Welchen Beitrag kann der Geschichtsunterricht zur politischen Bildung leisten?
Kurt Gerhard Fischer Joachim Rohlfes Ernst-August Roloff Hans Süssmuth
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Zusammenfassung
Da es sich bei den in diesem Heft publizierten Aufsätzen um thesenartige Stellungnahmen zu einem vorgegebenen Thema handelt, seien im folgenden nur die für die Bearbeitung maßgebenden Gesichtspunkte genannt: — Gemeint ist der Geschichtsunterricht in der Sekundarstufe I (Klasse fünf bis zehn) und der Kollegstufe (Klasse elf bis dreizehn) der Schulen. — Welche Lernziele sollten gesetzt und könnten erreicht werden? — Welche organisatorischen Voraussetzungen (Fach-Fachbereich, Eigenständigkeit oder Integration der Fächer, Stellung zu Nachbarfächern, Abschaffung der Fächer etc.) wären wünschenswert? — Welche wissenschaftstheoretische Position liegt Ihrer Stellungnahme zugrunde? — Welche Forschungsaufgaben sehen Sie im Augenblick für die Didaktik der Geschichte?
Die Bundeszentrale für politische Bildung bereitet eine Tagung vor, die die Position des Geschichtsunterrichts im Gesamtcurriculum der Schule, vor allem im Hinblick auf die politische Bildung, darstellen soll. Trotz der Fülle der Veröffentlichungen zu diesen Fragen in den letzten 20 Jahren erschien es uns nützlich, einige Stellungnahmen von Fachleuten als Grundlage für die Arbeit dieser Tagung — die vom 25. bis 30. September 1972 in Nürnberg stattfindet — einzuholen. (Die folgenden Ausführungen, Behauptungssätze zumeist, stellen eine vorläufige Äußerung in durchaus provokativer Absicht dar).
Deutschlands Kaiser und Preußens König, Wilhelm II., erkannte das Versagen jener Unterrichtsfächer, die traditionsgemäß zur Staats-und damit Herrschaftsergebenheit zu erziehen hatten; Religionsund Geschichtsunterricht hatten, so meinte er, versagt, und die Schwärmerei für alles Antike verhinderte, daß das Deutsche in den Mittelpunkt der Schule treten konnte. Solche Erkenntnis gelang ihm angesichts „der Ausbreitung sozialistischer und kommunistischer Ideen", wie er in seinem Erlaß an das Preußische Staatsministerium vom 1. Mai 1889 feststellte, um der Schule unmißverständlich ihren Ort in Gesellschaft und Staat anzuweisen: „In erster Linie wird die Schule durch Pflege der Gottesfurcht und der Liebe zum Vaterland die Grundlagen für eine gesunde Auffassung auch der staatlichen und gesellschaftlichen Verhältnisse zu legen haben." Die Geburtsstunde der spezifisch deutschen . Staatsbürgerkunde’ nahte, deren Auftrag analog zu Geschichtsund Religionsunterricht hieß, „nach(zu) weisen ... und der Jugend zum Bewußtsein (zu) bringen, wie Preußens Könige bemüht gewesen sind, in fortschreitender Entwicklung die Lebensbedingungen der Arbeiter zu heben, von den gesetzlichen Reformen Friedrichs des Großen und von der Aufhebung der Leibeigenschaft an bis heute. Sie muß ferner durch statistische Tatsachen nachweisen, wie wesentlich und wie konstant in diesem Jahrhundert die Lebensverhältnisse der arbeitenden Klassen unter diesem monar-Chischen Schutze sich verbessert haben ..." Also sprach Er; leider vergaß er, so auch in seiner Rede anläßlich der Eröffnungssitzung der . Schulkonferenz über Fragen des höheren Unterrichts'(vom 4. bis 17. Dezember 1890), die Literatur zu benennen, mittels derer Nachweis und Bewußtseinsbildung gelingen könnten.
Die Geburtsstunde der . Staatsbürgerkunde'deutscher Prägung war zugleich jene der Diskussion über das Verhältnis von Geschichtsunterricht und Politischer Bildung; zur bis in die Gegenwart anhaltenden Verwirrung hatte die kaiserliche Majestät nicht wenig beigetragen. Denn zwar interessierte ihn als Bildungsauftrag die Produktion von Menschen-„Material ..., mit dem Ich im Staate arbeiten könnte", aber „das punctum saliens" sah er doch historizistisch darin, daß „die jungen Leute nicht wissen, wie unsere Zustände sich entwickelt haben ..." Wie die Verwirrung um Geschichtsund Staatsbürgerkunde, so erhielten sich auch die Grundmuster der Diskussion über Politische Bildung, die um 1890 einsetzte, über Jahrzehnte und wechselnde Regimes hinweg: noch immer gilt als respektabler politischer Pädagoge, wer die Apologetik des gesellschaftlich-politischen Status quo betreibt.
Daß die schöne Selbstverständlichkeit des Bildungsauftrags des Geschichtsunterrichts unabhängig vom Aufkommen der Sozialdemokratie schon geraume Zeit vor der kaiserlichen Schelte von einigen Pädagogen, so etwa und insbesondere von Friedrich Wilhelm Dörpfeld, bezweifelt wurde und daß mit der Entfaltung der Gesellschaftswissenschaften — im weitesten Wortsinn — ebendiese und in Analogie zu den Naturwissenschaften an die Schultür klopfen würden; wer wollte Wilhelm II. daraus einen Vorwurf machen, daß er davon nichts wußte? Man sollte Kaiser und Könige nicht überschätzen und überfordern. Und: auch diese beiden Vorgänge sind bis in unsere Tage nicht zu einem Abschluß gekommen, vielmehr gilt nach wie vor: das Selbstverständnis des Geschichtsunterrichts, der historischen Bildung ist weiterhin problematisch, es sei denn, man nähme die Rede vom Geschichtsbewußtsein’ unkritisch; und die pädagogische Relevanz der Gesellschaftswissenschaften ist nach wie vor umstritten. Ein Blick in Bildungspläne der Bundesrepublik, von Stoffverteilungsplänen, den gängigen Schulbüchern und anderen Lernhilfen für gesellschaftlich-politische Bildung ganz abgesehen, genügt zum Nachweis dieser Tatsache, in der sich ein bemerkenswertes Defizit manifestiert.
An eine Diskussion in Gelassenheit, die im Meinungsgegner nicht sogleich den Defaitisten diffamiert, ist derzeit kaum zu denken, weil alle diese Probleme per se politisch sind. Wehklagen ersetzt Reflexion und Argumentation, so etwa, wenn eine Arbeitsgruppe . Geschichte und Sozialkunde'unter den Fittichen des Bundes . Freiheit der Wissenschaft'ein Diskussionsresumee so einleitet: „Fast allgemein ist in der Bundesrepublik die Tendenz zur Verdrängung des Faches Geschichte aus der Oberstufe und neuestens auch aus der Mittelstufe der Schulen verbreitet. Die Einbeziehung historischer Perspektiven und Gegenstände in den Sozialkundeunterricht, die zumeist willkürlich bleibt und auf das neunzehnte und zwanzigste Jahrhundert beschränkt ist, bietet dafür keinen Ausgleich." Wer, wie Nina Grunenberg (in: Die Zeit; 4/72) kommentierend anmerkt, in dieser behaupteten Entwicklung einen Beweis dafür sieht, „daß die Revolution schon auf breiter Front durch die Schulen zieht", betreibt gleichermaßen ahistorische wie apädagogische Geisterbeschwörung, die weder Historikern noch Geschichtsdidaktikern sonderlich gut ansteht.
Mir scheint gewiß, daß die — sagen wir getrost: ideale — Form der Verknüpfung von gesellschaftlich-politischer Bildung mit den beiden unaufhebbaren Dimensionen Raum und Zeit, sprich: Historie und Geographie, bisher nicht gefunden ist. Allerdings mangelte es bis in die letzte Zeit bei Geschichts-und Erdkundedidaktikern an der Bereitschaft, überlieferte Vorstellungen radikal in Frage zu stellen — man denke etwa an die Tatsache, daß Bildungspläne und geschichtskundliche Schulbücher nach wie vor an Chronologie und deren zwei-bis dreimaligem Durchgang nach vorlaufendem Vorkurs ä la . Geschichte in Geschichten'festhalten —, das Fach Geschichte selbst historisch zu betrachten und den immer wiederkehrenden Anspruch der politischen Bildung durch Geschichtskunde durch qualitativ anderes denn deklamatorische Bekundungen und Bestätigungen zu begründen. Wer den . Untergang des Abendlandes', nun einmal durch Eingriffe in die überlieferten didaktisch-methodischen Strukturen historischer Bildung veranlaßt, in die Welt posaunt, überschätzt den Stellenwert von Schule und Unterricht für die Reproduktion von Gesellschaft auf erschrek-kende Weise und will den Zerfallsprozeß der tradierten Vorstellungen von historischer Bildung und ihrer Übersetzung ins didaktisch-methodische Arrangement verschleiern, der seit Jahrzehnten anhält und ansteht: die ursprüngliche Funktion dieses Geschichtsunterrichts ist erfüllt und zugleich überholt, und zwar seit Gründung der Nationalstaaten und seitdem das Sprachzeichen , Nation'in Ideologieverdacht geriet. Dies alles bedeutet nicht etwa die Überflüssigkeit historischer Bildung für die heute heranwachsende Generation. Allerdings stellen sich — mir — die Probleme komplizierter dar, als daß den gängigen Lösungsvorschlägen, sei es des additiven Verbunds der drei Fächer, sei es ihrer . Integration'unterm Ideologiesymbol . Gemeinschaftskunde', das Wort geredet werden könnte. Denn: Unhistorische Politische Bildung schlägt sich aul die Seite der , normativen Kratt des Faktischen -man besichtige einmal die der sozialen Institution Familie gewidmeten Schulbuch-Kapitel bei den etablierten Schreibern — und gerät damit affirmativ. Unpolitische Historische Bildung ist eine contradictio in se.
Die Annahme dieser beiden Thesen scheint mir die notwendige Voraussetzung, um einer rationalen Antwort auf die Frage näherzukom men, welchen Beitrag Geschichte — nicht: der Geschichtsunterricht! — zur Politischen Bildung leisten kann.
I. Grundsätzliches zum Verhältnis von historischer und politischer Bildung
Politische Bildung ist ohne historische Bildung undenkbar, geht aber nicht darin auf, wie umgekehrt auch die historische Bildung über die politische Bildung hinausgreift. Beide Bereiche sind aufeinander bezogen, aber zugleich gegeneinander selbständig. Ihre Gegenstände und Aspekte sind zu einem Teil identisch, in anderer Hinsicht durchaus voneinander unterschieden. Irreführend ist die Gegenüberstellung der Geschichtswissenschaft als einer individualisierenden Disziplin und der (systematischen) Sozialwissenschaften als generalisierende Disziplinen. Der Unterschied ist allenfalls gradueller Art. Die historischen Wissenschaften befassen sich stets auch mit allgemeinen Strukturen, die Sozialwissenschaften mit singulären Gegebenheiten. Beide Wissenschaftstypen bedienen sich sowohl verstehend-hermeneutischer als auch analytischer und synthetisch-konstruktiver Erkenntnisverfahren.
Der wesentliche Unterschied zwischen den beiden Fachrichtungen, damit auch in gewisser Weise zwischen der historischen und der politischen Bildung dürfte darin zu suchen sein, daß die Historie eine Interpretationsund Reflexionswissenschaft ist, die nicht unmittelbar in politische Praxis mündet, während die Sozialwissenschaften sich als Handlungswissenschaften verstehen, die direkt zur Veränderung der Wirklichkeit beitragen wollen. Dennoch wäre es kurzschlüssig, der Historie jede praktische . Verwertbarkeit'abzusprechen; die Historie ist eine bewußtseinsverändernde Disziplin: ihre Auswirkungen mögen weniger deutlich zutage treten, sind aber kaum minder bedeutsam, sofern die vita contemplativa geeignet ist, die vita activa zu verändern.
II. Die vermeintliche Unzulänglichkeit des Faches Geschichte
Das Fach Geschichte hat es mit der Vergangenheit zu tun, deren Wirksamkeit als lebendige Realität oder wenigstens als Erfahrungsreservoir in unserer sich stürmisch verändernden Gegenwart schnell unwesentlich, ja obsolet wird. Die Begriffe und Maßstäbe der Vergangenheit sind nur in Ausnahmefällen geeignet, zur Erfassung und Bewältigung gegenwärtiger Probleme beizutragen. Man kann die Gegenwart weithin auch ohne den Rückgriff auf die Vergangenheit begreifen; historisches Wissen ist eine zwar willkommene, aber nicht eine unerläßliche Erkenntnisquelle.
Man kann aus der Geschichte keine primäre Wirklichkeitserkenntnis gewinnen. Die Gegenstände der Historie sind niemals unmittelbar zugänglich, die geschichtliche Wirklichkeit existiert nur in der Vorstellung. Die histori-sdie Forschung erschließt keine terra incognita, sie sammelt, konserviert und reproduziert lediglich, was einmal originär dagewesen ist.
Zudem begnügt sich der Historiker mit der Feststellung der Existenz eines Sachverhaltes (quaestio facti), ohne sich für die Frage nach seiner inneren Wahrheit zuständig zu fühlen (quaestio iuris): ob Luthers Theologie . richtig'war, ist keine den Historiker angehende Frage.
Man kann aus der Geschichte nicht ein für ein andermal lernen, geschweige denn ein für allemal. Die geschichtliche Realität läßt sich nicht in Elemente auflösen, die in anderen Zusammenhängen wieder auffindbar wären, sie kennt keine isolierbaren Bausteine, aus denen die verschiedenen historischen Konstellationen zusammengesetzt sind. Das Besondere, Singuläre, Unwiederholbare ist ein nicht weiter aufzulösender Bestandteil von Geschichte. Darum gibt es keine universalen Gesetze, keine zuverlässigen Zukunftsprognosen, keine in sich geschlossene Theorie, nur wenige Möglichkeiten des Transfers. Die Geschichte zerfällt in viele Einzelheiten, sie ist unüberschaubar und läßt sich nicht als ein Ganzes begreifen. Es gibt keine Erklä-rungsmodelle, in die sich alle historischen Erscheinungen überzeugend einordnen lassen, und keine Gesetzmäßigkeiten, aus denen man die Fülle geschichtlicher Gestalten und Vorgänge ableiten könnte. In vielen Fällen vermag der Blick des Historikers durch die schiere Faktizität des Gewesenen nicht hindurchzudringen.
Geschichtliches Begreifen erschöpft sich in Deskription, Interpretation und Analyse, kann aber nicht verändernd wirken, weil das Gewesene jeder Veränderung entzogen ist. Insofern ist die Geschichte eine ohnmächtige Wissenschaft. Sie hat zwar die Kraft, das Bewußtsein der Menschen zu verändern, aber nicht die Möglichkeit, die Folgen dieser Bewußtseinsveränderung zu kontrollieren oder zu regulieren.
III. Die Unersetzbarkeit des Faches Geschichte
Mit seiner synoptisch-verflechtenden Betrachtungsweise vermag das Fach Geschichte den Blick für die Totalität der Lebenszusammenhänge und die Interdependenz und gegenseitige Durchdringung der gesellschaftlichen Bereiche zu öffnen. Vor allem in der historischen Perspektive werden jene zeitlichen und gesellschaftlichen Gesamtkonstellationen sichtbar, die als historische Strukturen alle individuellen wie kollektiven Lebensäußerungen bedingen und modifizieren.
In der historischen Optik wird am überzeugendsten deutlich, daß es die vermeintlich autonomen Sachgesetzlichkeiten und Sachstrukturen nicht gibt, sondern daß alle sogenannten Sachzwänge auf die jeweiligen gesamtgesellschaftlichen und epochalen Lebensbedingungen, Bedürfnisse und Interessen zurückgeführt werden müssen. Selbst die , Logik einer Sache'ist zumeist geschichtlich vermittelt, d. h. durch die Struktur einer Zeit oder Gesellschaftsformation bestimmt.
So erweisen sich auch unsere eigenen Lebens-und Denkvoraussetzungen als zutiefst geschichtlich. Unsere Lebensbedingungen, -be-dürfnisse und -probleme lassen sich nicht aus einer sachimmanent zu ermittelnden Struktur des individuellen und gesellschaftlichen Daseins herleiten (etwa aus allgemeinen anthropologischen Daten), sondern nur aus dem geschichtlichen Werdeprozeß, in den vielfältige, häufig heterogene Faktoren eingegangen sind.
So vermag vorzugsweise die historische Betrachtung den genetischen Charakter menschlichen Daseins aufzudecken. Jedes Sein ist ein Gewordensein, in dem die Stationen seines Werdens aufbewahrt sind. Die Eigenart eines Seienden ist darum vollgültig nur zu erfassen, wenn man den Werdezusammenhang zu rekonstruieren vermag.
Die Geschichte stellt dem Menschen die Zeitlichkeit seiner Existenz vor Augen. Sie vermittelt ihm die Erfahrung der Jeweiligkeit und Relativität jeder historischen Situation und macht deutlich, daß jedes historische Agieren, aber auch Betrachten und Stellungnehmen standpunktgebunden und perspektivisch ist. Es gibt keinen archimedischen Punkt außerhalb der Geschichte.
Geschichte ermöglicht die . Kontinuität des geschichtlichen Bewußtseins'(W. J. Mommsen); geschichtliches Wissen ist Hintergrund und Korrektiv für ausschließlich gegenwartsbezogene und systematisch gewonnene Analysen und Theorien, Prognosen und Entwürfe und kann damit zu einer Art kritischem Organon gegenüber zeitbedingten Werthaltungen und Ideologien werden. Die Geschichte erweitert das Beobachtungsfeld in die Tiefe der Zeit und bereichert die Befunde der Gegenwart um ein nahezu „unerschöpfliches Vergleichsmaterial" (Schieder).
Geschichte leistet die Bewältigung der Vergangenheit, indem sie Traditionen bewahrt und kritisiert. Solche Bewältigung ist unumgänglich, weil die Vergangenheit auch und gerade da mächtig ist, wo sie verdrängt oder ignoriert wird. Die Geschichte hat die Funktion der Aufklärung, indem sie historische Mythen entlarvt und falschen historischen Legitimationen den Boden entzieht. Sie nimmt dem historisch Gewordenen den Schein der Naturwüchsigkeit und bricht seine pure Selbstverständlichkeit auf, indem sie seine Verursachung durch menschliche Entscheidungen erkennbar und seine (relative) Veränderbarkeit bewußtmacht.
Die historische Arbeits-und Denkweise läßt Abstand von apodiktischen, verabsolutierenden, eindimensionalen Betrachtungsformen gewinnen und macht offen für relativierendes, dialektisches, alternatives Denken. Sie konfrontiert die politische Ideologie und Pro-grammatik mit der Realität ihrer Verwirklichung und mißt die politisch Handelnden nicht an ihren Vorsätzen, sondern an den Auswirkungen ihres Tuns (oder Erduldens).
Die geschichtliche Betrachtung vermittelt die Erfahrung der Offenheit, Endlichkeit und Uberholbarkeit menschlichen Handelns. Sie führt die Diskrepanz zwischen Absicht und Resultat vor Augen und verhilft zur Nüchternheit angesichts überspannter Zukunftserwartungen. Sie widerlegt nicht die Planbarkeit der Geschichte und auch nicht die Möglichkeit umfassender Emanzipation, aber sie warnt vor der Anmaßung, die totale Lenkung des geschichtlichen Prozesses in die Hand nehmen zu wollen.
IV. Lernziele am Fach Geschichte
1. Emotionale Lernziele Wenn auch das Schwergewicht geschichtlichen Lernens im kognitiven Bereich liegen muß, wäre eine Vernachlässigung des emotional-affektiven Lernens verhängnisvoll, weil die in diesem Bereich entstehenden Einstellungen im allgemeinen besonders intensiv internalisiert werden und darum das historische Bewußtsein zeitlebens maßgebend bestimmen. Eine Evaluation der emotionalen Lernziele ist nur begrenzt möglich, weil die Lernwirkungen oft spät und uneindeutig auftreten.
Da die emotionalen Aspekte historischen Lernens von der didaktischen und psychologischen Forschung bislang vernachlässigt wurden, können die möglichen Zielsetzungen an dieser Stelle nur grob und provisorisch umrissen werden:
Der Lernende sollte sich der historischen Identitäten und sozialen Rollen, innerhalb derer er lebt, bewußt werden und ein kritisch reflektiertes Verhältnis dazu gewinnen.
Er müßte für sein persönliches Dasein eine Entscheidung darüber treffen, welchen politischen und gesellschaftlichen Gruppen er seine — kritische — Zustimmung und Loyalität entgegenbringen will, wobei diese Entscheidung selbstverständlich widerrufbar bleibt. Auf jeden Fall sollte er sich der Einsicht erschließen, daß ein Mensch, der alle sozialen Bindungen ablehnt, der Gesellschaft eine Leistung schuldig bleibt, auf die diese angewiesen ist.
Die Zugehörigkeit zu sozialen Gruppen bedingt die Haftung jedes einzelnen auch für das, was im Namen dieser Gruppe in der Vergangenheit geschehen ist; darum müßte der Lernende zu der Einsicht kommen, daß er sich solchen kollektiven Haftungen nicht entziehen kann.
Der Blick in die Geschichte sollte bewußtmachen, daß der zivilisatorische Standard und Spielraum heutigen Lebens — zumindest in den entwickelten Industrie-gesellschaften — keine bare Selbstverständlichkeit ist, sondern eine mühsam erworbene Errungenschaft, die jederzeit wieder verspielt werden kann.
In gleicher Weise sollte die Erfahrung des Unzulänglichen, die die Geschichte so vielfach vermittelt, zu einem Stachel werden, es besser zu machen, Ungerechtigkeit zu beseitigen, menschenunwürdige Zustände zu verändern und im Rahmen des Möglichen zu versuchen, Verfügungsgewalt über die gesellschaftlichen und politischen Prozesse zu gewinnen. 2. Kognitive Lernziele Instrumentale Ziele (historische Methode)
Bindung aller historischen Aussagen und Urteile an historische Zeugnisse und Belege; Beherrschung der elementaren Formen der Quellenkritik;
Methoden der Quellenauswertung;
Anwendung hermeneutischer, analytischer und synthetisch-typisierender Erkenntnisverfahren; Definition historischer Begriffe und Abhebung von den gegenwärtigen Begriffs-inhalten; Auffinden und Ordnen historischer Informationen. Kategoriale Einsichten (historisches Bewußtsein) Der Lernende muß ein Bewußtsein von der Perspektivität historischer Erkenntnis gewinnen. Die Fragestellungen und Einsichten sind gebunden an den jeweiligen epochalen Horizont, die Soziallage und den persönlichen Gesichtskreis des Fragenden. Eine absolute, gleichsam standpunktfreie Objektivität ist darum nicht möglich. Wohl aber läßt sich eine relative Objektivität dadurch erreichen, daß man die eigene Position ideologiekritisch hinterfragt und durch den mehrfachen Wechsel der Optik die perspektivischen Verzerrungen ausgleicht.
Alles historische Geschehen gehorcht dem Kausalitätsprinzip. Die historische Kausalität ist jedoch mehr als ein Bedingungsgefüge denn als eine strenge Determinationskette aufzufassen. Es gibt gleichsam einen Spielraum der Kausalität, in dem menschliches Handeln sich entfalten kann. Charakteristisch für historische Kausalität ist fernerhin, daß die meisten historischen Vorgänge mehrfach bedingt sind; zumeist findet der Historiker ganze Ursachenbündel vor, so daß monokausale Erklärungsversuche in der Regel die historische Erfahrung gegen sich haben.
Die historische Betrachtung sollte zu der Einsicht in die Multidimensionalität historischen Geschehens führen. Nicht nur die verschiedenen Lebensbereiche (Wirtschaft, Politik, Erziehung, Recht usw.), sondern auch die unterschiedlichen zeitlichen Entwicklungsstadien stehen im Verhältnis der Wechselwirkung und gegenseitigen Durchdringung. Darum sind alle Geschichtstheorien fragwürdig, die den Primat eines einzigen Lebensbereiches (Wirtschaft, Wissenschaft) behaupten.
Wer sich mit Geschichte befaßt, muß die Zeit-strukturen begreifen lernen. Er muß erfahren, daß der historische Wandel immer zugleich Momente der Kontinuität und Diskontinuität enthält, daß die Entwicklung in der Geschichte nicht die Entfaltung einer präformierten Struktur (Entelechie) bedeuten kann, sondern das Eingehen aller prinzipiell nicht vorhersagbaren Entwicklungsstadien in die jeweilige Endgestalt, daß die Gegenwart nicht nur Produkt der Vergangenheit, sondern auch die Möglichkeit der Zukunft ist, schließlich, daß die Geschichte aus einer Folge von Situationen besteht, deren jede durch das Zusammentreffen unterschiedlicher Entwicklungsreihen bestimmt ist und dem Handeln in der Regel alternative Möglichkeiten eröffnet.
Geschichte muß in ihrer Spannung zwischen manifester Wirklichkeit und latenter Möglichkeit erfaßt werden. Auch das Widersprüchliche im Schoß einer Zeit oder Gesellschaft gehört zur historischen Realität. Erst dann wird eine Geschichtsbetrachtung kritisch, wenn sie eine Zeit an ihren unerfüllten Möglichkeiten, unterdrückten Bedürfnissen und Hoffnungen, an den Gegenentwürfen und Alternativen mißt (Luther und Müntzer, Chauvinismus und Pazifismus).
Der Lernende sollte den „subjektiv-objektiven Doppelcharakter des geschichtlichen Prozesses" (Alfred Schmidt) begreifen. Der Mensch ist das Subjekt der Geschichte, er produziert seine Lebensverhältnisse und damit sich selbst; aber er kann in der jeweiligen historischen Situation nicht frei über sich verfügen, sondern ist an geographischen Gegebenheiten, technische Möglichkeiten, an Herkommen und Denkgewohnheiten gebunden. Er verfügt über die Fähigkeit, sich von vielen Zwängen zu emanzipieren, aber wie groß sein Spielraum dabei ist, läßt sich nicht im vorhinein ausmachen, sondern muß im geschichtlichen Prozeß in Erfahrung gebracht werden. Zu den wesentlichsten historischen Einsichten gehört die Erfahrung, daß der Mensch „das Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse" (Marx) ist. Menschliche Individualität ist ohne Sozialität nicht denkbar, auch wenn das ge-sellschaftliche Leben nicht ohne die von den Individuen stammenden Impulse gedeihen kann. Jeder einzelne ist vielfältig und tief-greifend durch die gesellschaftlichen Verhältnisse geprägt. Seine Lebenschancen und sein Lebensglück hängen von den gesellschaftlichen Umständen mindestens so stark wie von seinen persönlichen Fähigkeiten ab. Der gesamtgesellschaftliche Zusammenhang ist zwar nicht ein ausschließliches, aber doch ein unaufhebbares Bestimmungsmerkmal historischer Existenz.
Audi der Konflikt ist eine allem Anschein nach nicht zu beseitigende Grundgegebenheit der Geschichte. Er beruht nicht auf unterschiedlichen Ansichten der Individuen und gesellschaftlichen Gruppen, sondern auf gegensätzlichen Bedürfnissen und Interessen. Das Dilemma des Konflikts besteht darin, daß er zwar unterdrückt oder geregelt, aber kaum beseitigt werden kann; wird er bis zur letzten Konsequenz ausgetragen, gefährdet er den existenzwichtigen Minimalkonsens. Die Geschichte demonstriert, daß Frieden und Kompromiß hohe Güter sind, aber nicht die Aufrechterhaltung jeder politischen und sozialen Ordnung rechtfertigen. Dennoch stellt sie keine zuverlässigen Maßstäbe für Recht und Unrecht von Gewaltanwendung oder friedlichem Nachgeben zur Verfügung.
Die Geschichte führt die notorische Diskrepanz zwischen Absichten und Auswirkungen menschlichen Handelns vor Augen. Der Lernende muß begreifen, daß eine planende Vor-wegnahme des historischen Prozesses in den überschaubaren geschichtlichen Zeiträumen nicht möglich war, weil die Fülle der einwirkenden Faktoren von niemandem überblickt werden konnte. Der Maßstab politisch-historischer Leistung kann daher nicht die Lauterkeit oder logische Brillanz politischer Programme sein, sondern nur die Menschlichkeit und Effektivität ihrer Durchführung.
Die historische Arbeits-und Denkweise nötigt zu einer fortwährenden Verbindung abstrahierender und individualisierender, generalisierender und spezifizierender Erkenntnisverfahren. Das einzelne ist nur als Konkretion allgemeiner Zusammenhänge verstehbar, die strukturellen Zusammenhänge sind nur in der jeweiligen Besonderung zu verifizieren. Die besondere Leistung der historischen Begriffsbildung besteht darin, daß sie die abertausend Einzelheiten einebnet und übergreift, sie zugleich aber auch berücksichtigt, indem sie jede starre Fixierung des Gemeinten zu vermeiden trachtet und die Begriffe flexibel hält.
V. Inhalte des Geschichtsunterrichts
Der Verzicht auf jede extensive oder repräsentative Vollständigkeit im Stofflichen dürfte selbstverständlich sein. Das Ganze der Geschichte kann nicht Gegenstand des Unterrichts sein. Vielmehr käme es darauf an, die wesentlichen Aspekte eines Bildes von der Geschichte zur Geltung zu bringen:
Der Schüler müßte einen Blick für die zeitliche Gliederung der Geschichte gewinnen. Er muß begreifen, daß die verschiedenen geschichtlichen Räume verschiedene Zeitperspektiven besitzen. Er sollte die fundamentalen Merkmale der Epochen der europäischen Weltgeschichte kennen und wissen, wie sich historische Kontinuitäten, Brüche und Renaissancen darstellen.
Auch die räumliche Gliederung der Geschichte müßte zum Gegenstand der Betrachtung gemacht werden. Hierbei könnte zutage treten, daß der räumliche Horizont einer historischen Lebenseinheit vom Kommunikations-und Interaktionsraum abhängt und erst in unserem Jahrhundert wirklich die gesamte Erde umfaßt. Die Gliederung nach Sachbereichen kann erfaßt werden in der Erarbeitung der jeweiligen Grundbegriffe, wobei die Beziehung auf den allgemeinen zeitlichen und soziokulturellen Wandel von erheblicher Bedeutung ist.
Auch die Träger des Geschichtsprozesses verdienen besondere Aufmerksamkeit. Wodurch wurden die historischen Identitäten konstituiert, worin bestand ihre Legitimation, Loya9 lität und Gehorsam zu fordern (Religionen, Dynastien, Bürokratien, Nationen, Klassen, Ideologien)?
Die geschichtlichen Wirkungsund Bedeutungszusammenhänge können in unterschiedlichen Perspektiven erfaßt werden, deren jede gesondert durchgespielt werden müßte:
Geschichte als Entwicklungsprozeß (z. B.
Parlamentarismus);
als Strukturzusammenhang (z. B. Lehns-
wesen);
als Problemgeschichte (z. B. Militarismus); als Weg zur Gegenwart (z. B.demokratische Traditionen in Deutschland); als Kulturanthropologie (z. B. bäuerliche Lebensformen);
als Erfassung eines Zeitalters (z. B. italienische Renaissance);
als philosophisches Problem (z. B. historischer Materialismus).
Da Geschichte immer in konkreter Gegenständlichkeit begegnet, ist die intensive Auseinandersetzung mit ausgewählten, eng begrenzten Themen unentbehrlich. Dabei ist weniger das Thema selbst als die Nötigung wichtig, das verfügbare fachliche Instrumentarium einzusetzen, ein Bewußtsein von den mit dem Thema verbundenen Problemen zu entwickeln und einen eigenen, begründeten Standpunkt zu gewinnen. Vorbemerkung:
Da auch in den Erläuterungen zu den Thesen auf eine Auseinandersetzung mit der umfangreichen Literatur verzichtet wurde, sind nur die Titel angeführt, auf die sie sich hauptsächlich berufen bzw.denen sie widersprechen.
These Politik wird wesentlich verstanden als der permanente Prozeß der Entscheidung, bezogen auf einen Zielwert oder ein System von Zielwerten. „Politik, das politische Feld, ist gekennzeichnet durch wissenschaftlich als Fragen formulierte Probleme, alternative Möglichkeiten, diese Probleme zu bewältigen, also Möglichkeiten des offenen oder unterdrückten Konflikts, und schließlich der Entscheidung und Durchführung der aktualisierten Problemlösung.“ 1) Politische Entscheidungen vollziehen sich in einem Bedingungsfeld, das durch die Institutionen Macht und Herrschaft, insbesondere durch ein den Machtstrukturen entsprechendes Kommunikationssystem, eine Differenzierung der Entscheidungsträger sowie von Subjekten und Objekten der Entscheidungen gekennzeichnet ist. Eine politikwissenschaftliche Analyse von Entscheidungsprozessen setzt bei den angestrebten Zielwerten ein, die letztlich bezogen sind auf die als Nonnen gesetzten Grundwerte einer bestimmten Gesellschaftsordnung; sie fragt, welche Motive und Interessen den Entscheidungen über Zielwerte zugrunde liegen, wer die Entscheidungsträger sind und welchen Einflüssen und Bedingungen sie unterliegen, auf welche Weise Entscheidungen Zustandekommen, wie sie begründet werden und nicht zuletzt, welche Auswirkungen sie auf die Handelnden und die Betroffenen haben. „Der Begriff des Politischen ist somit gekennzeichnet durch die Kategorie der jeweils realen Möglichkeit, durch die herrschaftsbestimmte Entscheidungsbündelung und durch die Freiheitschance aufgrund von Entscheidungsbeteiligung und Entscheidungskontrolle."
These 2 Jede vollzogene Entscheidung ist determinierender Faktor für weitere Entscheidungsmöglichkeiten und geht damit in die historische Dimension der politischen Situation ein. „Situation" wird mit William I. Thomas aufgefaßt „als Summe der Faktoren, welche die Verhaltensreaktionen bedingen", ist also bezogen auf die sozialen Beziehungen, auf Institutionen wie auf Normen. Eine Situation wird durch den Handlungszwang der Entscheidungsträger gekennzeichnet: „Der Mensch kann nicht durch eine Situation hindurch, ohne eine Entscheidung zu fällen und damit etwas zu bewirken." „Eine Situation entsteht, wenn mehrere Wirkungslinien in einem Knoten Zusammentreffen und wenn nicht von vornherein auszumachen ist, wohin sich die Dinge wenden." In einer solchen Situation sind auch Unterlassungen und Irrtümer Entscheidungen, die sie verändern. „Die getroffene Entscheidung, und handle es sich auch nur um die Veröffentlichung einer Stellungnahme, verändert die bestehenden Verhältnisse und wird zur Ursache anderer Entscheidungen, die sich darauf beziehen."
Eine Entscheidungssituation wird daher niemals völlig neu aus einer Konstellation unabhängiger Variablen gebildet, sondern sie verändert sich kontinuierlich, wie Handeln kontinuierlich ist. Eine einmal getroffene Entscheidung ist unveränderlicher Bestandteil der Situation, die Gesamtheit vollzogener Entschei-düngen bildet ihre historische Dimension: Was gestern Politik war, ist heute Geschichte; die Politik der Väter ist die Geschichte der Söhne.
These 3 Ist Politik das Noch-nicht-Entschiedene, dann ist Geschichte das Früher-Entschiedene bzw. das Damals-noch-nicht-Entschiedene „Wir erforschen die Situation, die Kräfteverhältnisse, vergegenwärtigen uns die bereits getroffenen Entscheidungen und versuchen zu ergründen, welche objektiven Möglichkeiten, sich zu entscheiden und zu handeln, die beteiligten und ... zu politischen Aktionen fähigen oder berechtigten Personen hatten." So umreißt Ernst Weymar die Aufgabe des Historikers, die seiner Meinung nach der Politologe für eine aktuelle Situationsanalyse nicht leisten kann. Er empfiehlt daher für den Unterricht, sich „ganz in den aktuellen Bewußtseinshorizont der handelnden Personen hineinzubegeben, um ihre Ziele und Absichten klar zu erfassen." Dabei müsse man „unser Wissen darüber, wie es weiterging, sauber trennen von der Situation der offenen Zukunft zur Zeit der in Frage stehenden Ereignisse."
Sicher ist es notwendig, zwischen dem Informationshorizont der damals beteiligten Entscheidungsträger und dem u. a. durch Ge-schichtsforschng gegebenen Informationsniveau zu unterscheiden. Methodisch mag diese Unterscheidung im Interesse besonderer Lernziele des Geschichtsunterrichts legitimiert sein, aber es wäre unpolitisch, davon abstrahieren zu wollen, daß jedermann heute mehr über die damalige Situation weiß als die Akteure. Den Zusammenhang zwischen realen Möglichkeiten der (damals offenen) Situation, dem Informationsgrad und den getroffen Entscheidungen erkennbar zu machen, ist ein wichtiger Beitrag des Geschichtsunterrichts zur Erkenntnis der Abhängigkeit der Entscheidungen von der Kommunikationsstruktur der Herrschaftsordnung. Es ist jedoch unpolitisch, so tun zu wollen, als kenne man nicht die Folgen der tatsächlich vollzogenen Entscheidungen, weil erst diese Folgen eine historische Situation politisch relevant, d. h.fragwürdig ma chen.
Geschichtsunterricht kann nicht methodisd leugnen, was seine Wissenschaftlichkeit aus macht und er vermitteln soll, nämlich die Rea lität historischer Erfahrung.
These 4 Politische Realität ist das Feld der realer Möglichkeiten, ihre Grundkategorie ist die Finalität; Geschichte ist das Feld der realisier ten Möglichkeiten, ihre Betrachtung erfolg! unter der Kategorie der Kausalität.
„Real möglich sein heißt . .., daß alle Bedingungen, an denen ein bestimmtes Geschehen A hängt, erfüllt sein müssen. Wenn nur eine Bedingung fehlt, ist A unmöglich." Die erste Bedingung für menschliches Handeln überhaupt, und besonders für politisches, ist die Erkenntnis der Zielrichtung; die zweite ist der Wille zur Durchsetzung, dem jedoch Grenzen (Determinationen) gesetzt sind. „Menschliche Entscheidungen vollziehen sich selbstverständlich innerhalb bestimmter geschichtlicher Rahmen und Tendenzen; aber diese Rahmen und Tendenzen sind nur bestimmte historische Möglichkeiten, die nicht alle die gleiche Reichweite haben. Für diejenigen Möglichkeiten, die die Geschichte vorantreiben, muß man kämpfen. Freiheit manifestiert sich also nicht als Erkenntnis irgendeiner Notwendigkeit, denn das würde Anpassung an gewisse gesetzmäßige Prozesse bedeuten, die vor allem aus den inneren Strukturen des einzelnen Landes herrühren, sondern als Erkenntnis und praktische Realisierung einer geschichtlichen Möglichkeit.“
Aus der Sicht des Historikers ist ein Ereignis dann „notwendig", wenn es tatsächlich eingetreten ist, so daß der Vollzug einer Entscheidung kausal nachzuvollziehen ist. Die Analyse aus der Sicht des Politologen bezieht sich auf die realen Möglichkeiten, d. h. auf die Voraussetzungen, unter denen Möglichkeiten zu Wirklichkeiten werden können bzw. Nicht Sein bleiben. Die Setzung der Ziele charakte risiert den Freiheitsraum, den der Mensch in der Situation zur Verfügung hat. Zielbestimmung aber heißt Wertentscheidung
These 5 Politische Zielsetzungen stehen immer in einer positiv oder negativ bewerteten historischen Tradition (Erfahrung); aus der jeweiligen Zielsetzung ergibt sich die Relevanz historischer Vor-Entscheidungen.
Die Europapolitik der BRD, die zunächst auf Integration in das westliche Bündnissystem zielte, wurde begleitet von einer historischen Besinnung über das Werden Europas bis zurück zur Zielorientierung Karls des Großen (Stiftung des Karlspreises für Verdienste um die europäische Einigung). Besonders die Geschichte der deutsch-französischen Beziehungen erfuhr neue Bewertungen, die früheren politischen Kontroversen um Elsaß-Lothringen, das Saarland, Versailles und Locarno wurden argumentativ in die Diskussion eingebracht. Die Ostpolitik der Bundesregierung Brandt-Scheel veranlaßte die Geschichtsschreibung zur Darstellung relevanter Entwicklungen; Ereignisse wie Tauroggen und Rapallo wurden neu bewertet. Die aktuelle Diskussion wird weitgehend beherrscht durch die Bewertung der Vor-Entscheidungen der von Konrad Adenauer bestimmten Politik, die ihrerseits in der Tradition realisierter bzw. verpaßter Möglichkeiten zu verstehen ist. Die historische Dimension ermöglicht die Ermittlung und Bewertung realer Alternativen und der daraus entstandenen Konsequenzen
These 6 Da politische Entscheidungen in ihrer Zielbestimmtheit (Normativität) relativ sind zu den Möglichkeiten der Durchsetzbarkeit (Macht), kann der historische Nachvollzug ebenfalls nur von der Bewertung der Ziele in ihrer Abhängigkeit von den tatsächlichen Machtverhältnissen ausgehen. »Der Schüler muß lernen, historische Situationen in ihrem je spezifischen Bedingungs-und Entscheidungshorizont zu rekonstruieren. Er hat sich darin zu üben, diejenigen Faktoren zu ermitteln, die die betreffende Situation konstituierten, und sich zu vergegenwärtigen, welche realen Verhaltensmöglichkeiten dadurch eröffnet wurden." Voraussetzung dafür ist jedoch, die durch die Fragestellung bedingte Vor-Bewertung der Absichten und Ziele bewußt zu machen, Kriterien für mögliche, wünschenswerte, gute, schlechte, unerwünschte oder falsche Ziele zu finden, nach denen dann die Wahl der Mittel beurteilt werden kann.
Der Akzent der sittlichen Bewertung liegt immer auf dem Verhalten des Menschen, für das ein Raster mit den einfachen Kategorien gute/schlechte Absichten — gute/falsche Mittel nicht ausreicht. Sicher hat Rohlfes recht, wenn er in diesem Zusammenhang bemerkt, politisch Handelnde müssen es sich gefallen lassen, auch für die Folgen ihres Tuns verantwortlich gemacht zu werden Aber der Geschichtsunterricht ist kein Gerichtshof, bei dem der Historiker der Richter ist und die Schüler die Geschworenen spielen. Jede neue politische Perspektive (Wertentscheidung) ist für die Wissenschaft eher Anlaß zu einem Revisionsverfahren, bei dem neue Tatsachen berücksichtigt, Zeugenaussagen neu bewertet und Schlußfolgerungen überprüft werden müssen.
These 7 Der politische Entscheidungsprozeß vollzieht sich in mehr oder weniger bewußter Ausfüllung des Handelsspielraumes zwischen Determiniertheit und Freiheit; die Bewertung des Historikers setzt daher die Rekonstruktion der Situation und der realen Möglichkeiten der tatsächlichen Entscheidungsträger voraus.
Die vom Geschichtsunterricht geforderte Vermittlung der „Einsicht in Zusammenhänge" stellt die Frage nach dem Bewußtheitsgrad der tatsächlichen Freiheit von Entscheidungsträgern. Bedingungsfaktoren sind objektiver und subjektiver Art: Möglichkeiten wirtschaftlichen Verhaltens sind abhängig vom Raum und seinen physikalischen Faktoren, von diesen wiederum hängen soziale Organisationsfor-men ab, die ihrerseits Gegenstand von Entscheidungen und Institutionen von Macht und Herrschaft sind; herrschende Wertvorstellungen sind kulturell und historisch bedingt, der Grad ihrer Anerkennung ist unterschiedlich.
Historisch bedeutende Entscheidungen beziehen sich immer auf die staatliche Ordnung. Waren z. B. Anfang November 1918 die Bedingungen der Situation so, daß keine andere Möglichkeit bestand als die dann tatsächlich eingetretene Wirklichkeit, nämlich die Republik von Weimar? War die Forderung „alle Macht den Räten" eine reale Alternative? Welche Bewertung erfahren unter welchen politischen Zielvorstellungen Entscheidungen wie z. B.der Einsatz der Armee zur Niederschlagung der Revolution? Handelte es sich überhaupt um eine Revolution? Allein das vom Historiker benutzte Vokabular ist voll von politischer Wertung.
These 8 Die historische Analyse von früher möglichen (realen) Alternativen schließt die Frage nach den tatsächlichen Entscheidungsträgern im Kommunikationsprozeß (nerves of government), d. h. ihrer Informationssituation ein.
In Ergänzung der Erläuterungen zur These 3 verweist der Begriff „Kommunikationssystem''auf die Tatsache, daß der Grad der Information im Entscheidungsprozeß von der Macht der Informationsträger abhängig ist. „Die Informationssoziologie geht von der Einsicht aus, daß es im sozialen Raum keine reine Information geben kann. Vielmehr ist hier zwangsläufig jeder Informationsvorgang durch soziale, ökonomische, politische Interessen beeinflußt; man informiert den anderen nicht streng sachlich, sondern so, daß das eigene Interesse möglichst gewahrt bleibt." Abgesehen davon erfolgt die Bewertung und Einordnung von Informationen durch den Aufnehmenden in einem Bezugssystem von sozial bedingten Einstellungen, Überzeugungen und Interessen. Dient die Informationsvermittlung der Erhaltung der bestehenden Machtverhältnisse unter dem Vorwande, die Wertordnung erhalten zu wollen, so ist die Verwendung des Begriffes „Ideologie" gerechtfertigt. Die Analyse früherer Entscheidungssysteme muß sich daher der von den Sozialwissenschaften entwickelten Methode der Ideologiekritik bedienen, wenn man eine frühere (abgeschlossene) Situation politisch (damals noch offen) sehen will.
These 9 Historische Erkenntnisse sind Teil unserer Orientierung in der Welt, die als solche zukunftsbezogen ist. Sie sind daher von der politischen Fragestellung inhaltlich vorgegeben und abhängig vom jeweiligen Erkenntnisinteresse.
Für Wissenschaft und Unterricht gilt gleichermaßen: Wer nicht fragt, kann nichts erkennen Es gilt für alle Wissenschaften, daß es forschende Menschen sind, die an ihre Gegenstände Fragen stellen, weil sie etwas ganz Bestimmtes wissen möchten (motiviert sind). Das Erkenntnisinteresse des Politologen ist auf die Zukunft orientiert und mithin wertbedingt, Standort-und traditionsgebunden, interessen-orientiert. Im Blick auf die Zukunft befragt er die Vergangenheit. „Die Frage nach den . Triebkräften der Geschichte'führt zurück zu den anderen, rationeller gefaßten Fragen nach dem, was Menschen zu Tätigkeiten motiviert, die aus dem Zirkel der einfachen Reproduktion ihres Lebens heraus zu veränderten Produktionen und Lebensbedingungen führen... In den Mittelpunkt der Analyse wird das rücken müssen, was im Prozeß der Veränderung als das dynamische Zentrum fungiert: die Subjekte unter dem Blickpunkt ihrer Triebimpulse und in ihrer Bezogenheit sowohl auf die Gegenstände als auch auf die Mit-und Gegensubjekte ihrer Tätigkeit." Der Analyse vorausgehen muß die Standortbestimmung des fragenden Wissenschaftlers, die ideologiekritische Reflexion über sein Erkenntnisinteresse. These 10 Die politische Dimension der Geschichtswissenschaft liegt in der Voraussetzung, daß Geschichte als Bewußtseinsinhalt erst durch Geschichtsschreibung entsteht.
Die Erkenntnis, daß es keine Information an sich, unabhängig von der Position des Kom-munikanden, gibt, gilt im besonderen Maße für Erkenntnisse der Geschichtswissenschaft. Wenn Ziel und Gegenstand des Geschichtsunterrichts die Bewertung von Entscheidungen ist, d. h. die Erkenntnis der Relativität historischer Werturteile, dann ist seine Aufgabe nicht die Rekonstruktion der Vorgänge selbst, sondern die Arbeit an den Darstellungen.
These 11 Sind unterschiedliche Bewertungen früherer Entscheidungen Bedingungsfaktoren aktueller Entscheidungen, so ist die Bewertung des Historikers bedingt durch die Position des Geschichtsschreibers innerhalb der politischen Situation, in der er schreibt.
Geschichtsschreibung ist in der Regel als ein politischer Akt zu verstehen, sofern ihr inhaltlich ein Beitrag zur politischen Erziehung zuerkannt werden kann. Innerhalb weniger Jahre erlebte eine ganze Generation von Schülern die dreimalige Umwertung Karls des Großen in (a) den „Sachsenschlächter", (b) den „Franken" und schließlich wieder (c) in den „Großen.“ Die Kurzatmigkeit der nationalsozialistischen Geschichtsbilder machte diese Versuche zu einer — didaktisch allerdings sehr aufschlußreichen — Episode der Geschichtsschreibung, die über das nationalsozialistische Herrschaftssystem mehr Einsichten enthalten kann als die chronologische Darbietung von „Fakten.“ Der Geschichtsunterricht vermittelt z. B. über Nationalismus und Imperialismus wesentliche Erkenntnisse durch die Geschichtsschreibung dieser Zeit.
These 12 Gegenstand und zugleich Medium der historischen Dimension des Politischen — als Beitrag zur politischen Erziehung im Sinne von Entscheidungsfähigkeit — ist die kontroverse Geschichtsschreibung mit dem Ziel der Erkenntnis ihrer politischen Relativität.
Kontroversen in der Geschichtsschreibung in ihrer didaktischen Relevanz werden besonders deutlich und für den Schüler verstehbar in der Beurteilung historischer Persönlichkeiten. Je näher sie der politischen Situation stehen, die sie mitverursacht haben, desto deutlicher ist die wissenschaftstheoretische und politische Position des Beurteilers erkennbar. So meint z. B.der deutsche Historiker Helmut Heiber in seiner Hitler-Biographie „... es gab und gibt keinen Nationalsozialismus außer Hitler. Beides ist identisch. Hitler war der Nationalsozialismus, und der Nationalsozialismus als sogenannte Idee war nichts weiter als die Projektion des Willens jenes Mannes Adolf Hitler in den Bereich der Gedanken und Worte."
Der wissenschaftstheoretisch dem Marxismus ebenso wie der Psychoanalyse verbundene Wilhelm Reich begründet dagegen in seinem bekannten Werk „Die Massenpsychologie des Faschismus" die Hypothese: „Hitlers persönliche Struktur und seine Lebensgeschichte sind für das Verständnis des Nationalsozialismus von keinerlei Belang." Es ist für jeden Schüler leicht einzusehen, was die unterschiedliche Bewertung für die Frage nach der „Schuld" des Durchschnittsbürgers und damit für die Einschätzung der gegenwärtigen politischen Situation bzw.der politischen „Reife" der Menschen der Gegenwart bedeutet: Der Zugang zu der immer wieder in der Didaktik diskutierten Frage, wieweit Persönlichkeiten die Geschichte machen oder sie Produkte der sozialen Verhältnisse sind, eröffnet sich hier unmittelbar, ebenso an zahlreichen weiteren Beispielen. Allein durch die Heranziehung kontroverser Darstellungen wird eine reine Personalisierung von Geschichte und Politik verhindert. Erinnert sei auch an die immer wiederkehrenden verschiedenen „Vorläufer" -Hypothesen, etwa die Ahnenreihe Luther—Friedrich der Große — Bismarck—Hitler.
These 13 Inhaltlich sind diejenigen historischen Vorgänge von besonderer Bedeutung, die durch Veränderungen in der Entscheidungsbeteiligung und -kontrolle, d. h. in den Herrschaftsverhältnissen gekennzeichnet sind (revolutionäre Entwicklungen). „Revolutionäre Ereignisse sind keine mechanische Widerspiegelung der Entwicklung der Produktion; eine erhebliche Rolle spielen das menschliche Bewußtsein und seine Kreativität." Die Frage, welche Vorgänge als revolutionär zu bezeichnen sind, löst Gajo Petrovic, der jugoslawische Theoretiker der „Praxis“, in eine thesenartige Kette von Fragen auf, die in der Alternative gipfelt: „Ist die Revolution eine gesetzmäßige Erscheinung, oder ist sie eine Verletzung der Gesetzmäßigkeit? Ist die Revolution ein Ausdruck der Notwendigkeit, oder ist sie das Eintreten in das Reich der Freiheit?"
Es gibt in der Geschichte keine erkennbare Gesetzmäßigkeit des Fortschritts, weil jedes Ereignis und jeder Zusammenhang seine eigenen Bedingungen hat. Eine historische Querschnittsbetrachtung durch die verschiedenen „Schichten" der politischen Realität, von den räumlichen Determinanten über die ökonomischen Verhältnisse und die Gesellschaftsformen bis zu den normativen Kräften des „Überbaus" kann an einem beliebigen Beispiel, z. B. an der Gesetzgebung Hammurabis, zeigen, daß es solche „Zusammenhänge" gibt. Eine Transferleistung kann jedoch nur in sehr begrenztem Umfange erwartet werden, weil z. B. Ströme wie Mississippi oder Amazonas im Gegensatz zum Nil oder Indus bei der Herausbildung von Staaten keine entscheidenden Faktoren waren. Politisch relevant sind solche Beispiele ohnehin nur im Blick auf die Existenz einer Herrschaftsordnung (Staat), in der sich Machtverhältnisse, d. h. Entscheidungsfunktionen verändern, wobei die große Bedeutung der Änderung von Kommunikationsmöglichkeiten zu berücksichtigen ist.
These 14 Da sich jede Erziehung in einem institutionalisierten System von Sozialisationsfeldern vollzieht, ist der normative Bezugsrahmen für politische Erziehung der jeweilige Staat Form der Verfassung in ihren Ansprüch und Möglichkeiten.
Politik sei Handhabung eines Instrument riums „zur Herbeiführung eines organisiert!
Handelns in Staat und Gesellschaft". Das b deutet, „daß jede Erziehung letztlich nur a dem Hintergrund der bestehenden Herrschaft Verhältnisse gesehen werden kann" Die i Staate institutionalisierten Entscheidungstr ger und verschiedenartige andere gesellschaf liehe Mächte bestimmen über Inhalte und Zie dessen, was in den Schulen gelehrt und gelen wird. Die Schule ist ein Teil der bestehet den Herrschaftsverhältnisse und normativ be zogen auf die ihnen zugrundeliegenden Werb die sich in dieser Funktion als historisch un gesellschaftlich bedingt erweisen. Hierin lieg die historische Dimension einer politischen Ei Ziehung, die Erkenntnis der eigenen Situatio: und der eigenen Handlungsmöglichkeiten öfi nen soll. Der Geschichtsunterricht erschließ diese Dimension durch Einbeziehung der So zialgeschichte des Erziehungsund Bildungs; wesens als eines Erkenntnis vermittelnde! zentralen Bestandteils der jeweiligen Staats Ordnung und Machtverhältnisse. Die erwarte ten Verhaltensweisen als Resultat von politi scher Erziehung entsprechen den Normen, die für ein politisches System konstitutiv sind „Betroffenheit“ durch Politik ist zu allen Zeiten und in allen Systemen zuerst dadurch gegeben, daß die Schüler Objekte von Erziehung sind. Politisch relevanter Geschichtsunterricht braucht sich daher nicht darauf zu beschränken, die historische Bedingtheit des gegenwärtigen deutschen Schulwesens und seine Wurzeln in der Staats-und Gesellschaftsordnung des 19. Jahrhunderts sichtbar zu machen.
These 15 Der humanistische Anspruch der Verfassung der BRD liegt in der in den Grundrechten definierten „Würde des Menschen". Politische Er Ziehung zielt daher aut die Inanspruchnahme der garantierten Rechte.
Der Anspruch, mit dem die BRD die Grundsätze ihrer Verfassung ausstattete, steht in der Tradition, „einen Staat zu schaffen, der dem einzelnen die größte Freiheit gibt und zugleich die genaueste Bestimmung und Sicherung der Grenzen dieser Freiheit hat, damit die Freiheit der anderen bestehen kann"
Die Leerformel, daß die „Würde des Menschen" unantastbar sei, wird aufgrund unmittelbarer historischer Erfahrung dadurch konkretisiert, daß im Grundgesetz die alle Staatsgewalt bindenden Grundrechte positives Recht geworden sind. „Positiv" aber heißt: von Menschen gesetzt, d. h. es ist ein Recht, das einer bestimmten gesellschaftlichen Ordnung Normen gemäß den politischen Notwendigkeiten setzt, veränderlich, von Menschen gewahrt und gehandhabt. Die „Würde" des einzelnen realisiert sich daher in der Inanspruchnahme dieser Rechte. „Der Bürger, dessen Würde als unantastbar erklärt worden ist, erfüllt seinen Auftrag in der rechtsstaatlichen Ordnung nicht, wenn er zwar von der staatlichen Gewalt Achtung und Schutz erwartet, aber nicht aktiv an der Begründung und Kontrolle der Staatsgewalt mitwirkt." Die Geschichte der Menschenrechte und die Funktion ihrer Artikulation in verschiedenen Zeitaltern und Lebensräumen ist daher ein unverzichtbarer Bestandteil eines politisch orientierten Unterrichts.
These 16 Der demokratische Anspruch der Verfassung der BRD liegt in dem Recht auf Teilhabe am Entscheidungsprozeß, d. h. Anteil an Macht. Politische Erziehung soll daher dazu beitragen, Objekte politischer Entscheidungen zu befähigen, Subjekte, d. h. Entscheidungsträger, zu werden.
Nicht die Demokratie an sich, sondern die Demokratisierung, d. h. mehr Freiheit zu gewinnen, ist das eigentliche Ziel der politischen Bildung." Geschichte ist auch die Geschichte der Objekte und ihres Anspruches, Subjekte zu werden. In unserer Staatsordnung ist die Auffassung von der historischen Realisierung von „Demokratie" ein wesentliches Kriterium des Selbstverständnisses, aus dem sich die Ausübung von Staatsgewalt rechtfertigt. Die Geschichte der Demokratie aber ist die Geschichte einer Revolution, d. h. eines zeitlich und räumlich erheblich dimensionierten Konfliktes.
Der Geschichtsunterricht vermittelt die historische Dimension eines permanenten Konfliktes, des Ringens um Teilhabe an Macht. Wenn es die „Demokratie" als Endzustand (noch) nicht gibt, zielt politische Erziehung auf Konfliktfähigkeit im Sinne der Realisierung des demokratischen Anspruches unserer Verfassungsordnung. Wenn Hermann Giesecke dem politischen Unterricht auferlegt, politisch-gesellschaftliches Geschehen immer unter dem Aspekt der Auseinandersetzung zwischen Menschen zu sehen, so ist auch die Betrachtungsweise des Geschichtsunterrichts in diesem Sinne politisch.
These 17 Die Ansprüche der Verfassung lassen sich auch in unserer Staats-und Gesellschaftsordnung nur mit dem Risiko des Konflikts mit den Inhabern der tatsächlichen Macht (d. h.den institutionalisierten Entscheidungsträgern) realisieren.
Der Anspruch der Verfassung, ein demokratischer und sozialer Rechtsstaat zu sein, ist noch nicht eingelöst. Gleichberechtigte Teilhabe aller Staatsbürger an der Entscheidungsgewalt ist nicht realisiert; das Prinzip der parlamentarischen Repräsentation ist historisch-politisch fragwürdig geworden, die institutionalisierten Entscheidungsmechanismen bedürfen der historisch-gesellschaftlichen Kritik, bei der der Geschichtsunterricht die notwendigen Kriterien vermitteln kann. „Würde des Menschen" realisiert sich nicht nur durch radikale Inanspruchnahme der garantierten Freiheiten durch den einzelnen, sondern im gleichen Zuge auch durch die Schaffung einer Ordnung, in der sich Selbstbestimmung verwirklichen kann. Das geht nicht ohne Veränderung der Institutionen, durch die Herrschaft ausgeübt wird und Abhängigkeiten erhalten werden. Auch die historische Analyse politischer Konflikte trägt zu der Erkenntnis Hermann Gie-seckes bei: „daß Menschen im politischen Raum kontrovers zueinander stehen, ist kein Mangel ihrer moralischen Konstitution, sondern definiert ihre Würde mit".
These 18 Politische Konflikte haben immer und überall eine historische Dimension, die zu erschließen der zentrale Beitrag des Geschichtsunterrichts zur politischen Erziehung sein könnte.
Nicht jede Meinungsverschiedenheit und jede Kontroverse ist ein politisch relevanter Konflikt. Ein solcher vollzieht sich immer an der durch Gesetz und gesellschaftlichen Konsensus gezogenen Toleranzgrenze politischer Verhaltensweisen, an der Grenze der „Spielregeln", weil es um Legalisierung und Institutionalisierung von Machtansprüchen und damit um die Einschränkung bestehender Machtverhältnisse geht. Ebensowenig wie es im politischen Kampf um demokratische Ansprüche die Position analytischer Neutralität und Objektivität gibt, kann sich die historische Betrachtung der Parteinahme entziehen. Geschichte wird zur politischen Argumentationswaffe.
These 19 Die historische Dimension des Politischen ist untrennbarer Bestandteil des politischen Unterrichts. Politikwissenschaftliche Analyse ist ohne die historische Dimension unpolitisch und unwissenschaftlich. Es ist eine Frage der fachlichen Kompetenz des Lehrers, wieweit es erforderlich ist, den Historiker hinzuzuziehen bzw. die Erschließung dieser Dimension einem zugeordneten Geschichtsunterricht zu überantworten. Die Fragestellungen sind in jedem Falle politisch, der theoretische Ansatz ist sozialwissenschaftlich.
These 20 Die Einsicht in die politische Dimension der Geschichte als Wissenschaft und Lehre ist der Beitrag der Politikwissenschaft zu einem Geschichtsunterricht, der darüber hinausgehende, eigenständige Ziele anstreben kann, die einem selbständigen Fach Vorbehalten bleiben.
Der inhaltsleere Gemeinplatz, Gegenwart sei nur durch Kenntnis der Vergangenheit zu verstehen, bedarf, wenn damit der Vorrang des Geschichts-vor dem Politikunterricht begründet werden soll, der ergänzenden Korrektur durch die Hypothese, daß Vergangenheit nur aus der jeweils gegenwärtigen Situation heraus verstanden werden kann. Wenn der Historiker fragt, welche Erkenntnisse über „Zusammenhänge" der Vergangenheit zum Verständnis der Gegenwart nötig sind, so fragt der Politologe, in welcher Weise die Zukunftsorientiertheit der gegenwärtigen Politik dazu zwingt, die Vergangenheit anders als früher zu sehen; denn „unbewältigte Vergangenheit” ist immer auch Ausdruck von Orientierungslosigkeit auf dem Wege in die Zukunft In seinem mit Recht berühmt gewordenen Essay „Der Mensch in seiner Gegenwart" hat Hermann Heimpel Gegenwart definiert als „die Vergangenheit, die in dem prüfenden Sieb der Geschichte übriggeblieben ist", denn Gegenwart sei immer auch bestimmt durch das, was ein Volk — auf der Grundlage seiner Geschichte — sein will.
Eine Gesellschaft ohne Zukunftserwartung braucht keine Geschichte mehr, sie bleibt in der „Melancholie der glücklichen Gegenwart'(Heinrich von Sybel). Geschichte wird bestenfalls zur Schreckenskammer der Vergangenheit, als es noch nicht so gut war wie heute, z. B. im „finsteren Mittelalter" oder als noch „Zustände wie im alten Rom" herrschten. Ansonsten braucht der Politiker, der nur Verwalter des Endzustandes ist, Geschichte weder als Wissenschaft noch im Unterricht Andererseits warnte schon Nietzsche davor, nur „in Gegenwart aktualisierte Geschichte" anzuerkennen, weil sie, zu eng verstanden, hemmend auf die Zukunftsentscheidung wirken könne
Der Politikunterricht darf daher nicht dem Geschichtsunterricht seine Perspektiven als die einzig legitimierten aufzwingen; denn ebenso wie die historische Dimension des Politischen nicht den gesamten Umfang dessen ausmacht, was politische Bildung genannt wird, füllt die politische Dimension der Geschichte nicht die Gesamtheit ihrer erzieherischen Möglichkeiten aus. Wohl aber haben zu allen Zeiten und in allen Staatsformen die Politiker der politischen Erziehung Vorrang geboten.
I. Zur Situation des Geschichtsunterrichts
Die in der 'Öffentlichkeit defensiv geführte Auseinandersetzung um ein neues Selbstverständnis der Geschichtswissenschaft und der Geschichtsdidaktik steht in einem Mißverhältnis zu den Ergebnissen der wissenschaftstheoretischen und der fachdidaktischen Diskussion. Arbeiten von K. -G. Faber, Chr. Meier, W. Mommsen und die Einbeziehung des strukturgeschichtlichen Ansatzes haben zu einer veränderten Ortsbestimmung der Geschichtswissenschaft beigetragen: Geschichtswissenschaft versteht sich als Sozialwissenschaft; der Historismus scheint überwunden zu sein; die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit hat eine Gegenwartsdimension und eine Zukunftsperspektive, d. h., die zu selbstverständlich -be nutzte Umschreibung, Geschichtswissenschaft habe es mit den res gestae, nicht aber mit den res gerendae zu tun, ist entscheidend zu modifizieren. Geschichtswissenschaft konzentriert sich gleichermaßen auf politische, wirtschaftliche, soziale, kulturelle Prozesse und Strukturen; der Historiker bedient sich sozialwissenschaftlicher Methoden
Die Diskussion um Gegenstand, Methode und Bildungswert der Geschichtswissenschaft ist seit dem Deutschen Historikertag 1967 fortgeschritten Die durch die interne Auseinander
Setzung gewonnene Stärkung der wissenschaftstheoretischen Position bildet eine entscheidende Voraussetzung für die Austragung der längst anstehenden, aber bisher ausgesparten Konfrontation mit den anderen sozialwissenschaftlichen Disziplinen, insbesondere mit der Politikwissenschaft.
Die fachdidaktische Reflexion, die die Ergebnisse der wissenschaftstheoretischen, der allgemein didaktischen und der lerntheoretischen Diskussion berücksichtigt, hat erst in Ansätzen begonnen, die Möglichkeiten zu nutzen, die sich insbesondere aus dem neugewonnenen Selbstverständnis der Geschichtswissenschaft und der lernzielorientierten Curriculumforschung ergeben. Ein Versuch in dieser Richtung zeichnet sich in den Zwischenergebnissen der hessischen Arbeitsgruppe zur Revision der Bildungspläne ab
Demgegenüber ist die Entscheidung des KM des Landes NRW, getrennte Kommissionen für die Erarbeitung neuer Curricula in Politik und Geschichte einzusetzen, angesichts des gegenwärtigen geschichtsdidaktischen Diskussionsstandes als im Ansatz verfehlt anzusehen
Trotz eines immer noch aufweisbaren Defizits ist es in der geschichtsdidaktischen Auseinandersetzung gelungen, im Bereich der Lerntheorie, der politischen Sozialisation, der Lern-Zieldiskussion und der Bestimmung der Inhalte erste Aufarbeitungen vorzunehmen Der volle Anschluß an die internationale Curricu-lumdiskussion und die raschere Einbeziehung der Ergebnisse der allgemeinen Didaktik und der Lerntheorie ist allerdings noch zu leisten.
Notwendig ist darüber hinaus die Erarbeitung konkurrierender didaktischer Modelle, die offene interne Auseinandersetzung auf einer möglichst breiten Ebene, die Gewinnung eines Minimalkonsensus über Ziele, Inhalte, Methoden und die interdisziplinäre Konfrontation. Dazu bedarf es allerdings einiger Voraussetzungen: eindeutig muß die interne Diskussion zeigen, daß es nicht länger um die bloße Wahrung von Besitzständen, sondern um die Revision oder besser Neukonzipierung des klassischen Schulfaches Geschichte geht. Deutlicher muß die Absage an die bisherige — wenngleich problembezogene — Stofforientierung und die Wendung zur Funktionsoder Lernzielorientierung werden. Einzuführen ist ein neuer Stil in der Selbstdarstellung und Auseinandersetzung mit den anderen sozialwissenschaftlichen Fächern, wie sie für die Vertreter der politischen Bildung, der Sozial-kunde oder der Geographie bereits vertraut ist.
II. Zur Diskussion um die politische Bildung
Ziel der politischen Bildung ist die Vermittlung jener Qualifikationen, die 'zu politischer Reflexion, Urteilsbildung und verantwortlichem politischen Handeln befähigen. Die jüngste Diskussion um diesen Themenkomplex wird von Didaktikern der politischen Bildung getragen, während die Geschichtsdidaktiker nur am Rande an der Auseinandersetzung beteiligt sind.
Bezugspunkt der Analyse und Reflexion bildet die gesellschaftlich-politisdie Wirklichkeit in ihren aktuellen Strukturen und in den ablesbaren Entwicklungen und Entwicklungstendenzen. Das Feld erstreckt sich auf das Politische in seinen gesellschaftlichen, ökonomischen, technischen und kulturellen Dimensionen. Im Mittelpunkt des steht nach der Konzeption der engagierten Didaktiker, die sich dem Ansatz der Kritischen Theorie verpflichtet wissen, der Abbau von Herrschaft und Unterdrückung. Ausgangspunkt für die politische Bildung muß daher die eigene Sozialerfahrung und die Bewußtmachung der Interessengegensätze bilden. Die Analyse dient der Einsicht in die realen Gegebenhei-* ten, in die Interdependenz der Einzelbereiche gesellschaftlich-politischer Wirklichkeit und in die Möglichkeiten und Grenzen der Veränderung. Unverzichtbare Prämissen für den auf reflektiertes und aktives Engagement zielenden Lernprozeß sind Betroffenheit, Kenntnis der eigenen Interessenlage, der Bedürfnisse und Entscheidungsfähigkeit. Politisches Lernen erfolgt strukturell und exemplarisch. Im Mittelpunkt stehen Bewußtmachung und Befähigung zu Analyse und Wertung, zu Kontrolle und Kritik. Der Ansatz betont die schwer oder nicht überwindbaren Gegensätze in der Gesellschaft und drängt auf Konfliktaustragung und -entscheidung. Die führende Gruppe der Didaktiker der politischen Bildung läßt sich nach W. Hilligens Unterscheidungsraster als linksliberal oder radikaldemokratisch-sozialistisch charakterisieren
Wenn an dieser Auseinandersetzung bisher kaum Geschichtsdidaktiker beteiligt sind, so mag das insbesondere zwei Gründe haben:
einmal scheinen die Didaktiker der politischen Bildung stärker politisch engagiert zu sein, während die Geschichtsdidaktiker eher aus einer politischen Distanz heraus argumentieren, zum anderen ist es den Geschichtsdi-daktikern trotz des Bemühens um Revision des Geschichtsunterrichts noch nicht gelungen, eine neue, konkurrenzfähige Konzeption vorzulegen. Beides dürfte dazu beigetragen haben, daß die in der geschichtsdidaktischen Diskussion erreichten Zwischenergebnisse nicht oder kaum zur Kenntnis genommen werden. Das gilt gleichermaßen für die mit der Entwicklung neuer Curricula befaßten Ministerien wie für die didaktische Diskussion in den benachbarten sozialwissenschaftlichen Unterrichtsfächern. Angestrebt wird von den Geschichtsdidaktikern mit unterschiedlicher Breitenwirkung der Perspektivenwechsel: vom nationalen zum europäischen und internationalen bzw. universalhistorischen Geschichtsunterricht; vom historisierenden zum aktualisierenden; vom unkritisch stabilisierenden zum ideologiekritischen; vom ereignisgeschichtlichen zum strukturgeschichtlichen; vom politik-zum wirt-schafts-und sozialwissenschaftlichen, vom Stoff-zum lernzielorientierten Ansatz und vom begrifflichen zum Identifikationslernen
In die gegenwärtige Curriculumplanung werden diese konzeptionellen Veränderungen nur dann Eingang finden, wenn die zuständigen Instanzen über die Entwicklung informiert werden und bereit sind, sie aufzugreifen. Von den Didaktikern der politischen Bildung wurden bisher kaum oder nur vereinzelt die Beiträge der Geschichtsdidaktiker, die sich mit der Frage Geschichtsunterricht/politische Bildung auseinandergesetzt haben, zur Kenntnis genommen Wenngleich von keiner Seite ein grundsätzlicher Zweifel daran besteht, daß der Geschichtsunterricht zur politischen Bildung beizutragen vermag und politische Bildung eine historische Dimension hat, so scheint dennoch kein Informationsfluß zwischen beiden Gruppen zustandezukommen. Die fehlende Auseinandersetzung zwischen Geschichtswissenschaft und Politikwissenschaft scheint ihr Abbild auf der didaktischen Ebene zu finden.
Eine Korrektur — zugleich die Voraussetzung für die Konfrontation auf gleicher Ebene — wird sich nur dann erreichen lassen, wenn es den Geschichtsdidaktikern gelingt, eine Trennungslinie zu den didaktischen „Antiquariern" zu ziehen und andererseits die Didaktiker der politischen Bildung den jüngsten Diskussionsstand der Geschichtsdidaktik zur Kenntnis nehmen.
überholt ist die Position, nach der historische Bildung implizit und ausschließlich die politische Bildung abdeckt. Unabgeschlossen jedoch ist die Auseinandersetzung über Stellenwert und Zusammenhang der historischen und der politischen Bildung und damit die Frage nach Trennung oder Integration der Fächer Geschichte und Politik.
III. Zur eigenen Position
Für das Verständnis der weiteren Ausführungen erscheint es notwendig, kurz über die hier vertretene wissenschaftstheoretische Position zu informieren.
Der strukturgeschichtliche Ansatz hat die traditionelle Geschichtswissenschaft durch eine Ausweitung des Gegenstandes, der Fragestellung und der Methode zu einer Neuorientierung geführt. Strukturieren geschichtlicher Inhalte meint, die Fülle historischer (einschließlich zeithistorischer) Phänomene als Glieder oder Gliedketten politischer, ökonomischer, sozialer, kultureller, geographischer Gefüge zu bestimmen und das Allgemeine wie das Besondere sowohl in seiner Dauer als auch in seinem Wandel sichtbar werden zu lassen.
Zusammenfassend läßt sich der Ansatz auf folgende Kurzform bringen: 1. Geschichtswissenschaft wird als Sozialwis-senschaft verstanden. Das bestimmt ihr Beziehungsgefüge zu Soziologie und Politikwissenschaft. Sie ist nicht nur deskriptiv, sondern zugleich kritisch. 2. Die zwischen dem politischen, wirtschaftlichen, sozialen, ideologischen Bereich bestehende Interdependenz muß ebenso berücksichtigt werden wie der Zusammenhang mit geographischen, psychologischen, anthropologischen Gegebenheiten. 3. Zur Erschließung der Gegenwart genügt es nicht, die zeitgeschichtlichen Ereignisse und Prozesse aufzuarbeiten, sondern entscheidend ist, daß die historische Dimension einbezogen und möglichst tief ausgelotet wird. 4. Der Historiker darf sich nicht nur der philologischen kritischen Textinterpretation bedienen, sondern muß quantifizierende Methoden hinzunehmen. 5. Geschichtliche (zeitgeschichtliche) Ereignisse und Prozesse können mit Hilfe der Modellbildung auf einer mittleren Abstraktionsebene in ihren Strukturen erschlossen werden
Es geht nicht um die bloße Betrachtung der Vergangenheit, sondern um die Auseinandersetzung mit der geschichtlich gewordenen Gegenwart, um „die vom Interesse an vernünftigen Zuständen durchherrschte kritische Theorie der bestehenden Gesellschaft" Die verbreitete Abgrenzung zwischen den res gestae als dem Bereich der'Geschichtswissenschaft und den res gerendae als dem der Politikwissenschaft ist neu zu überdenken und zu korrigieren. Die Perspektive ist zugleich retrospektiv und prospektiv. Geschichte hat nicht nur eine Vergangenheits-, sondern auch eine Gegenwartsdimension und eine Zukunftsperspektive. Ein Ziel geschichtswissenschaftlicher Forschung ist, die Bedingungen möglicher Veränderung für Gegenwart und Zukunft aufzuarbeiten und diese Veränderungen im geschichtlichen Prozeß aufzuzeigen. Sie kann sich nicht mit der Frage, wie es in der Vergangenheit gewesen sei, begnügen. Es geht um das Bemühen „einer gründlichen, vom Interesse an der Zukunft geleiteten Analyse des geschichtlichen Verlaufs" Beschäftigung mit der Geschichte ist nicht Selbstzweck, ist nicht Wert an sich, sondern aus dem Interesse an Gegenwart und Zukunft, an Gegenwartsver-stehen sowie Gegenwarts-und Zukunftsgestaltung begründet und motiviert. Damit ist die Verklammerung von Theorie und Praxis angedeutet. Die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit ist nicht nur durch wissenschaftsimmanente Antriebe, sondern zugleich durch politische Implikationen bestimmt, die über Zielsetzungen und Auswahl der Inhalte wesentlich entscheiden. Diese lassen sich durch Habermas’ Formel vom „emanzipatorischen Erkenntnisinteresse" näher verdeutlichen. Die gesellschaftpolitische Bedeutung ge-schichtswissenschaftlicher Arbeit läßt sich besonders deutlich aufzeigen an ihrer ideologie-kritischen Aufgabe. Durch den Aufweis des historischen Hintergrundes, durch den Vergleich mit ähnlichen und andersartigen Phänomenen, auf die wir möglicherweise unter gleichem Erscheinungsbild stoßen, werden die Voraussetzungen zu einem Perspektivenwech-sei geschaffen, der zur Distanzierung zu den Wertsetzungen und Ideologien der eigenen Zeit zu führen vermag. Dieser Prozeß kann zu Entideologisierung und zum Abbau von Vorurteilen beitragen.
Historische Forschung ist zu keiner Zeit ohne ein bestimmtes Maß an Abstraktion, ohne die methodische Hilfe der Typen-und Modellbildung ausgekommen. Es gilt, jeweils das Individuelle und das Generelle jedes Einzelfalles aufzuarbeiten und herauszustellen. Die Abgrenzung der Geschichtswissenschaft als einer individualisierenden gegenüber den typisierenden Wissenschaftsdisziplinen ist nicht haltbar und bedarf der Differenzierung.
Hypothetisch wird davon ausgegangen, daß aus historischen Prozessen und Verlaufsstrukturen Regelwissen ableitbar ist, aufgrund dessen aus der Geschichte Lehren für die Zukunft zu gewinnen sind.
Weiterhin wird mit der Hypothese gearbeitet, daß die Wissenschaftsdisziplinen Politik und Zeitgeschichte weitgehend denselben Gegenstand behandeln, weitgehend identische Ziele verfolgen und auch methodisch stärker übereinstimmen als divergieren. Diese Konzeption wird vertreten, solange die anstehende Frage nach der Abgrenzung undiskutiert und ungelöst ist.
Ich gehe davon aus, daß kein einfaches Ableitungsverhältnis zwischen Fachwissenschaft und Fachdidaktik besteht, sehe aber in der Einbeziehung der fachwissenschaftlichen Diskussion eine unverzichtbare und unaufhebbare Komponente der Fachdidaktik hinsichtlich der Lernmethoden und der Inhaltsauswahl.
Der strukturierende Ansatz ist auf die didaktische Ebene übertragbar. Bezugsrahmen und Ausgangspunkt des hier vertretenen Konzeptes ist die Gegenwart. Auseinandersetzung mit der Vergangenheit hat keinen Selbstzweck, sondern das Ziel, Gegenwart zu erschließen, Zukunft zu öffnen. Der Zugang zur Vergangenheit wird aus Frage-und Problemstellungen der Gegenwart gewonnen und regressiv eröffnet. Damit ist der chronologisch-systematische um einen regressiv-diachronischen Ansatz erweitert. Das regressiv-diachronische Verfahren bildet den Ausgangspunkt geschichtlicher Lernprozesse Ist für einen Themenkreis ein besonderer historischer Exkurs notwendig, so kann dieser nach dem strukturierenden Verfahren auch chronologisch systematisch erarbeitet werden. So ist eine Verbindung zwischen systematisch-genetischem und strukturierendem Ansatz hergestellt. Dieses Konzept bietet die Möglichkeit, an politischen, ökonomischen, sozialen, kulturellen Phänomenen der Gegenwart, die unter gleichem Erscheinungsbild oder gleicher Thematik begegnen, nach der Erarbeitung der jeweiligen Struktur das Vergleichbare und das Unvergleichbare, das Ähnliche und das Unähnliche in seinen Abstufungen herauszuarbeiten, um danach im Prozeß des Generalisierens eine Grobstruktur herauszukristallisieren, die das Besondere des Einzelfalles mitaufnimmt. Zur Erschließung gesellschaftlicher, ökonomischer, politischer und kultureller Phänomene, Probleme, Konflikte der Gegenwart kann auf der Grundlage des strukturierenden Verfahrens in die verschiedenen geschichtlichen Epochen und unterschiedlichen Kulturkreise vorgestoßen werden, sei es zur Erarbeitung vergleichbarer oder divergierender Konzepte und Lösungsstrategien, sei es, um den historischen Ursprung eines Begriffs und die damit verbundenen Vorstellungen, bestimmte gesellschaftliche Organisationsformen, politische Konzepte etc. aufzusuchen.
IV. Zur Lernzielbestimmung
Die in den Mittelpunkt gerückte Lernzieldiskussion geht z. Z. von hypothetischen Setzungen aus, aus denen die allgemeinen Qualifikationen zur Bewältigung gegenwärtiger und zukünftiger Lebenssituationen ableitbar sind. Die Skepsis gegenüber den Möglichkeiten einer mittelfristigen Ermittlung dieser Qualifikationen auf wissenschaftlicher Grundlage hat dazu geführt, nach modifizierten Ansätzen zu suchen und von Einzelwissenschaften her deren spezifischen Beitrag zu den übergreifenden Richtzielsetzungen aufzuarbei -ten
Welchen spezifisch historischen Fragestellungen zum Verständnis der geschichtlich vorgegebenen und sich beschleunigt wandelnden Bedingungsfaktoren sowie zur Klärung und Lösung anstehender Aufgaben nachgegangen werden muß, kann gegenwärtig nur auf der Basis bestimmter Grundannahmen ohne empirische Verifikation festgelegt werden.
Ich entscheide mich daher vorläufig für einen pragmatischen Ansatz und übernehme die Richtzielbestimmung Für die Emanzipation. nähere Beschreibung dieser Leerformel schließe ich mich dem Vorschlag der Fischer-Gruppe, einer Unterkommission der Klafki-Kommission, an. Danach meint Emanzipation die vier Qualifikationsbereiche: 1. Fähigkeit, sich aus Abhängigkeiten zu befreien, 2. Fähigkeit zur Selbstbestimmung, 3. Fähigkeit zur Mitwirkung an gesellschaftlicher Befreiung, 4. Fähigkeit, befreit zu existieren und die Interdependenz dieser Qualifikationen Zur Bestimmung der Gegenwartssituation, zu deren Bewältigung bestimmte Qualifikationen erworben werden müssen, stütze ich mich auf die von H. v. Hentig formulierten Hypothesen Auf der Grundlage dieser Beschreibung von Lebenssituationen und der politischen Entscheidung für solche Lebenssituationen, die in der Zukunft bestehen sollen, werden Lernziele gesetzt, Bezugnorm ist die Kategorie Emanzipation.
Die Kategorie Emanzipation ist für den Bereich des Geschichtsunterrichts noch nicht selbstverständlich geworden. Sie zur Auseinandersetzung mit vernachlässigten Themenkreisen. Aufzuarbeiten ist, inwieweit der bisherige Unterricht sich mit den Möglichkeiten und Grenzen dieses Ziels auseinandergesetzt hat.
Der Stellenwert der „allgemeinen" Lernziele ist nicht so anzusetzen, daß die Fragestellung von selten der Fachdidaktiker nur noch darauf bezogen ist, das zu ermitteln, was vom Einzel-fach zu den allgemeinen Zielen beigetragen werden kann. Unter solchen Voraussetzungen wäre etwa der Geschichtsunterricht lediglich ein angewandter Lernbereich. Die fachspezifische Lernzielbestimmung kann und wird gegenüber den allgemeinen Lernzielen nicht nur die Funktion der Anwendung, sondern auch die der Korrektur wahrnehmen müssen, sei es, daß die von den Fächern her ermittelten Ziele die Voraussetzung für die Verwirklichung der allgemeinen Lernziele bilden, sei es, daß bei der Aufstellung der allgemeinen Lernziele wichtige Gesichtspunkte unberücksichtigt bleiben. So ist beispielsweise ein wichtiger Teil-beitrag der geschichtlichen Lernzielermittlung darin zu sehen, daß durch sie aufgrund der Analyse bestimmter historischer Konstellationen und vorgegebener Bedingungen die emanzipationsfördernden und -hemmenden Faktoren offengelegt werden können.
Die aufweisbaren Lebenssituationen sind zu ermitteln und zu strukturieren, um die für ihre Bewältigung notwendigen Qualifikationen auf der Grundlage bestimmter Daten und Grundannahmen setzen zu können. In unserem Zusammenhang kann es nur darum gehen, eine Auswahl von Zielen geschichtlich-politischer Lernprozesse auszuwerfen, um so die Richtung anzudeuten, in der weiterzuarbeiten ist. Die Ziele gelten prinzipiell gleichermaßen für alle Bildungsstufen. Die Differenzierung wird durch die Modifizierung der Methoden und des Materialangebots erreicht. Wir gehen von einem interdependenten Beziehungsgefüge zwischen historischer und politischer Bildung aus. Als spezifisches Grobziel für historisch-politische Bildung läßt sich nach den mitgeteilten Prämissen formulieren: Erfassen geschichtlicher (einschließlich zeitgeschichtlicher) Strukturen und Prozesse in ihrer politischen, ökonomischen, soziologischen, kulturellen und geographischen Interdependenz und Bedingtheit mit dem Ziel, die inhaltlichen und methodischen Qualifikationen zu erwerben, die zur Erkenntnis und Veränderung gegenwärtigen der Verhältnisse notwendig sind, um eine Gesellschaft zu schaffen, die ein größeres Maß an Entscheidungsraum, Selbstbestimmung, Mitbestimmung, Mitbeteiligung, Mitverantwortung, Interessenkonfrontation und Interessenaustragung in allen Bereichen ermöglicht.
Bei der Ausfächerung klassifizieren wir nach der Bloomschen Taxonomie. Ausdrücklich sei festgestellt, daß die kognitive Ebene nicht übergeordnet ist. Für die historisch-politische Bildung haben die affektiven Lernziele einen gleichhohen Stellenwert. Notwendige Voraussetzung ist die rationale Kanalisierung, d. h. die affektive Ebene muß rational hinterfragbar sein, darf nicht zu irrationalem Handeln führen.
Auswahl von Lernzielen:
1. Kognitive Lernziele:
1. 1 Fähigkeit, sich die eigene Bedürfnis-und Interessenlage bewußt zu machen;
1. 2 Fähigkeit, die eigene Position in ihren traditionsund situationsgebundenen Abhängigkeiten ständig zu analysieren und zu kritisieren; 1. 3 Fähigkeit, nach den wirtschaftlich, politisch, sozial, kulturell und ideologisch bedingten Interessen und Zielen handelnder Individuen und Klassen der Gegenwart und Vergangenheit zu fragen;
1. 4 Kenntnis der zeitgeschichtlichen und historischen Bedingungsfaktoren, die die jeweiligen Einstellungen begründen;
1. 5 Fähigkeit, gesellschaftliche, politische, wirtschaftliche, ideologische Fragen, Probleme, Tendenzen der eigenen Zeit zu erkennen und zu formulieren;
1. 6 Einsicht, daß die Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen, politischen, wirtschaftlichen, kulturellen Prozessen und ideologischen Posi27 tionen der Vergangenheit kein Selbstzweck ist, sondern die Funktion hat, Gegenwart tranparent und die Bedingungen für Veränderungen deutlich zu machen.
1. 7 Kenntnis der Interdependenz der das Handeln bedingenden ökonomischen, politischen, sozialen, kulturellen Faktoren.
1. 8 Fähigkeit, vom zeitgeschichtlichen Hintergrund aus nach dem geschichtlichen Hintergrund zu fragen, um eine sachadäquate Beurteilung der Gegenwart zu ermöglichen;
1. 9 Fähigkeit, das Geschehen der Gegenwart und Vergangenheit multiperspektivisch und nicht monoperspektivisch zu betrachten;
1. 10 Fähigkeit, ideologiekritisch zu arbeiten; 1. 11 Kenntnis der Ambivalenz der Tradition (retardierende/stabilisierende Wirkung — dy-namisierende/status quo ändernde Wirkung); 1. 12 Einsicht in das Verhältnis von Kontinuität und Diskontinuität, von Funktionalität und Disfunktionalität;
1. 13 Fähigkeit, das Besondere/Einmalige des Einzelfalles in den erweiterten Zusammenhang stellen zu können, um so aufgrund transferierbarer Kategorien zum Vergleich zu kommen;
1. 14 Fähigkeit, auf der Basis des Vergleichs zu differenzierten Aussagen zu kommen und kurzschlüssige Generalisierungen zu vermeiden; 1. 15 Fähigkeit zum kritischen Vergleich politischer, gesellschaftlicher, ökonomischer, kultureller Strukturen;
1. 16 Fähigkeit, Fragestellungen und Methoden der Sozialwissenschaften sachgerecht einsetzen zu können;
1. 17 Fähigkeit, politische Begriffe auf ihren Ursprungsort zurückführen zu können;
1. Kenntnis gesellschaftlicher, wirtschaftlicher, politischer, ideologischer Theorien, Grundkategorien, Begriffe der Gegenwart und Vergangenheit als Bedingung, die zeitgeschichtlichen Gegebenheiten transparent machen zu können;
1. 19 Fähigkeit, den Grad der Offenheit und Begrenztheit gesellschaftlicher, ökonomischer, politischer, kultureller Prozesse zu erkennen; 1. 20 Fähigkeit, Unterdrückung, Gewaltanwendung, Ungleichheit in Gegenwart und Vergangenheit zu erkennen, aufzudecken und alternative Lösungsstrategien zu durchdenken 1. 21 Kenntnis der Möglichkeiten und der Risiken bei der Durchsetzung von Interessen. 2. Aflektive Lernziele 2. 1 Bereitschaft, vor der Beurteilung politischen, wirtschaftlichen, sozialen Handelns und ideologisch bedingter Prozesse der Gegenwart und Vergangenheit die eigene Position zu reflektieren; 2. 2 Überzeugung von der Notwendigkeit politischer Selbstaktivierung;
2. 3 Bereitschaft, die im vorgegebenen Aktionsrahmen vorhandenen Chancen zur Aktivität aufzugreifen und Konsequenzen für den Solidarisierungsprozeß zu ziehen;
2. 4 . Bereitschaft, bei der Auswahl der Strategien zur Lösung von Problemen die Zweckmäßigkeit und Legitimität der Mittel zu beachten; 2. 5 Bereitschaft, die Auswahl der strategischen Mittel auf rationale Entscheidungen abzustützen; 2. 6 Bereitschaft, durch politische Aktionen Interessen zu vertreten;
2. 7 Bereitschaft, durch politische Aktionen Solidarität mit anderen sozialen Gruppen zu demonstrieren;
2. 8 Bereitschaft, die traditionsund situationsgebundenen Beurteilungskriterien der jeweils Handelnden zu erkennen;
Der Ansatz, von den angeführten gegenwartsbezogenen Lernzielen zu den Inhalten zu gelangen, hat bestimmte Konsequenzen für deren Auswahl. Unter dem Aspekt der Veränderung und des Wandels lassen sich — als Beispiele — folgende Bereiche nennen, aus denen für die Gegenwartsbewältigung relevante Themen auszuwählen sind 18): Familie, Schule, Beruf, Eigentum, Produktionsverhältnisse, Herrschaftsverhältnis/Abbau von Herrschaft, Revolution — Evolution, Krieg — Frieden, Industrialisierung, Säkularisierung, Ideologien, Vorurteile, Verhältnis Wirtschaft — Politik, Gesellschaftsordnung, Gesellschaftssysteme, Geschichtstheorien etc.
Vergleichen wir die angeführten Ziele im historisch-politischen Lernbereich mit den Zielsetzungen, die Didaktiker der politischen Bildung vertreten, so lassen sich bei den gegenwärtig führenden Vertretern dieser Gruppe bestimmte Schwerpunkte aufzeigen
Die in der politischen Bildung zu vermittelnden formalen Fähigkeiten, Einsichten, Einstellungen und Verhaltensweisen stehen unter dem übergeordneten Aspekt, Herrschaft und Unterdrückung zu erkennen und die Bereitschaft zu entwickeln, diese abzubauen.
Es geht nicht um die Identifikation mit den gegenwärtigen politischen, ökonomischen, sozialen, ideologischen Verhältnissen, sondern darum, vom ideologiekritischen Ansatz her die vorgegebenen Verhältnisse zu überwinden.
Unterschiedliche Konzeptionen bestehen in der Beurteilung des konflikttheoretischen Ansatzes, hinsichtlich des Problemkomplexes politische Bildung/politische Aktion, bezüglich eines festen Kanons unverzichtbarer Curriculumelemente. Die historische Dimension wird als eine Ziel-ebene anerkannt, ohne daß allerdings der genaue Stellenwert und der Zugang bzw. die Einbeziehung näher bestimmt würden.
Als wiederkehrende Hauptzielsetzungen sind zu nennen:
die Fähigkeit, das Ausmaß der Fremdbestimmung im privaten und öffentlichen Bereich zu erkennen und ihm entgegenzuwirken;
— , die gesellschaftlichen Ursachen der individuellen Lage aufzudecken, die eigenen Konzeptionen und Einstellungen zu überprüfen und die Interessen zu analysieren und bewußt zu machen;
— , die eigene Situation verständlich zu machen und Orientierung zu gewinnen;
— , Herrschaftsstrukturen und Machtverhältnisse in ihren politischen, wirtschaftlichen, sozialen, ideologischen Funktionen und Wirkzusammenhängen zu erkennen;
— , zu einer strukturell-funktionalen Betrachtungsweise zu gelangen, um Teilaspekte in ihren Gesamtzusammenhang einordnen zu können;
— , die vorgegebenen impliziten und expliziten Voraussetzungen der gesellschaftlich vorgegebenen Einstellungen, Wertorientierungen und Verhaltensweisen radikal zu hinterfragen; — , die vorgegebenen politischen, wirtschaftlichen, sozialen, ideologischen Verhältnisse kritisch zu prüfen, Ziele abzustecken und ein auf Veränderung zielendes Handeln zu projektieren; — , durch Analyse und Stellungnahme reflexives und aktives Engagement zu entwickeln;
—, Konflikte und Probleme aufzudecken und auszutragen, die in den Lebenssituationen Familie, Schule, Beruf, Freizeit, Konsumwelt bestehen. Die vergleichende Gegenüberstellung einiger Hauptziele historischer und politischer Lernprozesse läßt den starken Anteil an Uberein29 Stimmung und Gemeinsamkeit deutlich erkennen. Das Gemeinsame erstreckt sich auf die übergeordneten Zielsetzungen wie auf Teilbereiche: so die Bezugnahme auf die individuelle Interessenlage, die Ermittlung der vorgegebenen Bedingungen und Erwartungen, die Betonung der auf Veränderung und ideologie-kritische Aufklärung gerichteten Bestrebungen, die Hervorhebung der gesellschaftspolitischen Implikationen schulischen Lernens und der hohe Grad an Verantwortlichkeit gegenüber Gegenwart und Zukunft. Gegenüber der Auseinandersetzung mit Einzelfragen der Geschichte oder der politischen Verhältnisse wird die Erfassung der Struktur bevorzugt, um das Einzelne in seiner Beziehung zum Ganzen und seiner Wechselwirkung zu Teilbereichen der gesellschaftspolitischen Wirklichkeit sichtbar zu machen.
Trotz des Versuchs, mit Hilfe der Bloomschen Taxonomie ein stärkeres Gleichgewicht zwischen affektiven, kognitiven und psychomotorischen Lernzielen zu erreichen, dominieren z. Z. in den Zielsetzungen der historischen wie der politischen Bildung die analytischen Lernprozesse. Selbst wenn man der Tatsache Rechnung trägt, daß die Kategorie des Handelns, der Entscheidung und Aktion in der politischen Bildung einen zentralen Stellenwert einnimmt, so überwiegt selbst bei den Didaktikern der politischen Bildung die Auffassung, daß Aktion als Ziel in erster Linie als Propädeutik des Handelns zu verstehen ist.
Durch die hier unterstrichenen Parallelen soll das Unterschiedliche und stärker Trennende nicht übergangen werden. Während die historische Betrachtungsweise die geschichtlich bedingten Prämissen der Gegenwartsbewältigung, die Verknüpfung der Gegenwart mit der Vergangenheit betont, akzentuiert die politische Bildung bei geringerer Berücksichtigung der geschichtlichen Voraussetzungen, die Veränderung und Überwindung des Vorgegebenen. Von der historischen Betrachtungsweise her wird der Zusammenhang von Anpassung und Emanzipation nachdrücklicher zur Geltung gebracht als von der auf beschleunigte Emanzipation hin drängenden politischen Bildung. Ihr Vor-und Nachteil ist die für den Lernprozeß unvergleichbar höher anzusetzende primäre Erfahrung gegenüber der gewichtigen Rolle der sekundären Erfahrung in der Auseinandersetzung mit der Geschichte. Notwendig aber erscheint beides: unmittelbares Betroffensein als entscheidende emotionale Fundierung aktiven Engagements und Fähigkeit zur rational-kritischen Distanzierung.
V. Geschichtsunterricht zwischen Integration und Isolation
Die Diskussion der Frage, ob das bisherige Unterrichtsfach Geschichte als selbständiges, koordiniertes oder integriertes Fach im Angebot der Schule weiterbestehen soll, ist durch jüngere Beiträge von Vertretern der Geographie, der Politikwissenschaft, der Sozialkunde, der Wirtschaftslehre und der politischen Bildung um neue Aspekte erweitert worden.
Die vorläufigen Ergebnisse dieser Auseinandersetzung, die Forderungen der Curriculum-diskussion und das interne wissenschaftstheoretische Gespräch lassen es notwendig erscheinen, daß auch die Geschichtsdidaktiker erneut das Gespräch aufgreifen und sich bemühen, die zu Recht als unbefriedigend kritisierte additive Zusammenfügung der Fächer Geographie, Geschichte, Sozialkunde in der Gemeinschaftskunde zu überwinden.
Ein Blick auf die Curriculumrevision der angeführten Disziplinen zeigt, daß das Fadi Geographie ein erstes neues Konzept vorgelegt hat. Anstelle der Stofforientierung ist die Funktionsorientierung getreten, gefragt wird nach dem Beitrag des Geographieunterrichts zum Erwerb der Qualifikationen, die dem Lernenden bei der Bewältigung zukünftiger Lebenssituationen Hilfe leisten. Inhaltlich ist der Schwerpunkt von der Ländergeographie zur Sozialgeographie und raumwissensdiaftü chen Problemstellungen (z. B. Stadtplanung Verstädterung in Entwicklungsländern, Probleme von Weltstädten) verlagert So fördert der Zentralverband deutscher Geographen seit seiner im Februar 1971 durchgeführten Tagung „Wege zu veränderten Bildungszielen im Schulfach Erdkunde — Aufgaben und Möglichkeiten einer sozialwissenschaftlichen Geographie“ die Entwicklung eines sozialgeographischen Curriculumforschungsprojektes
Die Arbeitsgruppe Lehrpläne des Verbands der deutschen Schulgeographen hat 1971 Empfehlungen für die Sekundarstufe I und II vorgelegt, in denen die vorgeschlagenen Themen jeweils fächerübergreifenden und fachspezifischen Lernzielen zugeordnet sind. Greifen wir einzelne Lernzielbestimmungen heraus, so wird deutlich, daß hier die Neuorientierung auf die Kooperation und eine mögliche Integration mit anderen sozialwissenschaftlichen Fächern vom Ansatz her gelungen ist. Entsprechend lautet die Grobzielsetzung: „Erfassung räumlicher, gesellschaftlicher und politischer Strukturen und Prozesse in ihren raumwissenschaftlichen, soziologischen, ökonomischen, historischen und psychologisch-anthropologischen Aspekten und Grundlagen mit dem Ziel der Befähigung, selbständig Entscheidungen zu treffen und verantwortlich politisch zu handeln"
Die Ausfächerung auf kognitiver, affektiver und instrumentaler Ebene unterscheidet jeweils zwischen fächerübergreifenden Lernzielen im „gesellschaftlichen Aufgabenfeld" und den fachspezifischen, durch die der geographische Beitrag zur Erreichung der angestrebten Qualifikationen deutlich wird.
Diese Konzeption scheint geeignet, in die ge-schichtsdidaktisdie Diskussion einbezogen zu werden.
Als Integrationsfach stellt Harald Dibbern die Arbeitslehre vor Das neu eingeführte Unterrichtsfach soll auf die wirtschaftlichen, technischen, politischen und sozialen Bedingungen der Industriegesellschaft vorbereiten. Das Fach ist als „schulischer Fächerverbund", als „Kern/Kurssystem einer integrierten Sekundarstufe" und „didaktisches Bindeglied zwischen allgemeinbildender und beruflicher Schule" konzipiert. Auf der Grundlage des emanzipatorischen Ansatzes kommt Dibbern zu Leitund Rahmenzielsetzungen, die den fächerübergreifenden Ansatz deutlich werden lassen
Das Leitziel lautet: „Arbeitslehre als Ausdruck eines Erziehungsauftrages der allgemeinen Schulen hat . Wirtschaft’ als einen gesellschaftlichen und individuellen Bereich menschlicher Lebensführung zu erklären und den jungen Menschen mit Verhaltensweisen zu . begaben', die ihn befähigen, in diesem Lebensbereich als mündige Person zu bestehen". Im ersten Rahmenziel heißt es: „Wirtschaft ist stets als ein komplexer Prozeß zu begreifen, in dem ökonomische, technische und politisch-soziale Faktoren in einen mehr oder weniger engen und erkennbaren Wechselwirkungszusammenhang treten, den einzelnen Menschen vergesellschaften und ihn in den verschiedenen Situationen des öffentlichen Lebens betreffen."
Das Problem der Integration soll durch einen fächerübergreifenden Gesamtunterricht gelöst werden. Unter Fächerverbund wird die didak-tisch-methodische Kooperation mehrerer durch bestimmte Bezugswissenschaften charakterisierter selbständiger Fächer verstanden, weil die angestrebten — integrativ angelegten — Lernziele nur durch integrative Lerneinheiten verwirklicht werden können. Als Bezugs-wissenschaften werden genannt: Wirtschafts-und Ernährungswissenschaft, Ingenieurwissenschaft, Sozialwissenschaft und als korrespondierende Fächer: Wirtschaftslehre, Technik-lehre, Sozial-und Politiklehre
Das Fach Arbeitslehre wird durch diese Kern-fächer . gespeist'und bietet Kooperationsmöglichkeiten für Geschichte, Geographie und die Naturwissenschaften.
Der für das Fach Arbeitslehre entwickelte Ansatz ist von Seiten der angesprochenen Sozial-wissenschaften nach dem Verständnis von Kooperation zu befragen und in die Diskussion zur Entwicklung neuer Kooperationsmodelle aufzunehmen.
Die von den. Politikwissenschaftlern geführte Auseinandersetzung um Studienreform und Curriculumentwicklung macht ebenfalls die Abkehr von Stoff-zu lernzielorientierten Studiengängen deutlich und impliziert Konsequenzen für die schulischen Curricula Politikwissenschaft wird im Bezugsrahmen der Sozialwissenschaften gesehen. In diesem Zusammenhang wird die Möglichkeit der Koordination der bisherigen Einzeldisziplinen erörtert. Die Beiträge zur curricularen Revision der politikwissenschaftlichen Lernziele und Inhalte signalisieren die Notwendigkeit der Kooperation — möglicherweise der Integration — der den Sozialwissenschaften zugeordneten Einzel-disziplinen. Die vorliegenden Konzepte enthalten explizit oder implizit Überlegungen in dieser Richtung. Die Durchsetzung einer solchen Curriculumkonzeption auf Hochschul-ebene hätte direkte Konsequenzen für den schulischen Bereich.
Als weiterführender Beitrag zur Konzeptionsdebatte ist auch das auf dem Wissenschaftlichen Kongreß der Deutschen Vereinigung für Politische Wissenschaft 1971 von H. H. Hart-wich gehaltendes Referat „Perspektiven des Fachs Sozialkunde im Rahmen der Bildungsreform" zu bewerten Die Ausführungen von Hartwich sind auf dem Hintergrund seiner bildungspolitischen und didaktischen Entscheidungen zu sehen.
Die ins Stocken geratenen Reformbestrebungen werden in zwei Bereichen erörtert und weiterzuführen versucht: 1. im Hinblick auf die Schaffung einer integrierten Sekundarstufe und 2. in der Integration bisher nebeneinander bestehender Fächer im Rahmen eines . schulischen Fachbereichs'. Unter Ablehnung der noch immer vorherrschenden Stofforientierung rückt er den problemorientiert-exemplarischen Aspekt in den Vordergrund: die Ausbildung der Lehrer soll den „allgemein gesellschaftlichen Erziehungsauftrag" stärker berücksichtigen. Als einen der aufzuarbeitenden Bereiche nennt er die Bestimmung der Zielsetzung des Einzel-faches im Rahmen des gesellschaftlichen Erziehungsauftrages und -Zieles. Für den Gesamtbereich der politischen Bildung fordert Hart-wich daher eine stärkere Verzahnung der Fächer Sozialkunde, Geschichte, Erdkunde u. ä. Fächer in der Lehrerausbildung. Diese Revision des Hochschulcurriculums könnte gegenwärtig den Unterricht in Gemeinschaftskunde /Politische Weltkunde effektiver machen. In Zukunft sei ein Curriculum zu entwickeln, durch das die für den Unterricht in einem Fachbereich Gesellschaftslehre notwendigen Qualifikationen erworben werden können. Sozialkunde als Integrationsfach ist auch Inhalt eines am 15. Juni 1971 im Fachbereich Politische Wissenschaft an der FU Berlin gehaltenen „Sozialkundehearing"
Im Unterschied zu diesen Vorstellungen lehnt R. Schörken die Integration der an der politi-sdien Bildung beteiligten Fächer Geschichte, Sozialkunde, Politik und Erdkunde ab Statt dessen schlägt er eine Koordination dieser Fächer vor. Diesen Ansatz hält er auch aus organisatorischen Gründen für den realistischeren. Der Gefahr der Isolierung des Einzelfaches will er durch eine zusammenfassende „organisatorisch — didaktische Klammer" entgegenwirken. Als Voraussetzung für das Gelingen dieser Zusammenfügung eines Faches „Gesellschaftslehre" oder „Soziale Studien" o. ä. aus den Disziplinen Geschichte, Politikwissenschaft, Geographie, Soziologie, Wirt-
fordert er die „Verselbständigung, schaftslehre Stärkung und Präzisierung des Faches Politik, d. h.seine Loslösung aus der erdrückenden Umarmung der Geschichte" (S. Der anregende Beitrag sollte die Geschichtsdidaktiker zur Erarbeitung eines konkurrierenden Modells herausfordern. Wieweit der Ansatz für den Geschichtsdidaktiker mitvollziehbar ist, wird sich nicht zuletzt an der notwendigen Präzisierung und inhaltlichen Bestimmung von Geschichte entscheiden. Sofern in diesem Verständnis die Zeitgeschichte ausgeschlossen und der Politik zugeschlagen würde, wäre das Fach Geschichte abgehängt und geriete in die Isolation. Unabhängig davon, ob Koordination oder Integration intendiert ist, muß zunächst für jedes der beteiligten Fächer gleichermaßen eine didaktische Neuorientierung, Ortsbestimmung und Revision durchgeführt werden.
Untersucht man die Positionen der einzelnen Geschichtsdidaktiker, so wird überwiegend die Forderung nach einem eigenständigen Unterrichtsfach Geschichte vertreten, um den spezifisch historischen Fragestellungen und Methoden gerecht zu werden. Andererseits wird durchgängig die Wechselbeziehung und Einheit zwischen Geschichte und Politik betont, ohne damit allerdings einen Alleinvertretungsanspruch für den politischen Unterricht zu behaupten 31). Wenngleich der besondere Stellen-wert der Zeitgeschichte anerkannt und unterstrichen wird, weist man jedoch mit Blick auf die Inhalte der politischen Bildung auf die Gefahr einer Überbetonung des Gegenwartsbezuges im Sinne des . Präsentismus'hin. Ausgegangen wird von einer Einbeziehung der historischen Dimension im politischen und sozialkundlichen Unterricht, die zu einseitig und verkürzt bei der neuesten Geschichte und der Zeitgeschichte stehen bleibe und die historische Perspektive nicht tief genug auslote.
Wenn Eigenständigkeit beansprucht wird, so müßte die bisherige Begründung überprüft und eine Konzeption entwickelt werden, nach der ein historischer Unterricht erfolgt, der sich nicht der Gefahr der Isolation vom politischen und sozialkundlichen Unterricht aussetzt und bereit ist, die chronologische Verknüpfung von Einzelthemen aus der deutschen, europäischen und universalen Geschichte aufzugeben und die Auswahlkriterien neu zu bestimmen.
Zu fragen ist ferner, in welcher Weise die Aufarbeitung der historischen Dimension im Sozialkundeunterricht einerseits und Geschichtsunterricht andererseits voneinander abgegrenzt oder aufeinander abgestimmt bzw. bezogen sein soll.
Zu klären ist in diesem Zusammenhang auch, für welche Bildungsstufen schwerpunktmäßig ein eigenständiger Geschichtsunterricht gefordert wird.
Die in einzelnen Bundesländern ablesbaren Entwicklungen lassen erkennen, daß der geschichtliche Aspekt auf der Sekundarstufe I vertreten ist, jedoch auf der Sekundarstufe II schwerpunktmäßig gegenüber der Sozial-kunde zurücktritt (zum Beispiel in Nordrhein-Westfalen). Das entgegengesetzte Modell, das in Bundesländern wie Niedersachsen und Hessen erprobt wird, knüpft an die sozialen Studien der Primarstufe durch ein gesellschafts-kundlich ausgerichtetes Fach in der Sekundarstufe I an. In die neu konzipierten und z. T. noch in Arbeit befindlichen Curricula ist die historische Komponente jeweils thematisch einbezogen, z. B. in der Themeneinheit Produktionsformen oder Herrschaftsstrukturen. Wenn von mir der integrative Ansatz vertreten wird, so ist damit primär beabsichtigt, eine Konzeption anzubieten, die sich als eine mögliche Konsequenz aus dem veränderten Stand der geschichtswissenschaftlichen und geschichtsdidaktischen Diskussion ergibt. Sie stellt eine Alternative zu den bisher praktizierten Ansätzen dar, die ausgehend von der Reduktion des Stoffes versuchten, mit Hilfe eines problemorientierten, exemplarisch-thematischen Geschichtsunterrichts das jeweils Epochale herauszuarbeiten. Dabei überwog trotz Betonung des Thematischen das chronologische Verfahren, wie es der Aufbau der Lehrbücher erkennen läßt. Die jeweilige Bedeutung für die . Gegenwart'wurde durch Verweise hergestellt Die diachronische Behandlung bestimmter, zum Verständnis und zur Veränderung der Gegenwart unverzichtbarer Problemstellungen stellte keineswegs den Regelfall dar, sondern blieb die Ausnahme, obwohl diese Möglichkeit von den Richtlinien her gegeben ist.
Gegenwärtig besteht eine wohl kaum bestrittene Diskrepanz zwischen den Erwartungen an einen exemplarisch-thematischen Geschichtsunterricht und dem erzielten Ertrag. Er besteht in der faktisch nicht erfolgten Grundlegung eines für das politische Denken und Handeln bestimmenden Geschichtsbewußtseins und der unzureichend ausgebildeten Fähigkeit, die individuellen und kollektiven geschichtlichen Bedingungsfaktoren zu erkennen und sich an ihnen zu orientieren, um auf diese Weise die für die Zukunft gestellten Aufgaben und den jeweils gegebenen Handlungsspielraum wahrnehmen und ausschöpfen zu können.
Den in unseren Schulen praktizierten Formen der Kenntnis-und Problemvermittlung ist es bisher nicht gelungen, durch Geschichtsunterricht historisch-politisches Verstehen von Wirkzusammenhängen, Urteils-und Entscheidungsfähigkeit, reflexives und vor allem aktives Engagement zu schaffen.
Gewiß bleibt zu prüfen, ob sich ein grundlegend modifizierter Ansatz als tragfähiger und effektiver erweist, aber angesichts der seit Jahren kritisierten und z. T. durch empirische Untersuchungen nachgewiesenen Defizite des Geschichtsunterrichts sind neue Konzepte zs entwickeln und zu erproben, um auf diesem Wege zu einem Ergebnis zu kommen, das den Bedürfnissen und Erwartungen der Lernenden wie auch dem gesellschaftlichen Erziehungsauftrag der Schule hinreichend Rechnung trägt.
Es geht im Rahmen dieser Erörterungen nicht um den Versuch eines vordergründig pragmatischen Ansatzes, der lediglich auf Aktualität und Modernität gerichtet ist. Das Bemühen zielt darauf ab, das für die individuelle und kollektive Standortgewinnung, für politisches Urteil und Engagement erforderliche Geschichtsbewußtsein zu ermöglichen, um den Lernenden nicht voraussetzungs-und orientierungslos den rasch wechselnden Konstellationen der Gegenwart zu überlassen. Zur Gewinnung des eigenen Standortes ist es erforderlich, Bedingungsfaktoren und Spielraum für Wandel und emanzipative Veränderung zu erfassen und zugleich die Standortgebundenheit individueller und kollektiver Existenz anzuerkennen. Ob Veränderungen als gleichsam zwangsläufig und unabwendbar hingenommen werden, oder ob Ursachen, Wirkzusammenhänge, versäumte oder durch bestimmte Machtkonstellationen verhinderte Aktivitäten gesehen, Vorurteile, Einstellungen und Wertorientierungen ideologiekritisch hinterfragt werden, ist entscheidend für den Grad der Einsicht in Veränderung und Veränderbarkeit. Es genügt nicht, in Ausschnitten mit Vergangenheit und Gegenwart bekannt zu machen. Zweifellos ist es möglich, im Jugendalter Neugier bzw. Interesse an der Vergangenheit zu entwickeln, doch verbindet sich damit unaufhebbar die Frage nach den Zwecken und Zielen. Die Ziele müssen für den Schüler durchschaubar sein, so daß er von seinen primären Erfahrungen ausgehen kann, um sich von daher den Zugang zu den sekundären Erfahrungen der Gegenwart und Vergangenheit zu erschließen und sich der unmittelbaren und mittelbaren Betroffenheit vom und Teilhabe am Zeitgeschehen bewußt zu werden. Die Aufarbeitung der historischen Dimension sollte i Gegenwartsgeschehen ansetzen und sich durch den Rückgriff in die Geschichte von ihm distanzieren, um die aus dem vergangenen Geschehen sich abzeichnende Kontinuität und Diskon tinuität, Einmaligkeit und Regelmäßigkeit in den Erschließungsvorgang einzubringen.
Wird hier vorgeschlagen, die Auseinandersetzung mit historischen Fragestellungen in ein gesellschaftskundliches Unterrichtsfach zu integrieren, so unter der Bedingung, daß die historische Dimension nicht verkürzt wird, sondern in der Weise zur Geltung kommt, daß die oben genannten Ziele realisiert werden können und der Interdependenz zwischem Historischem und Gegenwärtigem in der Verflechtung von Politik, Gesellschaft, Wirtschaft und Kultur Rechnung getragen wird. Die permanente Wahrnehmung dieser Wechselbeziehung, der Zusammenhang zwischen Entschiedenem und zu Entscheidendem erfordert veränderte Inhalte und Kenntnis der unterschiedlichen Fragestellungen und Methoden in Ausbildung und Unterricht.
Im Hinblick auf die gesetzten Lernziele und die Sachstruktur der Inhalte erscheint es mir nicht vertretbar, Geschichte, Zeitgeschichte und politische Bildung voneinander zu trennen. Ge-schichtsund Politik-Lehrer betonen beide ihre Zuständigkeit für die Zeitgeschichte. Fällt diese jedoch durch politische Entscheidung den Politik-Lehrern zu, so kann kaum ein Zweifel daran bestehen, daß ein auf die Geschichte der Antike, des Mittelalters und der Neuzeit verwiesener Unterricht in eine Isolation gedrängt wird, die diesem Schulfach den Charakter eines weitgehend formalen Bildungsfaches zuweist. Die Aufarbeitung der geschichtlichen Dimension sollte jeweils dort erfolgen, wo sie thematisch ansteht. Das schließt nicht aus, — ja es ist vielmehr zu befürworten — daß zur Vorbereitung und Intensivbehandlung der historischen Dimension Kern-und Zusatzkurse anzubieten sind.
Daraus ergeben sich bestimmte Konsequenzen für den Aufbau der Studiengänge in der Lehrerbildung. Das Studium muß sich aufgliedern in Grundkurse und Schwerpunktbildungen. Im Schwerpunkt sollte eine der Fachdisziplinen Politik, Wirtschaft, Soziologie, Geographie, Geschichte studiert werden, jeweils bezogen auf das gesellschaftskundliche Curriculum der Schule. In den Grundkursen hat die Einführung in die sozialwissenschaftlichen Fragestellungen und Methoden zu erfolgen. Geschichtswissenschaftliches Studium kann also einerseits Schwerpunkt, andererseits Teilaspekt sein.
Die Geschichtsdidaktische Diskussion sollte sich darauf konzentrieren, komplementäre und konkurrierende Ansätze zu entwickeln, die über die Kooperation zur Integration führen.
VI. Thesen
1. Die wissenschaftstheoretische und fachdidaktische Diskussion hat einen Stand erreicht, der die Auseinandersetzung mit den anderen gesellschaftswissenschaftlichen Disziplinen und deren didaktischen Ansätzen ermöglicht. 2. Das klassische Unterrichtsfach Geschichte sollte nicht nur partiell modifiziert, sondern in ein neu zu konzipierendes Fach Gesellschaftskunde o. ä. aufgenommen werden. 3. Dadurch wird der Stellenwert der historischen Dimension deutlicher, als es bei einer Trennung der Fächer Geschichte und Politik möglich ist. Es geht also nicht darum, das Spezifische der historischen Fragestellung aufzugeben, sondern vielmehr darum, es im Kontext zu erhalten. Es kann nicht genügen, von der historischen Dimension der politischen Bil-düng zu sprechen, ohne deren Einbezug und Stellenwert festzulegen. 4. In Kooperation mit den benachbarten gesellschaftswissenschaftlichen Fächern sollten aufgrund einer Lernziel-und Funktionsorientierung die Curriculumelemente ermittelt und auf der Grundlage eines neuen integrativen didaktischen Ansatzes ein offenes Curriculum erarbeitet werden. 5. In das Unterrichtsfach Gesellschaftskunde sollten Inhalte aus den bisherigen Fächern: Politik, Wirtschaft, Soziologie, Geographie, Geschichte integriert werden.
Neben dem integrativen Unterricht sind Unterrichtseinheiten bzw. Kurse vorzusehen, die im Rahmen der anstehenden Problematik politische, wirtschaftliche, soziologische, geogra35 phische, historische Einzelperspektiven systematisch aufarbeiten. 6. Für die Durchführung des Unterrichts sind Formen des Teamwork und Gruppenarbeit einzuüben. 7. Für den Studiengang ist folgende Konzeption denkbar: Schwerpunktstudium in einem der Fächer Politik, Wirtschaft, Soziologie, Geographie, Geschichte; Einführung und Einarbeitung in Methoden und Fragestellungen der übrigen Fächer, soweit sie für die gesellschaftspolitischen Inhalte relevant sind; so wäre beispielsweise für jeden Studierenden die Einarbeitung in Teilbereiche der Geschichtswissenschaft verbindlich. 8. Kurzfristig sollte ein Kooperationsansatz für die Fächer Politik, Wirtschaft, Soziologie, Geographie, Geschichte erarbeitet werden, der die Ubergangsphase zu dem neu zu konzipierenden Unterrichtsfach Gesellschaftskunde ausfüllt und die Integration vorbereitet. 9. Die in den Thesen vorgelegten Vorschläge sollten nicht als Dolchstoß für den Geschichts-unterricht abgetan und von vornherein zurück, gewiesen werden. Es geht darum, Ansätze und Modelle zu erproben, die zu alternativen Konzeptionen führen. 10. Folgende didaktische Bereiche bedürfen dringend der Aufarbeitung:
10. 1 Lerntheorie 10. 2 Fragen der Reduktion 10. 3 Lernzieldiskussion 10. 4 Politische Sozialisation 10. 5 Diskussionsstand der internationalen Curriculumforschung 10. 6 Integration oder Kooperation des Geschichtsunterrichts 10. 7 Information über laufende Projekte empirischer Unterrichtsforschung im Bereich historisch-politischer Bildung
Anhang:
Die politische und pädagogische Funktion des Geschichts-und Sozialkundeunterrichts Der Bund Freiheit der Wissenschait veranstaltete im Januar eine Arbeitstagung unter dem Thema „Schulkrise, Schulreform und Lehrer-bildung". Wir veröffentlichen im folgenden auszugsweise das Arbeitspapier der von Professor Dr. Thomas Nipperdey geleiteten Arbeitsgruppe Geschichte und Sozialkunde“.
Fast allgemein ist in der Bundesrepublik die Tendenz zur Verdrängung des Faches Ge-
schichte aus der Oberstufe und neuerdings auch aus der Mittelstufe der Schulen zu be-
obachten. Die Einbeziehung historischer Perspektiven und Gegenstände in den Sozialkundeunterricht, die zumeist willkürlich bleibt und auf das 19. und 20. Jahrhundert beschränkt ist, bietet dafür keinen Ausgleich. Damit droht eine Verarmung — Golo Mann sprach von einer Barbarisierung der Erziehung —. Darüber hinaus gehen zwei wesentliche politisch-pädagogische Funktionen des Geschichtsunterrichts, die Relativierung ideologischer Absolutheitsansprüche und die Befähigung zum Verstehen fremder Gesellschaften und Kulturen, verloren. Darum ist zu fordern, Geschichte als eigenständiges Fach neben Sozialkunde beizubehalten.
Von seifen der Neomarxisten droht da, wo das Fach Geschichte noch besteht, durch Auswahl und Behandlungsart eine massive Ideologisierung. Das ist nicht nur in den Plänen und Aktionen von Studentengruppen zur Umfunktionierung des Universitätsunterrichts im Fadi Geschichte zu einer versimpelten Institutionenkritik und zur Rechtfertigung der „Systemüberwindung" festzustellen, sondern auch schon bei Gruppen von Referendaren.
Das Fach Sozialkunde hat bisher die ihm zugedachte Aufgabe nicht bzw. nur unzureichend erfüllt. Es führt — von seiner Entstehung her orientiert eher auf Haltung und Gesinnung — nicht in dem erforderlichen in konkrete die Wirklichkeit unserer staatlich-verfassungsmäßigen Ordnung, in Institutionen, in Recht und Wirtschaft ein. Die unserer Verfassung zugrunde liegende Wertordnung wird selten überzeugend dargestellt. Das Fach ist, seiner selbst unsicher, in ganz besonderem Maße dem gegenwärtigen Anstrum „systemüberwindender" Ideologien ausgesetzt. Die Problematisierung und Infragestellung auch des Minimalkonsensus, auf dem unsere politisch-soziale Ordnung beruht, hat eindeutig Priorität, Darstellung und Einführung treten zurück. Neueste Schulbücher und auch Fernsehsendungen haben nur zu oft die Tendenz, Indoktrination im Sinne der Neuen Linken an Stelle von sachlicher Aufklärung zu leisten.
Die Ausbildung der künftigen Lehrer an den Universitäten liegt in beiden Fächern, zumal im Fach Sozialkunde, für das es keine eigene Wissenschaft gibt, im argen. Die bisherigen Maßnahmen von Regierungen und Parlamenten haben das wichtigste Stück einer Hochschulreform, die Studienreform, nicht weitergebracht. Ausbildung und Prüfung müssen einander stärker zugeordnet werden. Klare, sachbezogene und nicht tendenziös politisierte Studiengänge, die Freiheit der Bildung mit Verbindlichkeit von Ausbildung kombinieren, müssen geschaffen werden.
Didaktik hat eine wichtige und allzulang verkannte Funktion in der Ausbildung künftiger Lehrer; das gilt vor allem für die Fachdidaktik. Dieser Funktion muß auch die fachliche Ausbildung an den Universitäten mehr als bisher Rechnung tragen. Gegenwärtig ist aber die schon in ministerielle Planungen hineinreichende Tendenz der Neuen Linken, die Didaktik aus einer Hilfswissenschaft zu einer von jedem Fach gelösten Zentralwissenschaft zu machen, die über alle anderen Wissenschaften und ihre Funktion entscheidet, ja über Forschungsziele und Gegenstände des Universitätsunterrichts, sehr stark. Die Planungen einiger sogenannten „reformierter" Universitäten zur Errichtung von didaktischen Zentral-instituten laufen darauf hinaus, endlich die Lehrerbildung ideologisch steuern und gleich-schalten zu können. Hier entsteht ein Tummelplatz für Dilettanten und Ideologen. (HPI — Hochschulpolitische Informationen, Nr. 5/1972)
Kurt Gerhard Fischer, Dr. phil., Prof, für Didaktik der Gesellschaftswissenschaften an der Universität Gießen, geb. 1928. Buchveröffentlichungen zur Politischen Bildung: (gemeinsam mit K. Herrmann und H. Mahrenholz) Der politische Unterricht, 19652; Fr. W. Foerster: Schriften zur politischen Bildung (Hrsg.), 1964; Politische Bildung — eine Chance für Demokratie, 1965; Polytechnische Erziehung (Hrsg.), 1970; Politische Bildung in der Weimarer Republik (Hrsg.), 1970; Zur Praxis des Politischen Unterrichts (Hrsg.), 1971; Einführung in die Politische Bildung, 197 12; verantwortl. für die Schulbücher: Politische Bildung, 1967 ff.; Gesellschaft und Politik, 1971; Herausgeber (gemeinsam mit Rolf Schmiederer) der Reihe , Theorie und Geschichte der Politischen Bildung’. Joachim Rohlfes, Dr. phil., Professor für Politische Bildung und Didaktik der Geschichte an der PH Westfalen-Lippe, Abt. Bielefeld; geboren 1929. Veröffentlichungen zur Didaktik des historischen und politischen Unterrichts sowie zur neueren Geschichte, u. a.: Historische Gegenwartskunde (1970), Umrisse einer Didaktik der Geschichte (1971), Politische Weltkunde für das 11. bis 13. Schuljahr (1970 ff.). Ernst-August Roloff, Dr. phil., Dipl. -Psych., Wiss. Rat u. Professor für die Wissenschaft von der Politik an der Universität Göttingen, geb. 1926. Veröffentlichung u. a.: Bürgertum und Nationalsozialismus 1930— 1933, Hannover 1961; Braunschweig und der Staat von Weimar, Braunschweig 1964; Was ist und wie studiert man Politikwissenschaft, Mainz 1969; Exkommunisten, ihr Leben und ihr Bruch mit der Partei in Selbstdarstellungen, Mainz 1969; Erziehung zur Politik. Eine Einführung in die politische Didaktik, 1. Band, Göttingen 1972; mehrere Beiträge in „Aus Politik und Zeitgeschichte" und Unterrichtsmodelle in der Reihe „Politische Bildung"; zahlreiche Aufsätze zur Zeitgeschichte und Didaktik des politischen Unterrichts. Hans Süssmuth, Dr. phil., Prof, für politische Bildung und Didaktik der Geschichte an der Pädagogischen Hochschule Rheinland, Abteilung Neuß, geb. 1935. Veröffentlichungen u. a.: Studien zur Utopie des Thomas Morus. Ein Beitrag zur politischen Theorie des 16. Jahrhunderts, RST Bd. 95, Münster 1967; Idee und Wirklichkeit des Heiligen Krieges, in: Internationales Jahrbuch für Geschichtsunterricht 10/1967; Geschichte der Volksrepublik China. Didaktischer Entwurf, in: Aus Politik und Zeitgeschichte B 33/1967; Beiträge in: H. Krieger (Hrsg.), Handbuch des Geschichtsunterrichts Bd. 1, Frankfurt 196951 Mitarbeiter in: B. Wiegand (Hrsg.), Gemeinschaftskunde in Unterrichtsmodellen I und II, Frankfurt 1969; Kriegsideologie-Barriere des Friedens, in: Saeculum 22/1971; Lernziele und Curriculumelemente eines Geschichtsunterrichts nach strukturierendem Verfahren, in: Lernziele und Stoffauswahl im politischen Unterricht, Schriftenreihe der Bundeszentrale für politische Bildung 93, Bonn 1972; (Hrsg.) Zukunft ohne Geschichtsunterricht? Zum Diskussionsstand der Geschichtsdidaktik in der BRD, Stuttgart 1972.
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