Der Aufsatz unternimmt es, nachzuweisen, daß der Frieden eine bestimmte Struktur der gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse voraussetzt, daß aber diese Struktur in Europa zwischen Ost und West bis jetzt noch nicht geschaffen worden ist. Die Verträge von Moskau und Warschau sowie das Berlinabkommen und die gegenwärtigen innerdeutschen Verhandlungen sind insofern wichtig, als sie gewisse Probleme, die der Zweite Weltkrieg hinterlassen hat, klären und den territorialen Status quo bestätigen; zur Schaffung einer Friedensstruktur können sie allein jedoch nicht beitragen. Verhandlungen über eine Rüstungskontrolle können nur dazu helfen, das Rüstungsgleichgewicht zu festigen; Abrüstungsverhandlungen waren bis jetzt ein Fehlschlag und werden das weiterhin sein, solange nicht die gegenwärtige Struktur des Nicht-Friedens verändert ist. Obwohl der Handel zwischen Ost und West zunimmt, besitzt er immer noch die unausgeglichene Tendenz, daß Rohstoffe und Nahrungsmittel vom Osten gegen industrielle Fertigwaren aus dem Westen eingehandelt werden. Mehr noch, mit der raschen Integration und Expansion der Europäischen Gemeinschaften hat ein „Integrationswettlauf“ eingesetzt, der auch den Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe verfestigt. Es besteht die Gefahr, daß dieser Wettlauf die gesamteuropäische Zusammenarbeit zu sehr schwächen wird, um einen friedenssichernden Effekt haben zu können. Es gibt noch viele Möglichkeiten, die für eine verbesserte und bedeutsamere Zusammenarbeit in Ost und West genutzt werden könnten. Vor allem aber sollte gemeinsam über die Zukunft der europäischen Wirtschaftssysteme und eine aktive, friedliche Koexistenz diskutiert werden.
I. Einleitung
Nadi zwei Jahrzehnten des Patts in Europa, in denen der österreichische Staatsvertrag von 1955 das einzige bedeutsame Ereignis war, das von den Positionen des Kalten Krieges wegführte, hat die europäische Lage in den letzten vier oder fünf Jahren eine erhebliche Dynamisierung erfahren. Europa ist irgendwie im Aufbruch. Aber ist dies ein Aufbruch zum Frieden? Offensichtlich hängt das sowohl davon ab, welchen Begriff von „Frieden" man hat, als auch davon, welche Vorstellung von der Natur der europäischen Dynamik man sich macht. Dies soll hier im Rückgriff auf die in dem Buch „Co-operation in Europe" entwikkelten Thesen erörtert werden.
Eine Hauptthese des genannten Buches lautet, daß Frieden nicht nur absentia belli, sondern auch Abwesenheit von Ausbeutung — ökonomischer, politischer, militärischer, kultureller — eines jeden einzelnen durch den anderen ist. Für „Abwesenheit von Krieg", einschließlich der Abwesenheit von Drohung mit und Furcht vor Krieg, wird häufig ein anderer, moderner Begriff gebraucht: Sicherheit. Frieden ist ein umfassenderes und ehrgeizigeres Ziel; folglich ist „Friedensforschung" wesentlich umfassender als „Sicherheitsforschung". Frieden ist mehr als überleben: er beinhaltet die autonome und gerechte Entfaltung aller Teile eines Ganzen nach deren Neigung, bis hinunter zur autonomen Entfaltung des Individuums, welches stets die Grundeinheit und der alleinige Adressat politischen Strebens ist.
Unsere Hauptthese lautet also, daß Frieden und daß diese Struktur eine Struktur besitzt sich bis zum gewissen Grade selbst festigt. Sie ist sowohl Mittel zum Frieden als auch Frieden selbst. Frieden ist kein Zustand; er ist ein Kampf, ein Streit, ein Prozeß zur Entwicklung und Erhaltung dieser Struktur. Einige Elemente dieser Struktur lassen sich in Form von Arbeitshypothesen erfassen. Wir haben sie in dem obengenannten Buch aufgestellt und wiederholen sie hier zur Information
1. Symbiose — das Ausmaß, in dem eine tatsächliche Interdependenz der einzelnen Teile besteht, die so weit geht, daß eine Schädigung des Nachbarn eigenen Schaden bedeutet.
2. Symmetrie — das Ausmaß, in dem diese Interdependenz symmetrisch ist, so daß jeder einzelne gleich stark vom anderen abhängt, keine Seite mehr als die andere profitiert, keine Partei die andere beherrscht oder ausbeutet. 3. Homologie — das Ausmaß, in dem die Parteien strukturell gleichartig sind, so daß die Interdependenz erleichtert wird, da jeder einzelne stets seinen Gegenspieler auf der anderen Seite finden kann.
Entropie — das Ausmaß, in dem die Parteien sich in ihren Beziehungen zueinander vermischen und verflechten, und zwar nicht nur große Mächte untereinander, sondern große mit kleinen, kleine mit kleinen; nicht nur Regierungen untereinander, sondern staatliche mit privaten, private mit privaten Institutionen (wobei „privat" hier als „nicht-ministeriell" definiert ist).
Transzendenz — das Ausmaß, in dem ein übergeordneter Akteur gefunden wird, zum Beispiel ein zwischenstaatliches Gremium, in welchem die Parteien sich treffen, beraten, verhandeln, entscheiden, Konflikte lösen können etc.
Diese sogenannte Friedensstruktur setzt keineswegs die Konvergenz der beiden unterschiedlichen Systeme in Europa voraus, doch möchte man vielleicht auf sie Bezug nehmen. „Zentralverwaltungs" -und „Markt" -wirtschaft sind wohl die treffendsten Begriffe; wir bevorzugen jedoch die kürzeren Bezeichnungen „Sozialismus" und „Kapitalismus“, da sie die gängigen sind. Es wird also keine Konvergenz, sondern lediglich eine nicht-ausbeuterische, beiden Seiten nützende Interdependenz der Systeme vorausgesetzt. Damit sich aber diese Art der Interdependenz entwickeln kann, muß sie auf einer minimalen strukturellen Gleichartigkeit (Homologie) aufbauen, eine Bedingung, die in Europa schon weitgehend erfüllt ist: In beiden Systemen gibt es primäre, sekundäre und tertiäre Wirtschaftssektoren, gibt es Industrien, Erzeuger und Verbraucher, sowie „Fachkräfte" (Professionals). Einige Elemente des Produktionsprozesses sind heterolog, doch wiegen sie im Verhältnis zur überwältigenden Gleichartigkeit schon deshalb gering, weil die europäischen Staaten sämtlich Industriestaaten sind, „moderne" Gemeinwesen, die derselben europäischen Szenerie entstammen.
Aber selbst wenn man diese Gleichartigkeit, die es allen Staaten Europas ermöglicht, in denselben zwischenstaatlichen Organisationen sinnvoll mitzuwirken 4), als gegeben ansieht, ist der Weg zu einer Symbiose mit Symmetrie nicht leicht. Darüber hinaus zeigen die beiden letztgenannten Bedingungen oder Annahmen, daß dies nicht nur eine bilaterale Angelegenheit zwischen Regierungen, speziell zwischen Regierungen großer Staaten, sein kann. Audi Regierungen kleiner Staaten und „Nicht-Regierungen" müssen aktiv und sinnvoll in ein engmaschiges, komplexes Netz von Beziehungen hineingenommen werden. Es muß auch ein starkes multilaterales Element vorhanden sein, damit die Konflikte offen und auf breiter Basis artikuliert und möglicherweise auch mit allen in einem umfassenderen Rahmen verfügbaren Mechanismen gelöst werden können. So verweist die Bedingung der „Entropie“ auf die Einbeziehung jeder einzelnen Regierung unterhalb der Ebene der großen Staaten und die Bedingung der „Transzendenz" auf die Notwendigkeit eines über den einzelnen Regierungen stehenden Gremiums.
Die fünf obengenannten Punkte vermitteln eine Vorstellung davon, was aktive iried-liehe Koexistenz bedeuten könnte. Die derzeitigen europäischen Gegebenheiten sind davon weit entfernt, und es ist auch keineswegs klar, ob Europa sich überhaupt in diese Richtung bewegt. Das Nachkriegseuropa hat bislang eine Struktur, die sich mit „weder Frieden noch Krieg" beschreiben läßt — Unfrieden oder „Friedlosigkeit“ 5) wäre der richtige Ausdruck. Entfernt sich Europa heute von dieser Struktur der Friedlosigkeit, ist es auf dem Wege zu einer Struktur des Friedens?
II. Drei falsche Ansätze
Abbildung 2
— Schaubild 1 — Zwei Modelle der gesamteuropäischen Kooperation Erstes Modell Drittes Modell gesamteuropäische Ebene subregionale Ebene Ebene der einzelnen Staaten
— Schaubild 1 — Zwei Modelle der gesamteuropäischen Kooperation Erstes Modell Drittes Modell gesamteuropäische Ebene subregionale Ebene Ebene der einzelnen Staaten
Zunächst sollen drei falsche Ansätze bei der Suche nach Frieden in Europa erörtert werden, die alle auf die eine oder andere Weise die Negation der oben beschriebenen Friedens-struktur darstellen: 1. Abschreckung. Wie immer man zu der möglichen Unvermeidbarkeit oder Notwendigkeit von Abschreckung im Nachkriegseuropa steht, es scheint heute ein relativ hohes Maß an Konsens darüber zu bestehen, daß Abschreckung auf die Dauer keine Lösung ist — zumindest njeht als alleinige Grundlage für „Frieden“ Selbst wenn sie nicht zu Krieg führt (als Folge des Bemühens, ein weiteres Erstarken des Gegners zu verhindern, eines technischen oder menschlichen Irrtums oder der Ausweitung eines begrenzten lokalen Konfliktes), hat Abschreckung wenigstens drei andere schädliche Konsequenzen: sie führt zu einem Rüstungswettlauf, der im Hinblick auf sämtliche Ressourcen (Geld, Energie, menschliche Arbeitskraft, Initiative) kostspielig ist; sie führt zur Allianzbildung, die tendenziell hegemoniale Bestrebungen verstärkt, auch wenn die Großmacht selbst dies vielleicht nicht wünscht; und sie führt zur allgemeinen Polarisierung der beiden Lager, zu einer künstlich reduzierten Interaktion zwischen den Lagern. Schließlich ist Abschreckung nur dann sinnvoll, wenn sie glaubwürdig ist, und glaubwürdig wird sie nur, wenn irgendwo in einem der beiden Lager eine nachweisbare Bereitschaft besteht, wesentliche Teile der anderen Seite auszuradieren, zu töten, zu vernichten. Diese Bereitschaft ist nicht aufrechtzuerhalten, wenn keinerlei Elemente der Polarisierung vorhanden sind. Daraus folgt: Obzwar Abschreckung und Sicherheit einander nicht ausschließen, schließen Abschreckung und Frieden im weiteren Sinne einander aus. Abschreckung setzt Bipolarität voraus
2. Abrüstung. Angesichts der Unzufriedenheit mit der Abschreckung kommt naturgemäß der Gedanke an Abrüstungsmaßnahmen auf. Wenn Rüstung eine notwendige Bedingung für Krieg ist, dann müßte Abwesenheit von Rüstung eine zureichende Bedingung für Abwesenheit von Krieg, d. h. für Sicherheit sein. Daraus ergibt sich eine Fülle von Vorschlägen, Teile von Europa (gewöhnlich im Zentrum, aber gelegentlich ganz Mitteleuropa von Norden bis Süden) in bezug auf einige oder gar alle Arten von militärischem „hardware" (Waffen) oder „Software" (Menschen) einzufrieren, zu verdünnen oder zu entblößen. Derlei Erwägungen können von strategischen Waffen (SALT) bis zu Streitkräften (MBFR) gehen und werden gewöhnlich die 1961 aufgestellten Mc-Cloy-Zorin-Axiome gebührend berücksichtigen daß die Abrüstung ausgewogen sein müßte (was offensichtlich den überflüssigen Begriff „beiderseitig" beinhaltet) und ein gewisses Maß an Kontrolle einschließen sollte.
Daß derlei Vorschläge keinen Erfolg hatten, liegt nicht daran, daß man bisher noch nicht die richtige Formel gefunden hat, sondern daran, daß das Modell, der ganze Gedanke falsch gewesen ist. Dafür gibt es mehrere Gründe.
Erstens: Der Schritt zur Abrüstung ist — selbst wenn tatsächlich vollzogen — als solcher noch kein Schritt zu einer Friedensstruktur in Europa. Er bedeutet lediglich, daß das Maß der Rüstung innerhalb einer Struktur der Friedlosigkeit geringer wird. Das mag aus mancherlei Gründen gut sein, vor allem deshalb, weil Rüstung kostspielig ist und sowohl „hardware" als auch „Software" von anderen, wertvolleren Aufgaben abgezogen werden. Wenn aber die durch Abrüstungsmaßnahmen freigesetzten Ressourcen lediglich in die bestehende Struktur hineingepumpt werden, ohne daß damit ein Wandel der gesamteuropäischen Struktur verknüpft ist, dann ist man dem Frieden — ja, selbst der Sicherheit — nicht notwendig nähergekommen.
Zweilens; Man mag einwenden, daß dieses Argument die Möglichkeit der Kontrolle menschlicher und technischer Irrtümer etc. außer acht läßt. Aber dies ist nicht primär eine Frage der Abrüstung; dies ist Sache der Rüstungskontrolle, die als eine Form der Perfektionierung der Abschreckungsmechanismen angesehen werden kann. Rüstungskontrolle ist für den „Machtmarkt", was staatliche Sicherung gegen Trusts etc. für den ökonomischen Markt sind: eine Projektion des freien Wettbewerbs. Beide Systeme arbeiten nach derselben Grundannahme, die da heißt: wenn alle Parteien danach streben, reich/sicher zu sein, wird das gesamte System reich/sicher sein. Beide Propositionen sind bestenfalls in bestimmten Grenzen richtig. Jenseits dieser Grenzen führt das konkurrenzorientierte Streben nach Reichtum durch Erschöpfung der Ressourcen und Umweltverschmutzung (pollution) zu öffentlicher Armut, und das konkurrenzorientierte Streben nach Sicherheit führt zu belastenden Rüstungswettläufen und der damit verbundenen Unsicherheit — und zwar zusätzlich zur Erschöpfung der Ressourcen und Umweltverschmutzung. Wie dem auch sei, dies fällt nicht in den Bereich der Abrüstung.
Drittens: Was wir bisher gesehen haben, war lediglich Rüstungskontrolle und sicherlich nicht Abrüstung, geschweige denn Abrüstungskontrolle. Ein Grund dafür ist, daß die Militär-maschinerie in beiden Teilen Europas fester Bestandteil der gesamten sozialen, politischen und wirtschaftlichen Struktur ist und eine eindeutige Funktion hat. Weitere Gründe sind, daß die beiden Bedingungen der „Ausgewogenheit" und der „Kontrolle“ eine tatsächliche Vorwärtsentwicklung bisher unmöglich gemacht haben. Auf beiden Seiten hat es immer starke Kräfte gegeben, die mit Nachdruck behaupteten, daß jeder bisher vollzogene Schritt unausgewogen und zum eigenen Schaden gewesen sei und das die Gegenseite einen ständig Übervorteile. Weniger offenkundige Gründe wären, daß die vorrangige Betonung der „Ausgewogenheit" das Abschreckungsdenken verstärkt und die gesamte Militärmaschinerie verfestigt, daß das nachdrückliche Bestehen auf „Kontrolle" allgemein als Anreiz zur Entwicklung neuer Militärtechnologien dient, welche sich jeglichen Kontrollbemühungen entziehen
Anders ausgedrückt, kann man folgende These aufstellen: Während Rüstungskontrolle die Militärmaschinerie lediglich perfektioniert, können Abrüstungsmaßnahmen, sich die nur auf die Militärmaschinerie beziehen und nicht tiefer gehen, diese sogar stärken. Der wichtigste Punkt ist jedoch, daß, solange es keine Friedensstruktur gibt, eine mit ziemlicher Struktur Sicherheit aus der der Friedlosigkeit erwachsende neue Krise lediglich zur Wiederaufrüstung sowohl im Bereich des „hardware" als auch des „Software" führen wird. Dies würde natürlich erschwert, wenn die Abrüstungsmaßnahmen wirklich durchgreifend wären, und dazu gehören auch die Vorschläge, Rüstungsproduktionsanlagen abzubauen und die Militärbündnisse aufzulösen. Wenn zudem die Militärforschung auf irgendeine Weise kontrolliert und das Rüstungsvolumen wirklich auf ein dem „Hausgebrauch" angemessenes Minimum reduziert würde (wobei es ein anderes Problem ist, wer diese Maschinerie kontrollieren soll?), dann könnte Abrüstung möglicherweise sogar im Rahmen einer friedlosen Struktur zu Sicherheit führen. Wir vertreten hier jedoch den Standpunkt, daß dies erstens nicht geschehen wird und daß es zweitens, selbst wenn es geschähe, einen viel besseren Weg zum Frieden gibt, nämlich, die polarisierte Struktur abzubauen und an deren Stelle eine Friedensstruktur aufzubauen, in welcher die Parteien in Interdependenz geraten.
3. Kooperation ohne Gleichberechtigung. Kooperation ist mithin die Devise, unter welcher der „new look" der Friedensstrategie heute in Europa vorangetrieben wird. Aber hier haben wir wieder das Problem einer falschen Annahme. Es scheint zunehmende Einigkeit darüber zu herrschen, daß Sicherheit sich nicht proportional verhält zum Grad der Rüstung, Abschreckung und Polarisierung;
aber daraus folgt andererseits nicht, daß sie sich zum Grad der Interaktion im allgemeinen und des Warenhandels im besonderen proportional verhält. Das ausschlaggebende Moment ist vielmehr, um welche Art von Interaktion es sich handelt. Die Interaktion zwischen einem Sklaven und einem Sklavenhalter kann durchaus für beide kurzfristige „Sicherheit"
bringen, dann nämlich, wenn der Sklave durch die Ausbeutung geistig und körperlich so apathisch wird, daß die Anwendung direkter Gewalt seine Kräfte übersteigt, und wenn der Sklavenhalter so viel Macht und Selbstvertrauen gewinnt, daß er derlei Gewalt nicht auszuüben braucht. Aber wir würden dieses Verhältnis sicherlich nicht als „friedlich" bezeichnen, wie es zwischen den Kolonien und den Kolonialmächten auch keinen Frieden gab. Im Gegenteil: Die beiden Verhaltensmuster waren symbiotisch, zwar aber bei weitem nicht symmetrisch, und daher boten sie auch nur kurzfristige Sicherheit.
Beide führten am Ende zur Gewaltanwendung im großen Maßstab, weil die immanente strukturelle Gewalt einerseits direkte Gewalt aus Notwehr (Befreiungskriege) und andererseits Gegengewalt zur Erhaltung des Status quo (konterrevolutionäre, repressive Gewalt) nach sich zog. Kommen wir nun zum Schluß: Wenn es zuträfe, daß Frieden und Handel einander entsprechen, dann gäbe es keinen Grund dafür, warum zwischen den entwickelten und den unterentwickelten Ländern (wie die ehemaligen Kolonialländer und ihre Kolonien heute genannt werden) nicht „Friede" herrschen sollte. Und wenn es zu-träfe, daß Frieden und Rüstung einander entsprechen, dann bestünde zwischen kapitalistischen und sozialistischen Ländern ein fabelhafter Frieden. Keines von beiden trifft zu, und es hat auch keinerlei Abrüstung gegeben. Was aber unzweifelhaft zutrifft, ist, daß sowohl der Grad des Handels als auch der Grad der Rüstung im Verhältnis zu den politischen und ökonomischen Profiten bestimmter Gruppen stehen; gegenteilige Ansichten können guten Gewissens in den Bereich der Rationalisierungen verwiesen werden. Abrüstung ohne Kooperation ist ebensowenig ein Weg zum Frieden wie Kooperation ohne Gleichberechtigung (equity).
Wo stehen wir nun mit diesen drei falschen Ansätzen nach den neueren Entwicklungen in Europa? Diese Frage wollen wir unter fünf Gesichtspunkten erörtern:
Das Nord-Süd-Element im Ost-West-Konflikt; Fragen, die das Ende des Zweiten Weltkrieges ungelöst ließ; das Problem des Mißtrauens; der Rüstungswettlauf und die Bemühungen, ihn zu bremsen; die Teilung Europas in zwei Blöcke.
Diese fünf Themenkreise sind konkreter und entsprechen eher der Art und Weise, wie Politiker, Journalisten und die große Öffentlichkeit die „europäischen Probleme" einordnen würden. Sie sind jedoch mit den in der Einleitung verwendeten mehr theoretischen Kategorien verknüpft. Genauer: Der „Nord-Süd-Aspekt" hat offensichtlich mit der Bedingung der Symmetrie und die „Teilung Europas in zwei Blöcke" hat sowohl mit der Bedingung der Symbiose als auch denen der Entropie und Transzendenz zu tun. Nicht erfaßt sind die „ungelösten Fragen" und das „Problem des Mißtrauens" — denn dies sind keine theoretischen Kategorien, sondern höchst konkrete, aus einer höchst konkreten Situation entstandene Fragen — sowie die Bedingung der Homologie, die — wie oben erwähnt •— als relativ unproblematisch betrachtet wird.
Wir gehen im weiteren von der Annahme aus, daß die genannten fünf Momente die Hauptkomponenten des „Kalten Krieges" sind.
III. Das Nord-Süd-Element im Ost-West-Konflikt
Abbildung 3
Ein mögliches Organisationsschema für gesamteuropäische Kooperation
Ein mögliches Organisationsschema für gesamteuropäische Kooperation
Als der Kalte Krieg seinen Höhepunkt erreicht hatte und bevor die „Entspannung“ in der Mitte der 60er Jahre einsetzte, war es allgemein üblich, Befreiungskriege in der Dritten Welt auf den Ost-West-Konflikt zurückzuführen und als Übertragung einer im Grunde europäischen Situation auf den Schauplatz der (Neo-) Kolonien in Asien, Afrika und Lateinamerika anzusehen, wobei der Osten die subversive und der Westen die „superversive" Rolle spielte. Dieses Bild vom „stellvertretenden Krieg" war für europäische Gemüter tröstlich, vermittelte es ihnen doch das Gefühl, immer noch das Zentrum der Welt zu sein. Die Rolle der einheimischen Revolutionäre und Reaktionäre wurde auf die der Bauern im Schachspiel reduziert: man sprach ihnen jegliche Autonomie ab I 0).
Dem Gegenbild — dem Nord-Süd-Element des Konfliktes in Europa — ist nie dieselbe Beachtung geschenkt worden, doch scheint dies ein besserer Schlüssel zum Verständnis der Vorgänge zu sein, die sich in unserem Jahrhundert in Europa abgespielt haben, als die strategischen Theorien, in denen die Großmächte die Hauptakteure sind. Unter historischem Gesichtspunkt betrachtet, ist das wichtigste Ereignis, das in diesem Jahrhundert in Europa stattiand, der — von der Sowjetunion bereits 1917 eingeleitete — Rückzug Osteuropas von der kapitalistischen Arbeitsteilung, bei der es im großen und ganzen die Rolle der Kolonie gespielt hatte. Wir definieren demnach kapitalistische Arbeitsteilung zwischen Zentral-und Peripherienationen mit den Begriffen der klassischen Produktionsfaktoren (deren freier Fluß unterstellt wird, so daß ihr optimaler Einsatz gewährleistet ist
Diese Arbeitsteilung kann in und zwischen Ländern stattfinden. Sie ist symbiotisch und führt zu Interdependenz, da keine Seite ohne die andere auskommt. Aber sie ist gewiß nicht symmetrisch, sondern ausbeuterisch.
Mehrwert wird enteignet und angeeignet. Die wichtigsten „spin-off" -Auswirkungen wie Zweigindustrien, Forschung, Verwaltung, militärische Erfolge, Bildung usw. — allesamt eine Folge dieser Arbeitseinteilung — bleiben im Zentrum. Eine dieser „spin-off" -Auswirkungen ist die Macht, die realen Austausch-verhältnisse (terms of trade) so bestimmen zu können, daß die Menge der zum Erwerb einer gegebenen Menge von Investitionsgü7 tern benötigten Rohstoffe im Laufe der Zeit — außer in Kriegszeiten — zunimmt.
Wir wollen in der Erörterung dieses speziellen Phänomens nicht ins Detail gehen, sondern lediglich kurz festhalten, daß die kapitalistischen Länder zur Aufrechterhaltung dieser Arbeitsteilung gewöhnlich drei Strategien angewendet haben:
1. Spaltung der Peripherienationen untereinander (Zersplitterung);
2. Einsatz einer kleinen einheimischen Elite als Brückenkopf (Durchdringung) für ihre Operationen gegen großzügige Entlohnung (d. h., der einheimischen Elite wird der gleiche Lebensstandard zugestanden, den sie als Teil der Elite des Zentrums hätte, häufig sogar die gleichberechtigte Beteiligung am Entscheidungsprozeß), und 3. begrenzte Beteiligung der eigenen Bevölkerungsmassen an den Gewinnen durch eine bestimmte Distributionspolitik und die Gewährung von Verfügungsgewalt über Ressourcen, so daß die Massen in den Zentren auch ein elementares Interesse an der Aufrechterhaltung des kapitalistischen Systems entwickeln. Daraus entsteht eine verwerfliche, doch stabile Struktur. Ihre Verwerflichkeit bleibt dem naiven volkswirtschaftlichen Beobachter insofern verborgen, als das wirtschaftliche Wachstum, das den Eliten in der Peripherie zugute kommt, häufig sehr rasch ist, so daß die Wirtschaft pro Kopf des Peripherielandes ein gewisses durchschnittliches Wachstum aufweist. Auch den Augen des naiven politischen Beobachters ist sie verborgen, weil er die Welt so betrachtet, als seien die einzelnen Staaten autonome Akteure und die Eliten nicht — z. B. in der oben beschriebenen Weise — aneinander gebunden.
Wenn dies ein Modell für die bisherigen Ost-West-Beziehungen in Europa ist, dann verwundert es nicht, daß sich Völker aus solchen Beziehungen zurückziehen möchten! Ebensowenig überrascht es, wenn sie in diesem Prozeß einen erbitterten Kampf gegen die wirtschaftlichen Eliten in ihrem eigenen Land („Weiße") und in dem sie beherrschenden Land („Interventionisten") führen müssen — und sich dabei erbitterte emigres und erbitterte Feinde schaffen. Zuweilen (wenn die dritte der obengenannten Strategien erfolgreich war) richtete sich der Kampf auch gegen die Masse der Bevölkerung im beherrschenden Land (allgemeiner „Antikommunismus"). War dieser Kampf gewonnen, dann wurde er mit brutaler Härte gegen tatsächliche und eingebildete innere und äußere Feinde fortgesetzt. Gewiß geht es in der europäischen Geschichte des 20. Jahrhunderts um mehr als dieses Thema, aber es auszulassen (wie das in westlichen Büchern gewöhnlich geschieht), führt zu Fehlinterpretationen. Mit den halbfeudalen osteuropäischen Regimen mußte etwas Entscheidendes geschehen: sie mußten aus ihrer Abhängigkeit herauskommen. Der Westen vergißt oft, daß Hitlers „Drang nach Osten" in gewisser Weise dem entsprechenden europäisch-amerikanischen Vordringen westwärts gegen die Indianer in Nordamerika glich. Es ging Hitler allerdings nicht nur darum, fremde Völker zu unterwerfen und ihnen die spezielle „Arbeitsteilung“ in extremer Form aufzuzwingen. Der „Drang nach Osten" ging einen Schritt weiter: er versuchte buchstäblich, ganze Territorien durch Massenvernichtung zu leeren. Hitlers Krieg — das waren zwei sehr verschiedene Kriege:
ein traditioneller Konkurrenzkrieg mit dem Westen, der das Problem der Einflußsphären lösen sollte, und ein Kolonisations-und Vernichtungskrieg gegen den Osten. Für den Osten war es unmöglich, im Hitler-Regime nicht die extreme Version all dessen zu sehen, was ihm seit eh und je vom Westen widerfahren war. Und es ist unglaublich, daß der Westen offenbar nie ganz begriffen hat, was für eine Wirkung es auf den Osten hatte, als man sich so rasch mit dem deutschen Staat arrangierte, der sich später selbst zum Nachfolgestaat erklärte; wie es auf den Osten wirkte, daß es ihm (dem Westen) erhebliche Schwierigkeiten bereitete, rückgängig zu machen, was die Nazis angerichtet hatten — einschließlich der eigentlichen Entnazifizierung—, und daß er dann den westdeutschen Staat in beträchtlichem Umfang wiederbewaffnete und zu einer entscheidenden Kraft in der NATO machte. Alle Bemühungen, auf diese Tatsachen hinzuweisen, wurden als „Propaganda abgestempelt.
Der oben beschriebenen kapitalistischen Arbeitsteilung soll nun eine „sozialistische Arbeitsteilung' gegenübergestellt werden, die freilich nie deutlich formuliert worden ist Grob gesagt, könnte man darunter eine Arbeitsteilung verstehen, bei der die Gewinne und die „spin-off" -Auswirkungen gleichmäßi ger verteilt sind, und bei der es keine Ausbeutung gibt. Man könnte ein solches System als horizontale Arbeitsteilung bezeichnen; sozialistische Arbeitsteilung wäre dann als ein Sonderfall der horizontalen Arbeitsteilung anzusehen.
Drei Arten von horizontaler Arbeitsteilung lassen sich definieren:
1. Beiderseitige Isolation: nichts wird ausgetauscht, Gewinne und Kosten sind gleich, da gleich Null;
2. beiderseitige Durchdringung (in der Praxis das Modell des Westens): die beiden Seiten durchdringen einander (jeder investiert beim anderen), wobei sie unterschiedliche Rollen in unterschiedlichen Bereichen spielen (Beispiel: der eine ist führend in der mechanisch-technischen Industrie, der andere in der Elektrochemie), so daß das Endergebnis ausgeglichen ist;
3. sozialistische Arbeitsteilung (in der Praxis das Modell des Ostens): beide Seiten behalten ihre Produktionsfaktoren, gegenseitige Durchdringung findet nicht statt; statt dessen werden Rohstoffe gegen Rohstoffe und Industriegüter gegen Industriegüter getauscht (je nach dem Stand der technischen Entwicklung), und beide Seiten investieren in gemeinsame Unternehmen, wobei sie darauf achten, daß Gewinne und Kosten gleichmäßig verteilt sind.
Dies alles stellt ein Hauptthema der europäischen Politik dar, und einer der wichtigsten Gründe für die Teilung Europas in zwei Blöcke ist die Tatsache, daß Osteuropa der kapitalistischen Arbeitsteilung eine Absage erteilt hat, ohne bisher eine voll wirksame Alternative entwickelt zu haben. Man darf mit Sicherheit annehmen, daß Westeuropa jederzeit bereit wäre, mit Osteuropa ins Geschäft zu kommen, wenn die Möglichkeiten zur Praktizierung der kapitalistischen Arbeitsteilung ihm wieder offenstünden. Der Osten hat dem die beiderseitige Isolation vorgezogen; ein Handelsvolumen von etwa 5 Prozent des Gesamthandels jeder der beiden Gruppen in die andere Richtung kommt praktisch einer beiderseitigen Isolation gleich.
Andererseits ist innerhalb des Westens und innerhalb des Ostens, speziell innerhalb der beiden großen Wirtschaftsorganisationen, in letzter Zeit besonderer Nachdruck auf die Gleichberechtigung im Sinne der horizontalen Arbeitsteilung gelegt worden. Man darf sagen, daß der Westen sich für die zweite der obengenannten Alternativen, die gegenseitige Durchdringung, entschieden hat, während der Osten noch dabei ist, die konkrete Bedeutung der sozialistischen Arbeitsteilung zu erforschen. Wir werden später darauf zurückkommen. Vorläufig wollen wir nur das Hauptproblem formulieren, so wie es sich uns darstellt: Es kann keinen Frieden ohne Interdependenz geben; ist die Interdependenz nicht symmetrisch oder horizontal, dann wird sie unter dem Aspekt des Friedens auf einem niedrigen Niveau stehen und damit unzureichend sein; um horizontal und symbiotisch zu sein, wird sie vermutlich auf eine Kombination aus beiden Modellen, dem westlichen und dem östlichen, hinauslaufen müssen, die noch zu erarbeiten wäre. Der bisher bestehende geringe, aber zunehmende Handel — vor allem mit Rohstoffen von Ost nach West und Industriegütern in umgekehrter Richtung — ist in hohem Maße vertikal.
IV. Ungelöste Fragen des Zweiten Weltkrieges
Abbildung 4
Tabelle A:
Tabelle A:
Der Ausgang des Zweiten Weltkrieges und seine Folgen haben ein wichtiges Problem gelöst, das Problem des Nationalsozialismus, und zwar durch physische Vernichtung. Nicht gelöst sind hingegen der aus dem 19. Jahrhundert überkommene Streit um die Grenzen des deutschen Staates sowie das von uns als Nord-Süd-Element in Europa bezeichnete Problem. Wenn auch die Westgrenze unumstritten war, so blieb die Ostgrenze doch ein Problem, da der Konflikt mit den Ländern im Osten viel tiefer ging. Vom Standpunkt des Ostens konnte eine dauerhafte Lösung gefunden werden wenn Deutschland 1. westwärts gedrängt, 2. gespalten und (oder) 3.der östliche Teil an den Osten gebunden wurde.
Diese dreifache Lösung stand auch in Einklang mit der Politik des Rückzugs aus der kapitalistischen Arbeitsteilung (die bis zum gewissen Grade auch innerhalb Deutschlands, und nicht nur dort, mit der östlichen Hälfte als Peripherie praktiziert worden war). Bei dieser Politik gab es eine große Schwierigkeit: West-Berlin existierte weiter als ein Vorposten des Westens, als „Messer an der Kehle".
Der Westen hatte vermutlich die ganze Zeit über zu Recht den Eindruck, daß die Nachkriegspolitik des Ostens eine übertriebene Reaktion gegen einen geschlagenen Feind, Hitler und seinen Nationalsozialismus, darstellte. Der Osten hat versucht, seine Politik damit zu erklären, daß er vor einem Wieder-erwachen des Nationalsozialismus auf der Hut sein müsse, hat dabei aber zweifelsohne, auch andere Absichten verfolgt. Lassen wir die Motive einmal beiseite: Nach dem Kriege sah die Landkarte anders aus, die Europas waren Wirtschaftsbeziehungen andere und waren Menschen als Kriegsflüchtlinge oder politische Flüchtlinge in andere Teile der Welt verschlagen worden. Am stärksten betroffen war die deutsche Nation.
Was sich auf diesem Gebiet in jüngster Zeit ereignet hat, ist zweifellos vielversprechend: Die Bundesrepublik Deutschland akzeptiert allmählich den Status quo, und zwar einschließlich seiner territorialen und politischen Konsequenzen, auch wenn sie damit noch nicht unbedingt die Prämissen billigt. Die 1972 ratifizierten Bonner Verträge mit Warschau und Moskau, die Berlin-Verhandlungen, die innerdeutschen Gespräche — all diese Vorgänge weisen in ein und dieselbe Richtung, d. h. im Westen setzt sich mehr und mehr die Einsicht durch, daß ein endgültiger Schlußstrich unter die Vergangenheit gezogen werden muß. Das Wort „Wiedervereinigung" (der beiden deutschen Staaten) ist nur noch selten zu hören. Hätte es in der Tschechoslowakei keinen August 1968 gegeben, dann wäre wohl — früher oder später — auch ein Vertrag mit Prag zustande gekommen.
Mit der Ratifizierung dieser Vertragswerke wird Bundeskanzler Brandt als ein Mann in die Geschichte eingehen, der sein Teil dazu beigetragen hat, einige der ungelösten Fragen des Zweiten Weltkrieges zu klären.
Aber man darf dies alles nicht mit einer Friedenspolitik verwechseln. Die Beseitigung der Überreste einer alten Struktur und die Anerkennung des Unvermeidlichen sind eine notwendige, aber keine zureichende Bedingung für den Aufbau einer neuen Struktur. Alles hängt davon ab, welche anderen Schritte zur gleichen Zeit unternommen werden.
V. Das Problem des Mißtrauens
Abbildung 5
Tabelle B:
Tabelle B:
Das mangelnde Vertrauen im Ost-West-System kann nicht allein auf semantische Fragen und Mißverständnisse reduziert werden. Es hat sehr reale Gründe. Wie immer man die Ursachen beurteilt, es ist eine Tatsache, daß US-amerikanische und sowjetische Truppen in West-bzw. Osteuropa stationiert sind, daß zwei militärische Organisationen entstanden sind, daß alle Mitglieder des einen Bündnisses dem gleichen sozioökonomischen System angehören und alle Mitglieder des anderen dem anderen System. Die Konfrontation ist offenkundig und hat sich nach den aus der Konfliktdynamik wohlbekannten Prinzipien weitgehend selbst verschärft. Doch es besteht kein Zweifel darüber, daß eine solche Teilung im Laufe der Zeit institutionalisiert werden kann, und vieles, was für Entspannung gehalten wird, ist schlicht und einfach Gewöhnung an diese Teilung Europas in zwei Lager.
Die ersfe Regel der Koexistenz — Verständnis für das Entstehen und das Vorhandensein von zwei Lagern — ergibt sich einerseits aus der wachsenden Einsicht des Westens, daß mit den halbfeudalen, vorkapitalistischen Regimen im Osten etwas Entscheidendes geschehen mußte, andererseits aus der gleichfalls vorhandenen Einsicht des Ostens, daß Revolutionen im Westen weder unvermeidlich noch notwendig der richtige Weg zum Fortschritt sind.
Die zweite Regel betrifft die Versuche, die andere Seite durch unterschiedliche Behandlung ihrer Mitglieder in sich zu spalten. Eine Politik des Westens, welche die Sowjetunion und/oder die Deutsche Demokratische Republik anders behandelt als die übrigen fünf Mitgliedstaaten des Warschauer Paktes, stößt sofort (berechtigt oder unberechtigt) auf Ressentiments und Mißtrauen, und genau denselben Mechanismus löst eine Politik des Ostens aus, wenn sie einzelne Partner der anderen Seite, sei es England, Frankreich, die Bundesrepublik Deutschland oder sonst ein Mitglied der NATO, bevorzugt behandelt. Bemühungen, solche Mitglieder des gegnerischen Lagers zu fördern, die der führenden Nation ihres Lagers offen kritisch gegenüberstehen, stoßen au ganz besondere Ablehnung. Die Regel ist sim pel: Es gilt die Lager als solche zu respektieren und nicht zu versuchen, ein Mitglied gegen ein anderes auszuspielen. Dies ist zweifellos eine Regel, die der Spaltung wehren soll.
Die dritte Regel betrifft die subversive Tätigkeit in den Ländern des gegnerischen Lagers, mit anderen Worten die Versuche, politische Brückenköpfe zu errichten. Der Osten sieht natürlich in den westlichen multinationalen Konzernen diejenigen, die genau dies tun, und der Westen sieht Kommunistische Parteien und progressive Organisationen im gleichen Licht; beide beobachten wachsam die politische Werbetätigkeit der Spionageringe der anderen Seite. Es gilt — und das ist die dritte Regel — die subversive Tätigkeit zu unterlassen. Diese drei Regeln zusammengenommen laufen auf das eine Gebot hinaus, den politischen Status quo zu respektieren.
Man kann vielleicht sagen, daß die „subversive Tätigkeit" in den letzten Jahren zurückgegangen ist, gleichgültig ob es sich um einen tatsächlichen oder nur scheinbaren Rückgang handelt. Ohne Zweifel haben beide Seiten weitgehend den Gedanken aufgegeben, daß eine grundlegende Veränderung auf der anderen Seite unvermeidlich ist, „weil ihre Regierung nicht im Interesse des Volkes regiert". Aber trotzdem wird häufig noch gegen die drei hier formulierten Regeln der Koexistenz verstoßen; die Folge davon ist Mißtrauen, das solange bestehenbleiben wird, wie die Teilung Europas in zwei Lager anhält. Ein Fortschritt auf diesem Gebiet läge in der Anerkennung des gegenwärtigen Zustandes, was die Anerkennung der drei Regeln impliziert.
In beiden Lagern gibt es heute wohl nur wenige, die einen grundlosen militärischen Angriff der Gegenseite befürchten, doch haben beide Lager vielleicht Grund zu befürchten, daß ein Verstoß gegen die Regeln zu einer Eskalation der politischen und militärischen Ereignisse führen könnte, deren Endresultat ein totaler Krieg wäre. Weit mehr als die eigentlichen Militärmaschinerien sind der dem Westen zugeschriebene ökonomische Imperialismus und der dem Osten zugeschriebene Sozialimperialismus Quellen der Furcht.
VI. Der Rüstungswettlaufund die Bemühungen, ihn zu bremsen
Abbildung 6
Tabelle C:
Tabelle C:
Die „Errungenschaften" in diesem Bereich werden zumeist negativ formuliert: Ohne all die Gespräche, die Konferenz des Abrüstungsausschusses in Genf (CCD) und ihre Vorgängerin (die ENCD und deren zahllosen Vorgänger), oder die Gespräche über die Begrenzung der strategischen Rüstung (SALT) könnte die Lage noch schlechter sein. Das heißt weder, daß die Zerstörungskapazität auf beiden Seiten nicht gewachsen wäre (das ist sie bereits), noch daß dieses Wachstum nicht weiter zu-nähme (das tut es bereits), sondern daß der Geschwindigkeitsgrad noch höher hätte sein können. Aber dieser negativ ausgedrückte Trost ist nicht überzeugend, zumal man auch sagen könnte, daß die Verhandlungen den Rüstungswettlauf vielleicht eher gefördert als gehemmt haben. Sie können die Kommunikation in einer Weise kanalisiert haben, die die Ängste eher verstärkt als vermindert hat; sie können die politische Aufmerksamkeit insofern vom Rüstungswettlauf abgelenkt haben, als die Menschen den Eindruck gewonnen haben, die Ereignisse nähmen nun den richtigen Lauf; sie können eine neue technologische Entwicklung, ja sogar neue Generationen von Waffensystemen gefördert haben, um im Falle „erfogreicher" Verhandlungen etwas in der Hinterhand zu haben. Ein gutes Beispiel dafür ist die gewaltige Zunahme der Atomwaffenversuche nach dem partiellen Teststop (Partial Test Ban treaty, PTB) von 1963: nicht nur mehr Kernwaffenversuche, sondern auch die Entwicklung und Erprobung neuer Waffensysteme (ABM, MIRV etc.).
Welche Verdienste die gewaltigen militärischen Systeme auch im Hinblick auf die Verhinderung von Übergriffen in beiden Richtungen haben mögen, wenn sie einmal in Gang gesetzt sind, kommen die Rüstungsmaschinerien nicht so leicht wieder zum Stehen. Aus der zunehmenden Rüstung folgt jedoch nicht notwendig eine zunehmende Unsicherheit — das anzunehmen, wäre genau so naiv, wie die gegenteilige These. Denn parallel zum Wachstum des Zerstörungspotentials hat es eine gewisse Verlagerung der Ziele (distargeting) gegeben, nämlich eine Tendenz, die Waffen in den Hintergrund treten zu lassen. Sie werden zwar im physikalischen Sinne auf Ziele im anderen Lager justiert, aber nicht mehr so sehr im psychologischen und politischen Sinne. Dieser Prozeß scheint in der jüngsten Zeit weiter vorangeschritten zu sein. Die mangelnde Aufmerksamkeit, die man den Waffen in Europa widmet, ist nicht nur ein Zeichen von Resigna11 tion oder schlechtem Gedächtnis — sie ist auch ein Zeichen dafür, daß die in den Kapiteln III, IV undV erörterten Probleme allmählich gelöst werden, so daß es immer schwieriger wird, ein vernünftiges Szenarium dafür zu konstruieren, wie der Dritte Weltkrieg in Mitteleuropa ausbrechen könnte — was noch vor wenigen Jahren ein beliebter Zeitvertreib war.
VII. Die Teilung Europas in zwei Blöcke
Abbildung 7
Tabelle D:
Tabelle D:
Die bedeutsamste Entwicklung der letzten Jahre in Europa besteht darin, daß sich innerhalb der beiden Blöcke eine Schwerpunktverlagerung vollzieht: statt der militärischen Blöcke stehen nun die Wirtschaftsblöcke im Vordergrund; statt des Rüstungswettlaufs steht nun der Integrationswettlauf der beiden Wirtschaftsblöcke im Mittelpunkt des Interesses. Daher unterscheiden wir hier — wie oben — zwischen der Existenz einer Organisation und der Aufmerksamkeit, die man ihr entgegenbringt. Gewiß existieren die beiden Militärbündnisse, aber die beiden Wirtschaftsorganisationen, die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) und der Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW bzw. COMECON, beanspruchen heute wesentlich mehr Aufmerksamkeit.
Vielen erscheint diese Tatsache als ein Schritt zum „Frieden", weil wirtschaftliche Integration friedlicher klingt als militärische Bündnisbildung. Aber dies ist dieselbe Art Trugschluß wie die Verwechslung von Abrüstung und aktiver Friedenspolitik. Zwar ist es wahr, daß Kriege nicht von Wirtschaftsblöcken angezettelt werden — außer Zoll-und Handels-„Kriegen" allgemein —, aber die Militärbündnisse existieren noch, und die Vertiefung und Erweiterung der Wirtschaftsblöcke hat viel fundamentalere strukturelle Auswirkungen, als die Militärbündnisse haben können. Dafür gibt es mindestens drei Gründe.
Erstens: Wirtschaftsbeziehungen gehen viel tiefer und erstrecken sich auf sämtliche Bereiche der Gesellschaft, während militärische Beziehungen segmentärer sind. Die wirtschaftliche Integration bindet die Staaten stärker aneinander und spaltet sie wirksamer von den außenstehenden Staaten ab als Militärbündnisse. So ist die Tatsache, daß die beiden deutschen Staaten zwei verschiedenen Militärbündnissen angehören, für ihre potentielle Wiedervereinigung von relativ geringer Bedeutung im Vergleich zu der Tatsache, daß sie zwei verschiedene Wirtschaftssysteme haben und fest in diese integriert sind. Die Militärsysteme sind sich überall auf der Welt ziemlich gleich (es sei denn, sie befinden sich — wie Guerilla-Systeme — noch im Entstehungsstadium), aber die Wirtschaftssysteme unterscheiden sich. So können die beiden deutschen Staaten sich wohl die Wiedervereinigung als Möglichkeit für die Zukunft vorstellen, aber nur auf der Grundlage ihrer eigenen Systemmerkmale.
Zweitens: Wenn die Integration eher um die wirtschaftliche als die militärische Achse herum angelegt ist, dann kann sie eine solche Kaskade von Kettenreaktionen auslösen, daß die de facto-Konsequenz ein Superstaat und nicht nur eine (Kon-) Föderation ist. Der Kem könnte ein Zusammenschluß bzw. eine Fusion der größten — staatlichen oder privaten — Unternehmen sein, und das hatte unmittelbare Folgen für Arbeiter, Politiker, Wissenschaftler usw. Offensichtlich ist weder in der OEEC/OECD noch dem COMECON etwas derartiges geschehen. Beide konnten in ihrer Anfangsphase als Koordinations-und Kooperationsmechanismus verstanden werden. Aber bei den europäischen Gemeinschaften nahm die Koordination die Form der Harmonisierung und die Kooperation die der Integration an, was beides in die angezeigte Richtung weist. Mit dem am 1. Juli 1967 vollzogenen Zusammenschluß der drei europäischen Gemeinschaften zu einer einzigen Organisation mit einer Kommission, einem Rat und einem europäischen Parlament, mit der am 1. Juli 1968 vorzeitig verwirklichten Zollunion, mit der Finanzierung der Verwaltung aus Zöllen und Mehrwertsteuer (voraussichtlich ab 1. Januar 1975) und vor allem mit den sehr konkreten Plänen für eine Wirtschafts-und Währungsunion (Werner-Bericht) und für die Harmonisierung der Außenpolitik (Davignon-Plan) scheint der Weg zu einem Superstaat in seinen Beziehungen zur Außenwelt relativ klar zu sein Das Ergebnis der 25. Sitzung des COMECON-Ministerrates, die im Juli 1971 in Bukarest stattfand, ist bescheidener, geht aber einen großen Schritt weiter als das traditionelle Koordinations-und Kooperationsschema der OECD und des COMECON Was den COMECON angeht, so gibt es bisher noch keine Integration im Sinne eines nach außen einheitlich auftretenden übergeordneten Akteurs. Aber es sind bereits weitreichende Maßnahmen zur Harmonisierung ergriffen worden, und die industrielle Zusammenarbeit ließe sich, wenn nicht als Fusion, so doch als segmentartiger Zusammenschluß zu besonderen Zwecken kennzeichnen, wie er zum Beispiel in der Herstellung eines bestimmten Typs von Traktoren, Lastwagen und Personenkraftwagen praktiziert wird. Wir dürfen nicht vergessen, daß die COMECON-Länder bei ihrer Arbeit von dem Anspruch ausgehen, die sozia-listische Arbeitsteilung konkret zu verwirklichen, während die EWG-Länder von dem Anspruch der Gleichberechtigung ausgehen, der viel weitgehender ist, indem er zum Beispiel sich überschneidende Investitionsmuster (cross-investment patterns) gestattet.
Drittens erhebt sich die Frage, wie es nach der Verwirklichung der wirtschaftlichen Integration mit der Autarkie (self-sufficiency) bestellt sein wird. Ein Militärbündnis braucht einen Feind, ein Wirtschaftsblock kann dagegen in der Welt allein dastehen, isoliert sein. Auch wenn er mit der Außenwelt Handel treibt, kann seine psychologische Aufmerksamkeit vorrangig nach innen, auf den Aufbau einer lebensfähigen Organisation gerichtet sein Wichtiger als die wirtschaftliche ist die psychologische und die politische Autarkie.
Es liegt auf der Hand, daß dies zu einem Integrationswettlauf zwischen dem Westen und dem Osten führt. Keine der beiden Seiten kann ruhig zusehen, wie die Koordination auf der anderen Seite voranschreitet; denn wenn die andere Seite in sich geschlossen ist, dann kann in erhöhtem Maße die Gefahr des Erfolges spalterischer Taktiken entstehen. Wie man über die eigenen Grenzen hinausschaut und tatsächliche oder eingebildete Steigerungen der Rüstungsaktivitäten sowie tatsächliche oder eingebildete Feindbewegungen meldet, so meldet man nun auch tatsächliche oder eingebildete Steigerungen des Integrationsgrades sowie Spaltungsbemühungen (siehe Kapitel V, zweite Regel). Der dem Integrationswettlauf zugrunde liegende Mechanismus gleicht also den Mechanismen des Rüstungswettlaufes:
Aktion, Reaktion und Eigendynamik.
Extrapolieren wir hiervon, dann kommen wir zu zwei autarken Wirtschaftsblöcken, die von einzelnen blockfreien Nationen umgeben sind.
Zweifellos wird es zwischen den Blöcken Kontakte geben. Die Frage ist, ob der Umfang dieser Kontakte — z. B. gemessen am Handelsvolumen — überhaupt mit den Dingen, die sich im Inneren der Blöcke abspielen, vergleichbar sein wird. Hier sollten wir daran er-innern, daß die beiden Superstaaten, die die Welt heute schon kennt, die Vereinigten Staaten und die Sowjetunion (wie auch die Volksrepublik China), weitgehend autark sind; sie haben sich von der Form von Beziehungen unabhängig gemacht, zu der symmetrische und symbiotische Verbindungen mit der Umwelt führen könnten. Die Entwicklung der EWG zu einer wirtschaftlichen Supermacht und die Tatsache, daß der COMECON sich in die gleiche Richtung entwickelt, bedeutet, daß hier zwei riesige, relativ autarke und autonome Wirtschaftsblöcke entstehen, die einander räumlich berühren, statt durch den Nordatlantik und Europa von Brest bis Brestlitowsk voneinander getrennt zu sein, wie die Vereinigten Staaten und die Sowjetunion es sind.
Es könnte indessen auch sein, daß die integrativen Prozesse etwas langsamer voranschreiten und tatsächlich eine gesamteuropäische Kooperation einsetzt (über die später noch zu reden sein wird). Aber so, wie die Dinge im Augenblick liegen, müssen wir zu dem Schluß kommen, daß die Entwicklung im wirtschaftlichen Bereich nicht auf eine Friedensstruktur zusteuert. Im besten Falle läuft sie auf einen Status quo hinaus; im schlechtesten Falle führt sie noch weiter weg vom Status quo.
Andererseits kann mit der Transformation der Blöcke, d. h. mit ihrer Schwerpunktverlagerung von Militärbündnissen auf Gebiete der wirtschaftlichen Kooperation, ein gewisser Niedergang der Herrschaft der Supermächte einhergegangen sein. Dafür gibt es verschiedene Gründe
Für die Großmächte sind Militärbündnisse problematisch, da sie ihnen offenbar einen unverhältnismäßig großen Teil der Lasten auf-bürden — je kleiner eine Macht, desto geringer ihr proportionaler Beitrag Zugleich sind die Militärbündnisse aber auch für die kleineren Länder problematisch, da sie den Großmächten, verstärkt durch militärische Notwendigkeiten wie eine zentralisierte Befehlsgewalt, gewöhnlich auch die größte Macht einräumen. Dies ist ein Teil des Kalten-Kriegs-Syndroms, ein typischer Aspekt der Polarisierung, das Gegenteil der unstrukturierten Interaktion, von uns zu Beginn als „Entropie“ bezeichnet. Große wie kleine Länder sollten mithin allen Grund haben, eine Entspannung zu begrüßen und die Umgestaltung der Blöcke von militärischen zu stärker wirtschaftlich orientierten Organisationen gutzuheißen.
Die Großmächte können auch wirtschaftlich dominieren. Die EWG und der COMECON haben jedoch dazu beigetragen, die wirtschaftliche Durchdringung Westeuropas durch die USA und Osteuropas durch die Sowjetunion jedenfalls gegenüber der unmittelbaren Nachkriegszeit erheblich zu bremsen — wenn auch auf sehr verschiedene Weise. Auch militärisch läßt sich wohl eine Entwicklung in dem unterschiedlichen Grad des sowjetischen Engagements in Budapest im November 1965, in Prag im August 1968 und in Danzig (und andernorts) im Dezember 1970 beobachten. Politisch haben die Großmächte ein Monopol auf bestimmte Großmachtangelegenheiten wie strategische Rüstung oder Berlin, aber ansonsten hat die politische Arena Europas in den letzten Jahren eine erhebliche Zunahme der Aktivitäten der kleinen Mächte erlebt. An den wirtschaftlichen Aktivitäten sind ebenfalls mehr Menschen beteiligt, die weiter von der Ebene der Regierungen entfernt sind. Aber das Entstehen einer neuen wirtschaftlichen Supermacht im Westen, der EWG, wird wiederum dahin tendieren, die Interaktion bei sehr wenigen und Mächtigen zu konzentrieren. Es ist keineswegs entschieden, daß das Endergebnis hier positiv sein wird.
VIII. Europas Entwicklung von der Bipolarität zur Bizentrizität
Wo stehen wir gegenwärtig bei der Suche nach einer beständigeren Friedensstruktur in Europa? Welches ist das Ergebnis der jüngsten Prozesse? *
Das einzige eindeutig ermutigende Zeichen ist, daß einige ungelöste Fragen des Zweiten Weltkrieges — sehr verspätet — nun allmählich vom Tisch kommen. Ein zweites Zeichen dieser Art ist, daß der Rüstungswettlauf und die militärische Konfrontation endlich tendenziell in den Hintergrund der politischen und allgemeinen Aufmerksamkeit treten. Drittens gibt es einige Anzeichen dafür, daß das gesamte politische Spiel auf beiden Seiten nach Regeln gespielt wird, welche den politischen Status quo mehr oder minder anerkennen und Spaltungsversuche sowie subversive Tätigkeit im anderen Lager für unzulässig erklären.
Auf der anderen Seite sind die negativen Zeichen für jedermann deutlich sichtbar: Es ist nichts Wirksames geschehen, den Rüstungswettlauf zu bremsen; er wird heute lediglich weniger beachtet als zuvor. Dann haben wir da die Wendung nach innen, die Teilung Europas in zwei Wirtschaftsblöcke und die damit verbundene Gefahr der beiderseitigen Autarkie. Natürlich sind diese Sachverhalte einer gegenseitigen Vernichtung bei weitem vorzuziehen, aber es ist noch kein Frieden. So hat die Interdependenz, zum Beispiel gemessen am gesamteuropäischen Handel, in den letzten Jahren weder wesentlich zugenommen noch ist sie symmetrischer, gerechter geworden. Und schließlich: Es gibt keinen deutlich erkennbaren Fortschritt bei der Errichtung gesamteuropäischer Institutionen. Europa ist heute weniger bipolar, weniger von Konflikten geschüttelt, weniger von Abschreckung beherrscht. Dafür ist es aber stärker bizentrisch geworden, eher auf der subregionalen Ebene autark und stärker von partieller Integration beherrscht.
Der einzig akzeptable Gedanke zu den gegenwärtig anstehenden Fragen ist der einer Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa Man vergleiche die große Vorstellungskraft und Energie — ganz zu schweigen von den Mitteln generell —, die in den oben angesprochenen subregionalen Rahmen eingehen, mit der Ängstlichkeit, dem Mangel an kühner Planung und vorwärtsgerichtetem Denken auf dem Gebiet der gesamteuropäischen Zusammenarbeit, besonders im Westen, wo die Integration weiter fortgeschritten ist! Das heißt nicht, daß eine Konferenz nicht zustande kommen wird. Es gilt im Gegenteil als sicher, daß es eine „Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa" geben wird, daß die beiden deutschen Staaten, die USA und Kanada zu ihren Teilnehmern gehören werden und daß diese Konferenz solche wichtigen Grundsätze wie Gewaltverzicht, ein-schließlich des Verzichts auf die Drohung mit Gewaltanwendung, friedliche Beilegung von Konflikten, Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten, Unverletzlichkeit der Grenzen (d. h. allseitige Anerkennung des territorialen Status quo in Europa) sowie generell eine Normalisierung der Beziehungen zwischen den europäischen Staaten bekräftigen wird indem sie das Münchener Abkommen für null und nichtig erklärt. Am Ende wird auch die de fakto-Anerkennung der DDR stehen, der die de jure-Anerkennung folgen muß. Damit wird eine weitere Ursache des Konfliktes für die gesamteuropäische Politik der vorigen Generation verschwinden. Die innerdeutschen Gespräche sind bereits ein beredtes Zeugnis der gegengeistigen de facto-Anerkennung (so wie der innerdeutsche Handel zuvor ein schweigendes Zeugnis war); dies wird sich nun auf der europäischen Ebene wiederholen
Man stelle sich nun vor, all dies sei bereits realisiert. Bedeutet das Sicherheit? Heißt das Frieden? Nein, noch nicht. Die „Weder-Kriegnoch-Frieden-Struktur" würde immer noch als dominierende fortbestehen. Eine gewisse Homologie ist zwar vorhanden, doch fehlen die anderen vier Elemente (s. S. 3) nach wie vor.
Folglich wird auch die Friedensstruktur nach 'wie vor praktisch nicht vorhanden sein. Die europäische Geschichte bietet genügend Beispiele für die Richtigkeit der These, daß die Europäer hervorragende Fähigkeiten besitzen, immer neue Streitfragen zu finden, sobald die alten gelöst oder zumindest vergessen oder unter den Tisch gefegt worden sind. Wenn die Struktur Europas einer Lösung im Wege steht, dann kann daraus eine militärische Reaktivierung folgen. Ohne auf irgendeine Weise die bisher erzielten und die scheinbar in greifbare Nähe gerückten Erfolge schmälern zu wollen, muß doch gesagt werden, daß sie im Hinblick auf die Herstellung von Sicherheit im besonderen Und Frieden im allgemeinen lediglich vorbereitenden Charakter haben. Zwar gehen sie weiter als die bloßen Aufräumungsarbeiten nach dem Zweiten Weltkrieg, aber noch nicht weit genug. Unter dem Gesichtspunkt des Aufbaus einer Friedensstruktur läge der Schwerpunkt folglich auf der Auswertung und Weiterverfolgung der Ergebnisse der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa. Vieles muß noch getan werden, um Europa weniger bizentrisch und dafür kooperativer zu machen. Die Frage ist nur: wie?
IX. Einige Vorstellungen über eine gesamteuropäische Kooperation
Im allgemeinen gibt es wohl drei Modelle für die zukünftige gesamteuropäische Kooperation, die sich nach dem Stand der subregionalen Organisation unterscheiden: a) Erstes Modell: das „l'Europe des patries“, in dem die einzelnen Staaten die Bausteine bilden und die subregionalen Organisationen schwach entwickelt sind. b) Zweites Modell: ein unizentrisches Europa, das von einem der ökonomisch-politisch-militärischen Machtblöcke beherrscht wird.
c) Drittes Modell: ein bizentrisches Europa, dessen Grundlage die Gleichheit und aktive friedliche Koexistenz starker subregionaler Organisationen ist.
Das zweite Modell können wir von vornherein ausklammern. Der Rüstungs-und der Integrationswettlauf sind dazu da, zu verhindern, daß es in Europa nur ein einziges Herrschaftszentrum gibt, und sie sind die dynamischsten Prozesse in Europa überhaupt. Es ist jedoch nie ganz auszuschließen, daß es in den Köpfen gewisser Leute als ein Modell existiert, welches es anzustreben gilt, oder welches sie wenigstens der anderen Seite zuschreiben. Im übrigen gibt es viele Arten der Herrschaftsausübung: einmal mit Hilfe von militärisch-politischer Aggression, zum anderen mit ökonomisch-kulturellen Methoden, einer Mischung aus Praktiken der Spaltung, Durchdringung und vertikalen Arbeitsteilung, kurz: mit Hilfe von wirtschaftlicher Aggression
Es bleibt also die Wahl zwischen dem ersten und dem dritten Modell. Wir wollen zunächst kurz begründen, warum wir das erste Modell vorziehen. Der Hauptunterschied läßt sich in einem einfachen Diagramm darstellen (siehe Schaubild 1, S. 17).
Im ersten Modell des Schaubildes 1 ist die gesamteuropäische Organisation das starke kooperative Element, während die subregionalen Organisationen schwach sind; im dritten Modell ist dieses Verhältnis umgekehrt. Die Begriffe . stark'bzw. . schwach’ beziehen sich hierbei auf Ort und Umfang der Investitionen aller Arten von Ressourcen sowie Sitz und Ausmaß der realen Macht. Darüber hinaus sind im ersten Modell einzelne Staaten die Mitglieder der Organisation, während im dritten Modell die subregionale Integration so weit fortgeschritten ist, daß Einzelstaaten zwar nominell Mitglieder sein können, ihr politisches Verhalten jedoch auf der subregionalen Ebene so gut harmonisiert ist, daß sie als ein Block auftreten.
Die Gründe für eine Bevorzugung des ersten Modells gehen aus all dem Vorgesagten klai hervor. Erstens bedarf das Verhältnis zwischen den zwei Teilen Europas, wie wir sie heute vorfinden, einer Friedensstruktur, und deshalb müßte eine relativ starke „Superstruktur" geschaffen werden. Das dritte Modell kann nur die bestehende leidige Teilung verfestigen. Zweitens, je weniger die einzelnen Mitgliedstaaten durch ihre Blockzugehörigkeit gebunden sind, desto flexibler ist die gesamteuropäische Maschinerie. Manche Ost/West-Staatenpaare könnten bereit sein, in ihren kooperativen Projekten weiter zu gehen als andere und wegweisend zu sein, wie das in den letzten Jahren so häufig geschehen ist. Drittens stellt das erste Modell die Mitglieder der subregionalen Organisationen und die blockfreien Staaten auf ein und dieselbe Stufe, während das dritte Modell die Blockfreien über-B geht — oder sie zwingt, einen eigenen Block zu bilden.
Es gibt aber auch Gründe, dem dritten Modell den Vorzug zu geben. Erstens entspricht es eher den derzeitigen Realitäten in Europa. Zweitens erlaubt es den beiden Systemen, sich — vor Durchdringung und Spaltungsversuchen von außen geschützt — nach ihren eigenen Prämissen zu entwickeln. Und drittens ermöglicht es eine geordnetere, prognostizierbarere Form des Verhaltens, da keine Flexibilität vorhanden ist, die den entscheidenden Mächten ungelegen sein könnte. Mit anderen Worten, dieses Modell trägt der Teilung Europas in zwei Blöcke Rechnung. (Das Gegenargument ist, daß die beiden Blöcke möglicherweise so autark werden, daß, zu welcher Form der gesamteuropäischen Kooperation sie sich auch immer bereitfinden könnten, ihr Engagement auf dieser Ebene — verglichen mit den großen Strömen der subregionalen Integration — nur ein kleines Rinnsal sein wird.)
Gegen das Argument, daß das dritte Modell „realistischer" sei, sprechen zwei Umstände. Erstens wird die internationale Gesellschaft die „patries“ in Europa noch lange als solche behandeln. Solange sie nicht explizit ihre Vereinigung (als Endstufe der Integration, die sowohl den wirtschaftlichen, als auch den militärischen und politischen Aspekt umfaßt) erklären, werden sie als autonome Staaten und nicht als Teile eines Superstaates behandelt werden. Sie werden jeder für sich einen Sitz in den Vereinten Nationen, eine Stimme in internationalen Konferenzen usw. haben, auch wenn die Stimmen der Mitglieder eines Blockes dank der „Harmonisierung" nie voneinander abweichen würden.
Zweitens: Wenngleich die EWG sich einem Integrationsniveau zu nähern scheint, aus dem nicht nur Koordination im Innern, sondern auch konzertiertes Handeln nach außen resultieren wird, ist das für den COMECON nicht der Fall. Sogar das in Bukarest beschlossene Programm nennt Rahmenfristen von 15 bis 20 Jahren. Wie stark eine politisch-militärische Koordination in den Augen des Westens auch sein mag, der COMECON ist nicht bereit, nach außen als einheitlicher Wirtschaftsblock aufzutreten, was vielleicht so zu erklären ist, daß dieses Konzept eher in den kapitalistischen Rahmen paßt. Dieser Unterschied ist wesentlich größer, als westliche Analysen ihn darstellen, wenn sie zum Beispiel vom „östlichen Gaullismus" (in Rumänien) sprechen. Aber was auch immer die Ursache ist, die Struktur wird wahrscheinlich vom niedrigsten Integrationsniveau bestimmt. Angesichts dieser beiden Tatsachen ist es nicht mehr so leicht, mit Sicherheit zu sagen, welche der beiden Lösungen „realistisch“ ist. Zudem gibt es Argumente, die für beide Modelle sprechen. Infolgedessen ist es nicht nur wahrscheinlich, sondern vielleicht auch wünschenswert, daß ein Kompromiß zwischen den beiden Modellen gefunden wird.
Eine mögliche Kompromißformel wäre eine Form der Kooperation, in der die Mitglieder Staaten sein müssen: die 30 europäischen Staaten und die zwei nordamerikanischen Staaten, USA und Kanada. Zwischenstaat23) lidie Organisationen würden als Berater eingeladen. Diese Organisationen sind — grob gesehen — in vier Arten einzuteilen: 1. weltweite Organisationen wie die Vereinten Nationen mit ihren Sonderorganisationen und übrigen Organen; 2. ähnliche Organisationen aus anderen Regionen (wie die OAU, die vielleicht gern einen Beobachter hätte); 3. gesamteuropäische Organisationen, insbesondere die Wirtschaftskommission für Europa; 4. die subregionalen Organisationen. Die ersten drei Arten sind unproblematisch, denn ein funktionsfähiger gesamteuropäischer Apparat würde die bestmögliche Verbindung zu den führenden weltweiten Organisationen herstellen, den bestmöglichen Kontakt zu den ähnlichen Organisationen außerhalb Europas aufnehmen und die bestehende gesamteuropäische Kooperation speziell hinsichtlich der UNO ausbauen. Die vierte Art ist dagegen insofern problematisch, als die subregionalen Organisationen — die NATO und die Organisation des Warschauer Vertrages im militärischen Bereich, die OECD und der COMECON sowie (allerdings!) die EWG im wirtschaftlichen Bereich (und bis zum gewissen Grade der Europarat im politischen Bereich) — samt und sonders Ausdruck der Zweiteilunn Europas sind.
Eine Lösung wäre, die subregionalen Organisationen ganz aus der gesamteuropäischen Kooperation herauszuhalten unter der Annahme, daß die einzelnen Mitgliedstaaten sie ohnehin zu Koordinationszwecken in Anspruch nehmen würden. Ein Nachteil wäre, daß ein starkes, elementares Interesse daran bestünde, die subregionalen Organisationen in den eigentlichen Brennpunkt der Aufmerksamkeit zu rücken und zu den wahren Entscheidungszentren zu machen, so daß der Ost-West-Dialog auch künftig das bleibt, was er ist: ein Dialog zwischen den Kommuniques der subregionalen Organisationen und ein Austausch von Reiseeindrücken der Spitzenpolitiker von Ihren gegenseitigen Besuchen in den Metropolen. Eine gesamteuropäische Konferenz wäre dann nichts weiter als ein Zeremoniell am Ende der subregionalen Gespräche, zu dem die Spitzenpolitiker in dieselbe Hauptstadt reisten. Man mag einwenden, daß dies ohnehin der Fall sein wird. Aber gerade deshalb könnte man die subregionalen Organisationen auch innerhalb des gesamteuropäischen Kooperationsapparates belassen und insofern Zeit sparen, als man einen Teil der „Koordination" sofort an Ort und Stelle erledigen könnte, ja sogar vor, während und nach der gesamteuropäischen Konferenz Zeit dafür bliebe. Andererseits würde ihre volle Beibehaltung den Charakter der gesamteuropäischen Konferenz und des gesamteuropäischen Kooperationsapparates unnötig stark in Richtung auf eine Konfrontation der beiden Blöcke verändern, wobei auch die blockfreien Staaten ausgeschlossen wäreni
Auf diesem Hintergrund muß hervorgehoben werden, daß es einen wichtigen Unterschied zwischen Militär-und Wirtschaftsorganisationen gibt. Es ist durchaus denkbar, daß die gesamteuropäische Kooperation eines Tages so weit vorangeschritten sein wird, daß das militärische System zwar bei weitem nicht abgeschafft, aber doch so stark in den Hintergrund getreten ist, daß man von der Verwirklichung der vollkommenen Zielverlagerung (distargeting, nicht der völligen Abrüstung) sprechen kann. Auf diese Weise kann ein neues Sicherheitssystem entstehen, das auf gleichberechtigter Kooperation und Konfliktbeilegungsinstitutionen aufbaut und damit eine Atmosphäre schafft, in der die Militärbündnisse aufgelöst werden können. Aber es ist nicht wahrscheinlich, daß sich der gleiche Prozeß bei den Wirtschaftsorganisationen vollzieht; denn sie sind viel tiefer in der Sozialstruktur der beiden Systeme verankert, und die Kettenreaktionen sind vermutlich schon zu weit gegangen, als daß man sie noch umkehren oder ihnen gar Einhalt gebieten könnte. Wahrscheinlich sind sie schon so weit fortgeschritten, daß das ideale gesamteuropäische System (das erste Modell) nicht mehr zu verwirklichen ist — wir werden also das Beste aus dem zweitbesten (dem dritten Modell) machen müssen. Unsere Aufgabe ist demnach, dieses dritte Modell, das bizentrische Europa, so funktionsfähig wie möglich zu machen und zu verhindern, daß das zweite Modell, das unizentrische Europa, in welchem ein Block den anderen beherrscht sich durchsetzt Dies hat eine institutioneile Seite — Form der Kooperation — und eine materielle Seite — Bereich der Kooperation. Im Lichte des Vorhergesagten wollen wir hier in Kürze die institutioneile Seite abhandeln Ist es überhaupt möglich, zu einem solchen Kompromiß zu kommen: zu einer gesamteuropäischen Organisation, die über den subregionalen Organisationen steht, welche sich aller Wahrscheinlichkeit nach auch weiterhin gegenseitig zum Integrationswettlauf anstacheln werden? Vor fünf Jahren hätte man wohl gefragt: Ist es nicht wahrscheinlich, daß eine gesamteuropäische Organisation zu stark werden würde, weil sie die beiden Systeme so stark zusammenschmiedet, daß sie einander durchdringen und gefährliche Konflikte heraufbeschwören werden, indem sie einander entweder abstoßen oder vereinnahmen? Heute würde die Frage eher lauten: ist es nicht wahrscheinlich, daß die Organisation für eine gesamteuropäische Sicherheit und Zusammenarbeit sich als zu schwach erweisen wird, um überhaupt eine friedensstiftende Wirkung haben zu können?
Wir können uns ohne Schwierigkeiten vorstellen daß jährlich (oder alle zwei Jahre) eine Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa stattfindet, und zwar auf hinlänglich hoher Ministerialebene, so daß es auch zu Entscheidungen kommt; wir können uns weiter vorstellen, daß eine kleine Dauereinrichtung aus den vorbereitenden Stadien herauswächst, z. B. mit einem Ausschuß von Regierungsvertretern (V ertretern der Minister) und einem kleinen Sekretariat (vielleicht zunächst vom Gastland gebildet, dann mit Personal besetzt, das von den Ministerien und zwischenstaatlichen Organisationen bestellt wird, und später vielleicht mit einem stärker transeuropäischen Stab), und wir können uns vorstellen, daß die Ad-hoc-Arbeitsgruppen schrittweise durch ständige Kommissionen ersetzt werden. Am Anfang wird der Grad der Organisiertheit nicht hoch sein. Das ist zu begründen mit dem immer noch vorhandenen Widerstand gegen die gesamteuropäische Annäherung, zum Teil mit einer gewissen Müdigkeit in bezug auf internationale Organisationen und mit dem Widerwillen, einer Sache finanziell verpflichtet zu sein, die man nicht aus vollem Herzen bejaht (im Gegensatz zu dem riesigen Etat, der für die europäischen Gemeinschaften schon aufgewendet wurde und ab 1. Januar 1975 sogar automatisch aufgebracht werden soll). Zugleich meinen wir, daß, was immer auch getan wird, die Vereinten Nationen nicht geschwächt werden dürfen, d. h., daß die Kooperation nach Möglichkeit von den Organen der UNO, vor allem der Wirtschaftskommission für Europa, und den europäischen Zweigen der Sonderorganisationen (insbesondere der UNESCO) und anderen Organen getragen werden sollte — und dies in ständigem und vollem Einvernehmen mit der Weltorganisation. An keinem Punkt sollte es Grund zu dem Verdacht des europäischen Separatismus geben.
Aber in einem Bereich besteht eine eindeutige Notwendigkeit, eine Institution zu schaffen — das ist der allgemeine Bereich der Sicherheit und der politischen Konsultationen. Hier wäre ein Prozeß ins Auge zu fassen, durch den Arbeitsgruppen über Fragen der allgemeinen Sicherheit (einschließlich der Frage, wie die politischen Konsultationen aussehen sollen, wenn sich die Lage zu einer Krise zuspitzt), über Abrüstung/Rüstungskontrolle und verwandte Themen sowie über die sicherheitsrelevanten Aspekte der Kooperation nach eine* gewissen Zeit in einer ständigen Sicherhekskommission für Europa (und Nordamerika) — SCE(NA) — institutionell vereinigt werden könnten. Eine solche Kommission käme auf Initiative der unmittelbar betroffenen Länder zustande, könnte aber auch einen institutionellen Zusammenhang mit dem Sicherheitsrat der Vereinten Nationen anstreben, vergleichbar etwa der Verbindung, die zwischen der Wirtschaftskommission für Europa und dem Wirtschafts-und Sozialrat der UNO besteht. Sie würde dem Sicherheitsrat regelmäßig Bericht erstatten und ihm alle Angelegenheiten übertragen, die die Anwendung von Gewalt betreffen und an denen außer-europäische Nationen beteiligt sind. Demnach wäre die SCE(NA) der Versuch, die Funktionen des Sicherheitsrates der UNO in der Weise zu dezentralisieren, wie es bereits bei der Organisation der afrikanischen Einheit und der Liga der arabischen Staaten geschehen ist (das OEA/OAS-Konzept der westlichen Hemisphäre beziehen wir hier wegen seiner hegemonialen Struktur nicht ein). Aus diesem Grunde sollte jede Organisation dieser Art so angelegt sein, daß auch von anderen Regionen ähnliche Kommissionen installiert werden können, was nicht unbedingt simultan geschehen muß
Ein Einwand liegt auf der Hand: Da eine solche Kommission — wie die Wirtschaftskommision für Europa — nach dem Prinzip der Einstimmigkeit verfahren müßte, was in der Praxis bedeutet, daß jedes Mitgliedsland ein Vetorecht hat, käme in keiner wichtigen Angelegenheit eine Entscheidung zustande. Um es deutlicher zu sagen: durch Vetoeinlegung blockierte Resolutionen der Vereinten Nationen wären nach wie vor vetoblockiert. Die einzige Ausnahme wäre das chinesische Veto, und dies würde den Verdacht der Chinesen erhärten, daß die europäische Sicherheitskonferenz und das, was sich daraus ergeben könnte, darauf abzielen, China von wichtigen Entscheidungsprozessen auszuschließen und damit dem „betrügerischen Geheimpakt zwi-sehen Imperialisten und Revisionisten Vorschub zu leisten. Obwohl Chinas Aufnahme in die UNO in der Tat sich als Katalysator für die gesamteuropäische Kooperation einschließlich der anderen vier Großmächte auswirken wird, hat China schwerlich das Recht, eine Region daran zu hindern, mit sich selbst zu einer Einigung zu kommen, solange die Folgen für den Rest der Welt insgesamt positiv sind.
Dennoch hat das Argument einen nicht zu übersehenden Wahrheitsgehalt. Aber der Schwerpunkt dürfte nicht so sehr auf den entscheidungsfällenden Sitzungen der Kommission liegen (an denen alle Mitgliedstaaten teilnähmen), als vielmehr auf der ständigen Arbeit des Sekretariats und den damit eng verbundenen Kooperationsmaßnahmen. Es ist schwer einzusehen, wie dies innerhalb der UNO qua Weltorganisation zu bewerkstelligen wäre, und es ist ebenso schwer einzusehen, daß es Europa nicht gestattet sein sollte, das gleiche Maß an Dezentralisation zu fordern, wie es die afrikanischen Staaten gefordert und verwirklicht haben. So ist das alte Argument, daß ein Mehr an Entspannung ein Weniger an „Hilfe" bedeutet, weil die Motivation, diese „Hilfe" zur politischen Einflußnahme zu nutzen, nachläßt, kaum schlagend, was zum Teil darauf zurückzuführen ist, daß der Ost-West-Konflikt nicht mit der Arbeitsaufnahme dieser Organisation verschwinden wird.
Man könnte eine institutioneile Kooperation ins Auge fassen, deren Struktur etwa so wie die im Schaubild 2 dargestellte aussähe. Jedoch sind selbst diese institutioneilen Vorkehrungen noch nicht identisch mit einer Friedensstruktur. Sie sind nur ein Instrument, eine Form, die mit Substanz gefüllt werden muß. Wenden wir uns also der Substanz zu, den Bereichen der Kooperation.
X. Die Bereiche einer gesamteuropäischen Kooperation
Im großen und ganzen lassen sich die Bereiche für eine weitergehende Kooperation mit gesamteuropäischem Charakter in drei Gruppen einteilen.
Erstens sind da die Notwendigkeiten, die sich aus dem Konflikt zwischen den Teilen Europas, aus ihrer negativen Interdependenz ergeben. Wir haben sie in zwei Hauptgruppen aufgeteilt: a) alle die politischen Probleme, die eine Folge der durch und im Anschluß an den Zweiten Weltkrieg geschaffenen Situation sind, vielfach territorialer Art: b) die Probleme, die mit den in Europa existierenden Militärapparaten Zusammenhängen, zum Teil Folge der politischen Probleme. Letztere zer-fallen wiederum in zwei Gruppen: in Probleme der Rüstungskontrolle (zwecks -Verbes serung des Gleichgewichts) und in Abrüstungsprobleme.
Zweitens sind da die Notwendigkeiten, die sich aus der geographischen Nachbarschaft und den „Gleichartigkeiten" der Systeme ergeben. Die geographische Nachbarschaft liegt auf der Hand; desgleichen die Gleichartigkeiten. Zum Beispiel sind beide Systeme an einer Erhöhung ihrer Produktion, einer Erhöhung ihrer Produktivität und an der Verbesserung des Lebensstandards ihrer Bevölkerung interessiert. In der Definition dieser Ziele gibt es keinen großen Unterschied zwischen dem Osten und dem Westen Europas. Das sozialistische Europa legt größeren Nachdruck auf das Gemeineigentum nicht nur an Produktionsmitteln, sondern auch an vielen Konsumgütern; das kapitalistische Europa tendiert dahin, das Privateigentum an beiden zu betonen. Aber Waschmaschinen sehen überall gleich aus, ob sie nun allen gehören und im Keller des Wohnblocks installiert sind, öder ob sie Privateigentum sind und in der Küche oder im Bad der eigenen Wohnung stehen. Generell würde in diese Kategorie eine Reihe von Vorschlägen fallen, die lange Zeit auf der Tagesordnung der Wirtschaftskommission für Europa und anderer Organisationen gestanden haben. Am wichtgisten ist, daß der Handel wächst und gerechter wird, was bedeutet, daß der Westen in Zukunft mehr Industriegüter vom Osten importieren muß Drittens sind da die Möglichkeiten, die sich aus den Verschiedenartigkeiten der beiden Systeme ergeben. Hierher gehört die Möglichkeit, in mancherlei Hinsicht voneinander zu lernen, was auf beiden Seiten Lernwilligkeit und -bereitschaft voraussetzt. Während über die ersten beiden der obengenannten Kooperationsbereiche wohl allgemeine Übereinstimmung herrscht, ist dieser dritte Bereich möglicherweise mehr eine Sache der Zukunft, da die derzeitige Atmosphäre des Mißtrauens jeden, der daran interessiert ist, aus den Verschiedenartigkeiten zu lernen, dem Vorwurf der Ketzerei aussetzt.
Welche Mechanismen sind in diesen drei Bereichen vorstellbar? Für die ersten beiden ist die Antwort verhältnismäßig leicht zu finden, denn dies sind traditionelle Fragen, auf die traditionelle Antworten gegeben werden können. Etwas wie die im vorangegangenen Kapitel skizzierte Sicherheitskommission für Europa (und Nordamerika) wäre die grobe Antwort auf die Notwendigkeit einer dauerhaften Organisation für politische Konsultationen und die Erörterung von Sicherheitsproblemen. Entsprechend hieße die grobe Antwort auf die Notwendigkeiten des zweiten Bereichs: Wirtschaftskommission für Europa und regionale Zweige der UN-Organisationen, in angemessener Weise unterstützt und gefördert von Sonderkonferenzen auf Minister-ebene. In manchen Fällen mag jedoch die Kooperation und Koordination zwischen den subregionalen Organisationen desselben Bereichs (SST, Weltraum, Rundfunk/Fernsehen, Atomenergie) geeigneter sein (vgl. Anmerkung 29).
Der dritte der obengenannten Kooperationsbereiche wirft die schwierigste Frage auf. Grob gesagt, sind die Probleme dieses Bereichs weder Probleme der negativen Interdependenz (das wäre der erste Problemkreis), noch der eindeutig positiven Interdependenz (das wäre der zweite Problemkreis). Sie sind weder Probleme des Konflikts und der Sicherheit, noch des Handelns und der gemeinsamen Technologie. Vielmehr handelt es sich hier um Probleme, welche die beiden Systeme nach Maßgabe ihrer allgemeinen Grundsätze unterschiedlich zu lösen geneigt sind. Häufig kann es jedoch auch so sein, daß diese Lösung mit den Grundannahmen des anderen Systems vollkommen vereinbar sind und zum Beispiel einfach deshalb nicht entwickelt werden, weil niemand auf diesen Gedanken kam, da er sich nicht aus den „obersten Prinzipien“ ergab; häufig liegt es auch an einer Trägheit, die jedes System kennt. Gerade dieses gegenseitige Ausborgen von Mustern und Institutionen, die mit dem eigenen System vereinbar sind, haben wir im Sinn — nicht etwa die Übernahme von Mustern, die das eigene System aushöhlen würden. Solche Muster können auch plötzlich auftauchen, aber die allgemeine Vorstellung ist, daß sie aus einem inneren Prozeß resultieren müßten.
Nehmen wir einige Beispiele.
Nach unserer eigenen begrenzten Erfahrung ist das Problem, einen Ausgleich zwischen Stadt und Land zu finden, nirgends in Europa besser gelöst worden als in Bulgarien. Es geht um das Problem der Gleichheit, und zwar nicht nur in bezug auf den Lebensstandard, sondern auch in bezug auf den gesamtgesellschaftlichen Beitrag und damit in bezug auf die Würde des Menschen. Die Frage ist, wie man dem weltweiten Trend entgegenwirken kann, aufgrund dessen die Stadt zum Zentrum und das Land zur Peripherie wird (in dem im dritten Kapitel genannten Sinne), was manchmal sogar so weit geht, daß man von „innerer Kolonisation sprechen kann. Eine denkbare „Lösung“ ist die ländlichen Gebiete abzuschaffen und die gesamte Bevölkerung in Städte umzusiedeln, in denen der allgemeine Kontakt mit der Natur viel geringer und der produktionsbezogene Kontakt mit der Natur (die Tätigkeit im Prh märsektor) praktisch gleich Null ist, nämli dadurch, daß Landwirtschaft und Rohstoffge winnung mit Hilfe von vertikaler Arbeitsteilung oder Automatisierung oder beidem in andere Länder verwiesen werden. Was dabei verloren geht, ist der Nutzen, der noch nicht umweltverschmutzten Natur in der Freizeit und bei der Arbeit nahe zu sein — ganz abgesehen von dem Schaden, den diese besondere Form der Arbeitsteilung anrichtet, da sie nichts anderes bedeutet, als daß die kolonisierten ländlichen Gebiete in anderen Ländern zu finden sind. Andererseits sollten die Menschen, die sich für diese Form des Lebens entscheiden, das gleiche Redit auf Inanspruchnahme von Dienstleistungen (Bildungs-, Gesundheitswesen etc.) und auf Zugang zur Kultur (zum Konsumieren oder zur Selbstdarstellung) sowie auf Industrie, z. B. in Form von Kleinindustrie, haben. Voraussetzung dafür sind eine gewisse minimale Größe sowie ein hoher Grad der Differenzierung innerhalb der Dörfer — und diese Bedingungen erfüllt zu haben, kann von Bulgarien behauptet werden.
Ein anderes Beispiel wäre der Bereich der Partizipation, der Mitbestimmung in jeder Art von Organisation: in Schulen, Universitäten, Fabriken, Krankenhäusern, Gefängnissen. In ganz Westeuropa haben — weitgehend angeregt von der Entwicklung in den USA — bestimmte Formen der Revolution auf der Mikroebene der Organisationen stattgefunden — freilich nicht auf der allgemeinen gesellschaftlichen Makroebene. Diese Revolutionen sind Protestreaktionen gegen die vertikale Arbeitsteilung innerhalb der Organisationen, die sich darin ausdrückt, daß oben die Entscheidungen fallen und unten Gehorsam geleistet wird, sowie gegen die systematisch betriebene Vereinzelung (fragmentation) derer, die am unteren Ende der hierarchischen Leiter stehen — Schüler, Studenten, Arbeiter, Patienten, Häftlinge. Die Protestreaktionen haben zwei sichtbare Formen angenommen: Solidarisierung und Organisierung zur Überwindung der Vereinzelung und Forderung nach Veränderungen, nach dem Rotationsprinzip im Entscheidungsprozeß, nach Mitbestimmung, nach Neugestaltung der Organisation. In diesem Prozeß ist eine Reihe von Neuerungen im Bereich der Organisationen durchgesetzt worden, vor allem wohl im Erziehungsbereich. Wie schon im ersten Beispiel, so handelt es sich auch hier um ein generelles Problem, das überall auftaucht. Auch in diesem Bereich ist (wie in jedem anderen) noch keine endgültige Lösung gefunden, doch lohnt es sich sehr wohl, hier weiterzuarbeiten.
Wenden wir uns nun dem internationalen Bereich zu, und stellen wir einen Vergleich zwischen der EWG und dem COMECON an. Wir haben bereits darauf hingewiesen, daß beide Gemeinschaften bestrebt sind, das Problem der horizontalen Arbeitsteilung unter ihren Mitgliedstaaten in den Griff zu bekommen. Die eine möchte aus der Kooperation Nutzen ziehen, aus dem vergrößerten Umfang, ohne daß dabei der eine Mitgliedstaat den anderen beherrscht. Die andere wünscht Austausch und Kooperation, aber unter der Bedingung der Gleichheit und des beiderseitigen Nutzens Dabei unterscheiden sich jedoch die Maßnahmen, die in Verfolg des jeweiligen Ziels ergriffen werden, in einer Weise, welche sich aus der allgemeinen Natur der beiden Systeme ableiten läßt. So wird die horizontale Arbeitsteilung in der EWG zum Teil mit beiderseitiger Durchdringung, sich überschneidenden und gemeinsamen Investitionen erreicht, zum Teil durch die Schaffung recht starker supranationaler Institutionen, welche die Eliten der einzelnen Mitgliedsländer miteinander verbinden. Im COMECON wird das Ziel der horizontalen Arbeitsteilung mit einem viel geringeren Grad der Vermischung verfolgt: Die industrielle Kooperation sieht so aus, daß die Produktionsfaktoren, die in einem Land vorhanden sind, auch Eigentum dieses Landes sind, was durchaus mit gemeinsamen Investitionen vereinbar ist, zugleich aber bedeutet, daß die sozialistische Wirtschaftsintegration auf völlig freiwilliger Basis voranschreitet, nicht mit der Schaffung supranationaler Organe einhergeht und die Fragen der nationalen Planung, der Finanz-und Kostenberechnung oder der Organisationen nicht berührt.
Vom Standpunkt der EWG bedeutet dies wenig oder gar keine Integration, und es erhebt sich die Frage, ob für den COMECON nicht einige der in der EWG praktizierten supranationalen Kooperationsformen interessant sein könnten, zumal es immer offenkundiger wird, daß es in den Bereichen, welche die „elementaren nationalen Interessen" berühren, tatsächlich ein nationales Vetorecht gibt
Auf der anderen Seite stellt sich die Frage, ob die EWG nicht in den Beziehungen der COMECON-Länder untereinander Elemente finden könnte, die es wert wären, übernommen zu werden. Ein Beispiel: Als die DDR Polen den Vorschlag machte, daß arbeitslose polnische Arbeiter in die DDR kommen und dort, wo Arbeitskräftemangel herrscht, in Fabriken arbeiten könnten — ein Verfahren, das in den meisten EWG-Ländern so gehandhabt wird, daß sie Südeuropäer aus Nichtmitglieds-oder Mitgliedsländern beschäftigen, z. B. Italiener — wurde sie abgewiesen. Man fand folgende Lösung: In Polen werden Fabriken gebaut, die den polnischen Arbeitskräfteüberschuß aufnehmen, und die DDR ist aufgefordert, die polnischen Erzeugnisse — nicht die Arbeitskräfte — zu kaufen. Die positiven Folgen in bezug auf eine gerechtere Verteilung sind offenkundig, daß wir die Praxis des COMECON in diesem speziellen Bereich als gegenüber der EWG-Methode weiter fortgeschritten bezeichnen würden; denn in der EWG vollzieht sich im Grunde einfach das, was seit eh und je den Kapitalismus ausmacht — der freie Fluß der Produktionsfaktoren mit dem Ziel des optimalen Produktionsausstoßes, wobei der Begriff des „Optimums" eng umrissen ist.
Eine typische Reaktion auf solche Vorschläge wäre, die Errungenschaften der anderen Seite herabzusetzen, indem man entweder bestreitet, daß es Errungenschaften sind, oder leugnet, daß sie systemimmanent sind. Derlei Einstellungen mögen z. T. berechtigt sein, sind aber nicht sehr fruchtbar. Wir können mit Sicherheit annehmen, daß es noch auf Jahre hinaus Leute geben wird, die darauf beharren, es gebe per definitionem nichts von der anderen Seite zu lernen; es wird Leute geben, die sagen: wenn wir ein Element aufnehmen, dann wird dies unser ganzes System umstürzen, und es wird Leute geben, die sagen: wenn man der anderen Seite erlaubt, dies oder das zu lernen, dann wird sie zu gefährlich werden. Aber es wird auch eine (vielversprechend wachsende) Anzahl von Leuten geben, welche die — selbst bei unterschiedlichen Systemen vorhandenen — gemeinsamen Ziele hervorheben werden und den Lerneifer und die Fähigkeit besitzen, sich neue Erkenntnisse anzueignen und sich anzupassen. Für diese Leute sind die folgenden Absätze bestimmt; die anderen brauchen sie nicht zu lesen.
Unser erster konkreter Vorschlag wäre, den Rahmen für die Diskussion, die ernsthafte Diskussion solcher Fragen, zu erstellen. Es ist ein Affront, eine Beleidigung für die Völker Europas, daß solche Diskussionen meistens den Sachverständigen und sogenannten Gesprächen am runden Tisch vorbehalten sind, daß sie sich in Fachzeitschriften verstecken, die der Allgemeinheit nur sehr selten zugänglich sind und sie nie zur Mitwirkung auffordern. Das läßt sich nur zum Teil damit begründen, daß die Fragen entweder selbst zu emotional besetzt oder von höchst emotional besetzten Nebenfragen überschattet waren. Vielmehr sind beide Teile Europas auch in dieser Hinsicht gefährlich selbstgenügsam geworden. Verschiedene Formen marxistisch-liberaler Auseinandersetzungen — sofern das überhaupt der richtige Ausdruck ist — finden innerhalb der Blöcke statt. Zwischen den Blöcken ist nur Raum für höchst konkrete „kleine Schritte', die oft so klein sind, daß überhaupt nichts geschieht. Das gegenseitige Kritisieren, ja Beschimpfen hält an, manchmal sogar im alten Stil; aber dies ist kein Dialog, sondern hauptsächlich nach innen gesprochen, keineswegs eine Bitte um Antwort. Ein ernsthaftes Zwiegespräch findet praktisch nicht statt.
Keine der beiden Seiten fürchtet die Diskussion. Wir denken hier jedoch nicht an Diskussionen unter Staatsmännern; ihr Beruf liegt nicht in diesem Bereich. Was wirklich nötig ist, ist die Diskussion zwischen Intellektuellen, Arbeitern, Studenten, jedermann aus Ost und West. Mehrere Foren bieten sich an:
— Gesamteuropäisches Fernsehen, TV-Diskussionen oder zumindest gemeinsame Funk-und Fernsehsendungen in den blockfreien Ländern;
— Zeitungsdiskussionen, vielleicht zunächst in den Zeitungen der blockfreien Länder, später dann in größerem Rahmen;
— öffentliche Versammlungen mit Diskussion, mit anderen Worten, eine öffentliche Version solcher überaus nützlichen Konferenzen, wie sie sehr häufig für Wissenschaftler z. B. auf dem Gebiet der internationalen Beziehungen veranstaltet werden;
— Jugendlager, deren Teilnehmerkreis so breit angelegt ist wie bei den vor Jahren stattfindenden Weltjugendfestspielen und die mehr den neutralen Tenor einer Konferenz haben.
Wir könnten uns auch noch weitere Schritte vorstellen. Im Detail: In das Netz der gesamteuropäischen Institutionen könnte eine Kommission für die Zukunft Europas eingefügt werden, welche die Funktion hätte, ein Forum für diese Diskussion zu sein. Ihre Tagungen wären durchweg öffentlich. Sie wäre nicht mit langfristiger Wirtschaftsplanung oder technologischen Vorhersagen oder dergleichen befaßt; dies wird ohnehin Aufgabe der subregionalen und regionalen Wirtschaftskommissionen sein; und sie würde nicht von der üblichen (unhaltbaren) Annahme der grundsätzlichen Kontinuität ausgehen. Vielmehr wu 5 eine solche Kommission die Konzeption de beiden Systeme im größeren Zusammenhana erörtern, um künftige Kollisionskurse un künftige Möglichkeiten für eine verstärkte Kooperation besser antizipieren zu können. Ferner würde sie sich mit den Gleichartigkeiten der europäischen Gesellschaften beschäftigen, um den Kooperationsrahmen zu erweitern, sowie mit den Verschiedenartigkeiten, um sich ein klareres Bild darüber zu machen, inwieweit beide Seiten bereit und fähig sind, voneinander zu lernen. Keineswegs hätte diese Kommission die Aufgabe, einen Entwurf für die zukünftige europäische Gesellschaft zu erstellen. Wir könnten uns im Gegenteil eine viel erfolgversprechendere Aufgabe denken, nämlich, einige Vorstellungen darüber zu entwickeln, auf welche Weise die Koexistenz der beiden Systeme eines Tages für jeden Europäer — wie auch für Nichteuropäer — zur Quelle einer viel reicheren Lebenserfahrung werden könnte, indem die Vielfalt (mit Ausnahme von Formen, die gegen die Humanität verstoßen) bewahrt wird und die Möglichkeiten, sich aus dem einen Teil Europas in den anderen zu begeben, gesteigert werden. Der Austausch von Studenten und Arbeitern, von Planem, von Landwirten — von allen Menschen, die mehr über die Funktionsweise des anderen „Systems" erfahren möchten —, dies wären die wichtigsten Bausteine für das zukünftige Europa, und sie sind durchaus nicht utopisch
In diesem kategorialen Rahmen könnte begonnen werden, wirklich neue Formen der Ost-West-Kooperation in Europa zu ersinnen. Hierzu könnte zum Beispiel eine von Ost und West'gemeinsam betriebene Versuchsanlage als Experiment im Bereich der industriellen Organisationen gehören. Die Möglichkeit gesamteuropäischer Unternehmen in einzelnen ausgewählten Bereichen, nicht nur auf den konventionellen Gebieten der Energieversorgung, des Transports und Verkehrs, sondern auch im Bereich der Publikation — z. B.der Ost-West-Dialoge — fiele ebenfalls in diese
Kategorie. Auch ein gemeinsames Forschungszentrum zur Untersuchung der Zukunftsfragen, das keinen so formellen Charakter hätte wie die oben genannte Kommission, könnte ohne weiteres entstehen, sobald das erforderliche „grüne Licht" in der Politik erst einmal gegeben ist. Eine weitere Möglichkeit wäre eine gesamteuropäische Universität, die nicht zu den rasch entstehenden Weltuniversitäten in Konkurrenz tritt, sondern vielmehr einer von ihnen als regionale Tochter angegliedert wäre. Das alte Problem, ob eine solche Universität die Form eines konkreten gesamteuropäischen Campus annehmen oder ein Netz von kooperierenden Universitäten (bzw. eher Instituten) sein sollte, könnte am besten mit einem „Sowohl-als-auch" gelöst werden.
Sehr wichtig in diesem Bereich wäre die nachdrückliche Forderung nach sinnvollen gemeinschaftlichen und nicht-ausbeuterischen Entwicklungsprojekten. Die Länder der Dritten Welt (vor allem die weniger entwickelten und abhängigen kapitalistischen Länder) haben ein Recht darauf, zwischen den verschiedenen Lösungsmöglichkeiten desselben Problems zu wählen, und nicht auf die Lösung festgelegt zu werden, die eine Nation entwickelt und auf dem bilateralen Weg der technischen Hilfe übermittelt hat.
Westeuropa muß noch viel, lernen, wo es darum geht, technische Hilfe in einer einheitlichen, die'Unabhängigkeit fördernden Form zu leisten; Osteuropa hätte vielleicht in bezug auf effiziente Organisationen noch etwas zu lernen. Aber dieses allgemeine Problem kann nur innerhalb der von einem konkreten Projekt gezogenen Grenzen sinnvoll erörtert und weiterentwickelt werden.
Begnügen wir uns mit diesen Hinweisen auf neue Bereiche der Kooperation, in denen nicht so sehr die Gleichartigkeiten, als vielmehr die Verschiedenartigkeiten der beiden Systeme im Hinblick auf ihr friedensförderndes Potential genutzt werden. Am Ende ist dies vielleicht die wahre Lösung des Problems der Herbeiführung einer Symbiose mit Symmetrie. Aber dies wird Zeit brauchen, dies wird ein Prozeß sein müssen.
XI. Schlußfolgerung: Kooperation und Koexistenz
In der Einleitung erwähnten wir, daß dieses Programm nicht auf dem Gedanken der Konvergenz, sondern der Interdependenz der beiden Systeme beruht. Die gängige Redewendung, die im sozialistischen Europa benutzt und allmählich auch vom kapitalistischen Europa übernommen wird, bringt dies gut zum Ausdruck: aktive friedliche Koexistenz der Länder mit unterschiedlichen Gesellschaits-und Wirtschaftsordnungen. Wie ist diese Formulierung konkret zu interpretieren, ohne daß eine Text-und historische Analyse vorgenommen werden soll?
Erstens kommt in dieser Formulierung zum Ausdruck, daß eine Kooperation zwischen unterschiedlichen Systemen nicht nur möglich, sondern sogar wünschenswert ist. Das bedeutet, daß die Konvergenz der beiden Systeme oder die plötzliche Veränderung eines der Systeme in Richtung auf das andere keine notwendige Bedingung für eine „aktive friedliche Koexistenz" ist. Um den Grad der zwischen ihnen stattfindenden Interaktion zu steigern, brauchen die Systeme sich nicht auf halbem Wege oder auf dem Boden des einen von beiden zu treffen. Dies sollte mithin als ein Standpunkt betrachtet werden, der sich sowohl gegen die Konvergenzthese als auch gegen die These vom drohenden Zusammenbruch des Systems der anderen Seite richtet.
Zweitens bedeutet dies aber genauso wenig, daß jede der beiden Seiten annehmen muß, ihr eigenes oder das andere System werde auf ewig Bestand haben. Beide Seiten werden wahrscheinlich darin übereinstimmen, daß jedes System dem „Gesetz des Wandels" unterliegt — ob dies nun dialektisch geschehen wird oder nicht. Aber in dem Begriff „friedliche Koexistenz" steckt explizit der Gedanke, daß, welcher Wandel auch immer sich in einem „System" vollzieht, er der anderen Seite nicht aufgezwungen werden darf. Es soll eine Politik der „Nichteinmischung", des „Nichtangriffs" verfolgt werden, ja, es soll sogar Regeln der Koexistenz, des Wohlverhaltens geben. Welche Veränderung auch immer eintritt, sie soll das Ergebnis wahrhaft innerer Entwicklungsprozesse sein. Man mag derlei Prozesse für zwangsläufig oder vermeidbar halten, doch darum geht es hier nicht. Ein System mag der Ansicht sein, es werde das andere überleben, ja sogar „beim Begräbnis des anderen zugegen sein“ können (was etwas ganz anderes ist als die so häufig vorkommende Übersetzung „das andere System begraben" Aber dies sollen innere Prozesse sein, ob sie nun als der Gesellschaftsordnung inhärent oder als Ergebnis der individuellen oder kollektiven Willensentscheidung betrachtet werden.
Drittens (und vielleicht überinterpretieren wir hier): Wenn die Koexistenz aktiv sein soll, dann muß ein Element des Austausches und der Kooperation vorhanden sein, andernfalls wäre sie eine passive friedliche Koexistenz, ein bloßes Nebeneinanderherexistieren, wie bei Eisenbahnschienen. Aber Austausch und Kooperation müssen bis zum gewissen Grade von dem Gedanken des komparativen Nutzens getragen sein, was wiederum bedeuten muß, daß die andere Seite etwas besitzen muß, das zu erwerben sich lohnt. In Zeiten, in denen beide Systeme aufeinander herabblikken, werden sie meistens auch bestreiten, daß das, was sie von der anderen Seite zu erwerben wünschen, auf deren System zurüdezuführen ist. Der Westen wird sich bemühen, vom Osten Nahrungsmittel und Rohstoffe zu bekommen, und diese werden ungeachtet des Systems wahrscheinlich immer die gleichen sein. Der Osten wird wohl bestrebt sein, vom Westen Technologie zu erwerben, zugleich aber die fortgeschrittene Technologie des Westens nicht als eine Frucht des Kapitalismus ansehen, sondern als einen frühen Erfolg auf dem Gebiet der Industrialisierung, der den imperialistischen Verhältnissen zu verdanken ist. Es erübrigt sich zu sagen, daß diese Einstellung nicht gerade so fruchtbar ist, daß man auf ihr eine sinnvolle Kooperation aufbauen könnte. Viel fruchtbarer wäre es, wenn beide Seiten in der Lage Wären, nach systemimmanenten Entwicklungen auf der anderen Seite Ausschau zu halten — wie im vorhergehenden Abschnitt erwähnt —, ohne daß dies zur Konvergenz führte.
Denn Konvergenz ist beklagenswert nicht nur vom Standpunkt der beiden Systeme, die jedes für sich von ihrer eigenen Überlegenheit in bestimmten grundlegenden und grundsätzlichen Dingen überzeugt sind. Konvergenz wäre auch im Hinblick auf den Pluralismus zu beklagen, im Hinblick darauf, daß Konver-genz nach einer Seite oder zur Mitte ein Europa zur Folge hätte, das weniger reich an sozialer Erfahrung wäre. Wir sollten sogleich hinzufügen, daß dies keine Entschuldigung für menschenfeindliche Regime wie das faschistische und nationalsozialistische System ist; es ist kein Plädoyer für ein Europa, das einem Warenhaus gleicht, dessen Sortiment alle möglichen Regime aufweist. Es ist ein Plädoyer für eine — in Grenzen gehaltene — Vielfalt.
Vielleicht kann man es folgendermaßen formulieren: Zwei Hauptziele sind für einen großen Teil des gesamten politischen Strebens der Menschen Leitbilder gewesen: egalite und liberte (der dritte Teil des Wahlspruches aus der Französischen Revolution, fraternite — oder Solidarität — ist vielleicht eher als Mittel oder konstituierendes Element für die ersten beiden zu verstehen). Sowohl die sozialistischen im Osten als auch die kapitalistischen parlamentarischen Demokratien im Westen Europas stellen den Versuch dar, diese Ziele zu erreichen. Bisher mag es wohl so sein, daß Osteuropa mehr für die Gleichheit als die Freiheit und Westeuropa mehr für die Freiheit als die Gleichheit getan hat. Sprecher beider Seiten mögen die Zulässigkeit dieses Vergleichs bestreiten und zudem darauf hinweisen, daß die Begriffe in den beiden Systemen wohl einen unterschiedlichen Bedeutungsinhalt haben. Gleichviel, die beiden Teile Europas sind aus derselben jahrhundertealten Tradition von Zwietracht und Harmonie, Zerstörung und schöpferischem Wiederaufbau hervorgegangen, und es wäre sonderbar, wären ihre Hauptziele nicht irgendwie die gleichen und sollten sie nicht eine breite Basis für die Kooperation abgeben.
Im Laufe dieser Kooperation werden neue Ziele auftauchen, neue Systeme geschaffen werden; die heutigen Systeme werden überwunden werden, wie sie sich ja selbst auch von den vorhergehenden unterscheiden. Es keine Gefahr Konvergenz: die besteht der Realität des menschlichen Lebens ist dafür zu vielfältig. Die einzige reale Gefahr liegt in der Versteinerung der derzeitigen Systeme; diese Gefahr zu überwinden und zugleich der Sache des Friedens einen Dienst zu erweisen, war der Sinn und die Absicht der hier vorgetragenen Gedanken.
Trends im innereuropäischen Handel
Den besten Einblick in den innereuropäischen Handel gewinnt man durch das Studium des „Analytical Report on the State of Intra-European Trade" eines Berichts, den die Wirtschaftskommission für Europa 1970 erstellte und der auch Angaben der OECD enthält. Der Bericht bezieht sich auf den Zeitraum von 1957 bis 1967. Hier einige der wichtigsten Ergebnisse:
1, Teilt man Europa in EWG, EFTA, übriges Westeuropa und Osteuropa — wobei Finnland nicht zur EFTA gezählt und der innerdeutsche Handel ausgeklammert wird -—, dann läßt sich die jährliche ’Wachstumsrale des Handels wie folgt beschreiben: Die durchschnittliche Wachstumsrate des gesamten europäischen Handels betrug 9, 7 %. Die höchste Rate hatte der Handel innerhalb der EWG aufzuweisen (13, 1 °/o), die niedrigste der Handelsstrom von den EFTA-Ländern in die EWG-Staaten (6, 5 °/o), womit gesagt ist, daß das bedeutsamste Ereignis in dem genannten Zeitraum die Abspaltung der EFTA von der EWG war. Im Vergleich dazu hatte der Handel innerhalb Osteuropas eine Wachstumsrate von nur 8, 7 0/o und der Handel innerhalb der EFTA nur 9, 2 %, d. h., beide lagen unter dem europäischen Durchschnitt. Am dynamischsten entwickelte sich der Handelsstrom der EWG (außer in die EFTA-Länder) und des übrigen Westeuropas nach Osteuropa.
2. Was die Zusammensetzung der Waren angeht, so benutzt der Bericht einen einfachen und effektiven Maßstab, er „addiert die rechnerische Differenz zwischen den Prozentanteilen" für die jeweiligen Warenklassen und die verschiedenen Handelsströme. Je größer die Diskrepanz, d. h., je größer (im allgemeinen) die Tendenz, daß ein Handelsstrom in den Standardklassen des internationalen Handels (SITC) niedriger und der andere höher rangiert, desto höher dieser Index. Der Bericht führt sieben solcher Vergleiche durch und konstatiert im Jahre 1967 die größte Diskrepanz zwischen den Importen Osteuropas (OE) aus Westeuropa (WE) und den WE-Importen aus OE. Im gleichen Jahr besteht die geringste Diskrepanz zwischen den WE-Importen aus OE und den WE-Importen aus der übrigen
Welt, mit anderen Worten, Westeuropa besitzt eine bestimmte allgemeine Importstruktur, die sich nicht ändert. Als Folge davon war die zweitgrößte Diskrepanz 1967 zwischen dem Handel innerhalb Westeuropas und den WE-Importen aus OE festzustellen. Dieses Bild wird noch deutlicher, wenn man es über einen Zeitraum betrachtet: Die beiden Handels-ströme, zwischen denen 1967 die größte Diskrepanz bestand, standen auch 1957 an der Spitze der Diskrepanzskala, nur noch nicht so hoch, d. h., die Entwicklung läuft mit schnellen Schritten in die Richtung einer erhöhten Diskrepanz.
3. Präziser ausgedrückt, sieht der Handels-strom zwischen West-und Osteuropa, aufgeschlüsselt nach den großen Warenklassen, so aus wie in der Tabelle A (vgl. S. 29)
Die Diskrepanz ist sehr groß und erinnert an eine koloniale Handelsstruktur. Darüber hinaus entwickelt sich der Handelsstrom von WE noch OE dynamisch und läuft auf eine Steigerung der Industriegüterexporte hinaus; beim Handelsstrom von OE nach WE ist eine ganz leichte Bewegung in dieselbe Richtung zu verzeichnen. Der unter Punkt 2 genannte Vergleichsmaßstab der beiden Handelsströme stieg von 76, 8 % im ersten auf 95, 0 % im zweiten Zeitraum.
4. Diese Tendenz wird noch deutlicher, wenn wir uns den Anteil der Fertigwaren am Gesamtexport ansehen. Der Anteil der Fertigwaren am Gesamtexport der EWG nach OE stieg im Zeitraum 1957— 1967 von 78, 6 auf 90, 4 Prozent, während er innerhalb Osteuropas nur einen Anstieg von 53, 5 auf 70, 6 Prozent zu verzeichnen hatte. Die EWG ist zugleich der einzige Handelsraum, der in der genannten Periode keinerlei Neigung zeigt, den Anteil der aus OE importierten Fertigwaren zu erihen (gleichbleibend 26, 7 °/o), während alle anderen Anteile an Fertigwaren aus anderen Handeisräumen gestiegen sind.
5. Wenden wir unsere Aufmerksamkeit von den Fertigwaren ab und den forschungsintensiven Erzeugnissen zu, dann bietet sich hier dasselbe allgemeine Bild: diese Erzeugnisse sind „primär im östlich orientierten Handels-35 strom wichtig". So betrug der Anteil bestimmter forschungsintensiver Erzeugnisse nach Angaben der OECD 1964 1968 bei Importen aus der Sowjetunion: 0, 6 °/o 1, 20/0 bei Exporten in die Sowjetunion: 12, 2 ®/o 18, 1 0/0 bei Importen aus dem übrigen OE: 3, 4 0/0 3, 7 0/0 bei Exporten in das übrige OE: 15, 7 % 17, 7 % Wieder ist das Bild ganz; eindeutig: grobe Diskrepanzen zwischen den beiden Handels-strömen und wesentlich weniger Dynamik im Handelsstrom von Ost nach West. Zudem ist dieses Bild für die Sowjetunion noch ausgeprägter als für das übrige Osteuropa. Hinter den existierenden Veränderungen steht natürlich ein entscheidender Faktor: die Entspannung der Handelsbeziehungen unter strategischem Gesichtspunkt.
In einem Artikel des polnischen Volkswirtschaftlers Soldaczuk taucht dasselbe Bild auf, nur, daß er andere Jahreszahlen heranzieht (Tabelle B). Die Bilder gleichen sich sowohl im Hinblick auf die Zusammensetzung als auch die Dynamik des Handels.
Den gleichen Eindruck gewinnt man, wenn man die EWG-Statistik studiert Aus ihren Daten geht hervor, daß der Anteil der Nahrungsmittelexporte der COMECON-Länder in die EWG (besonders nach Westdeutschland und Italien) von 22, 4 Prozent im Jahre 1958 auf 24, 8 Prozent im Jahre 1969 stieg, was einem absoluten Wert von 152 Mio Dollar bzw. 604 Mio Dollar entspricht. Auf der anderen Seite stieg der Handel mit Waren der SITC-Kategorien 6, 7 und 8 zwischen 1958 und 1969 von 20, 9 auf 27, 4 Prozent, aber die SITC-Warenklassen 5 bis 8 in umgekehrter Richtung machten 90 Prozent des EWG-COMECON-Handels von West nach Ost aus.
Spezifizieren wir nun weiter und werfen wir einen Blick auf das wichtigste Land der EWG, die Bundesrepublik Deutschland, dann finden wir dort interessante Einzelheiten in der Struktur ihres Osthandels (ohne innerdeutschen Handel). Er weist einen beträchtlichen Anstieg auf: von 1, 9 Mrd. DM im Export und 1, 6 Mrd. DM im Import des Jahres 1959 auf 5, 1 bzw. 4, 0 Mrd. DM im Jahre 1969. Davon entfielen (1969) auf die Sowjetunion 32 Prozent; dann folgten die Tschechoslowakei mit 17 Prozent, Polen und Rumänien mit je 13 Prozent und China mit 11 Prozent. Am wichtigsten ist dabei jedoch die Zusammensetzung des Osthandels (Tabelle C)
Sie läßt sich kurz auf folgende Formel bringen: die BRD liefert Maschinen und Geräte und bekommt dafür landwirtschaftliche Erzeugnisse und Rohstoffe.
1969 machte der Osthandel nur 4 Prozent des Gesamthandels der BRD aus. Das ist etwa so viel wie der Handel eines Landes wie Polen (Tabelle D) mit der BRD allein (ohne den Handel mit dem übrigen Westeuropa). Hinweis Herr Timothy W. Mason bat die Redaktion, folgende Richtigstellung abzudrucken:
„In der Anmerkung 27, S. 40 meines Beitrages , Zur politischen Relevanz historischer Theorien’ (B 20/72 vom 13. Mai 1972) habe ich behauptet, die Deutsche Bank unterhielte in Bühlerhöhe ein Erholungsheim, von wo aus Herr William Petschek seinen Brief zur Entlastung von Herrn Abs im Prozeß gegen Herrn Czichon und den Pahl-Rugenstein Verlag verfaßt habe. Das ist, wie ich jetzt von zuverlässiger Seite erfahren habe, nicht richtig; Die Deutsche Bank unterhält in Bühlerhöhe kein Erholungsheim. Ich bedaure diesen Irrtum."
Johan. Galtung, geb. 24. 10. 1930 in Oslo, M. A. (Soziologie) 1957, UNESCO-Professor an der Lateinamerikanischen Fakultät für Sozialwissenschaften in Santiago de Chile 1962/63 und 1965; ab 1959 Forschungsleiter beim Institut für Friedensforschung in Oslo, seit 1965 Direktor des Instituts; seit 1969 Ordinarius für Friedensforschung an der Universität Oslo. Mitarbeiter beim Journal of Peace Research. Veröffentlichungen u. a.: Gandhis politische Ethik (zus. mit Arne Naes), 1955; Verteidigung ohne Militär, 1959; Co-operation in Europe, 1970; The European Community. A Super-power in the Making (erscheint in Kürze).
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