Weise in Wohlstand und Glück leben wollen." Walter Ulbricht, der diesen Satz 1958 geprägt
Daß die von Partei und Staat regulierte literarische Projektion des sozialistischen Glücks eine vergleichbare Dialektik nicht kennt, ist nur scheinbar ein Widerspruch. Die Literatur, von ihren wachsamen Förderern dazu bestimmt, die Stunden der Muße des Werktätigen ideologisch einwandfrei mit „echten Gefühlswerten" (Ulbricht) anzureichern, hat eine durchaus andere gesellschaftliche Funktion. Weniger Stimulans denn Beschwichtiger geistiger Unruhe ist sie darauf angelegt, der Phantasie des Lesers zu suggerieren, „in diesem besseren Land" aufs beste aufgehoben zu sein. Zumal die Lyrik der DDR hat sich, von berühmten Ausnahmen abgesehen, von Anbeginn als leistungsstolze Erbauungslyrik verstanden, in der das pralle Glück seine sonnenbeschienenen Muskeln spielen läßt, während Klassenfeind und literarische Qualität gemeinsam auf der Strecke bleiben. Nun haben politische Systeme, die das betreiben, was euphemistisch „Kunstpolitik" heißt, schon immer verheerend auf anpassungswillige schriftstellerische Talente gewirkt und manch eines in der korrumpierenden Rolle des Flos-und Staatspoeten zugrunde gerichtet. Und doch: Wieviel trennt, um zwei Variationen über ein Thema anzuführen, einen so dilettantisch stumpfen Vers wie „Dieser Garten voller Glück — das ist unsere Republik" (Max Zimmering) von der dynamischen Handschrift eines Majakowskij: „Ich bin eine Sowjet-maschine — erbaut, um Glück zu produzieren!" Daß das Genre des solchermaßen literarisch zur Schau gestellten „Wir-schaffen-es" -Optimismus nur noch künstlich am Leben erhalten wird, ist heute, da die Kraftquellen der Oktoberrevolution längst versiegt oder verschüttet sind, keine Frage mehr. Um so fragenswerter dürfte dagegen sein, ob die staatlichen Kulturfunktionäre und Kunstzensoren tatsächlich glauben, mit ihrer Tätigkeit der Gesellschafts-Ordnung, der sie dienen, einen Dienst zu erweisen. Werden sie je erfahren und, wenn sie es erfahren, würde sie beschäftigen, was Heinrich Böll jüngst dazu bemerkt hat — nämlich: „Im Interesse der Sache des Sozialismus und des sozialistischen Realismus wäre nichts mehr zu wünschen, als daß der Alleinvertretungsanspruch für das Glück auf Erden aufgegeben und zugegeben würde, daß auch in sozialistischen Ländern die Menschen leiden können, vor allem leiden dürfen und sich fragen müssen, welchen Sinn denn das Leiden habe"?
V. Das technische Zeitalter und der Nord-Süd-Konflikt
Dennoch kommt der für die Selbstdarstellung moderner Diktaturen so charakteristischen Wertschätzung und übermäßigen Inanspruchnahme des Glücksmotivs keineswegs eine nur repressive, verschleiernde und herrschaftsstabilisierende Funktion zu. Schon die bloß verbale Bereitschaft, sich am Glück der Massen zu orientieren und zu legitimieren, ist eine Reverenz gegenüber der demokratischen Idee, weckt entsprechenden Appetit und zeitigt Wirkungen, denen sich auch und gerade die Führer der Diktatur des Proletariats nicht völlig entziehen können. Sie stehen unter dem selbst-geschaffenen Zwang, die Kluft zwischen Glücksverheißung und Glücksverwirklichung nicht zu breit werden zu lassen, und sie haben ihre Politik darauf einzurichten. Dabei ergibt sich, daß die Befriedigung ökonomischer Wünsche und Bedürfnisse für ein auf sein Meinungs-, Informations-und Erziehungsmonopol bedachtes Regime noch immer ein Maximum an Nutzen bei einem Minimum an Gefährdung mit sich bringt. Folgerichtig ist das Bemühen dieser Regime um eine kontinuierliche Hebung des Lebensstandards in aller Regel ebenso echt wie ihre bei der Anprangerung wirtschaftlicher Mißstände an den Tag gelegte Entrüstung. Im übrigen deutete sich in Majakowskijs Metapher von der Glück produzierenden Sowjet-maschine bereits an, was die Welt unserer Tage, diesseits wie jenseits der ideologischen Barrieren, kennzeichnet: Das technische Zeitalter ist allen düsteren Prognosen zum Trotz hüben wie drüben das Zeitalter des kleinen Mannes geworden. Es vermochte seinen Wohlstand in immer kürzeren Intervallen immer kräftiger zu mehren, und es hat den Anschein, als werde diese Entwicklung sich auch künftig ungebrochen fortsetzen. An ihrem Anfang stand freilich mehr als nur das historisch-statistische Faktum der Industrialisierung, der Massenproduktion, die schließlich auch zu einer Vertiefung der Klassengegensätze und zu wachsender Verelendung des Proletariats, wie Marx sie voraussah, hätten fuhren können. Daß es anders gekommen, daß dem nach wie vor kapitalistischen Westen rechtzeitig die entscheidende Synthese liberal-rechtsstaatlicher und sozial-wohlfahrtsstaatlicher Elemente gelungen ist, hat die westliche Welt keinem Geringeren als Marx und der seinen Namen tragenden Bewegung zu verdanken. Ob wir diesen Vorgang, wie es nahezuliegen scheint, als Ironie der Geschichte klassifizieren dürfen, ist dabei noch nicht einmal ausgemacht. Denn wer vermöchte zu sagen, zu welchen Schlüssen Marx käme, wenn er etwa die Lebensbedingungen, den Sozialstatus und das „Glückspotential" der schwedischen und der polnischen Arbeiterschaft im Jahre 1970 vergleichend in Augenschein nähme.
Bei Herbert Krüger finden wir den bemerkenswerten Wandel zum Wohlfahrtsstaat, der sich binnen eines halben Jahrhunderts vollzogen hat, in knappen Strichen skizziert: „Der Staat konnte sich der Rolle des Glücksspenders von dem Augenblick an nicht mehr entziehen, in dem der einfache Mann in ständig wachsender Zahl zum . Arbeitnehmer'in der Fabrik geworden war und hier handgreiflich zweierlei erlebte: Daß die Technik die praktische Möglichkeit zu einer Verbesserung der Welt in großem Stile zu schaffen vermag, daß es ihm jedoch auf sich selbst gestellt nicht möglich sei, seine individuelle Lage entsprechend zu heben." In dieser Situation habe sich der Sozialismus der „Forderung, glücklich gemacht zu werden", angenommen und die „Befriedigung des irdischen Glücksverlangens einer wachsend glückshungrigen Menschheit auf seine Fahnen geschrieben". Die darin liegende Herausforderung „hat die nichtsozialistischen Staaten gezwungen, sich dem gleichen Ziel, wenn auch mit anderen Mitteln, zu widmen"
Dabei kam diesen Staaten sicherlich zugute, daß der Sozialismus dort, wo er praktiziert, wo in seinem Namen Macht ausgeübt wurde, so rasch pervertierte. Er fand nicht nur kein positives und selbstbewußtes Verhältnis zur menschlichen Freiheit, sondern gab auch seine ursprüngliche, auf die Gleichheit aller gerichtete Glücksidee bedenkenlos preis. Während noch Lenin in Anlehnung an Marx und Engels ein Höchstmaß wirtschaftlicher und sozialer Gleichheit als wesentliches Merkmal der sozialistischen Gesellschaftsordnung betrachtete, setzte Stalin das „der Leistungssteigerung dienende Prinzip der Differenzierung"
Summiert ergibt all dies ein recht beträchtliches Defizit. Die sozialistische Projektion von Glück — das verdient festgehalten zu werden — hat ihren utopischen Charakter bis heute weitgehend bewahrt. Diese unfreiwillige Traditionspflege ist um so erstaunlicher, aber auch befremdlicher, als kein sozialistischer (wohl aber mancher nichtsozialistische) Staat seinen Bürgern schuldig bleibt, was schon Fourier als Unterpfand des Glücks gefordert hat: „die Garantie des Wohlstands, eines ausreichenden Mininums für die Gegenwart und die Zukunft, die jeden Menschen samt seiner Familie aller Sorgen enthebt"
Daß der ökonomische Erfolg, das konzertierte Streben nach maximalen Zuwachsraten, hoher Rentabilität und immer höherem Pro-Kopf-Verbrauch keine Faktoren mehr sind, an denen die beiden großen, unsere Gegenwart prägenden politischen Systeme sich scheiden, leuchtet in einer Zeit, die der Krise eines sich stetig verschärfenden Nord-Süd-Gegensatzes entgegentreibt
Die Dynamik des friedlichen Wettbewerbs zwischen Ost und West, nicht zuletzt um die uns näher rückende Dritte Welt, trägt gleichfalls dazu bei, das wirtschaftspolitische Verhalten beider Seiten aus gehöriger Distanz aufeinander abzustimmen und international relevante Unterschiede-(sprich: den Attraktivitätsvorsprung des Konkurrenten) abzubauen. Tatsächlich geht dieser Wettbewerb, wie Herbert Krüger deutlich gesehen hat, gerade auch um die Frage, „welches System mehr , Glück'verspreche und welches insbesondere den Entwicklungsländern zu einem solchen Glück am besten verhelfen könne. Es ist vielleicht eines der seltsamsten Schauspiele der Weltgeschichte, wie Europa, gleichgültig ob kapitalistisch oder kommunistisch, sein ökonomisches Ideal von Glück über die ganze Welt in einem Augenblick zu verbreiten sucht, in dem ein solches Glück zuweilen den Glücklichen selbst anfängt zweifelhaft zu werden."
VI. Identität von Glück und Konsum?
über der politisch geteilten Erde des alten Kontinents ein ungeteilter Himmel gemeinsamer Glücksvorstellungen — das Bild hat seinen Reiz und gewiß auch seine Wahrheit. Aber ist es wirklich ein rein ökonomisches Ideal von Glück, dem Europa sich verschrieben hat, dem es verfallen ist? Manches erweckt diesen Anschein, und dennoch dürfte er trügen. Als Golo Mann nach dem 21. August 1968 in einem Interview mit dem Deutschen Fernsehen gefragt wurde, was seiner Meinung nach an Wünschen und Hoffnungen hinter dem „Prager Frühling", hinter der Popularität der Nach-Januar-Politik gestanden habe, nannte er die „Sehnsucht nach mehr Glück" an erster Stelle, und er grenzte diese Sehnsucht deutlich ab von dem auf den zweiten Platz verwiesenen Streben nach mehr materieller Wohlhabenheit. Damit ist, für diesen Teil Europas zumindest, nicht nur das in seiner Vordergründigkeit ohnehin suspekte Klischee einer Identität von Glück und Konsum beseitigt, sondern zugleich eine Brücke geschlagen zwischen dem Empfinden, glücklich zu sein, und den kleinen Freiheiten des Alltags, deren Verweigerung oder Rationierung den Durchschnittsbürger und vor allem die Jugend der CSSR offenbar am schmerzlichsten betrafen: die Freiheit, zu reden, zu fragen und zu widersprechen, die Freiheit, zu reisen, sich zu informieren und auch dem fremden Gesprächspartner gegenüber ohne Reue offenherzig zu sein, die Freiheit auch, gestrengen Autoritäten und regierungsamtlichen Parolen statt mit kritiklosem Respekt mit kritischer Respektlosigkeit zu begegnen. Der Einwand, diese in der (monopol-) sozialististischen Projektion von Glück getilgten Freiheiten möchten sich zwar an der Moldau einer gewissen, zweifellos übertriebenen Wertschätzung erfreuen, während in der DDR, der Volksrepublik Polen oder der Sowjetunion selbst die Nachfrage des Publikums nach ihnen erloschen sei, ist kaum ernst zu nehmen. Die überlieferte Erfahrung von ein paar tausend Jahren spricht gegen ihn. Wer sie außer acht läßt, setzt sich dem Verdacht aus, das zu sein, was Thomas Mann — wir haben das Wort zitiert — einen „anachronistischen Schwätzer" genannt hat.
In der pluralistisch-kapitalistischen Gesellschaftsordnung ist die Diagnose schwieriger, sind Rang und Rolle der kleinen und großen Freiheiten auf der gemeinen Glücksskala allenfalls indirekt abzulesen. Mancher Beobachter hält dafür, daß diese Freiheiten dem entpolitisierten Konsumbürger wenig oder nichts bedeuten, daß sie ihm auf der Jagd nach materiellen Glücksgütern gleichgültig geworden seien, daß er sie missen könne, ohne sie zu vermissen. Vermutlich wird dabei etwas Wesentliches übersehen. Noch immer verführt der Umgang mit einem jederzeit verfügbaren Gut, das ebenso mühelos wie ungefährdet in Anspruch genommen werden kann, zu Achtlosigkeit. Sie hat mit Geringschätzung nicht notwendig zu tun, und es lassen sich Zustände denken, unter denen dies auch schlichteren Gemütern ähnlich eindrucksvoll offenbar wird wie der jäh entdeckte Wert des Wassers dem Verdurstenden. Ein Tag im Leben der permissive Society, der in der Obhut eines aufmerksamen Staatssicherheitsdienstes verbracht werden müßte, wäre zweifellos ein kräftiger Impuls für den zuvor nie bewußt verspürten Wunsch nach einer Fortsetzung des Daseins ohne Furcht vor politischen Apparatschicks. George Orwells in das Jahr „ 1984" verlegte Phantasmagorie braucht dazu gar nicht bemüht zu werden.
VII. Schlußbetrachtung
Das gegenwärtige Nebeneinander und die Perspektive einer künftigen Konvergenz der Systeme werden demnach von zwei Faktoren entscheidend bestimmt oder doch mitbestimmt. Erstens: Unter dem gemeinsamen Dach wirtschaftlichen Wohlstands gibt es politische, gesellschaftliche und kulturelle Formen zulässiger Glücksverwirklichung, die in Ost und West auf kennzeichnende Art verschieden sind. Zweitens: Desungeachtet scheinen die persön-liehen Glücksvorstellungen der Menschen hüben und drüben auch im nicht-ökonomischen Bereich in bemerkenswertem Maße konstant und gleichartig geblieben zu sein.
Für die Richtigkeit dieser zweiten These ließe sich eine Fülle von Indizien ergänzend ins Feld führen. Willy Brandt hat in einer 1965 angestellten Betrachtung über „Die Haltung der Ost-Berliner" darauf hingewiesen, daß selbst DDR-Publikationen zufolge „die Mehr-29 zahl der Jugendlichen ein , privates Glück'anstrebe und das . kollektive Glück', das von der Partei proklamiert worden ist, ablehne"
Wenn all das richtig ist, dann sind nicht nur die Menschen anders, als die dogmatischen Marxisten annehmen, sondern dann stellt die Affinität der persönlichen Glückserwartung eines der bemerkenswertesten verbindenden Elemente der nachwachsenden Generationen in Ost und West dar. Unter solchen Auspizien wird es in Zukunft nicht eben leichter werden, mündige Menschen dem Diktat einer künstlich gelenkten und verengten staatlichen Projektion von Glück zu unterwerfen. Der stolze Satz, es gebe „keine andere Partei als die revolutionäre Partei der Arbeiterklasse, die unbeirrbar dem Volk den einzig richtigen Weg zu Frieden und Glück zeigt"
Es gibt ihn nicht, den einzig richtigen Weg zum Glück. Glück ist keine ideologisch oder wissenschaftlich fixierbare, sondern eine extrem variable, offene, am höchstpersönlichen Bedarf orientierte Größe. Konkrete Glückslehren stehen meist in Widerspruch zu anderen konkreten Glückslehren — wenn sie nicht bereits ein Widerspruch in sich sind. Nach Charles Fourier ist die Hauptquelle des Glücks der ständige Wechsel der Betätigungen; nach Mihailo Markovic hat die Mehrheit der Menschen „seit jeher von einem Zustand geträumt, der, als Voraussetzung für das größtmögliche Glück, ohne Arbeit und ohne Veränderung sei"
Diese in Verlust geratene Stelle sollte in unserer Ideenwelt wieder geschaffen werden (freilich ohne dabei den mißverständlichen und fehlerhaften Begriff der , Garantie'zu bemühen). Der Stellenwert der politischen Projektion von Glück bemißt sich vor allem anderen nach der Summe verfassungskräftig verbürgter Freiheitsrechte und dem Grad ihrer mit Hilfe sozialstaatlicher oder sozialistischer Modelle erreichten . Verallgemeinerung'. Beide Aspekte müssen zusammen gesehen und auf-einander abgestimmt werden