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Deutschland und die Sowjetunion von Brest-Litowsk bis Rapallo | APuZ 16/1972 | bpb.de

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APuZ 16/1972 Artikel 1 Das russische Deutschlandbild und das sowjetische Bild von der Bundesrepublik Deutschland und die Sowjetunion von Brest-Litowsk bis Rapallo

Deutschland und die Sowjetunion von Brest-Litowsk bis Rapallo

Horst Günther Linke

/ 44 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Vier Jahre nach dem Abschluß des Diktatfriedens von Brest-Litowsk, der auf Grund der militärischen Niederlage Deutschlands im 1. Weltkrieg nur wenige Monate Bestand hatte, schlossen der deutsche und der sowjetische Außenminister in Rapallo einen Vertrag, der von seinen Befürwortern als vorbildliches Beispiel für friedliche Koexistenz zwischen Staaten verschiedener Gesellschaftsordnung und als ehrenhafter Friedensvertrag, wie er auch zwischen den Westmächten und Deutschland hätte geschlossen werden müssen, bezeichnet wurde. Die Kritiker des Abkommens, das im wesentlichen die Wiederaufnahme der diplomatischen Beziehungen, die Gewährung der Meistbegünstigung im wirtschaftlichen Verkehr und den Verzicht auf bestimmte finanzielle Ansprüche beinhaltete, wandten hingegen ein, daß die Vereinbarung den schon vorhandenen Keil zwischen Deutschland und den Westmächten noch tiefer treiben werde. Diese Befürchtung, die sich nur sehr bedingt als zutreffend erweisen sollte, war auch den verantwortungsbewußten Anhängern einer aktiven deutschen Ostpolitik nicht fremd und letztlich nur durch die Sorge, daß die Westmächte sich mit Sowjetrußland auf dem Rücken Deutschlands einigen könnten, überwunden worden. Mindestens zwei Jahre lang, seit 1920, hatte deutscherseits die Angst, England zu verstimmen, das Hauptargument gegen eine Normalisierung der Beziehungen zu Sowjetrußland gebildet. Für eine Verbesserung des Verhältnisses zu Sowjetrußland hatten sich schon sehr früh Kreise der Wirtschaft eingesetzt, gefolgt von Politikern mit pazifistischen wie auch nationalistischen Zielen. Die sowjetische Regierung tat das ihre, um diesen Kräften Rückhalt und Aufschwung zu geben. Sie war stets für die Aufnahme von diplomatischen Beziehungen mit dem Reich eingetreten, wobei sie sich zunächst vor allem von taktischen Gesichtspunkten leiten ließ, bis sie während des Krieges mit Polen 1920 zu der Erkenntnis gelangte, daß Deutschland noch nicht reif für die proletarische Revolution sei und man für lange Zeit einen Modus vivendi mit dem bürgerlichen Deutschland suchen und finden müsse.

I. Einleitung

Vor 50 Jahren, am 16. April 1922, trafen sich in Rapallo der deutsche und der sowjetische Außenminister, um ein Abkommen zu unterzeichnen, auf das sich heute noch, und gerade heute wieder, angesichts der parlamentarischen Behandlung des Moskauer Vertrages die einen lobend, die andern warnend berufen. Wie seinerzeit das deutsch-sowjetische Verhältnis tatsächlich beschaffen war und wie die schließlich erzielte Verständigung im Westen aufgenommen wurde, möchte der folgende Beitrag rekapitulieren überblickt man die Beziehungen zwischen Deutschland und Rußland in den letzten 200 Jahren, so scheinen wiederholt Zeiten offener Feindschaft plötzlich und für die Mitwelt vollkommen überraschend ein Ende zu finden durch Verträge, die nicht nur eine Verständigung zwischen den beiden eben noch zerstrittenen Parteien dokumentieren, sondern sich auch direkt oder indirekt gegen Mächte wenden, mit denen die Deutschen oder Russen gerade bessere Beziehungen anstrebten, wenn sie nicht gar mit ihnen verbündet waren. So rettete im Mai 1762 der wenige Monate zuvor zur Herrschaft gelangte russische Zar Peter III. Preußen vor der unausweichlich erscheinenden Niederlage gegen eine Koalition europäischer Mächte, indem er mit Friedrich dem Großen Frieden schloß, wodurch sich auch die verbleibenden Gegner Preußens bald zur Beendigung des Krieges genötigt sahen. 50 Jahre später leitete der preußische General Yorck von Wartenburg mit der von ihm und dem Befehlshaber russischer Streitkräfte, General Diebitsch, zu Tauroggen getroffenen Neutralitätsvereinbarung den förmlichen Übergang Preußens von der französischen auf die russische Seite ein, der durch den Bündnisvertrag von Kalisch am 28. Februar 1813 besiegelt wurde.

Im März 1918 schied Rußland durch den Vertrag von Brest-Litowsk gegen den Willen seiner bisherigen Verbündeten aus dem Krieg mit Deutschland aus, obwohl es sich im September 1914 durch seine damalige Regierung Verpflichtet hatte, keinen Separatfrieden zu schließen. Im April 1922 war es hingegen wiederum Deutschland, das von den Westmächten der Unehrenhaftigkeit geziehen wurde, nachdem der deutsche Außenminister sechs Tage nach Eröffnung der ersten großen internationalen Konferenz, zu der Vertreter Sowjetrußlands eingeladen worden waren, mit seinem russischen Kollegen in Rapallo einen Vertrag unterzeichnet hatte, der u. a. Probleme regelte, die auf der Konferenz allgemein gelöst werden sollten.

Unmittelbar vor Ausbruch des Zweiten Weltkrieges schließlich, im August 1939, brach die sowjetische Regierung plötzlich Verhandlungen mit Vertretern der Westmächte über eine militärische Kooperation im Kriegsfall ab, um mit dem nationalsozialistischen Deutschland, das bis dahin als Hauptfeind der Sowjetunion bezeichnet worden war, ein in aller Eile geheim ausgehandeltes Abkommen abzuschließen, das außer einem gegenseitigen Nichtangriffsversprechen in einem Zusatzprotokoll die territoriale Abgrenzung der beiderseitigen Interessensphären im östlichen Europa beinhaltete.

Unter all diesen Übereinkünften nimmt der Rapallo-Vertrag heute noch, 50 Jahre nach seinem Abschluß, eine Sonderstellung ein. Er wird nicht nur als historisches Faktum gesehen, sondern ist zu einem Schlagwort in der politischen Diskussion geworden. Während in der sowjetischen Publizistik , Rapallo'als vorbildliches Beispiel einer Politik der friedlichen Koexistenz zwischen zwei Staaten verschiedener Gesellschaftsordnung gutgeheißen wird, so wie es Lenin schon im Mai 1922 getan hatte, neigen westliche Stimmen eher zu einer skeptischen Beurteilung; für sie ist . Rapallo 1 häufig gleichbedeutend mit einer einseitigen An-näherung Deutschlands an den Osten auf Kosten eines guten und vertrauensvollen Verhältnisses zu den Westmächten. Audi diese Interpretation ist praktisch so alt wie der Vertrag selbst, dessen Entstehungsgeschichte in dem weiteren Rahmen der deutsch-sowjetischen Beziehungen zwischen 1918 und 1922 im folgenden dargestellt werden soll.

il. Zwischen den Revolutionen

Unmittelbar nach der erfolgreichen Machtübernahme in Petrograd im November 1917 hatte die sowjetische Regierung einen Aufruf an alle Völker und Regierungen mit der Aufforderung zur Beendigung des Krieges „ohne Annexionen und Kontributionen" gesandt. Sie hoffte, daß die werktätigen Massen auf Grund dieser Proklamation einen so intensiven Druck auf ihre Regierungen ausüben würden, daß kein Staat sich dem Angebot entziehen könne; doch diese Erwartungen erwiesen sich als trügerisch. Nur die deutsche Regierung und ihre Verbündeten, die im Gegensatz zu den Alliierten an einem Frieden im Osten sehr interessiert waren, fanden sich nach einer zweiten Aufforderung Ende November zu Waffenstillstandsgesprächen in Brest-Litowsk und nach deren Abschluß auch zu Friedensverhandlungen bereit. Sie hatten natürlich ganz andere Vorstellungen von einem Friedensschluß als die Russen, wenn auch der österreichisch-ungarische Außenminister, Graf Czernin, in seiner Programmrede am 25. Dezember 1917 den Worten nach das Selbstbestimmungsrecht der Völker und den Verzicht auf Kriegsentschädigung im Namen der Vierbundmächte zu akzeptieren schien, über die wahren Absichten ihrer Partner am Konferenztisch blieb die russische Delegation nicht lange im unklaren; sie verhandelte weiter, getreu den bolschewistischen Versprechungen vor der Revolution, dem Land, wenn irgendmöglich den Frieden zu bringen, ohne den auch die großen Projekte der Neuverteilung des Ackerbodens und der Vergesellschaftung der Produktionsmittel nicht realisiert werden konnten. Darüber hinaus hoffte die sowjetische Regierung, daß die tatsächlichen Forderungen der Mittelmächte den massiven Widerstand und vielleicht gar die revolutionäre Erhebung der deutschen Arbeiterklasse hervorrufen würden.

Vor allem auf Grund dieser letzten Erwartung versuchten die russischen Unterhändler, an deren Spitze seit Januar 1918 L. D. Trotzki stand, die Verhandlungen in die Länge zu ziehen. Mitte Januar ließ sich eine Entscheidung russischerseits für oder gegen die drückenden Friedensbedingungen jedoch nicht mehr umgehen. Trotzki riet zur Ablehnung, weil er einen erneuten Kriegsausbruch für unwahrscheinlich hielt und als vorrangig ansah, daß der junge Sowjetstaat „in moralischer Hinsicht rein vor der Arbeiterklasse der ganzen Welt" dastehe. Im Zentralkomitee der RKP(b) und unter den Delegierten zum III. Sowjetkongreß fand er für seine Auffassung in zwei Abstimmungen die Mehrheit, obwohl Lenin energisch widersprach und darauf hinwies, daß Rußland dem Gegner bei einer nicht auszuschließenden Wiedereröffnung der Feindseligkeiten keine intakte Armee entgegenzustellen habe und außerdem den Frieden benötige, um die sozialistische Revolution fortzusetzen und zu festigen.

Die von Trotzki vorgeschlagene Formel „Weder Krieg noch Frieden" war in der Tat nicht so akademisch-sophistisch, wie sie auf Grund der späteren Ereignisse erscheinen mochte; so zeigte sich der deutsche Staatssekretär Kühl-mann nicht abgeneigt, Trotzkis Kompromiß vorerst stillschweigend zu akzeptieren. Man könne nicht, so begründete er in einer Denkschrift vom 10. Februar 1918 an den Reichs-kanzler Hertling seine Auffassung, die bolschewistische Regierung nur mit militärischen Mitteln zur Unterzeichnung eines politischen Dokuments zwingen; die für einen soldien Zweck eingesetzten Truppen würden überdies an der Westfront fehlen. Zudem sei zu befürchten, daß die Wiederaufnahme der Feindseligkeiten angesichts des halben russischen Entgegenkommens im Volk Unruhe hervor rufen werde. Hinter diesen Argumenten stand Kühlmanns Grundüberzeugung, daß der allgemeine Krieg nur durch einen Verständigungsfrieden zu beenden sei, in dem die Ostver hältnisse ohnehin neu geordnet würden. Die Oberste Heeresleitung (OHL) hingegen, die auf einen Siegfrieden setzte, mochte sich mit den Vorstellungen des Staatssekretärs nicht einverstanden erklären und drängte auf „klare Verhältnisse und schnelles Handeln". Nadi Ludendorffs Vorstellungen sollte Rußland als Staat territorial ungefähr auf den Umfang des Großfürstentums Moskau im 17. Jh. ? schränkt werden und „in möglichster po® scher, militärischer und wirtschaftlicher Abhängigkeit von Deutschland eine wirtschaftliche Kraftquelle Deutschlands werden". , Der Kaiser entschied sich für den General.

Am 18. Februar gingen die deutschen Truppen an der Ostfront zum Angriff über, ohne auf bedeutenden Widerstand zu stoßen. Lenin hatte mit seiner Prognose gegenüber Trotzki rechtbehalten. Die Friedensbedingungen, die die sowjetische Regierung sich nun gezwungen sah anzunehmen, um eine „Atempause" gegenüber dem äußeren Feind zugunsten der Stärkung ihrer Macht im Innern zu erlangen, waren noch härter als vor Beginn der deutschen Offensive. Am 3. März unterzeichneten die russischen Vertreter den Vertrag, der in seinen Hauptbestimmungen vorsah, daß Kur-land, Litauen und Polen aus dem russischen Staatsverband ausscheiden sollten, daß Livland und Estland sofort von den russischen Truppen zu räumen und von einer deutschen Polizeimacht’ zu besetzen seien und daß Sowjetrußland den Anfang Februar zwischen der Ukraine und den Mächten des Viererbundes geschlossenen Frieden anzuerkennen habe. Ferner verzichteten die Vertragspartner gegenseitig auf den Ersatz ihrer Kriegskosten und verpflichteten sich nach Art. 2, „jede Agitation oder Propaganda gegen die Regierung oder die Staats-und Heereseinrichtungen des anderen Teils unterlassen" zu wollen. Nach der Ratifizierung des Vertrages — die von beiden Seiten noch im gleichen Monat vorgenommen wurde — sollten die diplomatischen Beziehungen zwischen dem Deutschen Reich und Sowjetrußland aufgenommen werden.

In dem nahezu sechs Monate später, am 27. August 1918, geschlossenen Berliner Zu-

satzabkommen mußte Sowjetrußland die schon in dem Vertrag von Brest-Litowsk angelegte Lösung Livlands und Estlands aus dem russischen Reichsgebiet ebenso anerkennen wie die Selbständigkeit Georgiens; darüber hinaus wurde ihm als eine verschleierte Kriegskontribution, auf die förmlich im März verzichtet worden war, die Zahlung einer Abfindungssumme von 6 Milliarden Mark für Verluste deutscher Werte in Rußland auferlegt.

Selbst die staatsrechtliche Anerkennung, die die deutsche kaiserliche Regierung Sowjetrußland gegenüber ausgesprochen hatte, stellte de facto keine uneingeschränkt eingehaltene Verpflichtung dar. Das war vor allem den kreisen um Ludendorff zuzuschreiben, die durch die Abkommen ihre noch weitergesteck-

ten politischen und wirtschaftlichen Ziele nicht erfüllt sahen und die sowjetische Regierung picht für den erwünschten „zuverlässigen rreund und Verbündeten" hielten. Sie wollten vielmehr Vertreter der rechtsextremen monarchischen Richtung an der Macht sehen und unterstützten deswegen zum Leidwesen der politischen Führung mittelbar und unmittelbar Maßnahmen, die den Sturz der bolschewistischen Regierung zum Ziel haben konnten oder sollten.

Auch in der Wilhelmstraße war man von tiefem Mißtrauen in die politischen Grundsätze und Absichten der Regierung in Moskau erfüllt, glaubte aber nichts zu ihrem Sturz unternehmen zu dürfen, da sie vorerst die Durchführung der Verträge von Brest-Litowsk und Berlin garantierte, was man von keiner anderen politischen Partei in Rußland erwartete. Die Ermordung des ersten deutschen Botschafters in Sowjetrußland, Graf Mirbach, durch die linken Sozialrevolutionäre, die den Abbruch der diplomatischen Beziehungen provozieren sollte, beirrte das Auswärtige Amt nicht in seiner Politik. Es plante sogar für den Fall, daß die Linken Sozialrevolutionäre die bolschewistische Regierung stürzen sollten, zugunsten der letzteren militärisch zu intervenieren. Ebenso und aus denselben Gründen zeigte man sich im Auswärtigen Amt bereit, dem Anfang August geäußerten Wunsch der sowjetischen Regierung nach militärischer Unterstützung gegen die Entente, die Truppen nach Nordrußland entsandt hatte, zu willfahren. Das Projekt scheiterte indes an dem nicht unbegründeten Mißtrauen der bolschewistischen Führung gegenüber den von Ludendorff vorgelegten Operationsplänen.

Die bedingte, notgedrungen geübte Kooperationswilligkeit der russischen Seite implizierte verständlicherweise nicht, daß die sowjetische Regierung in den Verträgen, die ihr in Brest-Litowsk und Berlin aufgezwungen worden waren, eine dauerhafte Grundlage für ihre Beziehungen zu Deutschland gesehen hätte. Sie setzte ihre Hoffnungen auf die sozialistische Revolution in Deutschland, deren Entwicklung sie nicht nur aufmerksam verfolgte, sondern durch ihre Botschaft in Berlin auch tatkräftig, entgegen Art. 2 des Vertrages von Brest-Litowsk, förderte. Anfang Oktober glaubte Lenin, die proletarische Erhebung stehe unmittelbar bevor und man müsse mit ihr „als Ergebnis der nächsten Tage" rechnen. Folgerichtig mahnte er, daß es jetzt keinerlei Bündnis mit dem kaiserlichen Deutschland mehr geben dürfe. Anlaß zu einer solch optimistischen Einschätzung der Lage gaben ihm das am 29. September von Hindenburg und Ludendorff geforderte Waffenstillstandsangebot an die Entente, womit die militärische Niederlage Deutschlands im Weltkrieg öffentlich eingestanden wurde, und die am gleichen Tag angekündigte Verfassungsreform, die offenkun-dig dazu dienen sollte, der politischen Opposition gegen das kaiserliche Regime, mit der nun verstärkt zu rechnen war, den Wind aus den Segeln zu nehmen.

Als weiteres Mittel zur Bekämpfung der Revolutionsgefahr empfahlen der preußische Innenminister und einige seiner Kollegen im Kriegskabinett den Abbruch der diplomatischen Beziehungen zu Sowjetrußland und die Ausweisung der russischen Diplomaten. Aber das Auswärtige Amt lehnte solche Maßnahmen vorerst noch ab. Es bezweifelte nicht, daß die sowjetische Botschaft in Berlin Zentrum revolutionärer Agitationstätigkeit sei, stellte aber die Wirksamkeit dieser Propaganda in Frage; wichtiger schien ihm bis zum 28. Oktober, daß der Abbruch der diplomatischen Beziehungen zu Sowjetrußland eine schwere Schädigung deutscher wirtschaftlicher Interessen zur Folge haben werde. Unmittelbar nach dem Beginn der Meuterei auf der Hochseeflotte in Wilhelmshaven schloß sich das Auswärtige Amt indes seinen bisherigen Kritikern an und plädierte nun gleichfalls für den Abbruch der Beziehungen. Eine am 4. November absichtlich auf dem Bahnhof Berlin-Friedrichstraße beschädigte Kurierkiste, die Flugblätter revolutionären Inhalts enthalten haben soll, lieferte den Vorwand, um dem sowjetischen Botschafter loffe und seinen Mitarbeitern die Pässe zustellen zu können. Um etwaigen Repressalien der russischen Regierung nach Möglichkeit vorzubeugen, wurde von deutscher Seite offiziell indes nicht von einem Abbruch, sondern von einer . Unterbrechung'der diplomatischen Beziehungen gesprochen.

In seinen ersten Stellungnahmen interpretierte Lenin die Entscheidung der deutschen Regierung als Zeichen der Schwäche und der vor dem Bolschewismus, das den notwendigen Gang der Dinge nicht ändern werde. In der Tat konnte die Ausweisung Toffes den Ausbruch der Revolution nicht verhindern, was indes nicht bedeutet, daß die Maß. nähme im Hinblick auf die innere Lage in Deutschland wirkungslos gewesen wäre: Sie versperrte den russischen Kommunisten die Möglichkeit des ständigen Kontakts mit der linksradikalen revolutionären Arbeiterschaft in Deutschland; darüber hinaus sollte sich das Fehlen einer ständigen Funkverbindung nach Berlin für die sowjetische Regierung in den folgenden Wochen und Monaten als ein äußerst nachteiliges Hindernis bei ihrer Beurteilung der Situation im Reich erweisen. Ziemlich ungeschickt wirkten bereits zwei Funksprüche der Sowjetregierung vom 11. November, in denen sie auf Grund unzureichender Nachrichten die Arbeiter und Soldaten noch gegen eine Regierung der Sozialdemokraten und für eine Machtübernahme durch Liebknecht und seine Anhänger zu mobilisieren suchte, als in Wirklichkeit die Würfel bereits gefallen waren und die beiden großen sozialistischen Parteien MSPD und USPD sich schon mit Zustimmung der Arbeiter-und Soldatenräte Berlins geeinigt hatten, gemeinsam eine Regierung unter dem Namen , Rat der Volksbeauftragten'zu bilden.

III. Annäherung oder Konfrontation?

Die neue deutsche Regierung zeigte keine Neigung, das Schicksal Deutschlands mit dem Sowjetrußlands zu verbinden. Anregungen aus Moskau, die von der Offerte, zwei Züge mit Brotgetreide zu senden, über den Wunsch zur Wiederaufnahme diplomatischer Beziehungen bis hin zu dem Angebot eines Schutz-und Trutzbündnisses reichten, schenkte sie kein Gehör; vielmehr nutzte sie die beiden erwähnten russischen Appelle neben anderen Begründungen als Vorwand, um bis zum Ende des Jahres 1918 das Verhältnis zu dem Nachbarn im Osten dilatorisch zu gestalten.

Die Entscheidung für eine derartige Politik war in der Kabinettsitzung vom 18. November auf Antrag des USPD-Vertreters Haase gefallen, der im , Rat der Volksbeauftragten'für die auswärtigen Angelegenheiten zuständig war. Ebert hatte ihn mit der Erklärung unterstützt, daß es die Hauptaufgabe der Regierung sei, Frieden zu schließen und alles, was dem entgegenstehe, zurückzustellen. Berichte der deutschen Gesandtschaften im neutralen Ausland betonten nun aber, daß bereits die Rückkehr loffes genügen würde, um in den Augen der Entente die Friedensaussich ten zu verringern. Kautsky, der als Unter-Staatssekretär im Auswärtigen Amt der Sitzung beiwohnte, steuerte noch ein weiteres Argument zugunsten einer abwartenden Politik gegenüber Rußland bei. Er meinte, die Sowjetregierung werde sich gegen ihre inneren und äußeren Gegner nicht mehr lange behaupten können und „in einigen Wochen erledigt" sein.

Zweifellos mußte auch vom innenpolitischen Standpunkt eine dilatorische Haltung gegenüber Sowjetrußland als vorteilhaft erscheinen weil sie wenigstens für eine gewisse Zei sowohl vor linksradikalen Anhängern der USPD zu verteidigen war als auch gegenü er bolschewismusfeindlichen Kreisen wie ins e sondere der OHL, die durch Groener am 10. November mit Ebert vereinbart hatte, daß das Offizierskorps sich der neuen Regierung zur Verfügung stellen sollte, wofür diese versprach, kommunistischen Bestrebungen ent-schieden entgegenzutreten.

Durch den Austritt der USPD-Mitglieder aus dem , Rat der Volksbeauftragten'Ende Dezember 1918 sowie durch den von vornherein zum Scheitern verurteilten, schlecht vorbereiteten und organisierten Januar-Aufstand der Anhänger Liebknechts, der unzutreffenden Gerüchten und Meldungen zufolge von russischer Seite angezettelt worden sein sollte, wurde innenpolitisch der Boden für eine Neuorientierung der deutschen Politik gegenüber Sowjetrußland geschaffen, die der im Dezember 1918 zum Staatssekretär im Auswärtigen Amt berufene Graf Brockdorff-Rantzau schon vorher aus außenpolitischen Gründen programmatisch vorgesehen hatte. Seiner Überzeugung nach konnte „als einzig einigende Formel ..., um mit unseren jetzigen Feinden wieder in ein erträgliches Verhältnis zu kommen", nur der „Kampf gegen den Bolschewismus“ in Betracht kommen. Lediglich wenn die Alliierten Deutschland durch unannehmbare Friedensbedingungen zur Verzweiflung trieben und der Bolschewismus in Deutschland doch siege, lautete die politische Alternative des Grafen, sollte und müßte das Reich mit Sowjetrußland zusammen gegen die Entente vorgehen. Er selbst wollte sich dann an die Spitze der Bewegung stellen. Es gab indes kein Anzeichen dafür, daß die linksradikalen Kräfte im Falle ihres Sieges Brockdorff als ihren Führer oder auch nur in einer Stellung zu sehen wünschten, in der er noch irgendeinen Einfluß auf die Außenpolitik nehmen konnte.

Die erste Konzeption bot sich hingegen nicht nur wegen der in ihr enthaltenen möglichen politischen Erfolgsaussichten an, sondern auch, weil die Beziehungen zwischen dem Reich und Sowjetrußland nach Ansicht der politischen und militärischen Führung ohnehin—aus noch näher zu erläuternden Gründen — zur Konfrontation drängten. So stimmten ihr die sozialdemokratischen Volksbeauftragten in der zweiten Januarhälfte 1919 zu, und Scheide-mann nahm nach den Wahlen zur Nationalversammlung Brockdorff mit eben diesem Programm als Außenminister in sein Kabinett auf.

Immerhin gab es schon einen Präzedenzfall, der die Erwartungen Brockdorffs als realistisch erscheinen lassen mochte: Nach der Übergabe der Waffenstillstandsbedingungen in Compiegne durch Marschall Foch am 8. November 1918 hatte der Leiter der deutschen Delegation, Erzberger, Einspruch gegen den in Art. 12 vorgesehenen Abzug der deutschen Truppen aus allen Territorien, die vor dem Krieg zu Rußland gehört hatten, mit der Begründung eingelegt, man liefere sie so dem Bolschewismus aus. Foch akzeptierte das Argument und bestimmte eigenmächtig, daß das deutsche Heer die fraglichen Gebiete erst dann räumen müsse, wenn die Alliierten den Zeitpunkt hierzu für gekommen hielten. Das Zugeständnis entsprach den Interessen derjenigen politischen, wirtschaftlichen und militärischen Kreise Deutschlands, die Rußland durch einen Randstaatengürtel sowohl geschwächt als auch vom Reich getrennt sehen wollten, und die zudem noch hofften, einen wirksamen politischen und wirtschaftlichen Einfluß insbesondere auf die baltischen Staaten ausüben zu können.

Die erschöpften und großenteils überalterten Soldaten wollten indes nach Hause und räumten ihre Stellungen teils unter dem Druck der angreifenden kommunistischen Formationen, teils freiwillig. Die Reichsregierung geriet dadurch in zweifacher Hinsicht in eine peinliche Lage. Einerseits wurde sie von den Alliierten verdächtigt, mit den Bolschewisten zu sympathisieren, andererseits sah sie in den sowjetischen Verbänden, die ohne erhebliche Gegenwehr vorrückten, eine Gefahr für Ostpreußen und das übrige Reich.

Der sowjetische Außenminister ierin beteuerte zwar in mehreren Noten, daß diese Befürchtung ganz und gar unbegründet sei und daß die Rote Armee allenfalls nach einer kommunistischen Machtergreifung dem deutschen Volk in seinem etwaigen Verteidigungskampf gegen die Westmächte als Verbündeter zu Hilfe kommen würde; aber Nachrichten aus anderen Quellen, die eine gewisse Aufmerksamkeit verdienten, sprachen beharrlich davon, daß die sowjetischen Truppen auch unter den gegebenen Verhältnissen die Reichs-grenze zu überschreiten gedächten. Das zögernde Verhalten der kommunistischen Verbände nach der Einnahme Rigas Anfang Januar und die ablehnende Stellungnahme Lenins vor dem Petrograder Sowjet zu der Frage eines etwaigen Angriffs gegen Deutschland lassen indes erkennen, daß ein solcher Plan tatsächlich nicht bestand. Maßgeblich hierfür waren keine völkerrechtlichen Erwägungen, die auch umgekehrt in jener Zeit nicht von den Westmächten, einschließlich Deutschlands, gegenüber Sowjetrußland berücksichtigt wurden, als vielmehr die Einsicht, daß die eigenen machtpolitischen Möglichkeiten nicht ausreichten, um die deutschen Kommunisten militärisch in ihrem Kampf gegen die Regierung zu unterstützen; schließlich mußte der junge Sowjetstaat in jenen Tagen selbst gegen in-und ausländische Feinde um seine Existenz kämpfen.

Deutsche Truppen nahmen an den kriegerischen Auseinandersetzungen mit Sowjetrußland nicht teil, doch entwickelte sich im Baltikum unter Leitung des Generals von der Goltz im Laufe des Jahres 1919 aus den Freiwilligenverbänden, die nach Kurland geschickt worden waren, um die deutsche Ostgrenze zu schützen, eine Offensivtruppe, deren Endziel nach dem Willen ihres Führers die Eroberung von Petrograd und die Beseitigung der Sowjetherrschaft sein sollte. Hauptverbündeter bei dem Vorhaben war der Oberst Avalov-Bermondt, der angeblich einem russischen Fürstenhaus entstammte; er befehligte zunächst unter v. d. Goltz zwei russische Freiwilligenkorps und übernahm später die Leitung der gesamten Operationen. Eine bedeutende Erleichterung seiner Pläne konnte v. d. Goltz auch in der zeitweiligen finanziellen Unterstützung durch interessierte Kreise der deutschen Schwerindustrie und in der politischen Hilfe sehen, die ihm einige Beamte des Auswärtigen Amts leisteten. Die Reichsregierung selbst wurde hingegen lange Zeit in die Absichten des Generals nicht eingeweiht und stand ihnen, als sie in der zweiten Jahreshälfte in einer schon gänzlich veränderten politischen Situation davon erfuhr, ablehnend gegenüber. Zu energischen Maßnahmen gegen v. d. Goltz und seine Anhänger entschloß sie sich indes erst auf massiven Druck der Alliierten hin, die befürchteten, daß Deutschland sich die baltischen Randstaaten und eventuell sogar Rußland politisch und wirtschaftlich unterwerfen könnte. Im Spätherbst 1919 war das ganze Unternehmen endgültig gescheitert.

Die sowjetische Regierung hatte wiederholt gegen den Vormarsch der Truppen im Baltikum, in dem sie frühzeitig eine Bedrohung ihres Staates vermutete, protestiert, doch gleichzeitig hatte sie, wenn auch auf andere Weise, ebenfalls versucht, einen Umsturz der in Deutschland bestehenden politischen Ordnung herbeizuführen. Erst der Sieg der proletarischen Revolution in dem hochentwickelten Industriestaat, glaubte sie, werde endgültig sicherstellen, daß das sozialistische System in dem noch vorwiegend agrarischen Rußland Bestand haben werde und zudem die Garantie für den weltweiten Triumph des Sozialismus sein. Um aber der kommunistischen revolutionären Bewegung in Deutschland zum Durch-

bruch zu verhelfen, schleuste sie erfahrene und fähige Agitatoren wie Karl Radek ein, sandte Funksprüche, die zum revolutionären Entscheidungskampf gegen die Reichsregierung aufforderten und begrüßte jeden Aufstand, wenn seine Ziele vom marxistischen Standpunkt auch so zweifelhaft waren wie die der Erhebung, die von Landauer und Toller in München inszeniert wurde und von der die deutschen Kommunisten sich distanzierten. Die Reaktion der Reichsregierung auf diese Vorfälle und ihre sonstige Politik waren so, daß niemand bezweifeln konnte, daß es ihr mit dem „Kampf gegen den Bolschewismus'

ernst war; jedoch die Hoffnungen, die in diese politische Konzeption im Hinblick auf die Siegermächte gesetzt worden waren, erfüllten sich nicht. Weil die Versailler Friedensbedingungen von der Regierung für unannehmbar gehalten wurden, demissionierte sie. Ihre Nachfolgerin, die vornehmlich wiederum von der MSPD-Fraktion gestützt wurde, entschied sich für die Billigung der Forderungen, um Sanktionen zu vermeiden und die Einheit des Reiches zu wahren.

Hinsichtlich Rußlands zielten die Bestimmungen des Friedensvertrages in erster Linie darauf, jeglichen Einfluß Deutschlands auf diesen Staat zu verhindern. So wurde nochmals — wie schon in den Waffenstillstandsbedingungen —-die Aufhebung der Verträge von Brest-Litowsk und Berlin festgesetzt; darüber hinaus wurde Rußland als Geste des Wohlwollens zugunsten eines antibolschewistischen Regimes, dessen Errichtung man in der nahen Zukunft erwartete, ein Reparationsanspruch eingeräumt. Seit der zweiten Hälfte des Jahres 1920 wurde dieses Recht allmählich der sowjetischen Regierung zuerkannt, woraufhin man sich deutscherseits zu einer Generalbereinigung des Verhältnisses zu Moskau entschied, wie sie sich dann im Rapallo-Vertrag widerspiegeln sollte.

IV. Realismus und Illusionen

Schon der Nachfolger Brockdorff-Rantzaus, Hermann Müller, unternahm es aus allgemeinen politischen Erwägungen, die von seinem Vorgänger empfohlene und praktizierte Politik gegenüber Sowjetrußland, die nun ja auch ihren ursprünglichen Sinn verloren hatte, zu ändern. Entgegen der Ansicht einzelner hoher Beamter im Auswärtigen Amt, die infolgedes sen nicht immer, insbesondere im Zusammenhang mit dem schon erwähnten Baltikum--n ternehmen, loyal mit ihm zusammenarbeiteten, meinte Müller, daß die nun Rußland gegenüber einzunehmende Haltung nicht von der Erwartung bestimmt sein dürfe, daß der Sieg der antibolschewistischen Kräfte unmittelbar bevorstehe; vielmehr müsse man gegenwärtig davon ausgehen, daß die sowjetische Regierung die tatsächliche Trägerin der Regierungsgewalt in Rußland sei. Mehr als eine „abwartende" Politik mochte aber auch der neue Außenminister vorerst mit Rücksicht auf die Westmächte und angesichts des noch unentschiedenen Machtkampfes in Rußland nicht empfehlen. Das Kabinett pflichtete ihm in dieser Auffassung bei. Reichswirtschaftsminister Schmidt ging sogar noch weiter und forderte, wie schon im Juni 1919 sein Vorgänger Wissell, im Interesse bedeutender deütscher Industriekreise „die rascheste Herbeiführung wirtschaftlicher Beziehungen zu Rußland".

Vor ihrer ersten größeren Bewährungsprobe stand die neue deutsche Ostpolitik, als die Alliierten Anfang Oktober den Wunsch äußerten, Deutschland möge sich an Maßnahmen beteiligen, die die vollständige Blockade Sowjetrußlands zum Ziel hatten. In ihrer Antwort suchte die deutsche Regierung ihre Interessen allen Seiten gegenüber zu wahren, indem sie ausführte, daß ihr eine Stärkung der antibolschewistischen Kräfte in Rußland viel eher durch eine Wiederaufnahme der Handelsbeziehungen möglich erscheine als durch eine wirtschaftliche Absperrung, an der sie sich deshalb nicht beteiligen wolle. Ihren Hoffnungen entsprechend zeigte man sich insbesondere in England von diesem Argument beeindruckt.

Die sowjetische Regierung nahm die politische Kursänderung, wie sie in der deutschen Note und zuvor schon in Äußerungen Müllers vor dem Reichstag zum Ausdruck kam, zum Anlaß, den diplomatischen Dialog mit der deutschen Regierung zu intensivieren. Ihre Bestrebungen hatten insoweit Erfolg, als der deutsche Außenminister und der Wirtschaftsminister den von ihr entsandten Vertreter, Viktor Kopp, empfingen und ihm in der Folgezeit gestatteten, mit Beamten beider Ministerien Fragen, die die Wiederanknüpfung des Wirtschaftsverkehrs betrafen, zu erörtern.

Mitte Januar 1920 unternahm die sowjetische Regierung einen neuen Versuch zur zwischenstaatlichen Annäherung, indem sie durch Kopp offiziell Vorschläge unterbreiten ließ, die von dem Austausch der beiderseitigen Gefangenen Ws hin zur sofortigen Wiederaufnahme der wirtschaftlichen und amtlichen Beziehungen reichten.

Den Zeitpunkt für die Demarche hatte man sehr umsichtig gewählt. An der gesicherten innenpolitischen Stellung der sowjetischen egierung war fürs erste, nachdem die großen einde im Bürgerkrieg Ende 1919 endgültig niedergeworfen und die ausländischen Interventionstruppen zurückgezogen worden waren, nicht zu zweifeln. Die Blockade gegen Sowjetrußland war von den Alliierten soeben aufgehoben worden, und in Kopenhagen führten bereits ein englischer und ein sowjetischer Vertreter Verhandlungen über die Rückführung der Gefangenen. Die deutsche Regierung hatte zudem nach Inkrafttreten des Versailler Vertrages etwas mehr politischen Spielraum gegenüber dem Osten als vorher.

H. Müller verschloß sich der neuen Situation nicht, wenn er auch, wie der Rußlandreferent im Auswärtigen Amt, Ago von Maltzan, die Wiederaufnahme amtlicher Beziehungen zu Sowjetrußland nach wie vor für inopportun hielt und die Erlaubnis, mit diesem Staat Handel zu treiben, noch nicht geben mochte, um England nicht vorzugreifen, auf dessen Hilfe bei der Revision des Friedensvertrages alle deutschen Regierungen der Nachkriegszeit rechneten. Dem deutschen Außenminister schien es aber doch an der Zeit, einen kleinen Schritt nach vorn zu tun und die Beziehungen zu Sowjetrußland „in vorsichtiger Form . . . wieder aufzunehmen". Die Gefangenenfrage, in der England und Sowjetrußland am 12. Februar zu einer Verständigung gelangten, sah er als geeigneten Ausgangspunkt an. Da die Russen einen entsprechenden deutschen Vertragsentwurf mit unerheblichen Abänderungswünschen akzeptierten, konnte am 19. April 1920 als erstes deutsch-sowjetisches Abkommen nach der Annullierung der Verträge von Brest-Litowsk und Berlin die Vereinbarung über die Rückführung der beiderseitigen Kriegs-und Zivilgefangenen unterzeichnet werden.

Die solchermaßen gezeigte diplomatische Aktivität der Sowjetregierung stellte jedoch nur einen Teilaspekt ihrer Außenpolitik dar, der vor allem verhindern sollte, daß Deutschland eine Einheitsfront mit den übrigen kapitalistischen Staaten gegenüber Rußland bildete. Wie begrenzt zeitlich die Bedeutung war, die der traditionellen Außenpolitik aus bolschewistischer Sicht weiterhin beigemessen wurde, läßt sich nicht zuletzt aus der Prophezeiung Lenins vom Juli 1919 ablesen, wonach der Ausbruch der deutschen proletarischen Revolution spätestens im Sommer 1920 erfolgen sollte. Nach wie vor sahen die führenden Kreise Sowjetrußlands in dem Sieg der kommuistischen Bewegung Deutschlands das einzige sichere Unterpfand für die unwiderrufliche Aufrechterhaltung des sozialistischen Systems in ihrem Land.

Eine erkennbare Konzession der sowjetischen Regierung zugunsten ihrer diplomatischen Be-mühungen bestand allerdings darin, daß sie selbst seit dem Sommer 1919 ihre Propaganda für die Revolution in Deutschland stark einschränkte und diese Aufgabe dem Exekutivkomitee der im März 1919 in Moskau gegründeten III. Internationale (EKKI) überließ; gleichzeitig beteuerte sie, für die Aufrufe und Handlungsweise dieses Gremiums, das kein Regierungs-, sondern lediglich ein Parteiorgan sei und seinen Sitz nur zufällig in der sowjetischen Hauptstadt habe, nicht verantwortlich zu sein.

Im Auswärtigen Amt wurde diese Interpretation jedoch von Anfang an bestritten und darauf verwiesen, daß in dem EKKI mit Lenin und Trotzki zwei maßgebliche Regierungsmitglieder säßen; außerdem genösse das EKKI staatliche Unterstützung und dürfe z. B. die russischen Funkstationen für die Verbreitung seiner Proklamationen benutzen. Sicher ist in der Tat, daß das EKKI der sowjetischen Regierung näher stand, als diese nach außen hin wahrhaben wollte, was indes nicht verhinderte, daß das Exekutivkomitee bisweilen durchaus eigene Wege ging.

Insgesamt gesehen hatten die Propagandaaktionen, von welcher Stelle sie auch immer ausgingen, seit der zweiten Hälfte des Jahres 1919 für lange Zeit keinen allzu nachhaltigen Einfluß mehr auf die deutsche Ostpolitik. Selbst direkte Aufrufe zum Sturz der Reichs-regierung während der linksradikalen Erhebungen, die dem Kapp-Putsch im März 1920 folgten, wurden wie die Entsendung kommunistischer Agitatoren ins Ruhrgebiet nur durch formalen Protest beantwortet. Die Regierung fühlte sich nun stark genug, der Gefahr, die von den Kommunisten drohte, Herr zu werden. Ende Juli erklärte der damalige Außenminister Simons vor dem Reichstag, daß es nicht sinnvoll sei, das Verhältnis zu Sowjetrußland von der Angst bestimmen zu lassen, die dort herrschenden Gesinnungen könnten den eigenen Regierungskreisen gefährlich werden. Den unliebsamen ideologischen Einwirkungen des Nachbarvolkes sei nicht durch Ab-Schließung oder gar durch Feldzüge, sondern nur durch eigene politische Anstrengungen zu begegnen. Die versöhnlichen Worte des Außenministers hatten allerdings einen konkreten diplomatischen Hintergrund. Aus Furcht, Deutschland könne sich in dem seit April 1920 währenden offenen Krieg Sowjetrußlands mit Polen auf dessen Seite schlagen, weil hier, nach Ansicht Lenins, „nicht die russische oder polnische Frage, sondern die Frage der Existenz der gesamten Bourgeoisie entschieden" werden würde, hatte die sowjetische Regierung durch Kopp im Auswärtigen Amt erneut die Wiederaufnahme normaler Beziehungen vorschlagen lassen und versprochen, in einem solchen Fall bei den künftigen Friedensverhandlungen mit Polen eine Grenzkorrektur zu gunsten Deutschlands zu verlangen. Da im Juli an dem vollständigen Sieg der sowjetischen Truppen kein Zweifel möglich schien und Simons wie fast alle westlichen Politiker zu der Ansicht neigte, daß die offizielle, von ierin geführte sowjetische Außenpolitik an den herkömmlichen diplomatischen Maßstäben zu messen sei, nahm er das Angebot für bare Münze und akzeptierte es als den deutschen Interessen entsprechend.

Am 22. Juli schrieb er dem sowjetischen Außenminister einen vertraulichen Brief, in dem er sich zu Gesprächen über die Aufnahme amtlicher Beziehungen unter der Voraussetzung bereit erklärte, daß vorher in einer näher bezeichneten Form Sühne für den Mord an Graf Mirbach geleistet werde. Zwei Tage zuvor war von dem Reichspräsidenten, in Bestätigung der bisher schon geführten Politik, offiziell erklärt worden, daß Deutschland in dem polnisch-sowjetischen Krieg neutral bleiben werde. In seiner Antwort begrüßte ierin den deutschen Willen zur Verständigung, lehnte aber die einzige formulierte Vorbedingung ab, indem er erklärte, seinerzeit sei für den gewaltsamen Tod des deutschen kaiserlichen Botschafters bereits ausreichende Genugtuung geleistet worden. Wichtiger als die völkerrechtliche Seite des Problems war für die sowjetische Regierung indes, wie sie Kopp wissen ließ, die Befürchtung, daß eine erneute Entschuldigung bei den deutschen Arbeitern einen „schlechten Eindruck" machen würde.

Dieser Gesichtspunkt war in jenen Tagen für die politische Führung in Moskau von großer Bedeutsamkeit, weil sie erwartete — was den taktischen Charakter ihrer damaligen diplomatischen Aktivität unterstreicht —, daß der siegreiche Vormarsch der Roten Armee in Polen die kommunistischen Arbeiter in Deutschland zum Aufstand ermutigen werde, da sie jetzt mit der bewaffneten Hilfe der sowjetischen Truppen rechnen konnten.

Um die deutsche Regierung nun andererseits nicht in das feindliche Lager abschwenken zu lassen, ließ die sowjetische Regierung münd lieh durch Kopp einige Vermittlungsvorschläe in der Mirbach-Angelegenheit vortragen, d>e sie dann teilweise selbst wieder ablehnte oder dilatorisch behandelte.

Simons seinerseits verlor jegliches Interesse an einem rasch vollzogenen politischen • einkommen mit Sowjetrußland (dem ohne " das nicht gering veranschlagte Risiko anhaftete England zu verstimmen), als die Rote Armee sich nach der verlorenen Schlacht bei Warschau überstürzt zurückziehen mußte und an eine Revision des Friedensvertrages mit russischer Hilfe auch dann nicht mehr zu den-ken war, wenn man die Aufrichtigkeit der sowjetischen Versprechungen unterstellte.

Nachrichten von Unruhen in Rußland verstärkten im Herbst 1920 noch die Politik der Zurückhaltung deutscherseits um so mehr, als man gar die Macht der Bolschewisten gefährdet glaubte.

V. Wirtschaft und Politik

Die wirtschaftlichen Interessen bildeten um die Jahreswende 1920/21 den Ausgangspunkt für eine neue, weniger spektakuläre, aber stetigere Form der Annäherung zwischen Deutschland und Sowjetrußland. Schon im Sommer 1920 war anläßlich umfänglicher sowjetischer Bestellungen von Eisenbahnmaterial und Lokomotiven den deutschen Privatfirmen freige-stellt worden, mit amtlichen Stellen Sowjetrußlands Geschäftsabschlüsse zu tätigen. Abgesehen von jenen Aufträgen waren zwar in diesem Jahr die erzielten Handelsergebnisse auf beiden Seiten noch nicht sehr stattlich — sie beliefen sich auf etwa 1 °/o des Handels-volumens von 1913 —, doch schon im Februar 1920 hatten bedeutende deutsche Industrielle und Bankkaufleute in einer Denkschrift argumentiert, daß es in den kommerziellen Beziehungen mit Sowjetrußland in erster Linie auf die „in nicht sehr ferner Zukunft reifenden Früchte und nicht auf unmittelbar sofort greifbare Vorteile" ankomme. Die allgemeine schwierige wirtschaftliche Situation und die Furcht, die ausländische Konkurrenz könnte ihnen zuvorkommen, waren weitere Motive deutscher Industrie-und Handelskreise, sich an einer vertraglichen Grundlage für die Durchführung des Warenverkehrs mit Sowjetrußland interessiert zu zeigen. Schließlich und nicht zuletzt wollte man die Chancen nützen, die das Dekret über die Konzessionen, das die sowjetische Regierung im November 1920 erlassen hatte, zu bieten schien, hieß es doch in der veröffentlichten Begründung der Verfü-gung, daß in bestimmten Teilen Rußlands Wald-, Landwirtschafts-und Montankonzessionen gewährt werden sollten, um die volkswirtschaftliche Situation des eigenen Landes und der ganzen Welt zu verbessern.

Neben diesen Erwägungen — und im Vergleich mit ihnen vorrangig — waren allerdings politische Überlegungen ausschlaggebend für den eschluß des Edikts gewesen. Während des Polnisch-sowjetischen Krieges, der nicht, wie in Moskau erwartet, zur proletarischen Revo-

ution in Polen und Deutschland geführt hatte, war Lenin zu der Erkenntnis gekommen, daß mtseiner erfolgreichen Erhebung der kommu-nistischen Arbeiter in einem der westlichen Länder in naher Zukunft nicht zu rechnen sei und daß Sowjetrußland deshalb, auf sich allein gestellt, versuchen müsse, zu einem modus vivendi mit den kapitalistischen Staaten zu kommen, bis es durch die Weltrevolution aus seiner Isolierung befreit würde. Nicht mehr von Fall zu Fall oder für kurze Dauer, sondern auf lange Zeit galt es nun, zu verhindern, daß die Feinde des sozialistischen Systems sich gegen Sowjetrußland zusammenschlössen, und als Hilfsmittel hierzu war das Konzessionsdekret ausersehen, das an den wirtschaftlichen Egoismus der einzelnen Länder appellierte und die Besitzer von Konzessionen bestimmen sollte, sich aus eigenem Interesse für die Aufrechterhaltung des Friedens mit Sowjetrußland einzusetzen. Wenn trotzdem in der Praxis relativ wenig Gebrauch von dem Dekret gemacht wurde, dann war das der nicht unbegründeten Furcht zu verdanken, die ausländischen Konzessionäre könnten ihre Tätigkeit in Rußland nutzen, um das sozialistische Wirtschaftssystem zu unterminieren.

Mit der nur beschränkten Anwendung des Dekrets rechnete man jedoch in den westlichen Ländern Anfang des Jahres 1921 noch nicht, als von deutscher Seite der sowjetischen Regierung der Vorschlag unterbreitet wurde, die rechtliche Grundlage für den künftigen Handel zu fixieren. Ferner sollte über eine Ausweitung des Aufgabenbereichs der amtlichen Vertretungen, die man sich gegenseitig 1920 zur Fürsorge für die Kriegs-und Zivilgefangenen zugestanden hatte, verhandelt werden. Die sowjetische Regierung nahm das Anerbieten, das ihr sowohl vom politischen als auch vom wirtschaftlichen Standpunkt her gelegen kam, an, und die Ergebnisse der in Moskau geführten Gespräche konnten sehr bald in einem Protokoll niedergelegt und unterzeichnet werden. Uber diesen Verhandlungsstand mochten das Auswärtige Amt und Simons zunächst nicht hinausgehen, da sie das Ergebnis der in Sowjetrußland erneut ausgebrochenen Unruhen abwarten wollten, vor allem aber, weil sie aus den schon genannten Gründen der englischen Regierung nicht vorzugreifen beabsichtigten, die bereits früher als die Deutschen in ähnliche Verhandlungen mit Moskau eingetreten war, aber erst am 16. März 1921 deren erfolgreichen Abschluß vollziehen konnte. Nun zögerte man auch in der Wilhelmstraße nicht länger, die nötigen Schritte zu unternehmen, um dem vorliegenden Protokoll die Form eines Abkommens zu geben. Einen zusätzlichen Anreiz hierfür bildeten Hoffnungen, die von interessierten deutschen Kreisen mit der Einführung der . Neuen ökonomischen Politik'in Rußland verbunden wurden; man sah darin eine Rückkehr zu kapitalistischen Wirtschaftsformen, die früher oder später entsprechende politische Konsequenzen haben könnten.

Unabhängig hiervon geriet aber zunächst die deutsche Regierung in Schwierigkeiten. Sie mußte sich des kommunistischen Aufstandes in Mitteldeutschland erwehren, der in der dritten Dekade des März ausbrach und natürlich auch in Hinblick auf die Beziehungen zwischen Deutschland und Rußland nicht ohne Auswirkungen blieb. An der Urheberschaft der revolutionären Aktion waren zweifellos Repräsentanten des EKKI beteiligt, wohingegen eine direkte Unterstützung durch die sowjetische Regierung sich nicht nur nicht nachweisen ließ, sondern auch von Lenin gegenüber deutschen Kommunisten in Abrede gestellt wurde. Lenin vielmehr das ganze Unternehmen als eine verhängnisvolle Fehleinschätzung der revolutionären Situation in Deutschland und erzwang die Aufgabe der von der organisatorischen Führung der KPD verfochtenen , Offen-sivtaktik'. Dementsprechend kam es in den folgenden zwei Jahren zu keiner kommunistischen Erhebung in Deutschland.

Die deutsche Regierung war indes auf Grund unrichtiger Informationen zu der Ansicht gelangt, daß der März-Aufstand von der sowjetischen Regierung begünstigt worden sei, und der Innenminister sowie der Reichspräsident erhoben deswegen Einspruch gegen den sofortigen Abschluß des vorbereiteten Vertrages. Der Außenminister setzte sich jedoch über ihr Veto hinweg und ermächtigte nach einer kurzen abschließenden deutsch-sowjetischen Verhandlungsrunde drei Vertreter des Auswärtigen Amtes, das Abkommen zusammen mit dem sowjetischen Unterhändler am 6. Mai 1921 zu unterzeichnen. Als wesentlichste Einzelbestimmungen der Vereinbarung können die erneute förmliche de-jure-Anerkennung Sowjet-rußlands und die von beiden Vertragspartnern übernommene Verpflichtung gelten, durch ihre Vertretungen keinerlei Propaganda zu treiben

VI. Widersprüchliche Interessen

Auf die Durchführung des Wirtschaftsverkehrs wirkte sich die Übereinkunft vom 6. Mai günstig aus. Kennzeichnend für die Intensivierung des deutsch-russischen Handels war nicht nur, daß die sowjetische Vertretung in Berlin in den folgenden Monaten Aufträge von mehreren Milliarden Mark an die deutsche Industrie vergab, sondern auch, daß zwei deutsch-russische Gesellschaften gegründet wurden, die für den Transport der Waren in beiden Richtungen sorgen sollten; eine dritte zweiseitige Gesellschaft wurde zu dem Zweck gebildet, Altmetalle aus Rußland auszuführen und zu verwerten. Gutnachbarlich gestaltete sich das deutsch-sowjetische Verhältnis auch noch auf einem anderen Gebiet. Als Rußland im Sommer 1921 von der schwersten Hungersnot seit vielen Jahrzehnten heimgesucht wurde und rasch um sich greifende Seuchen die Lage noch verschlimmerten, entsandte das Deutsche Rote Kreuz im Auftrag der Regierung ein Sanitätsschiff mit Medikamenten und Ärzten, die unter großen persönlichem Einsatz bei der Bekämpfung der auftretenden Krankheiten halfen. Es war angesichts des Ausmaßes der Katastrophe nicht viel mehr als eine freundliche und hilfreiche Geste, aber als solche wurde sie in Moskritisierte kau gewürdigt, zumal offenkundig war, daß Deutschland auf Grund der eigenen schwierigen wirtschaftlichen Lage und der Reparationsverpflichtungen offiziell keine Lebensmittel oder andere materielle Güter senden konnte. Weder der Aufschwung des Wirtschaftsverkehrs noch die humanitären Hilfeleistungen konnten indes darüber hinwegtäuschen, daß die deutsch-sowjetischen Beziehungen im politischen Bereich in der Zeit vom Mai bis November 1921 nicht nur stagnierten, sondern sich sogar verschlechterten. Nach wie vor wurde im Auswärtigen Amt der Standpunkt vertreten, daß der wichtigste Grundsatz der deutschen Außenpolitik sein müsse, ein gutes Verhältnis zu England anzustreben, als der einzigen Macht, die das nationalistische Frankreich im Zaum halten und eine Erleichterung der Friedensbedingüngen bewirken könne, dementsprechend dürfe Deutschland auch 4 seiner Politik gegenüber Sowjetrußland nichts unternehmen, was den Argwohn der eng lischen Regierung wecken und sie verstimmen könnte.

Der damalige Außenminister Rosen, der im Prinzip keine Vorbehalte gegen eine Ver serung und weitere Ausgestaltung der deuts sowjetischen Beziehungen hatte, schloß si dieserAuffassung während seinerAmtsperiode uneingeschränkt an, weil zu jener Zeit die Entscheidung über das Schicksal Oberschlesiens anstand, die nach Rosens Ansicht wesentlich von dem Votum Englands abhing. Die so begründete zurückhaltende Politik gegenüber Rußland, die zudem durch Ungeschicklichkeiten und vermeidbare Fehlhandlungen der Ministerialbürokratie und des Außenministers belastet wurde, ließ bei der sowjetischen Regierung die Befürchtung aufkommen, daß in Berlin Kräfte zunehmenden Einfluß gewönnen, die auf dem Weg des Ausgleichs nicht weitergehen wollten, sondern einem Bündnis Deutschlands mit den Feinden der Sowjetrepublik das Wort redeten.

Verstärkt wurde dieses Mißtrauen ungeachtet der Entlassung Rosens Ende Oktober — die nicht zuletzt einer Verbesserung des Verhältnisses zum Osten dienen sollte — durch Gespräche zwischen deutschen und englischen Industriellen sowie vor allem durch Unterredungen zwischen Rathenau, dem Vertrauten des Reichskanzlers Wirth, und dem englischen Premierminister Lloyd George, denen allen gemeinsam war, daß sie Form und Umfang einer wirtschaftlichen Kooperation gegenüber Sowjetrußland zum Thema hatten. Am weitesten gingen die zwischenstaatlichen Pläne, an deren Ausarbeitung sich seit Dezember auch die französische Regierung beteiligte; sie waren Anfang Januar 1922 so weit gediehen, daß ein Organisationskomitee zur Gründung eines internationalen Konsortiums, das für Großaufträge zum Wiederaufbau des russischen Verkehrswesens und der zerstörten Produktionsstätten zuständig sein sollte, gebildet wurde.

Die deutsche Regierung erhoffte sich von der projektierten Zusammenarbeit mit den Westmächten Erleichterungen bei den Reparationszahlungen und allgemein ein vertrauensvolleres und besseres Verhältnis zu Frankreich und England. Daß die Kooperation sich politisch und wirtschaftlich auf Kosten Rußlands vollziehen und zu einer ernsten Bedrohung seiner gesellschaftlichen Ordnung werden könnte, wurde seitens des Auswärtigen Amtes wiederholt bestritten, ohne daß damit die so gearteten Befürchtungen der Russen hätten beseitigt werden können. Die Gefahren lagen zu offen-sichtlich zuTage—und um ihnen zu begegnen, griff die sowjetische Regierung auf wirtschaftlichem Gebiet zu den bewährten Mitteln, wandte im politischen Bereich aber eine fast neue Taktik an.

So appellierte sie, was den zuerst genannten spekt betrifft, durch vermehrte Aufträge und verlockende Konzessioansangebote an das Eigeninteresse der deutschen Industrie-und Handelskreise, was diese auch tatsächlich in der Auffassung bestärkte, daß Deutschland kein Interesse daran haben könne, „an dem russischen Geschäft nur als Unterlieferant der Entente beteiligt zu sein, sondern daß das wichtigste ist, daß Deutschland selbst wieder als Unternehmer unter eigener Verantwortung planend und entscheidend in Rußland" aufzutreten vermöge. Um in diesem Sinne eine bessere Ausgangsposition zu gewinnen und weil sie hofften, daß die sowjetische Regierung das Außenhandelsmonopol aufgeben werde, woraufhin Rußland praktisch hätte ausgekauft werden können, drängten die Unternehmer auf die formale Normalisierung der deutsch-sowjetischen Beziehungen.

Wurde dieses Begehren im Auswärtigen Amt und von der Regierung auch nicht gering veranschlagt, so erfolgte der entscheidende Anstoß zu einem solchen Entschluß durch das politische Handeln der sowjetischen Regierung, das sich seit November 1921 zunehmend auf die Drohung konzentrierte, sie könnte die Reparationsforderungen, die ihr nach Art. 116 des Versailler Vertrages zustehen würden, wirksam werden lassen. Zwar konnte Deutschland zu dieser Zeit nicht einmal mehr seine finanziellen Verpflichtungen gegenüber dem Westen erfüllen, aber es war kaum abzusehen, welche politischen Folgen die Realisierung der russischen Forderungen nach sich ziehen würde, zumal die sowjetische Regierung andeutete, sie könnte ihre Ansprüche gegen Verrechnung der russischen Vorkriegsschulden an Frankreich abtreten. Selbst ein Wiederaufleben der französisch-russischen Allianz, womit die Isolierung Deutschlands besiegelt gewesen wäre, schien Wirth auf Grund vorliegender Nachrichten im Bereich des Möglichen zu liegen. Angesichts dieser Gefahren mochte er nicht allein auf die Hoffnung vertrauen, daß Sowjetrußland dem Versailler Vertrag, den es bisher als Raubfrieden verfemt hatte, aus ideologischen Gründen nicht beitreten werde. Er glaubte vielmehr, unterstützt von dem Anfang November zum Leiter der Ostabteilung des Auswärtigen Amtes beförderten Ago von Maltzan, daß die politische Gesamtsituation nun eine grundsätzliche Bereinigung des deutsch-sowjetischen Verhältnisses, einschließlich der Wiederaufnahme der diplomatischen Beziehungen, erfordere. Erleichtert wurde ihm die Entscheidung durch zustimmende Äußerungen des britischen Botschafters in Berlin, dAbemon, die dieser allerdings als seine private Ansicht zu verstehen bat. Neben diesen akuten und in der gegebenen Situation ausschlaggebenden Faktoren für eine Verständigung vergaß man deutscherseits nicht, daß Rußland eines Tages wieder eine europäische Großmacht sein würde, zu der frühzeitig gute Beziehungen angestrebt zu haben, für das Reich machtpolitisch, etwa in Hinblick auf die erstrebte Korrektur der deutschen Ostgrenze, nützlich sein konnte.

Das hatten auch die Gegner Sowjetrußlands 1918/19 nicht bestritten, nur waren sie der Ansicht gewesen, daß die Zukunft den antibolschewistischen Kräften gehören werde. Als sie erkannten, daß sie sich getäuscht hatten, setzten einige, wie z. B. General von Seeckt, der Großindustrielle Stinnes, aber auch der bis Anfang 1920 noch anti-sowjetisch eingestellte Ago von Maltzan, konsequent auf die Sieger im russischen Bürgerkrieg.

VII. Verhandlungen in Berlin

Ende Dezember 1921 akzeptierte die sowjetische Regierung ein aus Berlin übermitteltes Verhandlungsangebot und entsandte auf deutschen Vorschlag als Unterhändler Anfang 1922 jenen Karl Radek, der 1919 nach dem Januar-

Aufstand in Berlin verhaftet und einige Monate in Untersuchungshaft gehalten worden war. Als sich vom strafrechtlichen Standpunkt nichts Belastendes gegen ihn ergeben hatte, war er von August 1919 bis zu seiner Rückkehr nach Sowjetrußland im Januar 1920 in „militärische Schutzhaft" genommen worden und hatte sich während dieses halben Jahres, von dem er später als der Zeit seines „politischen Salons" sprach, durch Gespräche mit bedeutenden Vertretern aus Kreisen der Wirtschaft, Politik und des Militärs einen fundierten Eindruck über die innen-und außenpolitischen Ansichten, die in diesen Bereichen vertreten wurden, bilden können. 1921 hatte er mit Geschick in beiderseitigem Interesse als offizieller Verbindungsmann zwischen der sowjetischen Regierung und der deutschen Vertretung in Moskau gedient.

Es waren, wie sich zeigen sollte, zwei Themenbereiche, über die die sowjetische Regierung vor allem verhandeln wollte. Einerseits wünschte sie eine Verständigung über bestimmte Fragen, die auf der zum 10. April nach Genua einberufenen europäischen Wirtschafts-und Finanzkonferenz, auf der Sowjetrußland zum erstenmal im größeren internationalen Rahmen vertreten sein sollte, akut werden konnten; zum anderen erstrebte sie die Verpflichtung Deutschlands, sich nicht ohne sowjetische Einwilligung an Unternehmungen des geplanten internationalen Konsortiums zu beteiligen. Beiden Problemkreisen gemeinsam war das Bemühen, Deutschland aus einer anti-sowjetischen oder zumindest gegen den erklärten Willen der sowjetischen Regierung gebildeten Interessengemeinschaft mit den Westmächten zu lösen und mit seiner Hilfe günstige Präzedenzfälle für Fragen zu schaffen, die später auch mit England und Frankreich zu erörtern waren.

Insgesamt gesehen erreichte Radek diese Ziele in den Gesprächen, die bis zum 17. Februar währten, nur unvollkommen. Im wirtschaft-

liehen Bereich verweigerten die konsultierten Industriellen, mit Hinweis auf die zu erbringenden Reparationsleistungen, einen Warenkredit in Höhe von 300 Millionen Goldmark, der insofern für die sowjetische Regierung nicht allein vom ökonomischen Standpunkt interessant gewesen wäre, als er auch ein gewisses Pfand für das politische Wohlverhalten der deutschen Unternehmer dargestellt hätte.

Das Angebot der Industriellen belief sich lediglich auf 83 Millionen Goldmark und war zudem an solche Bedingungen geknüpft, daß man sich in Moskau nach der Rückkehr Radeks entschied, das ganze Projekt fallenzulassen; immerhin war der sowjetische Vertreter zu der Überzeugung gelangt, daß tatsächlich finanzielles Unvermögen und nicht politische Feindschaft gegenüber Sowjetrußland die Unnach-

giebigkeit der deutschen Kapitalisten verursacht habe.

Im politischen Bereich war Radeks Erfolg gleichfalls bescheiden. Eine mit Maltzan schon vereinbarte Kompromißformel, die die dringendsten Forderungen beider Seiten gegeneinander aufhob und vorsah, daß Rußland auf Reparationsleistungen verzichten wollte, während Deutschland den Beitritt zum internationalen Konsortium nur mit Einwilligung der sowjetischen Regierung vornehmen sollte, wurde von Rathenau, der am 31. Januar zum Außenminister ernannt worden war, wieder verworfen. Er wollte den russischen Verzicht auf finanzielle Wiedergutmachung lediglich mit einem „Gedankenaustausch" honorieren, den die deutsche Seite vor einer Teilnahme an Unternehmungen des internationalen Syndikats mit Moskau vornehmen sollte; das war nun wiederum Radek zu wenig.

In einer anderen Frage, der die sowjetische Regierung besonders im Hinblick auf die bevorstehenden Verhandlungen mit den Westmächten in Genua Bedeutung beimaß, war der sowjetische Unterhändler schon an Maltzan 96 scheitert. Der Leiter der Ostabteilung hatte sich nicht nur kategorisch geweigert, deutsche Ansprüche, die sich aus den alten russischen Staatsobligationen und aus den sowjetischen Sozialisierungsmaßnahmen herleiteten, aufzugeben, sondern hatte sogar gefordert und durchgesetzt, daß bei der Regelung dieses Problems, wie allgemein im wirtschaftlichen Bereich, der Grundsatz der Meistbegünstigung gelten sollte.

So blieb Radek als vorweisbares Ergebnis nur das deutsche Angebot zur Wiederaufnahme der diplomatischen Beziehungen, das schon zu Beginn der Verhandlungen vorgelegen hatte und von dem sowjetischen Abgesandten bei seiner Ankunft in Berlin mehr als Formsache denn als politisch bedeutsames Faktum bezeichnet worden war. Rathenau hatte aber auch diese Offerte noch insoweit relativiert, als er diesen Schritt nicht mehr, wie ursprünglich vorgesehen, „sofort", sondern nur noch . alsbald" vollziehen wollte. Er sah in der Anerkennung Rußlands als gleichberechtigten Staat einen Trumpf, den er sich nicht aus der Hand nehmen lassen wollte. Im übrigen fürchtete er im Unterschied zu Wirth und Maltzan nicht die Annäherung Rußlands an Frankreich und England. Sie war ihm im Vertrauen auf den Erfolg seiner eigenen Politik des Ausgleichs mit den Westmächten sogar ganz lieb, da er hoffte, daß eine politische und wirtschaftliche Bindung Rußlands an den Westen in Moskau einen freiwilligen oder gewaltsamen Ruck nach rechts auslösen werde.

Noch in einem ganz anderen Bereich, dem militärischen, wurden zu jener Zeit deutsch-sowjetische Verhandlungen sowohl in Moskau als auch in Berlin geführt. Kontakte zwischen Vertretern der Roten Armee und der Reichswehr gab es nachweislich seit dem Jahre 1920. Deutscherseits waren sie in der Feindschaft gegen Polen und in der Hoffnung begründet, in Ruß-land Waffen bauen und erproben zu können, deren Besitz und Gebrauch Deutschland nach dem Versailler Vertrag untersagt war; sowje-tischerseits sah man in ihnen sowohl ein Mittel, erfahrene Instruktoren und bestimmte Waffen für die eigene Armee zu bekommen, als auch die Möglichkeit, eine einflußreiche Gruppe in Deutschland für die politische Annäherung an Rußland zu gewinnen.

Über den Rahmen von Sondierungsgesprächen und nicht sehr ermutigenden Informationsreisen war man Ende 1921 allerdings noch nicht inausgekommen. Unterredungen im Januar 1922 zwischen Radek und dem Chef der Heeresleitung, General von Seeckt, der die Füh-

ungnahme zur Roten Armee deutscherseits inauguriert hatte, ergaben, daß die sowjetische Regierung in den deutschen Militärs vorerst keine Bundesgenossen sehen konnte, auf die im Falle eines Krieges mit Polen zu zählen oder von denen eine Einflußnahme auf die deutsche Außenpolitik zugunsten Rußlands zu erwarten war.

Gleichzeitige Verhandlungen in Moskau verliefen ein wenig erfolgreicher. Sie trugen dazu bei, daß sich die Firma Junkers im März bereit erklärte, im Rahmen der finanziellen Möglichkeiten Metallflugzeuge in russischen Fabriken zu bauen.

Einen Einfluß auf die politischen Beziehungen hatte aber auch diese Vereinbarung nicht. Wenn ierin und seine Delegation, die auf dem Wege nach Genua Anfang April in Berlin Zwischenstation machten, scheinbar auf mehr Verständnis bei ihren deutschen Gesprächspartnern stießen, so lag das daran, daß Rathenau seine starre Haltung in der Konsortiumfrage schon früher — angesichts der sich wieder verhärtenden Haltung Frankreichs gegenüber Deutschland nach der Wahl Poincares zum Ministerpräsidenten — revidiert hatte. Zudem wollte sich der deutsche Außenminister, und das war offenbar sein Hauptanliegen, eine günstige Vermittlerposition zwischen Ost und West auf der bevorstehenden Wirtschaftskonferenz schaffen, wozu die noch bestehenden sachlichen Differenzen mit Moskau ausgeräumt werden sollten. Eine vertragliche Vereinbarung, zu der die sowjetische Delegation, ihren Interessen entsprechend, bereit war, mochte Rathenau vor Genua aber unter keinen Umständen eingehen aus Furcht, damit die Westmächte zu brüskieren und den eigenen politischen Spielraum auf der Konferenz einzuengen oder gar zunichte zu machen.

Auf Grund all dieser Gegebenheiten und Überlegungen kam er am 3. April bei seiner Unterredung mit ierin und dem stellvertretenden Außenminister Litvinov den Russen sehr weit entgegen und schlug in der Konsortiumfrage eine Formulierung vor, die den russischen Wünschen entsprach. Auch in der Entschädigungsfrage, die ierin anders geregelt sehen wollte als Radek noch im Februar, regte Rathenau eine Lösung an, die der sowjetische Außenminister akzeptieren konnte.

Damit war in den wesentlichen strittigen Punkten eine Verständigung erzielt worden, und die sowjetische Delegation, die sich über die Taktik des deutschen Außenministers noch nicht im klaren befand, erstellte einen neuen Vertragsentwurf, dem die Vereinbarungen vom Februar unter Berücksichtigung der jüng-sten Verhandlungsergebnisse zugrunde lagen. Um die Unterzeichnung dieser Punktationen, die von sowjetischer Seite vorgeschlagen wurde, nun aber zu dem gegenwärtigen Zeitpunkt zu vermeiden, ließ der deutsche Außenminister einen Gegenentwurf vorlegen, der alle kurz zuvor gemachten Zugeständnisse ®. berücksichtigt ließ, aber, wie Maltzan die undankbare Aufgabe hatte zu erklären, angeblich dieselben Konzessionen nur anders formu. lierte. Die Russen durchschauten das Spiel Rathenaus und reisten ab.

VIII. Genua und Rapallo

Die Deutschen waren damit auf der Konferenz in Genua für die von ihnen erstrebte Vermittlertätigkeit frei, aber weder die Westmächte noch die Russen schienen davon Gebrauch machen zu wollen. Rathenau hatte seine persönlichen Einflußmöglichkeiten ganz erheblich überschätzt, und um so peinlicher mußte für ihn die Situation sein, als am Abend des 14. April der stellvertretende italienische Delegationsleiter, Commendatore Giannini, den Reichskanzler aufsuchte, um ihn, den Außenminister und zwei Vertreter des Auswärtigen Amtes offiziell im Auftrag der Alliierten davon zu unterrichten, daß intern geführte Verhandlungen zwischen den Westmächten und den Russen über die gegenseitigen finanziellen Forderungen kurz vor dem erfolgreichen Abschluß stünden. Auf Befragen erklärte er zudem, daß bei der bevorstehenden Vereinbarung Rußland das Recht auf Reparationen von Deutschland nach Art. 116 des Versailler Vertrages zugebilligt werden würde.

Zu dieser letzten Äußerung war Giannini nicht ermächtigt, sie stellte vielmehr seine Privat-meinung dar, was er aber nicht sagte. Es waren tatsächlich am 12. und 13. April zwischen Abgesandten der Entente und den Russen informelle Gespräche geführt worden, denen ein Ende März in London erstelltes Experten-memorandum ohne offiziellen Weisungscharakter zugrunde lag, in dem der sowjetischen Regierung das Recht auf Wiedergutmachung nach dem Versailler Vertrag zuerkannt worden war, doch war weder bei jenen Unterredungen noch bei einem Treffen der westlichen Delegationschefs mit ierin am 14. April dieser Punkt diskutiert oder überhaupt nur angesprochen worden.

Erörtert hatte man bisher nur den von Giannini zuerst erwähnten Themenkreis, und der von ihm hierzu gegebene Bericht über den Verhandlungsstand spiegelte durchaus zutreffend die Auffassung seiner Auftraggeber zu dem besagten Zeitpunkt, dem 14. April, wider, nur beruhten deren Ansichten auf falschen Voraussetzungen und unzureichender Kenntnis der russischen Vorstellungen — was sich aber erst am folgenden Tag, dem 15. April, herausstellen sollte. So hatten die Alliierten nicht damit gerechnet, daß die sowjetischen Forderungen, die aus der direkten und mittelbaren Intervention ausländischer Mächte in Rußland zwischen 1918 und 1920 resultierten, erheblich höher sein würden als die veranschlagten russischen Kriegsschulden und daß die sowjetische Regierung eine förmliche Verpflichtung zur Anerkennung der russischen Vorkriegsschulden ablehnen würde.

über diese weitere Entwicklung der Dinge wurden die Deutschen jedoch nicht mehr sogleich informiert, wohl nicht zuletzt deswegen, weil ihre Interessen nicht unmittelbar berührt waren. Sie erhielten aber auch keine beruhigende Versicherung im Hinblick auf Artikel 116 des Versailler Vertrages, obwohl Rathenau Giannini nachdrücklich darauf hingewiesen hatte, daß er sich unter solchen Umständen gezwungen sehe, nach einem anderen Ausweg zu suchen. Davon ist Lloyd George offenbar nichts bekannt geworden. In den Tagen zuvor hatte sich allerdings auch schon Maltzan, von dem Text des allgemein bekannten Londoner Expertenmemorandums ausgehend, im gleichen Sinne wiederholt gegenüber Vertretern der englischen Delegation geäußert, mit der Bitte, es dem britischen Premierminister, zu dem ein direkter Kontakt nicht herzustellen war, weiterzuberichten; diese Bemühungen waren jedoch gleichfalls ergebnislos verlaufen. Später notierte Gregory, der Leiter der russischen Abteilung des Foreign Office, er habe Maltzan damals kein Wort geglaubt, weil er ihn für den „öligen, gleisnerischen Typ eines Deutschen der äußerst unzuverlässig" sei, gehalten habe. Einen solchen Eindruck zu erwecken scheint dem Leiter der deutschen Ostabteilung auch nach anderen Zeugnissen nicht schwergefallen zu sein; andererseits kann man ihm in Würdigung seiner Tätigkeit im Auswärtigen Amt politischen Realitätssinn und diplomatische Geschicklichkeit ebensowenig absprechen Wie klug kalkulierten Wagemut, den er etwa an 15. April bewies, als er im Auftrag Rathenas Kontakt zu der sowjetischen Delegation aufnahm, um die Fortsetzung der in Berlin unterbrochenen Gespräche anzubieten. Obwohl die Russen, die mehr denn je an einem vertrag liehen Präzedenzfall interessiert waren, als Druckmittel natürlich betonten, daß ihre Ge-spräche mit den Alliierten gute Fortschritte machten, verlangte Maltzan als Bedingung für die Wiederaufnahme der deutsch-sowjetischen Verhandlungen die Erklärung, daß Rußland für den Fall, daß es einem dritten Staat gegenüber seine Vorkriegsschulden bzw. finanziellen Verpflichtungen auf Grund der Sozialisierungsmaßnahmen anerkenne, entsprechende deutsche Forderungen nach dem Prinzip der Meistbegünstigung behandeln werde. Dieses Zugeständnis hatte ierin in Berlin wegen der möglichen weitreichenden Konsequenzen abgelehnt, und Rathenau hatte in dieser Frage nachgegeben.

Auch jetzt fiel der sowjetischen Delegation die Entscheidung offensichtlich nicht leicht, denn erst um 1/23 Uhr nachts rief ihr Rechtsexperte Sabanin den Leiter der Ostabteilung im Auswärtigen Amt an und teilte ihm mit, daß man bereit sei, die Meistbegünstigungsklausel zu konzedieren; er verheimlichte bei dieser Gelegenheit nicht, daß sich die Beratungen mit den Alliierten zerschlagen hätten.

Auf Grund der letzten Nachricht glaubte der deutsche Außenminister, noch einmal der Entscheidung ausweichen zu können, doch in der später als „Pyjamasitzung" berühmt gewordenen Diskussion unterlag er Maltzan Und Wirth, die auf einen sofortigen Vertragsabschluß drängten; wenn es nicht anders gehe, drohte der Reichskanzler gar, werde er das Abkommen selbst unterzeichnen. Rathenau konnte lediglich durchsetzen, daß Maltzan am nächsten Vormittag in Erfahrung bringen sollte, ob die Vorstellungen und Warnungen, die er tags zuvor noch einem seiner englischen Gesprächspartner unterbreitet hatte, etwas genutzt hätten. Veruche, diesen Bekannten telefonisch zu erreichen, scheiterten indes, woraufhin Rathenau einwilligte, nach Rapallo zu fahren, wo die Russen abseits von den übrigen Delegationen untergebracht waren, um zu do-kumentieren, daß sie noch nicht gleichberechtigt mit den Vertretern anderer Staaten seien. Nach mehrstündigen Beratungen konnte am frühen Abend gegen 18. 30 Uhr der Gesamtver-trag, der aus einem zur Veröffentlichung vor-9esehenen Abkommen und einem Geheimpro-tokoll bestand, von dem sowjetischen und dem kutschen Außenminister unterzeichnet wer-den. Inhaltlich lag ihm der von ierin in Ber-in gefertigte Entwurf zugrunde, in den die Meistbegünstigungsklausel, so wie sie Malt-an am Tag zuvor verlangt hatte, eingearbeitet worden war.

Damit hatten Deutschland und Rußland durch en gegenseitigen Verzicht auf Erstattung der Kriegskosten und -Schäden sowie durch den deutschen prinzipiellen Verzicht auf Entschädigung für die sowjetischen Sozialisierungsmaßnahmen einen Schlußstrich unter die Vergangenheit gezogen. Mit dem Beschluß, die diplomatischen und konsularischen Beziehungen sogleich wiederaufzunehmen, sowie der Vereinbarung, im wirtschaftlichen Verkehr den Grundsatz der Meistbegünstigung anzuwenden, legten sie zugleich im zwischenstaatlichen Bereich den Grundstein für ein künftiges normales, gutnachbarliches Neben-und Miteinander, obwohl die ideologischen Differenzen natürlich fortbestanden und das beiderseitige Verhältnis in den kommenden Jahren manchmal sehr strapazierten. Rückblickend als unbedeutend erwies sich die Klausel, auf die Moskau ursprünglich den größten Wert gelegt hatte und die vorsah, daß Deutschland sich an Unternehmen des — geplanten, aber nie realisierten — internationalen Konsortiums nur nach vorheriger Übereinkunft mit der sowjetischen Regierung beteiligen sollte.

Entsprach der Vertrag damit soweit wie möglich den Interessen beider Partner, so wurde er doch nur auf sowjetischer Seite uneingeschränkt begrüßt. In Moskau sah man in ihm eine wichtige und wirksame Garantie gegen eine antisowjetische politische und wirtschaftliche Einheitsfront der kapitalistischen Staaten und einen wertvollen Präzedenzfall für die Regelung der finanziellen Forderungen, die Ruß-land gegenüber auf Grund der Vorkriegsschulden und Sozialisierungsmaßnahmen geltend gemacht wurden. Dementsprechend erklärte das Zentralexekutivkomitee auf Vorschlag Lenins in einer Resolution am 18. Mai 1922, daß es nur Verträge dieser Art als Norm für die Beziehungen Sowjetrußlands zu kapitalistischen Staaten anerkennen wolle.

In Deutschland war die Zahl derjenigen, die die erzielte Übereinkunft mit gleicher Lebhaftigkeit begrüßten, sehr viel kleiner. Im Reichstag stimmten zwar alle Fraktionen dem Abkommen grundsätzlich zu, erhoben aber gleichzeitig, mit Ausnahme der DDP, mehr oder weniger ernste Bedenken. Am schwerwiegendsten war der Vorwurf, Deutschland habe mit der Unterzeichnung des Vertrages die West-

mächte brüskiert.

In der Tat hatte die deutsch-sowjetische Sonderaktion, mit der anscheinend zu diesem Zeitpunkt niemand gerechnet hatte, in Genua eine ungeheure Aufregung ausgelöst. Die Vertreter der Großen und der Kleinen Entente warfen Deutschland in einer Kollektivnote vom 18. April vor, es habe durch das Abkommen den „Geist gegenseitigen Vertrauens zerstört". Zwei Tage später betonte Lloyd George vor der Presse aber schon, daß seiner Ansicht nach der durch den deutsch-russischen Vertrag geschaffene Zwischenfall beigelegt sei.

Sein rasches Einlenken erklärt sich einerseits daraus, daß er inhaltlich an der Vereinbarung nichts auszusetzen hatte, vor allem aber aus dem Bestreben, seiner politischen Konzeption für Europa nicht selbst den Boden zu entziehen. Aus wirtschaftlichen und politischen Erwägungen hielt er es für unausweichlich, daß Deutschland und Rußland allmählich wieder an den Westen herangeführt würden. Englands Wohlstand, so hatte er schon 1921 dem damaligen französischen Ministerpräsidenten Briand zu bedenken gegeben, beruhe auf dem Handel, der einen aufnahmefähigen deutschen und russischen Markt dringend benötige. Bleibe es jedoch bei der derzeitigen Politik, so bestünde keine Hoffnung auf ein Wiedererstarken der europäischen Volkswirtschaft, vielmehr sei zu befürchten, daß Deutschland und Rußland sich eines Tages verbündeten und zu gegebener Zeit einen Revanchekrieg gegen den Westen und Polen beginnen würden.

Briand hatte sich diesen Vorstellungen nicht verschlossen und war gerade deswegen im Januar 1922 von der nationalistischen Mehrheit der Kammer zum Rücktritt gezwungen worden. Sein Nachfolger, Poincare, stellte vom Standpunkt des agrarischen Frankreichs, das zudem Deutschland an Bevölkerungszahl unterlegen war, Lloyd George eine eigene Konzeption entgegen, die darauf hinauslief, daß nur die militärische, wirtschaftliche und politische Schwäche Deutschlands den Frieden in Europa garantiere. Die Politik Lloyd Georges, fürchtete er, werde den Deutschen den Sieg geben, den sie auf dem Schlachtfeld vergeblich gesucht hätten.

Der Abschluß des Rapallo-Vertrages bestärkte ihn in der Ansicht, daß man mit dem Nachbam im Osten bisher zu nachgiebig verfahren sei-et verschaffte ihm den gern ergriffenen und am 24. April in einer Rede in Bar-le Duc genutzten Anlaß zu betonen, daß Frankreich auf jeden Fall entschlossen sei, die ihm zustehenden Rechte uneingeschränkt zu wahren und daß es gegebenenfalls auch alleine, ohne Hilfe seiner Bundesgenossen, die hierzu notwendigen Maßnahmen ergreifen werde. Da Deutschland schon jetzt seine Reparationsverpflichtungen nicht erfüllen konnte, war es nach dieser Drohung nur eine Frage der Zeit, wann Frankreich die nächsten Sanktionen durchführen würde. Daß als Ziel hierfür das Ruhrgebiet ausersehen war, blieb nicht lange verborgen. Lloyd George suchte vergeblich unter Berufung auf Versprechungen Millerands aus dem Jahre 1920, Poincare von einer einseitigen französischen Aktion abzuhalten.

Angesichts dieser Gegebenheiten wird man die Bedeutung des Rapallo-Vertrages für das Verhältnis Deutschlands zu den Westmächten darin sehen müssen, daß er schon zuvor bestehende Tendenzen verstärkte. Er trug dazu bei, daß sich die deutsch-französische Krise schneller zuspitzte; andererseits verbesserten sich die Beziehungen zu England spürbar. Rathenau konnte schon im weiteren Verlauf der Genua-Konferenz die Vermittlerrolle zwischen Großbritannien und Rußland spielen, die ihm vor Abschluß des deutsch-sowjetischen Vertrages nicht zugebilligt worden war.

Der Weg nach Rapallo hatte sich alles in allem gelohnt.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Die deutsch-sowjetischen Beziehungen zwischen 1918 und 1922 sind Gegenstand einer Vielzahl von Untersuchungen geworden, von denen folgende unter verschiedenen Aspekten besonderes Interesse verdienen: N. L. Rubinstejn, Sovetskaja Rossija i kapitalisticeskie gosudarstva v gody perechoda ot vojny k miru (1921— 1922), Moskau 1948; Edward Hallet Carr, The Bolshevik Revolution 1917— 1923, Bd. 3, London 1953; Herbert Helbig, Die Träger der Rapallo-Politik, Göttingen 1958; Günter Rosenfeld, Sowjetrußland und Deutschland 1917— 1922, Berlin 1960. Der Verfasser der vorliegenden Studie hat diesem Themenbereich seine Dissertation gewidmet, die unter dem Titel „Deutsch-sowjetische Beziehungen bis Rapallo" 1970 veröffentlicht wurde. Außer den genannten und anderen Werken konnten in diesem Aufsatz unveröffentlichte und bisher nicht ausgewertete Dokumente aus dem Foreign Office und dem politischen Nachlaß Lloyd Georges berücksichtigt werden. Hierfür möchte der Verfasser an dieser Stelle dem Public Record Office und der Beaverbrook Library seinen Dank sagen.

Weitere Inhalte

Horst Günther Linke, Dr. phil., geb. 1942, seit 1969 wiss. Assistent am Seminar für osteuropäische Geschichte der Universität Bonn. Veröffentlichung: Deutsch-sowjetische Beziehungen bis Rapallo, Köln 1970.