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Reich und Nation Anmerkungen zu zwei zentralen Kategorien deutscher Geschichte und Politik | APuZ 15/1973 | bpb.de

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APuZ 15/1973 Reich und Nation Anmerkungen zu zwei zentralen Kategorien deutscher Geschichte und Politik Betreiben Arbeitgeberverbände „Werbung"? Die Arbeitgeberverbände und die „Werbung"

Reich und Nation Anmerkungen zu zwei zentralen Kategorien deutscher Geschichte und Politik

Imanuel Geiss

/ 46 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Die Diskussion in der Öffentlichkeit und im Parlament über den Grundvertrag mit der DDR wirft die alte Frage nach der nationalen Definition oder Selbstverständnis der Deutschen von neuem auf. Gegenüber der Ansicht, die Ostverträge hätten die Teilung der Nation herbeigeführt oder besiegelt, ist einzuwenden, daß die Deutschen niemals eine moderne Nation im Sinn der Französischen Revolution auf der Grundlage von Demokratie und Volkssouveränität gebildet hatten, sondern stets das Reich als Machtstruktur, die sich gegen eben diese Prinzipien wandte. Zur intellektuellen und politischen Klärung unserer Situation empfiehlt sich daher, die Begriffe „Reich" und „Nation" säuberlich zu trennen. Eine — notwendig knappe — Übersicht über die deutsche Reichsgeschichte seit dem Mittelalter zeigt, daß vor allem das neudeutsche Reich von 1871 bis 1945 unfähig war, die mannigfachen in ihm angelegten Spannungen friedlich, also politisch auszutragen. Statt dessen versuchte die reichspatriotische Staatskunst seit Bismarck immer wieder in neuen Anläufen, die Spannungen nach innen durch Repression zu überwinden, nach außen in eine spektakuläre und in kriegerische Gewalt einmündende Außenpolitik abzuleiten, mit dem Ergebnis, daß das Deutsche Reich in zwei Etappen (1918, 1945) endgültig unterging. Seitdem haben sich die früheren, zuletzt im faschistischen Dritten Reich nur durch Terror eingeebneten sozialen und politischen Differenzen unter den Rahmenbedingungen des Kalten Kriegs entlang den Machtgrenzen zwischen Ost und West auf deutschem Boden gleichsam verstaatlicht — in der Bundesrepublik und der DDR —, jeweils mit unterschiedlichen Gesellschaftsordnungen, die eine staatliche Wiedervereinigung auf vorläufig unabsehbare Zeit unwahrscheinlich machen.

Die Ostverträge der Bundesrepublik Deutschland mit der UdSSR und Polen sowie der Grundvertrag mit der DDR eröffneten in der bundesdeutschen Öffentlichkeit eine neue Runde in der Diskussion um die schier ewige deutsche Frage: Was ist des Deutschen Vaterland? In der Debatte über die Regierungserklärung im Bundestag verdeutlichte sich die Aus solchen und mannigfach variierten Äußerungen spricht ein grundsätzliches Mißverständnis, hervorgerufen oder begünstigt durch die Gleichsetzung von Nation und Reich als Folge des bis vor kurzem vorherrschenden politisch-historischen Denkens des traditionellen . national'konservativen Reichs-patriotismus. Das Mißverständnis und die daraus entspringende Verwirrung fand seine wissenschaftliche Sanktionierung durch die

Fritz Fischer zum 65. Geburtstag

In der B 17/73 brachte die Redaktion als ihren ersten Beitrag im Rahmen der gegenwärtigen Diskussion über den Grundvertrag zwischen der BRD und der DDR eine Abhandlung des österreichischen Völkerrechtlers Theodor Veiter über das Thema „Deutschland, deutsche Nation und deutsches Volk". Eine zu den dort geäußerten Auffassungen — zumal über das Verhältnis von Reich, Volk und Nation sowie die Bedeutung der damit verbundenen Rechtspositionen — kontroverse Meinung enthält der folgende Aufsatz, der ebenfalls die historische Dimension dieser Problematik berücksichtigt. Es ist geplant, einige weitere Stellungnahmen zu verschiedenen Aspekten dieses Themas zu veröffentlichen. Die Redaktion

Problematik im Vorwurf des Oppositionsführers Rainer Barzel gegen Bundeskanzler Willy Brandt, der Kanzler habe in seiner Regierungserklärung am 18. Januar 1973 noch nicht einmal der deutschen Reichsgründung 102 Jahre zuvor gedacht. Gleichzeitig beklagten Sprecher der Opposition und die ihr nahestehenden Presseorgane die endgültige Teilung der Nation durch den Grundvertrag.

I. Reich und Nation — zwei konträre politische Prinzipien

überwiegend aus solchen Traditionen kommende ältere deutsche Geschichtsschreibung, wie sie sich vor allem in der Charakterisierung des Bismarckreichs als deutschem Nationalstaat zeigt, sowohl in der Vergangenheit wie in der zeitgenössischen Geschichtsschreibung seit 1945 In Wirklichkeit sind beide Kategorien — nicht nur auf deutschem Boden — streng zu trennen, um der notwendigen intellektuellen und politischen Klarheit willen.

1. Reich und Imperium

„Reich" als deutsche Version des universaleren Begriffs „Imperium" mit seiner neusprachlichen Variante „Empire" im Englischen bzw. Französischen sollte zur Definition von historischen Machtstrukturen reserviert bleiben, die auf dem Prinzip der Eroberung und Herrschaft durch meist relativ kleine Führungsschichten und Eliten beruhten bzw. beruhen — von den antiken Großreichen einschließlich den Römischen Reichen über das mittelalterliche Reich der Deutschen zu den Großreichen mit kaiserlicher Spitze innerhalb und außerhalb Europas (Rußland, Österreich; China, Türkei, Äthiopien, Persien usw.) bis hin zu den modernen Kolonialreichen meist europäischer Provenienz. Imperiale und imperialistische Machtstrukturen erscheinen so als historische Stufen des gleichen Ordnungsprinzips — Herrschaft und Unterwerfung, Autorität und Verweigerung jeder Selbstbestimmung

2. Nation und Nationalismus

Demgegenüber empfiehlt es sich, nur das moderne Gegenmodell zum „Imperium" — das auf den Prinzipien der Volkssouveränität und Demokratie, der Selbst-und Mitbestimmung beruhende Gemeinwesen — als „Nation" zu bezeichnen. Das nationale Prinzip hatte sich im europäischen Mittelalter in frühen Vorformen zunächst auf den Trümmern des Römischen Reichs geregt, sich in der Abwehr imperialer Ansprüche als „regna" weiterentwikkelt In der frühen Neuzeit läßt sich der Befreiungskampf der Niederlande gegen die spanisch-habsburgische Universalmonarchie Ende des 16. Jahrhunderts als erstes Beispiel einer proto-nationalen, quasi-revolutionären Bewegung verstehen. Die Englische Revolution des 17. Jahrhunderts war zwar fast ausschließlich eine innerenglische Auseinandersetzung zwischen Krone und Parlament, legte aber paradoxerweise mit dem Sieg des Parlaments die Grundlage zur Entfaltung des englischen Imperialismus

Erst das späte 18. Jahrhundert sah den Durchbruch des nationalen Prinzips. Nach der amerikanischen Revolution, die sich allerdings auf dem doppelten Boden von Demokratie für die Weißen und Sklaverei für die Schwarzen abspielte trat das nationale Prinzip in seiner reinsten Form mit der Französischen Revolution in die Geschichte ein, so daß zunächst Revolution, Demokratie und Nation eine Einheit bildeten: Frankreich wurde zur „grande nation", weil es die Prinzipien der Demokratie und Nation auf revolutionärem Wege zuerst formulierte und vorübergehend auch praktizierte.

Eine wichtige Rückwirkung der Französischen Revolution war die endgültige Zerstörung des alten „Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation", allerdings erst nach der Umwandlung der ersten modernen Republik in ein neues Kaisertum, das erste „Empire" unter Napoleon I. Seitdem hat sich die moderne nationalstaatliche Bewegung immer wieder im Aufbegehren gegen ältere imperiale oder imperialistische Machtstrukturen entzündet und insgesamt durchgesetzt: Die italienische im Risorgimento gegen Österreich 1859, die der Balkanvölker — von den Griechen bis zu den Südslawen — gegen das Osmanische Reich und Osterreich-Ungarn, die polnische gegen die drei Teilungsimperien Rußland, Preußen-Deutschland und Osterreich-Ungarn vor und mit dem Ersten Weltkrieg, die asiatische und afrikanische gegenüber den modernen Kolonialimperien nach dem Zweiten Weltkrieg — von Indien bis Vietnam

3. Der deutsche Nationsbegriff: und „objektive" Nation „subjektive"

Nationalismus war und ist der Anspruch einer bisher staatenlosen Gesellschaft auf den eigenen Staat, auf der Grundlage von Demokratie und Volkssouveränität, oft durchgesetzt auf revolutionärem oder quasi-revolutionärem Wege. Gewiß lassen sich, entsprechend den historischen Bedingungen, unter denen Nationen und Nationalstaaten entstanden, weitere Unterscheidungen treffen. Aber am wenigsten eignet sich die aus der deutschen Romantik weiterentwickelte Unterscheidung zwischen „objektivem" und „subjektivem" Begriff der „Nationalität" oder Nation, weil die Anwendung des „objektiven" Nationsbegriffs auf Deutschland die klare Trennung zwischen „Reich“ und „Nation" wieder aufhebt. Als Kriterien für den „subjektiven" Nationsbegriff gelten der subjektive Wille des einzelnen als politisches Bekenntnis, im Sinn der berühmten Formel von Ernest Renan „la nation est un plebiscite de tous les jours". Als Kriterien für den „objektiven" Nationsbegriff gelten dagegen vor al-lem „Abstammung und Sprache, die sich nicht willkürlich nach dem Willen des einzelnen ändern lassen oder jedenfalls schwierig zu ändern sind". So entspricht der „subjektive" Nationsbegriff dem politischen, der zu Recht mit dem westlichen, von der Französischen Revolution her kommend gleichgesetzt wird, der „objektive" aber dem kulturellen, der von Deutschland ausgehend vor allem im östlichen und südöstlichen Europa angesiedelt wird.

Die Konstituierung eines eigenen Nationsbegriffs im Gegensatz zum westlichen, gar noch ausgestattet mit den Attributen „objektiver" Kategorien gegenüber bloß „subjektiven", also willkürlichen, erscheint heute problematischer denn je, weil sie die alte Konfusion perpetuiert und zu verwirrenden Wortspielen wie „nationalstaatlich" und „staatsnational" verführt, gipfelnd im kategorialen Zwitter der „Reichsnation'

4. Dynastische und koloniale Nation

Rationaler und nützlicher dagegen erscheint die Unterteilung von dynastischen und kolonialen Nationen, entsprechend dem der Nationbildung unmittelbar vorausgegangenen politischen Zustand Die Kriterien werden also nur aus der Geschichte gewonnen: Entweder vollzog sich die Geburt der Nation im Rahmen eines schon vorhandenen dynastischen Staats (z. B. England, Frankreich, Schweden) oder einer kolonialen Administrationseinheit (z. B. Indien, Ghana, Philippinen). Zwischen den reinen Typen gibt es noch eine Mischform, wenn sich unter unterschiedlichen Formen europäischer Kolonialherrschaft (Kolonie, Protektorat) eine autochthone Dynastie als Ausgangspunkt und Rahmen für die moderne Nation erhalten hatte (z. B. Ägypten, Marokko, Rwanda, Burundi).

Die Verwirrung im deutschen Nationsbegriff wurde erleichtert, weil es tatsächlich verschiedene Überlagerungen und Vermischungen der beiden politischen Prinzipien — Reich und Nation — gibt: Aristokratisch-dynastische Gesellschaften konnten nach Abschüttelung imperialer Fremdherrschaft ihrerseits über den proto-nationalen Rahmen greifen und eine neue imperiale Machtzusammenballung schaffen, wie Rußland nach Überwindung der Tatarenherrschaft. Europäisch-amerikanische Nationen konnten nach innen demokratisch sein, nach außen imperialistische Machtstaaten (England, Frankreich, Belgien, USA usw.). Junge Nationalstaaten beriefen oder berufen sich auf die Mystik einer (angeblich oder wirklichen) imperialen oder quasi-imperialen Vergangenheit (Serbien, Po-len; Ghana, Mali, Ägypten usw.) oder leiten aus früheren imperialen Machtsphären für die Gegenwart „nationale" Grenzforderungen ab (Sowjetunion-China).

Außerdem begünstigte der Wandel im Inhalt des Nationbegriffs seit dem Mittelalter das traditinelle deutsche Mißverständnis. Ursprünglich galt „Nation" als Bezeichnung von landsmannschaftlichen Gruppierungen an Universitäten, später auf den Konzilien im Spätmittelalter. Als im späten 15. Jahrhundert der Terminus „Deutscher Nation" dem offiziellen Titel des „Heiligen Römischen Reichs" hinzugefügt wurde, bezeichnete er noch ganz korrekt das politische Substrat des inhaltlich allerdings längst „monstro simile"

gewordenen Reichs (Samuel Pufendorf im 17. Jahrhundert). Allerdings bedeutete er von vornherein, angesichts der tatsächlichen Machtstruktur im „Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation", eine Verengung auf die herrschende Klasse — Fürsten, Aristokratie und (meist patrizische) Führungsschichten der freien Reichsstädte —, wie sie zu Beginn der Reformationszeit in Luthers Appell an den „christlichen Adel deutscher Nation" greifbarer wird. Erst durch den neuen demokratisch-revolutionären Inhalt seit der Französischen Revolution wurde der Begriff „Deutscher Nation" in Verbindung mit „Reich" zum kategorialen und politischen Nonsens. Es ist sicher kein historischer Zufall, daß das alte Reich an den Folgewirkungen der Französischen Revolution zugrunde ging, die „Reich" und moderne „Nation" in unauflösbaren Widerspruch setzte. Legt man den strengen Maßstab, der aus der strikten Trennung von „Reich" und „Nation" gewonnen wurde, an die deutsche Frage an, so wird deutlich, daß die Deutschen nie Nation im Sinn der Französischen Revolution waren, jedenfalls solange es ein Reich der Deutschen gab, sondern nur ein Reichsvolk, um den Begriffszwitter der „Reichsnation" zu vermeiden. Die Deutschen hatten bisher keinen Nationalstaat, schon gar nicht einen einheitlichen. Statt dessen gab es nur das Reich in wechselnden Auflagen oder Numerierungen und ihre Zerfallsprodukte: die über 500 Jahre währende Agonie des alten Reichs seit dem Interregnum von 1250 (fortgesetzt in gewandelter Form im Deutschen Bund von 1815 bis 1866), die Weimarer Republik zwischen „Zweitem" und „Drittem" Reich, seit 1945 der neue Zustand der tausendjährigen deutschen Frage, wie die Deutschen nach innen und außen politisch so zu organisieren seien, daß sie und ihre Nachbarn gleichzeitig zufriedengestellt sind.

Angesichts des Umfangs des von Deutschen besiedelten Territoriums und ihrer großen Volkszahl, seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts auch wegen der Industrialisierung und ihrer ökonomischen Stärke hat es sich als unmöglich erwiesen, alle Deutschen in einem mächtigen Staat zu vereinen. Staatliche Einheit und politische Macht zusammen waren jedoch noch stets der Traum vom Deutschen Reich, weshalb ein mächtiges Reich, das seinen gleichsam natürlichen Tendenzen zum Anspruch auf kontinentale Hegemonie nachkam, nie lange vorhielt, sondern stets an der Widersprüchlichkeit seiner Konzeption und der Überspanntheit seiner Ziele über kurz oder lang zerbrach. Die Reichsidee wurde in Deutschland, entsprechend den historischen Umständen, abwechselnd als deutsch, völkisch, „national" interpretiert oder als übervölkisch, abendländisch, europäisch, als „supranational". Tatsächlich war das Reich stets der Gegensatz zu Nation und Na-II.Das Reich als die deutsche Frage tionalstaat, auch in den Vorund Frühformen, wie ein rascher Blick über 1000 Jahre'deutsche Reichsgeschichte nahelegt

1. Erstes Reich, 962-1806

Bereits die imperiale Tradition des mittelalterlichen Reichs mit ihrer Fiktion, das über ein halbes Jahrtausend zuvor untergegangene Römische Reich zu erneuern und fortzusetzen, weist auf den Herrschaftsanspruch des Reichs über die sich im Mittelalter herausbildenden proto-nationalen Monarchien. Das Reich der Deutschen entstand 962 unter Otto I. durch Zertrümmerung einer sich gerade entfaltenden Staatsbildung proto-nationaler Prägung in Oberitalien. Die deutschen Kaiser versuchten auf den Höhepunkten ihrer Macht immer wieder, ihren imperialen Herrschaftsanspruch auf benachbarte Gebiete auszudehnen — mit wechselndem Erfolg: Deutschen Fürsten gelang die militärische Unterwerfung und anschließende fast totale Germanisierung nur der politisch dezentralisierten Slawen zwischen Elbe und Oder in Grenzkriegen und der sog.deutschen Ostkolonisation* Gegenüber den als „regna" politisch straffer organisierten übrigen Nachbarn (Ungarn, Polen, Dänen, Franzosen) gelang, von Böhmen und Italien abgesehen, die Durchsetzung einer Reichsherrschaft oder auch nur eines imperialen Oberlehnsanspruchs nie auf Dauer. Selbst Italien mußte immer wieder auf den traditionellen Romzügen zur Kaiserkrönung erobert und unterworfen werden — Hauptinhalt der kaiserlichen Politik zur Wiederherstellung der auf Eroberung beruhenden Reichsrechte in Italien Die Überspannung reichs-deutscher „Weltherrschaftspläne" führte zur Aushöhlung der königlichen Zentralmacht in Deutschland und zur Erstarkung der landesherrlichen Gewalt noch unter Friedrich II., erst recht nach dem Erlöschen der Stauferdynastie 1250 und dem Beginn des Interregnums.

Während sich seit dem Hochmittelalter — jenseits des verfallenden Reichs — proto-nationale Monarchien herausbildeten, beraubten sich die Deutschen durch ihr Festhalten an der Abnormität des „Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation" der Chance zur Bildung einer normalen Nation unter anderen. Der „deutsche Sonderweg" zeichnete sich schon im mittelalterlichen Reich ab. Ein vor 40 Jahren führender deutscher Mittelalter-Historiker sah bereits mit dem ausgebliebenen übergreifen der cluniazensischen Reform auf das Reich den Beginn der (von ihm positiv bewerteten) Sonderentwicklung des Reichs in Europa Der berühmte belgische Historiker Henri Pirenne dagegen konstatierte die gleiche Diskrepanz mit kritischem Unterton Sein Urteil über die Auswirkungen von Kaiser und Reich auf die Deutschen faßte er für alle, die dem Reich noch heute nachtrauern, mit bedenkenswerten Worten zusammen: „Das Kaisertum ist für Deutschland verhängnisvoll geworden; es nötigte seine Könige, eine Weltpolitik zu führen, ihr Volk zugunsten von Konzessionen universal-kirchlichen Ursprungs aufzugeben und so die wirklichen Möglichkeiten um eines abstrakten Hirngespinstes willen ungenutzt zu lassen."

2. Großdeutsches oder kleindeutsches liberales Kaiserreich?: Die deutsche Frage in der Revolution 1848/49

Nach dem Ende des alten Reichs 1806 fiel den aktiven Reichspatrioten nichts Besseres ein als der Ruf nach einem neuen „Kaiser und Reich". Selbst in der Revolution von 1848/49 waren Republikaner und Demokraten nur'eine kleine Minderheit, die sich nicht durchsetzen konnte. Die Frankfurter Paulskirche mündete daher konsequent in den Versuch zur Re-Konstituierung eines neuen Deutschen Reichs. Der Streit ging nur noch um seine Ausdehnung — großdeutsch (mit Österreich in seiner damaligen Ausdehnung) oder kleindeutsch (ohne Österreich und unter Führung Preußens). Hinter der Weigerung der deutschösterreichischen Aristokratie, ohne ihre nicht-deutschen Provinzen in ein neues Deutsches Reich zu gehen, stand natürlich ein materielles Klasseninteresse, denn der österreichische Adel „deutscher Nation" hätte auf seine Feudaleinkommen und Bauernsoldaten aus den agrarischen nicht-deutschen Provinzen verzichten müssen, die die Grundlage ihrer sozialen und politischen Machtstellung bildeten.

Umgekehrt sträubte sich das kleindeutschorientierte liberale Bürgertum gegen die Ein-beziehung des großdeutschen feudalen Elements auf nicht-deutscher Basis, weil es die 1848 noch nicht einmal erschütterte Vorherrschaft der Junker-Aristokratie in Preußen zu Lasten des aufstrebenden liberalen Bürgertums auf unabsehbare Zeit konsolidiert hätte.

In die Debatte um die Deutschösterreicher und die Stellung der nicht-deutschen Teile Österreichs schlich die prinzipielle 1848/49 Unvereinbarkeit von Reich und Nation ein — im respektablen Bürgergewand des Liberalismus. Mit dem Durchschlagen eines „nationalen" Pathos in die immer neue „deutsche Frage" begann erst richtig das Mißverständnis um deutsche „Nation" und deutschen „Nationalismus". Die Paulskirchen-Liberalen versuchten, die angestrebte Restaurierung des Reichs wenigstens verbal mit dem modernen Konzept der Nation zu verbinden, gerieten aber tatsächlich auf Schritt und Tritt mit der Nationidee in Widerspruch. Für sie war „national" identisch mit deutsch-„völkisch" in der Sprache der späteren deutschen Chauvinisten. Die Kriterien für die Zugehörigkeit zum neuen Deutschen Reich entnahmen sie abwechselnd der Reichsgeschichte, der „Abstammung und Sprache" (Rothfels) und den vorherrschenden Machtverhältnissen, wie es gerade in die Argumentation paßte: Die Theorie der „avulsa imperii", also der Wunsch, früher zum alten Reich gehörige Territorien heim ins neue Reich zu holen, weist auf die imperiale Tradition, vor allem im Fall Elsaß-Lothringen, wo der Anspruch von 1871 bis 1918 mit der Annexion durch das Zweite Deutsche Reich, 1940— 1944 durch das Dritte Reich auch vorübergehend realisiert wurde.

War des Deutschen Vaterland wirklich alles Land, „soweit die deutsche Zunge reicht", so warfen nicht nur die großdeutschen Reichs-patrioten die Frage der deutschen Sprachinseln und Minderheiten von Südtirol bis zu den baltischen Provinzen und nach Siebenbürgen wie auch die schleswig-holsteinische Frage auf. Gegenüber den Polen schlug die liberale Polenbegeisterung des Vormärz mit der Polendebatte in der Frankfurter Paulskirche vom Juli 1848 in einen völkischreichspatriotischen Chauvinismus um, der sich offen mit den Machtinteressen Preußens seit den Teilungen Polens identifizierte. Schon in der Revolution von 1848/49 tritt die ganze Fragwürdigkeit des Zusammenspannens von Reich und Nation zu Tage, bei den Großdeutschen ebenso wie bei den Kleindeutschen, erst recht 1871 mit der Errichtung des kleindeutschen Kaiserreichs als „Nationalstaat"

Der Jahrhundertstreit deutscher Historiker um „großdeutsch und kleindeutsch" lenkte nur vom gemeinsamen Nenner beider Richtungen ab — Wiederherstellung von „Kaiser und Reich" in welcher Form und Ausdehnung auch immer. Die großdeutsche, „universalistische" Variante knüpfte offen an ein idealisiertes und ideologisiertes mittelalterliches Kaisertum (und damit Reich) an, die kleindeutsche, preußische indirekt, auf Umwegen und eher verschämt, mit liberalen und pseudo-nationalen Versatzstücken Jede Variante implizierte die Hegemonie des Reichs über Europa — die großdeutsche direkt und offen im „mitteleuropäischen" Großreich von der Nordsee bis zur Adria, die kleindeutsche indirekt über den Umweg einer preußisch-deutschen Hegemonie mit einem durch das Aufkommen der Nationalbewegung gespaltenen und dadurch immer schwächer werdenden Österreich (ab 1867 Österreich-Ungarn) als Juniorpartner des Deutschen Reichs und Durchgangsland zum Balkan.

3. Kleindeutsches, konservativ-nationalliberales Kaiserreich, 1871

Die deutsche Begriffsverwirrung um Reich und Nation zog besonders viel Nahrung aus Theorie und Praxis des Deutschen Reichs seit 1871. Die Reichsgründung institutionalisierte und verschärfte die Widersprüche, die in der gescheiterten Reichsgründung von 1848/49 bereits aufgetreten waren, so daß es dem neuen Reich gelang, die -nie daraus resultieren den Spannungen politisch zu bewältigen. Die Charakterisierung der Reichsgründung „als ein Beispiel nationaler Staatsbildung", ihre Einordnung „in den großen historischen Zusammenhang der nationalstaatlichen Bewegungen" lassen erkennen, wie die Konfusion bis in unsere Gegenwart mitgeschleppt wurde. Immerhin bemerkten schon kleindeutsch-nationalliberale Historiker und ihre großdeutsch-universalistischen Gegenspieler vor hundert Jahren den „unaufhebbaren Widerspruch zwischen Nationalismus und Reich" Um so mehr sollte heute, nach dem endgültigen Untergang des Deutschen Reichs, die Einsicht in die „tiefe innere Gespaltenheit einer Bewegung, die die nationale Idee nur im Gewände historischer Erinnerungen verwirklichen zu können glaubte, aber eben gerade den Gehalt dieser historischen Vorbilder ablehnte" endlich zur rationalen Konsequenz aus der zu Recht so konstatierten Schizophrenie des „national" -konservativen oder „national" -liberalen Reichspatriotismus führen — zur Trennung der Kategorien Reich und Nation.

Noch stärker und machtbewußter als 1848/49 griffen die Ideologen der angeblichen Nationalstaatsbildung von 1871 auf die Theorie der „avulsa imperii" zurück, vor allem gegenüber Elsaß-Lothringen, ohne Rücksicht auf die ganz andersartige politische Entwicklung, an der Elsaß-Lothringen als Teil der französischen Nation seit der Französischen Revolution partizipiert hatte. „Das Deutsche Kaiser-reichvon 1871" war eben kein „deutscher Nationalstaat", sondern eine imperiale, aristokratisch-dynastische Machtstruktur — bewußt ohne und gegen die Prinzipien der Volkssouveränität und Demokratie errichtet, als Gegenmodell zur nationaldemokratischen Republik seit der Französischen Revolution. Zur Nationbildung fehlte dem Deutschen Reich vor allem das unverzichtbare Element des freien politischen Willensakts. Statt des-sen war am Anfang des Deutschen Reichs — aller „national" liberalen Begeisterung des Bürgertums zum Trotz — die Gewalt. Das Reich war von vornherein auf Zwang und Eroberung gegründet, nach innen und außen, durch drei „Einigungskriege" und die Repression gegen demokratische, „reichsfeindliche" Kräfte.

Nach innen war das preußisch-deutsche Reich eine feudale Militärmonarchie, durch das allgemeine Wahlrecht zu einem schwa-chen Reichstag nur knapp mit einem parlamentarischen und pseudo-demokratischen Feigenblatt versehen. Bismarck hatte 1867 das allgemeine Wahlrecht nur „in die Pfanne gehauen", um dem demokratischen Element den Wind aus den Segeln zu nehmen, also den neuen Status quo noch besser zu stabilisieren und zu konservieren Gleichwohl drängte das nur formal konzedierte demokratische Element langfristig auch auf seine inhaltliche Durchsetzung, am nachdrücklichsten durch die politische Repräsentanz der zusammen mit der Industrie entstehenden städtischen Arbeiterschaft, der Sozialdemokratie.

Die herrschende Klasse im Deutschen Reich war jedoch nie gewillt, freiwillig oder auch nur unter politischem Druck von unten die Umwandlung des „Obrigkeitsstaats" in einen „Volksstaat", also vom autoritären Reich in eine demokratische Nation, zu konzedieren. So wie sich Bismarck 1862 als preußischer Ministerpräsident mit einem staatsstreichähnlichen Verfassungsbruch im preußischen Heereskonflikt nach innen und durch konsequente Niederhaltung der polnischen Nation mit der Alvenslebenschen Konvention von 1863 nach außen einführte, spielte er immer wieder mit dem Plan eines Staatsstreichs von oben durch Aufhebung des allgemeinen Wahlrechts bis hin zur Provozierung eines blutigen Bürgerkriegs gegen die Arbeiterschaft und die SPD, sollte die SPD zu stark werden Aus Angst vor einem Wahlsieg der SPD erstarrte des Zweite Reich erst recht in seinen ohnehin schon autoritären Strukturen und ließ keinen Raum zu einer wie auch immer gearteten evolutionären Weiterentwicklung in Richtung auf einen demokratischen Verfassungsstaat, noch nicht einmal unter Beibehaltung der monarchischen Spitze nach englischem oder skandinavischem Muster. Hier zeichnete sich, für schärferblickende Zeitgenossen wie Bertrand Russell, gegen Ende des 19. Jahrhunderts bereits eine wesentliche Bruchlinie ab, an der entlang das Kaiserreich 1918 zerbrach — der Konflikt zwischen autoritärem Klassenstaat und moderner Demokratie

Die Folgen aus der kriegerisch erzwungenen Reichsgründung waren absehbar und wurden von. hellen Köpfen auf entgegengesetzten Seiten des politischen Spektrums ausgesprochen. Nietzsches berühmtes Wort von der „Exstirpation des deutschen Geistes zugunsten des Deutschen Reichs" mag noch als unverbindliches Bonmot eines esoterischen Schöngeists gelten. Gewichtiger war die Warnung des konservativen Historikers Jacob Burckhardt vom 27. September 1870, als sich die Niederlage Frankreichs abzeichnete. In dem Brief an einen Freund sagte er September 1870, als sich die Niederlage Frankreichs abzeichnete. In dem Brief an einen Freund sagte er die permanente Militarisierung Deutschlands und den aus der Niederlage Frankreichs hervorgehenden deutsch-russischen Krieg voraus 26).

Detaillierter fiel etwa zur gleichen Zeit die scharfsinnige Prognose von Karl Marx in seiner Zweiten Adresse des Generalrats der 1. Internationale über den deutsch-französischen Krieg aus. In seiner Kritik an den militärstrategischen Erwägungen zur Begründung der sich abzeichnenden Annexion Elsaß-Lothringens sagte Marx „einen neuen .defensiven'Krieg" voraus, der diesmal nicht lokalisiert bliebe, „sondern zu einem Racenkrieg gegen die verbündeten Racen der Slawen und Romanen" führen würde 27). Zu einem ähnlichen Ergebnis kam der deutsch-baltische Publizist Julius v. Eckhardt, der als Folge der Annexion Elsaß-Lothringens das russisch-französische Bündnis ebenfalls sah, mit schwerwiegenden Rückwirkungen auf die Machtposition der deutsch-baltischen Elite in den russischen Ostseeprovinzen Das beeindruckendste Zitat aus dem Chor zeitgenössischer Stimmen, die dem mit Gewalt und Krieg geschaffenen Reich ein ähnliches Ende voraussagten, stammt von Wilhelm Liebknecht, als er sich 1872 wegen seiner Opposition gegen die Annexion von El-saß-Lothringen vor Gericht zu verantworten hatte. In einer Kombination von Analyse und Prognose innerer und äußerer Faktoren stellte er dem Deutschen Reich ein vernichtendes Horoskop: „Ein Staat wie das Bismarck-sehePreußen-Deutschland ist durch seinen Ursprung mit fatalistischer Notwendigkeit dem Untergang geweiht. .. Auf dem Schlachtfeld geboren, das Kind des Staatsstreichs, des Krieges und der Revolution von oben, muß es ruhelos von Staatsstreich zu Staatsstreich, von Krieg zu Krieg eilen, und entweder auf dem Schlachtfeld zerbröckeln oder der Revolution von unten erliegen. Das ist Naturgesetz."

III. Die Selbstzerstörung des Deutschen Reichs, 1871— 1945

1. Das Zweite Reich, 1871 — 1918

Tatsächlich unterlag das Deutsche Reich der Kombination von Krieg und Revolution von unten, weil es unfähig war, seine inneren Spannungen rational und politisch zu verarbeiten, sich vom dynastischen Reich zur demokratischen Nation fortzuentwickeln. Das gilt auch für das Verhältnis zu den nicht-deutschen Minderheiten, die in einem Zusammenwirken von inneren und äußeren Faktoren in das Deutsche Reich gegen ihren Willen hineingezwungen wurden. So verstieß das Reich schon in seiner Geburtsstunde gegen das Prinzip der nationalen Selbstbestimmung, das 1871 der Sache wie dem Namen nach längst bekannt war.

Das Reich, angeblich deutscher „National" staat, umfaßte immerhin rund 10% Bewohner, die nur unter Protest Reichsangehörige waren und deshalb stets mehr oder weniger Bürger zweiter Klasse blieben — Polen, Dänen, Franzosen. Sie kamen ins Deutsche Reich nur kraft unmittelbar vorausgegangener oder weiter zurückliegender Eroberung. Die Polen in Posen und Westpreußen und Dänen in Schleswig hatten zudem niemals dem alten Reich bis 1806 oder dem Deutschen Bund bis 1866 angehört. Durch ihre Abgeordneten erhoben sie prinzipiellen und anhaltenden Protest gegen die Einbeziehung in das Deutsche Reich. Der Widerwille der Mehrheit in Elsaß-Lothringen gegen die deutsche Annexion, erst recht in der anomalen Form minderen Rechts eines „Reichslandes", war notorisch und wurde nie durch konstruktive Maßnahmen überwunden. Elsaß-Lothringen blieb daher, ebenso wie die preußischen Ostprovinzen mit erheblichem Anteil polnischer Bevölkerung nach Einleitung der antipolnischen Diskriminierungsund Repressionspolitik ab 1872, stets einer der „Krisenherde des Kaiserreichs 1871— 1918"

Die aufreizende Wirkung der Begründung des Deutschen Reichs auf die permanente Verletzung des nationalen Selbstbestimmungsrecht für nicht-deutsche Reichsbürger verschärfte das Reich also durch seine Verletzung des Prinzips der Gleichbehandlung und Gleichbe-rechtigung nach innen. Durch den Zweibund von 1879 identifizierte sich das Deutsche Reich auch noch mit dem dynastischen Machtkonglomerat Österreich-Ungarn, in dem die beherrschten, nicht-gleichberechtigten Nationalitäten nicht bloß zehn Prozent der Bevölkerung gegenüber dem Reichsvolk ausmachte, sondern über 50 °/o gegenüber den beiden herrschenden Reichsvölkern, den Deutschen und den Magyaren. Damit wurde das Deutsche Reich nunmehr auch von außen immobil in seiner verfassungspolitischen Entwicklung, da es sich selbst gezwungen hatte, den einzigen nennenswerten Verbündeten, der der aufsteigenden nationaldemokratischen und nationalrevolutionären Bewegung noch stärker ausgesetzt war, mit allen Mitteln zu verteidigen, u. a. um Rückwirkungen auf die eigenen nationalen Minderheiten im Deutschen Reich bei einem Sieg des nationalen Selbstbestimmungsrechts über das dynastische Österreich-Ungarn tunlichst abzuwehren. So war es historisch nur konsequent, daß 1914 der Erste Weltkrieg über der Verweigerung des Selbstbestimmungsrechts für die Südslawen ausbrach, über dem Konflikt zwischen dem dynastischen Reichsprinzip und dem aufsteigenden Prinzip der nationalen, notfalls revolutionären Demokratie, zugespitzt im Attentat von Sarajewo. Direkt betroffen war zwar Österreich-Ungarn, aber dahinter stand das Deutsche Reich und ermunterte, ja drängte Österreich-Ungarn förmlich zur gewaltsamen Ausschaltung des unbequem gewordenen Serbien, des Zentrums für die südslawische Nationalbewegung

Im Ersten Weltkrieg verbanden sich Aspirationen aus der Theorie von der „avulsa impe-rii" mit machtstrategischen und ökonomischen Erwägungen zu den seit Fritz Fischer bekannten und durch die Riezler-Tagebücher bestätigten expansiven und hegemonialen Kriegszielen des Deutschen Reichs Der „Griff nach der Weltmacht" (Fritz Fischer) wurde in den Überlegungen des Kanzler-Intimus Kurt Riezler zur Ausgangsbasis sogar tür eine „Weltherrschaft" des neuen „mitteleuropäischen Reichs deutscher Nation" in bewußter Anknüpfung an das mittelalterliche Reich und an die großdeutsche Variante des Reichsgründungsversuchs von 1848/49

So blieb das neue Deutsche Reich sich selbst und dem Gesetz treu, unter dem es angetreten war — Aggressivität und Expansion aus Sorge um die Konservierung der herrschenden Klasse und ihrer Machtpositionen, das Ableiten von inneren Spannungen und Problemen im sich industrialisierenden Preußen (Verfassungskonflikt) nach außen durch Kriege, die mit der 1871 erweiterten Machtbasis nur noch mehr Spannungen nach innen und außen schufen. Nach dem mißglückten Versuch, zwischen 1872 und 1890 der Reihe nach das katholische Zentrum, die Polen und die SPD als „Reichsfeinde" aus-oder gleichzuschalten (gegen die Polen liefen allerdings die repressiven Maßnahmen weiter), leitete das Deutsche Reich unter Kaiser Wilhelm II. mit seiner Weltpolitik die durch die rapide Industrialisierung inzwischen noch weiter verschärften Spannungen abermals von innen nach außen, durch den Eintritt in den globalen Imperialismus nunmehr auf Weltmaßstab. Nach Überwindung der sog. „Großen Depression" (einer von 1873 bis 1895 andauernden Periode verminderten ökonomischen Wachstums) entstand die neue Weltpolitik u. a. als sozialdemagogisches Ablenkungsmanöver von den inneren Schwierigkeiten des Reichs

Die schwersten Spannungen ergaben sich aus der Diskrepanz zwischen moderner ökonomischer Basis, zurückgebliebenen sozialen Strukturen und politischen Herrschaftsformen einerseits, dem Anwachsen der Sozialdemokratie andererseits. Schon ihre politische, also friedliche Lösung wäre der Preisgabe des imperialen Prinzips nach innen und außen gleichgekommen, was aber gerade aus den oben genannten Konstruktionsmängeln des Reichs überhaupt nicht möglich war. Die Ablenkung der inneren Spannungen nach außen durch eine riskante Weltpolitik machte die fast nur auf Bismarck beschränkte Einsicht vergessen, daß sich das Reich nach seiner Geburt im Krieg als europäische Großmacht auf die Dauer nur behaupten konnte, wenn es sich weiterer Machtausdehnung enthalten würde

Bismarck gelang es jedoch nicht, darauf eine dauerhafte Tradition machtpolitischer Enthaltsamkeit zu begründen. Nach seinem Sturz gewannen die in Wilhelm II. verkörperten Kräfte eines deutschen Imperialismus bald endgültig die Oberhand. Aus Ressentiment gegen seinen bedächtigeren Nachfolger Caprivi verbündete sich der gestürzte Alt-Kanzler sogar mit dem sich 1891 erstmals organisierenden Element der Alldeutschen und trug so selbst zur Zerstörung seines eigenen Werks bei. Denn mit dem Einsetzen einer langfristigen Hochkonjunktur ab 1896 zeigt sich der deutsche Reichspatriotismus, gestützt auf die wachsende ökonomische und militärische Kraft des Deutschen Reichs, ein Vierteljahrhundert nach der Reichsgründung eben nicht mehr „saturiert" und schon gar nicht mehr zufrieden mit der Position Deutschlands als europäische Kontinentalund Großmacht. Eine Weltmacht mußte das Deutsche Reich werden, dem Zug der Zeit entsprechend in Übersee. Max Webers berühmte Formel aus seiner Freiburger Antrittsvorlesung von 1895 ist für unser Thema besonders instruktiv, da sie wiederum die Verknüpfung der widersprüchlichen Elemente „Reich" und „Nation" belegt: „Wir müssen begreifen, daß die Einigung Deutschlands (d. h. die Reichsgründung von 1871, I. G.) ein Jugendstreich war, den die Nation auf ihre alten Tage beging und seiner Kostspieligkeit halber besser unterlassen hätte, wenn sie der Abschluß und nicht der Ausgangspunkt einer deutschen Weltmachtpolitik sein sollte."

Der Übergang zur Weltpolitik brachte zwar innenpolitisch zunächst eine gewisse Beruhigung, weil die ihr entsprechende Politik zur „Sammlung der produzierenden Stände", also von Landwirtschaft und Industrie, um den Hohenzollernthron in Abwehr der Sozialdemokratie nur möglich war, wenn die Verfassung strikt eingehalten wurde. Staatsstreichpläne von oben, wie sie seit der späten Bismarckzeit immer wieder kursierten und — aus unterschiedlichen Motiven — zum Sturz Bismarcks und Caprivis beigetragen hatten verschwanden vorübergehend ab 1897/98. Die herrschende Klasse im Deutschen, Reich hoff-te, die Aussicht auf eine glänzende (und natürlich auch erfolgreiche) Außenpolitik im Zeitalter des Imperialismus wäre Integrationsmittel genug, um das Bürgertum an den Thron zu binden und die Arbeiterschaft wenigstens zu neutralisieren

Die Strategie der Systemerhaltung durch expansive Weltpolitik scheiterte jedoch schon nach knapp 20 Jahren — innenpolitisch wie außenpolitisch. Die Aufspaltung der herrschenden Klasse in zwei Flügel — die historisch ältere Aristokratie mit der Großlandwirtschaft als relativ zurückgehender ökonomischer Basis und die jüngere Bourgeoisie mit Industrie und Handel als expandierender ökonomischer Basis — verhinderte in denkwürdiger Überkreuzung ökonomischer Inter-essen und ideologischer Präferenzen die eindeutige Festlegung des Reichs auf seifen des liberalen Industriestaats England oder des konservativen Agrarstaats Rußland Die Folge waren unsicheres Schwanken der deutschen Weltpolitik zwischen West und Ost und irritierendes Ausgreifen nach allen Richtungen, so daß sich das Reich außenpolitisch schon ab 1907 isoliert sah. Auf die Triple Entente (England, Frankreich, Rußland) antwortete das Reich mit verschärfter Rüstung zu Wasser und zu Lande, um aus der selbstverschuldeten Sackgasse der sog. Einkreisung herauszukommen. Da die finanziellen Lasten auf die breiten Massen abgewälzt wurden erhielt die SPD weiteren Auftrieb und wurde 1912 mit 34% aller abgegebenen Stimmen stärkste Fraktion im Reichstag. Die Weltpolitik als innenpolitisches Instrument des „Sozialimperialismus" (H. -U. Wehler) war auch innenpolitisch gescheitert.

Die Konsequenzen stellten sich rasch ein: Nach innen Wiederaufleben von Staatsstreichideen, vorgetragen von den Alldeutschen, die so auch den relativ liberalen Reichskanzler Bethmann Hollweg treffen wollten, weil er zu , lasch'gegenüber der SPD sei Nach außen richtete sich die Reichsführung seit dem 1. Balkankrieg im Herbst 1912 auf den großen Krieg ein, für den nur noch der relativ günstigste Termin abzuwarten war. Als sich im Juni 1914 mit dem Attentat von Sarajewo ein günstiger Anknüpfungspunkt einstellte, führte das Reich mit der Julikrise 1914 die Kriegsauslösung herbei 43). Kriegsausbruch und Augustbegeisterung 1914 bewirkten im Burgfrieden („Ich kenne keine Parteien mehr, ich kenne nur noch Deutsche") unter Zwang und Freiwilligkeit jene Einebnung innerer Differenzen, die das Durchhalten der „nationalen" . Einheitsfront des Reichs nach außen gewährleisten sollte. Der Krieg selbst bedeutete eine weitere Eskalation in der politischen Praxis des Deutschen Reichs seit seiner Entstehung, mit einer Kombination von Druck nach innen und außen das bestehende System zu stabilisieren, notfalls auch offensiv gegen die Kräfte von Demokratie und Volkssouveränität zu verteidigen. Zur militärischen Gewaltanwendung gegen halb Europa traten expansive Kriegsziele offizieller wie nichtoffizieller Art, deren Verwirklichung die kontinentale Hegemonie des Deutschen Reichs in Europa als Basis für die Errichtung einer deutschen Weltmachtstellung begründet hätte. Die Ergebnisse neuerer deutscher Forschung, vor Jahren von konservativen Historikern, Publizisten und Politikern noch heftig bestritten fanden jüngstens im Kriegstagebuch von Kurt Riezler, dem Vertrauten des Reichskanzlers Bethmann Hollweg vor und während des Ersten Weltkrieges, ihre Bestätigung: Riezler selbst hatte den in sich widersprüchlichen Kriegszielen durch die Mitteleuropa-Konzeption die scheinbare innere Schlüssigkeit verliehen, die Fritz Fischer erst aus den Akten mühsam rekonstruieren mußte. Darüber hinaus wies Riezler bereits auf noch weitergehende Ambitionen — Weltherrschaft des Deutschen Reichs 44

2. Weimarer Republik und Drittes Reich, 1918— 1945 Mit dem Scheitern des deutschen Kriegsplans löste sich die verkrampfte Einheitsfront des Burgfriedens von 1914 wieder auf. In der Niederlage von 1918 — von Riezler ab 1916 hellsichtig erkannt und vorausgesagt — erlebte das Deutsche Reich erstmals an sich selbst einen in der Geschichte auch sonst wirksamen Mechanismus: Wird eine nach außen gewaltsam expandierende Macht durch eine militärische Niederlage gestoppt, so wenden sich die nach außen abgelenkten Energien wieder nach innen und lösen dort den politischen Kollaps aus. Er kam in Deutschland, nach dem Zusammenbruch der noch altertümlicher konstruierten Bundesgenossen Türkei und Osterreich-Ungarn im Herbst 1918, mit der Novemberrevolution. Zwar stürzte die Monarchie, aber das Reich, reduziert um die von den nicht-deutschen Minderheiten bewohnten Gebiete, blieb noch einmal erhalten.

Die Revolution bot die Chance, die Republik vom Reich zu lösen und in eine echte demokratische Nation umzuwandeln. Der Antrag des USPD-Abgeordneten Cohn vom 2. Juli 1919 in der Weimarer Nationalversammlung, den Begriff „Reich" aus dem offiziellen Titel der Republik zu streichen, wurde jedoch von der Mehrheit abgelehnt, mit der für unseren Zusammenhang aufschlußreichen Begründung von Hugo Preuss: „Nach unserer ganzen geschichtlichen Entwicklung .. . knüpfen sich die Erinnerungen deutschen Einheitsstrebens und die Wiederherstellung der nationalen Einheit aber an das Wort , Reich', . Deutsches Reich'." Der „tiefwurzelnde Gefühlswert", von dem Preuss zuvor im Februar 1919 gesprochen hatte weist in die gleiche Richtung. Trotzdem läßt sich heute die Ansicht 46 nicht mehr halten, „daß der Reichsbegriff, unabhängig von seinen monarchischen und auch imperialen Elementen, sich als traditionalistisch-historischer Staatsname für den deutschen Nationalstaat erhalten hatte" Das Festhalten am Reich hatte schwerwiegende politische Konsequenzen. Zwar hatten die vom deutschen Reichspatriotismus seit Bismarck diffamierten und bekämpften ehemaligen „Reichsfeinde" — Zentrum, Linksliberale, SPD — Substanz und gesellschaftliche Struktur des Reichs gegen die Kräfte konserviert, die die revolutionäre Situation vom November 1918 zu einer echten sozialen Revolution weiter-treiben wollten. Aber der „national" konservative Reichspatriotismus honorierte diese Selbstverleugnung, vor allem der SPD, nicht im geringsten. Die chauvinistische Rechte, die zur Erhöhung der allgemeinen Verwirrung gar noch als deutsch„national" firmierte, setzte die Innen-und Außenpolitik der Alldeutschen und der 1917 noch hastig als erste Massenorganisation des proto-faschistischen Elements gegründeten „Deutschen Vaterlandspartei" fort — nach innen Zerschlagung aller Ansätze zu einer wirklichen Demokratisierung des Reichs, nach außen Wiederaufstieg des Reichs zur Hegemonialmacht, die des Namens eines Reichs wieder würdig wäre.

Das Festhalten am Reichsbegriff war auch für die gemäßigten Reichspatrioten der Weimarer Republik mehr als nur eine Formsache. Ihre weitgehende Identifizierung mit der Reichsideologie erklärt auch, warum in der großen politischen Krise im Gefolge der Weltwirtschaftsdepression die extremen Reichspatrioten, die die Weimarer Republik nur als die „kaiserlose, die schreckliche Zeit" empfanden, als neues Interregnum, so leichten Erfolg in ihrem Ruf nach einem neuen Reich, dem Dritten Reich hatten. Der Sieg des Faschismus bewies nur von der anderen Seite her, daß das Reich nicht demokratisierbar war, sich nicht friedlich in eine demokratische Nation umwandeln ließ. Deshalb war die sog. nationale Revolution von-1933 keine echte Revolution von der politischen Qualität der demokratischen Revolution seit der Französischen Revolution, da sie die Prinzipien der Volks-souveränität und Demokratie gerade wieder abschaffte

Zu seiner ideologischen Rechtfertigung griff der deutsche Faschismus über das mittelalterliche Reich auf die Germanen der Völker-. Wanderung zurück, so daß sich die Spannung zwischen moderner industrieller Basis und agrarisch-reaktionärer Ideologie gegenüber dem Kaiserreich noch mehr verschärfte. Das faschistische Dritte Reich stampfte noch brutaler alle innenpolitische Differenzen durch blanken Terror ein und lenkte noch gewalttätiger die Energien der so oberflächlich geeinten „Nation" nach außen, zunächst in die diplomatisch verschleierte, schließlich in die offen kriegerische Revision des verhaßten Versailler Vertrags. Der Griff des Dritten Reichs zur europäischen Hegemonie und zur Weltmacht provozierte wiederum fast die gesamte übrige Welt in eine Einheitsfront der „Vereinten Nationen" gegen das Deutsche Reich. Der gleiche Mechanismus führte folgerichtig 1945 zu einem ähnlichen Ergebnis wie am Ende des Ersten Weltkriegs: Die diesmal totale militärische Niederlage, sogar auf deutschem Territorium, rief wiederum einen inneren Kollaps hervor, diesmal den totalen und unwiderruflichen Untergang des Deutschen Reichs. *

IV. Vom Reich zur Bundesrepublik und DDR, 1945— 1973

1. Der Zerfall des Reichs: West-und Ostintegration oder nationale Einheit, 1945-1961

Nach 1945 kam es in Deutschland bekanntlich zu keiner Revolution wie 1918. Aber in einem komplizierten Prozeß stellte sich ein viel komplexerer Sachverhalt ein: Das Verschwinden der gewaltsamen Klammer des Dritten Reichs setzte die normalen sozialen und politischen Differenzen wieder in ihre Rechte ein. Im Kalten Krieg etablierten sie sich jedoch nicht mehr — wie noch 1918 — im Rahmen einer gemeinsamen, „nationalen" Staatlichkeit, sondern auf den Trümmern des Deutschen Reichs entlang der Machtgrenze zwischen Ost und West, zunächst in provisorischer Staatlichkeit, ab 1949 in sich immer definitiver konsolidierenden Staaten unterschiedlicher Gesellschaftsordnung. Waren die inneren Differenzen im Deutschen Reich nach 1914 unter den Bedingungen des Burgfriedens in der Spaltung der SPD durchgeschlagen, Ende 1918 in der versuchten Revolutionierung des Reichs, so . verstaatlichten'sich jetzt diese Differenzen gleichsam. Im Zuge des Kalten Kriegs wurden aus Parteiungen und Parteiallianzen unterschiedliche Staaten.

Als das deutsche Volk nach dem Untergang des Deutschen Reichs die Chance zur modernen Nationwerdung gehabt hätte, verlor es die staatliche Einheit, weil innere Gegensätze von weltpolitischen Gegensätzen überlagert wurden. Der Vorgang war kein von oben aufgegebenes Verhängnis, sondern ein historischer Prozeß mit einer inneren Logik: In beiden Teilen Deutschlands, den westlichen Zonen und der Ostzone, entstanden staatliche Gebilde in Übereinstimmung mit der Klassenstruktur und den ideologischen Merkmalen der jeweiligen Besatzungsmacht, in einer Kombination von Freiwilligkeit und Zwang auf beiden Seiten: Im gesamten besetzten Deutschland fanden unmittelbar nach 1945 die Verstaatlichung der Schlüsselindustrien und die Bodenreform zur Zerschlagung der verbliebenen (meist adligen) Güter eine breite Zustimmung, wie sich sogar für den Westen an der Volksabstimmung in Hessen im Dezember 1946 und an Verfassungsartikeln in Nordrhein-Westfalen ebenso ablesen läßt wie am Ahlener Programm der CDU von 1947. Es gibt daher keinen Zweifel, daß diese Strukturveränderungen auch in der Ostzone 1947 in Übereinstimmung mit der Mehrheit der Bevölkerung erfolgten und noch heute akzeptiert sind.

In den Westzonen verhinderte dagegen ein Veto der USA entsprechende Beschlüsse in Hessen und Nordrhein-Westfalen, womit eine strukturelle und prinzipielle Voraussetzung zur Teilung Deutschlands geschaffen war in Übereinstimmung mit Politikern wie Konrad Adenauer, der schon seit Sommer 1945 u. a. aus Abneigung gegen Sozialisierungstendenzen vor der Sowjetunion gewarnt hatte

Nachdem sich die westdeutsche Bevölkerung dem in seinen weiteren Auswirkungen damals noch nicht zu übersehenden Eingriff gefügt hatte, erfolgte von da an die weitere Entwicklung in den Westzonen zur Bundesrepublik mit einem Maximum an Freiwilligkeit und steigendem Wohlstand (dank Befreiung von Reparationen, Marshall-Plan-Hilfe und Zugang zum Weltmarkt seit der Währungsreform vom Juni 1948). In der Ostzone dagegen steigerte sich — nach der im Prinzip freiwil-ligen Grundsatzentscheidung zur Verstaatlichung der Großindustrie und zur Bodenreform — das Element des Zwangs in der Entwicklung zur DDR, später in der DDR, mit einem (relativen) Minimum an Wohlstand gegenüber der Bundesrepublik (u. a. aufgrund der Belastung mit Reparationen zugunsten der UdSSR für ganz Deutschland bis 1955, der anfänglichen ökonomischen Auspowerung der DDR durch die UdSSR und der Absperrung vom Weltmarkt). Diese Zwangselemente des Systems, der steigende Abstand im Lebensstandard zwischen Bundesrepublik und DDR sowie die antikommunistische Propaganda im Kalten Krieg konditionierten die Mehrheit der Bundesbürger für eine konservative Politik, repräsentiert vor allem durch die CDU/CSU.

Die nächste Grundentscheidung — Gründung der Bundesrepublik — vollzog sich bereits gegen den Widerstand kleiner Gruppen, die als Folge die Teilung Deutschlands voraussahen. Die offizielle Betonung des provisorischen Charakters der Bundesrepublik war ein indirekter Reflex jener Befürchtungen, nun aber positiv in die Illusion gewendet, als sei es möglich, die Einheit Deutschlands allein oder am sichersten durch den ökonomischen und politischen Anschluß an den Westen zu erreichen. So kam die Idee vom westdeutschen Kernstaat auf, der dank seiner überlegenen Wirtschaftskraft und seiner freieren Lebensart in einem mysteriösen Vorgang irgendwie die Sowjetzone an sich ziehen würde, so daß die staatliche Einheit der Deutschen bald wieder hergestellt sein könnte

Im Grunde genommen konnte sich die in der Selbstverständlichkeit des Deutschen Reichs aufgewachsene Generation aktiver Politiker die nationale Einheit kaum anders als durch Wiederherstellung des Deutschen Reichs, in welcher Form auch immer, vorstellen. Deshalb hatte auch die Öffentlichkeit unmittelbar nach 1945 in stiller Selbstverständlichkeit von der höchsten politischen Ebene in Deutschland als von der „Reichsebene" gesprochen, also von „Reichskonferenzen" usw. Erst nach Gründung der Bundesrepublik setzte sich als neuer Terminus für die politische höchste Ebene die „Bundesebene" durch, so mit der „Deutschen Bundesbahn", während in der DDR heute noch immer die „Deutsche Reichsbahn" fährt, mit ihr entsprechend auch die „Mitropa", jene „Mitteleuropäische Schlafwagen-und Speise AG", die 1917 gegründet wurde, nachdem seit der Eroberung Serbiens durch die Mittelmächte (1915) die direkte Eisenbahnverbindung von Berlin nach Konstantinopel unter deutscher Vorherrschaft vorübergehend eingerichtet worden war (1916).

Die Institutionalisierung der Teilung Deutschlands war also auch eine Konsequenz aus der Konstituierung der Bundesrepublik. Die politischen Führer der Bundesrepublik in allen großen Parteien sahen und akzeptierten das Risiko, weil sie die Teilung Deutschlands als nur vorübergehend hinzunehmen bereit waren Die Verhärtung der Teilung Deutschlands wurde aber mit der ab 1950 propagierten Bewaffnung der Bundesrepublik weiteren Teilen der bundesdeutschen Bevölkerung sichtbar, vor allem durch den Rücktritt Gustav Heinemanns als Bundesinnenminister und seinen sich anschließenden anhaltenden Protest gegen die einseitige, nun auch militärische Westbindung der Bundesrepublik in der Wiederbewaffnung, weil sie die Wiedervereinigung Deutschlands unmöglich machen würde

Das inzwischen unübersehbar gewordene Risiko der vertieften und verewigten Spaltung versuchte die CDU/CSU mit einer in die europäische Dimension verlängerten Kernstaatentheorie zu überspielen und in den sechziger Jahren durch eine weitere Ausdehnung in eine „atlantische Gemeinschaft": Die Integration werde die Macht des freien Westens so steigern, daß die Sowjets friedlich-schied-lieh aus ihrer Zone verschwinden würden. Adenauer stilisierte gar die Bewaffnung und militärische Westintegration zum einzigen Mittel empor, die Wiedervereinigung überhaupt zu erlangen, und sagte schreckliche Konsequenzen voraus, wenn die Westdeutschen die ihnen verordnete Bewaffnung ablehnen würden, z. B. daß sie durch die USA fallengelassen würden.

Noch im letzten Lebensjahr Stalins bot die UdSSR mit ihrer Note vom 10. März 1952 wenigstens formal die Wiedervereinigung auf der Basis international kontrollierter Wahlen mit dem Wahlrecht der Weimarer Republik an. Aber das Angebot wurde als taktische Finte des Kreml-Diktators beiseitegeschoben, da es angeblich nur die militärische Westintegration der Bundesrepublik verhindern oder wenigstens verzögern sollte Parallel zum Wirtschaftswunder in der Bundesrepublik verstärkten der Übergang der DDR zum sozialistischen Produktionssystem und die erste Welle der Kollektivierung der Landwirtschaft 1952/53 die Fluchtbewegung aus der DDR und erschwerten damit die innerdeutschen Beziehungen, u. a. auch durch die zunehmende Isolierung der DDR (Stacheldraht und Todesstreifen zur Eindämmung der Flucht-bewegung über die Zonengrenze).

Die Propagierung einer angestrebten atomaren Ausrüstung der Bundeswehr ab 1956 provozierte nunmehr den Widerstand der oppositionellen SPD und FDP, weil sie damit die deutsche Teilung „zementiert" sahen, wie es damals hieß. Nach der Zustimmung der Mehrheit im Bundestag zum Prinzip der atomaren Ausrüstung der Bundeswehr im März 1958 folgten als sowjetische Antwort das sog. Berlin-Ultimatum Chruschtschows vom November 1958, das erste spektakuläre Engagement des Springer-Konzerns in der Deutschlandpolitik mit der Aktion „Macht das Tor auf", die Verschärfung der Fluchtbewegung aus der DDR und schließlich die Berliner Mauer vom 13. August 1961: Die Teilung Deutschlands wurde konkret und buchstäblich „zementiert".

2. Wiedervereinigung als faktische Restauration des Deutschen Reichs, 1961-1969

Die Bundesregierung unter Adenauer schaltete vor dem Hintergrund eines positiven Votums des Bundestags für eine atomare Ausrüstung der Bundeswehr ab 1958 auf eine aktive Wiedervereinigungspropaganda um, offensichtlich, um die UdSSR aus der DDR hinauszudrängen. Die CDU/CSU bemächtigte sich also erst nach formaler Vollendung ihrer „Politik der Stärke" auf eigenem Boden des „nationalen" Themas. Ihre Politik besaß seitdem verbal als erste Priorität die Wiedervereinigung Deutschlands, nachdem ihre vorausgegangene praktische Politik zu einem erheblichen Teil selbst zur Teilung Deutschlands beigetragen hatte. Ihre Konzeption der Wiedervereinigung, faktisch im Rahmen der NATO und in den Reichsgrenzen von 1937, beruhte auf dem Argument der Macht und einer falsch verstandenen Geschichte. Wiedervereinigung auf solcher Basis wäre der Restauration der traditionellen Machtzusammenballung gleichgekommen, die historisch das Deutsche Reich auf den Höhepunkten seiner Machtentfaltung repräsentierte. Die offizielle Politik der CDU/CSU lief daher auf eine Neuauflage traditioneller deutscher Machtpolitik hinaus, erst recht seitdem ab der Mitte der sechziger Jahre immer stärkere „nationale" Töne in diese Propaganda ein-flossen, als Männer wie Eugen Gerstenmaier öffentlich beklagten, daß die Bundesrepublik bei ihrer Gründung 1949 den Namen des „Reichs" nicht wieder aufgegriffen habe oder als Franz-Josef Strauß, jetzt schon im Kampf gegen die Ostverträge, zu verstehen gab, seiner Ansicht nach sei das Deutsche Reich 1945 gar nicht endgültig untergegangen.

Eine „nationale" Politik, die der Wiedervereinigung unbedingte Priorität auf der Basis von Atombewaffnung, Zugehörigkeit zur NATO und Rückkehr zu den Reichsgrenzen im Osten von 1937 einräumte, war jedoch illusionär und gefährlich. Nach Lage der Dinge mußte jeder ernsthafte Versuch, eine solche Wiedervereinigung durch eine Politik der Stärke zu erzwingen, zu neuen Konflikten auf deutschem Boden führen. Denn die UdSSR als zweite Weltmacht hätte selbstverständlich den faktischen Anschluß der DDR an die Bundesrepublik und die NATO niemals kampflos zugelassen, weder unter politischem noch militärischem Druck.

Die maximalistische Wiedervereinigungspolitik durch Stärke mußte an der inneren Widersprüchlichkeit der ihr zugrunde liegenden Konzeption scheitern: Es ist unmöglich, ein politisch offensives Ziel —: Wiedervereinigung unter westlichen Bedingungen — nur durch defensiven Einsatz der eigenen militärischen Machtmittel zu erzwingen. Die Politik der unbedingten Wiedervereinigung seit der konventionellen und im Prinzip auch der atomaren Bewaffnung der Bundesrepublik barg das Risiko eines Dritten Weltkriegs auf deutschem Boden in sich.

Die Diskrepanz zwischen offensivem Ziel und nur defensiv einzusetzenden Machtmitteln war mit der damit anhaltenden Spannung nach innen und außen nicht für unbestimmte Zeit aufrechtzuerhalten. 1933 hatte der deutsche Reichspatriotismus in ähnlicher Lage durch Liquidierung der Weimarer Republik und Errichtung des Dritten Reichs die entsprechende Diskrepanz zur offensiven Seite hin aufgelöst, mit dem Zweiten Weltkrieg als Ergebnis. Trotz eines in den sechziger Jahren entstehenden neuen Nationalismus, der die Bundesrepublik auf die gleiche Linie zu drängen schien, führten die weltpolitischen Machtverhältnisse und Konflikte — u. a. die Teilung Deutschlands selbst sowie die moralischen und politischen Einbußen der USA im Vietnamkrieg — zu einem radikalen Umdenken auf die einzige andere Alternative zur Forderung nach unbedingter Wiedervereinigung ohne Rücksicht auf die Nachbarn und die politischen Bedingungen.

3. Die neue Ostpolitik, 1969— 1973

Diese andere Alternative ging von den seit 1945 in Ost und West entstandenen neuen politischen Realitäten aus und setzte sich als oberste Priorität die Intensivierung des Friedens in Europa. Aus Westintegration und gesteigertem Potential der Bundesrepublik zog sie nicht die Konsequenz in Richtung auf noch mehr Macht, sondern auf Unterordnung aller weiteren Überlegungen unter die Verbesserung des Friedens. Es ist daher keine Anmaßung, die Politik des Ausgleichs gegenüber dem Osten (auf der Basis der Verständigung über diesen Weg mit dem Westen) als Friedenspolitik zu bezeichnen.

Die Entscheidung zugunsten der neuen Politik bereitete sich zunächst in der Gesellschaft selbst vor; zunehmend beteiligte sich eine junge Generation an der Politik, die als ihre Heimat nur die Bundesrepublik erfahren und erlebt hat. Parallel zur inneren Konsolidierung der DDR — so ungeliebt sie in West und Ost unter den Deutschen bleiben mochte — schu21 fen die mannigfachen Krisenmomente in der Bundesrepublik seit dem 2. Juni 1967 paradoxerweise ein öffentliches Bewußtsein, das sich im Streben nach Überwindung der Schwächen unserer Gesellschaftsordnung durch demokratische Reformen immer stärker mit eben dieser Bundesrepublik identifizierte. Für eine junge Generation, die das Reich auch in seiner historisch letzten Ausgabe nur noch aus den Schulbüchern kannte, wurde die Bundesrepublik nationaler Rahmen — zur Bestürzung vieler Älterer, die bewußt oder unbewußt noch immer vom Bismarckreich als dem Normalfall der politischen Existenz für die Deutschen ausgingen und ausgehen. Eine intensive jüngere Forschungsrichtung in der Geschichtswissenschaft vergrößerte jedoch nur noch die innere Distanz zum Deutschen Reich, indem sie unsentimental zentrale Lebenslügen des deutschen Reichspatriotismus zerstörte, vor allem die angebliche Unschuld des Deutschen Reichs am und im Ersten Weltkrieg

Durch die Wahlentscheidung vom 29. September 1969 signalisierte eine — wenn auch noch knappe — Mehrheit in der bundesdeutschen Bevölkerung, daß sie bereit zum Ingangsetzen der neuen Verständigungsund Friedenspolitik war. Diese konkretisierte sich in den Ost-verträgen und im Grundvertrag mit der DDR.

Die Bundesrepublik normalisierte ihr Verhältnis zum kommunistischen Osten soweit, daß aus den verbleibenden Differenzen keine Kriegsgefahr mehr zu entspringen braucht. Das permanente Dilemma zwischen Unvereinbarkeit von staatlicher Einheit aller Deutschen und einem machtvollen Status für diesen Staat beginnt sich nach der friedlichen Seite hin aufzulösen. Mehr oder weniger bewußt hat die Mehrheit in der Bundesrepublik akzeptiert, daß es kein Zurück mehr zum Deutschen Reich gibt, weil es der Idee oder dem Anspruch nach die in Zentraleuropa aggressiv wirkende Kombination von Einheit und Macht aller in einem deutschen Zentral-staat vereinigten Deutschen repräsentiert.

Das wichtigste Ergebnis für die theoretischen Überlegungen, die in der Problematik von Reich und Nation der Deutschen stecken, ist die Trennung der bisherigen naiven, aber irreführenden Identifizierung beider Kategorien — Reich und Nation. So haben die Ostverträge und der Grundvertrag mit der DDR keineswegs, wie oft behauptet wird, die Teilung der deutschen Nation geschaffen, anerkannt oder auch nur besiegelt, sondern nur den endgültigen und unwiderruflichen Untergang des Deutschen Reichs bestätigt, der aber schon über ein Vierteljahrhundert zuvor eingetreten war'— am 8. Mai 1945.

V. Die politischen Konsequenzen: die gedoppelte Nation

Die theoretische Konsequenz aus dem historischen Prozeß sollte noch mehr verdeutlichen, was gemeint ist: Wenn Reich und Nation füi die Deutschen nicht identisch waren, so gab es auch keine deutsche Nation im modernen, von der Französischen Revolution her geprägten Sinn, dann können die Ostverträge auch nicht die deutsche Nation teilen. Die Chance zur Nationwerdung im engeren Sinn hatten die Deutschen erst 1945 nach dem Ende des Deutschen Reichs. Da sich nach dem Zerfall des Reichs die seit dem Bismarckreich ungelöst gebliebenen sozialen und politischen Spannungen selbständig machten und entlang den Grenzen des Kalten Kriegs staatlich etablierten, wurden also aus Parteien Staaten. Die Teilung der Nation erfolgte somit schon bald nach 1945, nicht erst ab 1969. Indem sich die Chance zur Nationwerdung in zwei zunächst ungeliebten Provisorien verdoppelte, spaltete sich die gerade entstehende Nation der Deutschen in zwei Staaten, die allmählich zu nationalen Einheiten unterschiedlicher Gesellschaftsordnung heranwuchsen.

1. Gebliebene Gemeinsamkeiten: Sprache, Kultur, Probleme

Was aber bleibt den Deutschen von der nationalen Einheit im traditionellen Verständnis? Politisch vorläufig nichts als einige for-male Vorbehalte, nachdem die leeren Rechtsansprüche endlich über Bord gingen. Jenseits des Politischen bleibt nur, was die deutsche Romantik einst zur Basis ihrer — dem modernen und rationalen Nationsbegriff entgegengesetzten — Auffassung von Nation gemacht hatte: gemeinsame Sprache und Kultur. Hinzutreten verwandtschaftliche Beziehungen zwischen den Bürgern der Bundesrepublik und der DDR, die immer noch enger und häufiger sind als sonst zwischen Bürgern verschiedener Staaten, ferner gemeinsame ökonomische und ökologiche Probleme und Interessen. Das ist nicht eben wenig. Die Pflege der daraus entspringenden Kontakte und Kooperationsmöglichkeiten würde eine Fülle von neuen Gemeinsamkeiten entstehen lassen, die über die Narbe der politischen Trennung mit der Zeit hinweghelfen würden, gleichzeitig aber die Voraussetzungen zu einer politischen Wiedervereinigung vorbereiten könnten.

Die Kräfte, die solche Gemeinsamkeiten ais zu wenig verschmähen, sollten sich ernsthaft prüfen, ob sie und die historischen Traditionen, auf die sie sich berufen, nicht am meisten zur Spaltung Deutschlands beigetragen haben. Das neudeutsche „Alles oder Nichts" macht solche Kräfte blind für die politische Realität unserer Zeit. Erst recht müssen alle, die über den Verlust der nationalen Einheit klagen, Klarheit über einen zentralen Punkt gewinnen: Aller menschlichen Voraussicht nach ist eine friedliche Wiedervereinigung Deutschlands auf der Grundlage des Kapitalismus unwahrscheinlich oder gar unmöglich. Wiedervereinigung ist nur noch denkbar auf sozialistischer Grundlage — womit allerdings nicht die gegenwärtig herrschenden gesellschatflichen Systeme gemeint sind. Es würde zur Bereinigung der politischen Atmosphäre in unserer Republik beitragen, wenn auch unsere „Nationalen" — in Wirklichkeit verkappte Reichspatrioten — die Realität der Bundesrepublik als die unserer politischen Nation akzeptieren.

Warum sollten ausgerechnet die Bundesdeutschen auf eine normale nationale Existenz verzichten? Das deutsche Volk hat 1945 endlich die politisch destruktive Struktur des Reichs verloren, um so zur Nation zu werden. Daß es nun gleich zwei politische Nationen (im noch immer gemeinsamen kulturellen Rahmen) geworden sind, ist eine Konsequenz aus der deutschen Reichsgeschichte vor 1945 und der allgemeinen Weltgeschichte sowie den politischen Entscheidungen seit 1945.

2. Nation Bundesrepublik

In diesem Prozeß wird die Bundesrepublik (ähnlich wie die DDR oder Österreich) Nation, weil sich in ihren Grenzen ein nationaler Konsensus unter den Bewohnern eingestellt hat, aus persönlichen und politischen Erfahrungen diesen Staat als den ihren zu begreifen und zu bejahen. Nation ist nicht bloß an die Gemeinsamkeit von Sprache und Kultur gebunden. Nation ist auch nicht einfach die Summe der beliebig in die Vergangenheit zurückzuverlängernden gemeinsamen Geschichte. Nation bedeutet im politischen Willensakt der Nationswerdung auch einmal den Bruch mit der bisherigen historischen Kontinuität.

Eine tiefe, meist revolutionäre Zäsur schneidet die prä-nationale von der nationalen Pe- riode ab, wie sich gut am Beispiel jeder revolutionären Nationsbildung zeigen läßt, von der „Histoire Contemporaine" Frankreichs, die 1789 einsetzt, bis zur russischen bzw. sowjetischen Geschichte.

In Deutschland liegen die Verhältnisse — wie so oft — etwas komplizierter. Einerseits bietet sich als Zäsur ein präzises Datum an — der Untergang des Deutschen Reichs am 8. Mai 1945. Andererseits begann damals ein komplexer und konfuser Prozeß, der in der doppelten Nationsbildung der Bundesrepublik und der DDR vorläufig endete, ohne klare, z. B. revolutionäre weitere Einschnitte, sondern mit zahlreichen evolutionären Etappen — Gründung der Bundesrepublik samt engerer Vorgeschichte, Bewaffnung der Bundesrepublik in zwei Etappen (konventionell und zumindest im Anspruch nuklear), die Berliner Mauer vom 13. August 1961, der 2. Juni 1967 und die sich anschließende Studentenbewegung, Bundestagswahl 1969 und die Ostverträge von 1970, konstruktives Mißtrauensvotum und Ratifizierung der Ostverträge im April/Mai 1972 samt sich anschließenden Bundestagswahlen 1972, und jetzt der Grund-vertrag mit der DDR und der sich anschließende Eintritt beider Staaten in die Vereinten Nationen.

Die Bundesrepublik hat auch deshalb die Chance, zu unserer politischen Nation zu werden, weil sich „Nation" (und „Gesellschaft") gegenüber ihren Anfängen im späten Mittelalter bzw.dem 18. Jahrhundert soweit demokratisiert haben, daß die Nation jetzt tatsächlich die gesamte Gesellschaft eines Volkes umfaßt, und nicht nur, wie früher, seine jeweils herrschende Klasse. Im Kaiserreich wie in der Weimarer Republik setzten sich die herrschende Aristokratie und Bourgeoisie noch mit der „Nation" schlechthin gleich. „Nation" war exklusiv und elitär, Sozialdemokraten und andere „Reichsfeinde" ausschließend. Heute umfaßt die Nation alle Bürger unseres freiheitlichen und demokratischen Staats.

Nach einem klugen Wort von Golo Mann erkennt sich die Bundesrepublik mit den Ost-verträgen selbst an — aber, so darf man fortfahren, nur als Nation, niemals als Interregnum, als Ersatz-oder Rumpfreich zur Wiederherstellung eines (dann Vierten) Deutschen Reichs.

Die Bundesrepublik hat nur eine friedliche und demokratische Chance, wenn sie sich als demokratisch und parlamentarisch konstruierten Nationalstaat der Deutschen im Westen, die hier seit 1945 wohnen oder hinzugezogen sind, akzeptiert. Erst die Aufnahme der Bundesrepublik als unsere Nation durch uns selbst macht die Aufnahme der Bundesrepublik in die Vereinten Nationen sinnvoll.

Das verstößt keineswegs gegen das Grundgesetz. Gewiß „bleibt das deutsche Volk aufgefordert, seine Einheit in Freiheit zu vollenden", wie die Präambel des Grundgesetzes vorschreibt. Aber 1949 forderte es nach Lage der Dinge Unmögliches, wie nicht erst die Politik der ersten Bundesregierungen demonstrierte. Niemand ist auf die Dauer verpflichtet, Unmögliches zu versuchen. Deshalb kann die Präambel des Grundgesetzes mit ihrer Forderung des Unmöglichen nicht die bindende Kraft haben, 1973 eine Politik zu verhindern, die, wenn auch auf von der historischen Entwicklung diktierten Umwegen, vielleicht doch noch zu einer Wiedervereinigung führt. Die formalen Vorbehalte in den Ost-verträgen lassen diesen Weg noch immer offen. Elementare Voraussetzung aber wäre die freie und demokratische Zustimmung aller Deutschen und ihrer mittelbaren wie unmittelbaren Nachbarn.

Ob die „Nationalen" von heute diese Wiedervereinigung in 20 oder 30 Jahren noch wollen, weil sie die innen-und gesellschaftspolitischen Rückwirkungen auf ihre eigene Machtpositionen in der Bundesrepublik Deutschland fürchten, wird sich erst noch herausstellen müssen. Das aber wird vermutlich einen wesentlichen Teil der inneren Auseinandersetzungen in der Bundesrepublik während der kommenden Jahre oder Jahrzehnte ausmachen.

In der Zwischenzeit sollten wir die staatliche Verdoppelung der Deutschen als Chance im Sinne der Ring-Parabel von Lessings „Nathan der Weise" nutzen. Im friedlichen Wettbewerb mag sich erweisen, welche der Staats-und Gesellschaftsordnungen auf die Dauer effektiver ist, nicht nur im Sinne der Steigerung der ökonomischen Effektivität und der Produktionszahlen, sondern auch in der Schaffung und Bewahrung von menschenwürdiger Lebensqualität und Freiheit für die Menschen in beiden deutschen Staaten.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Elisabeth Fehrenbach, Die Reichsgründung in der deutschen Geschichtsschreibung, in: Theodor Schieder/Ernst Deuerlein (Hrsg.), Reichsgründung 1870/71. Tatsachen, Kontroversen, Interpretationen, Stuttgart 1970, S. 259— 290.

  2. Z. B. Theodor Schieder, Das Deutsche Reich in seinen nationalen und universalen Beziehungen 1871 bis 1945, in: Th. Schieder/E. Deuerlein (Hrsg.), a. a. O., S. 422— 454, vor allem S. 445: „Wenn vom Deutschen Reich als Nationalstaat gehandelt wird .. S. 445; ders., Nationale und übernationale Gestaltungskräfte in der Geschichte des europäischen Ostens, Kölner Universitätsreden, Krefeld o. J. (1959), S. 21: „Wenn der mitteleuropäische Nationalstaat — in Deutschland und in Italien — .. ."; Werner Conze, Die deutsche Nation. Ergebnis der Geschichte. Die deutsche Frage in der Welt, Bd. 1, Göttingen 1963, S. 77, 82 f., 84: „Die Gründung des Reichs als Nationalstaat ..

  3. Der folgende Aufsatz greift auf Erwägungen aus früheren Aufsätzen zurück; vor allem I. Geiss, Alptraum vom tausendjährigen Reich. Ein Versuch in Nüchternheit, in: „Vorwärts", 7. 2. 1962; ders., Das Erbe zweier Weltkriege, in: atomzeitalter, 9/1964; ders., Zur Vorgeschichte des Dritten Reichs; beide jetzt neu abgedruckt in: I. Geiss, Studien über Geschichte und Geschichtswissenschaft, (edition sur-kamp 569) Frankfurt/Main 1972, S. 45— 66, vor allem S. 57— 60, S. 67— 88.

  4. Vgl. hierzu den instruktiven Satz bei Albert Brackmann, Canossa und das Reich, in: Stufen und Wandlungen der deutschen* Einheit, hrsg. von Kurt von Raumer und Theodor Schieder, Stuttgart, Berlin 1943, S. 9: „Denn in dem Augenblick, in dem das neugeordnete Großdeutschland wieder die politische Führung in Europa übernommen hat, besteht ein starkes Interesse daran, über die Gründe Klarheit zu gewinnen, die zur Auflösung der Einheit des ersten deutschen Reiches führten und die an die Stelle der mittelalterlichen deutschen Vormacht in Europa die Zersplitterung in eine Reihe einander befehdender, sogenannter (sic! I. G.) Nationalstaaten setzten."

  5. Dieser Zusammenhang wird deutlich bei Christopher Hill, The Intellectual Origins of the English Revolution, Oxford 1965, 19713, im Kapitel „RaleighScience, History, and Politics", S. 131— 224.

  6. Vgl. I. Geiss, Die Afro-Amerikaner, Frankfurt/Main 1969, S. 171— 175.

  7. Eine historische Analyse der Gesamtbewegung im 19. und 20. Jahrhundert ist mir im Augenblick nicht bekannt. Für die Phase der kolonialen Emanzipation vgl. Franz Ansprenger, Auflösung der Kolonialreiche (dtv-Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts, Bd. 13), München 1966.

  8. Vgl. Hans Rothfels, Zeitgeschichtliche Betrachtungen. Vorträge und Aufsätze, Göttingen 1959, 2. Aufl. 1963, S. 94— 99; ähnlich W. Conze, Die deutsche Nation, S. 80 f.; Paul Kluke, Selbstbestimmung. Vom Weg einer Idee durch die Geschichte (Die deutsche Frage in der Welt, Bd. 2), Göttingen 1963, S. 32 f.; beide im Zusammenhang mit der deutschen Annexion von Elsaß-Lothringen 1871.

  9. Vgl. Th. Schieder, Das Deutsche Reich, a. a. O., S. 440, wo alle drei Wortschöpfungen vereint sind; ähnlich fragwürdig ist die Bildung „volksnational" bei W. Conze, ebenda, S. 80.

  10. Näher bei I. Geiss, Nation und Nationalismus im Zeitalter der industriellen Revolution, in: atomzeitalter, 11/1963, S. 294— 298, im Anschluß an Walter Sulzbach, Imperialismus und Nationalbewußtsein, in: Was bedeuten uns heute Volk, Nation, Reich? Vorträge und Diskussion auf einer Arbeitstagung der Friedrich-Naumann-Stiftung in Bad So-den, Stuttgart 1961, S. 18 ff. Neben den nützlichen Kategorien der dynastischen und kolonialen Nation führt Sulzbach allerdings noch eine dritte, fragwürdigere ein, die „ideologische" Nation mit der Sprache (Deutschland, Italien, Norwegen), Religion (Belgien, Pakistan) und „opportunistischem Interesse an gemeinsamer Verteidigung" (Schweiz, USA) als Beispielen.

  11. Bisher gibt es keine ausführliche Analyse der deutschen Geschichte in einem modernen, rationalen Sinn, jedenfalls nicht in deutscher Sprache. Als erste moderne Analyse vgl. Wolfgang Sauer, Das Problem des deutschen Nationalstaates, in: Politische Vierteljahresschrift, 3/1962, S. 159— 186; jetzt auch überarbeitet und erweitert in: Hans-Ulrich Wehler (Hrsg.), Moderne deutsche Sozialgeschichte (NWB Bd. 10), Köln, Berlin 1970 %, S. 407— 436. Unbefriedigend die knappe Skizze von W. Conze: Die deutsche Nation, weil sie nur eine modernisierte Variante der traditionellen Sicht darstellt. Als Ersatz bietet sich vorläufig nur die brillante Skizze von A. J. P. Taylor an: The Course of German History, London 1945, mit zahlreichen Auflagen seitdem; leider wurde das Buch nicht ins Deutsche übersetzt.

  12. Rudolf Kötschke/W. Ebert, Geschichte der ostdeutschen Kolonisation, Leipzig 1937, ist — gegen den damaligen Strich gelesen — zur Information immer noch instruktiv, gerade weil das Element der Gewalt und Eroberung ganz naiv zu Tage tritt.

  13. Auch für diesen Punkt muß man die traditionellen Darstellungen ebenso wie Handbücher und Schulbücher nur gegen den Strich lesen, um dort die Bestätigung für diesen Sachverhalt zu finden. Als beste Darstellung vgl. Henri Pirenne, Geschichte Europas von der Völkerwanderung bis zur Reformation, Frankfurt/Main 1961.

  14. A. Brackmann, Canossa und das Reich, a. a. O., S. 11. Die Folge war, daß die Könige in West-europa (Aragon, Navarra, Kastilien, Burgund und Frankreich) den Supremat des Papstes anerkannten, der deutsche König als römischer Kaiser dagegen nicht.

  15. H. Pirenne, Geschichte Europas, S. 298, 426 f.

  16. Ebenda, S. 298.

  17. Vgl. Th. Schieder, Das deutsche Kaiserreich von 1871 als Nationalstaat, Köln und Opladen 1961; vgl. auch Anm. 2.

  18. Vgl. Gerhard Ritter, Großdeutsch und klein-deutsch im 19. Jahrhundert, in: G. Ritter: Lebendige Vergangenheit. Beiträge zur historisch-politischen Selbstbesinnung, München 1958, S. 101— 125.

  19. Ebenda, S. 109, für die großdeutsche Variante, -ferner Th. Schieder, Das Deutsche Reich 1871 bis 1945, S. 423— 426.

  20. Th. Schieder, ebenda, S. 422.

  21. Ebenda, S. 424.

  22. Ebenda.

  23. Vgl. jetzt Theodore S. Hamerow, The Origins of Mass Politics in Germany 1866— 1867, in: I. Geiss/Bernd Jürgen Wendt (Hrsg.), Deutschland in der Weltpolitik des 19. und 20. Jahrhunderts (Festschrift für Fritz Fischer), Düsseldorf 1973, S. 105— 120.

  24. Beide Aspekte hat ein und derselbe Historiker in zwei ausführlichen Monographien behandelt, je eine für den inneren und den äußeren; vgl. Egmont Zechlin, Staatsstreichpläne Bismarcks und Wilhelms II. 1890— 1894, Stuttgart, Berlin 1929; ders., Bismarck und die Grundlegung der deutschen Großmacht, Stuttgart, Berlin 1930, 2. Aufl. 1960. Schwach und wenig ergiebig Werner Pols, Sozialistenfrage und Revolutionsfurcht in ihrem Zusammenhang mit den angeblichen Staatsstreichplänen Bismarcks, Lübeck, Hamburg 1960. Grundlegend jetzt Michael Stürmer, Staatsstreichgedanken im Bismarckreich, in: HZ, 209/1969, zuvor schon W. Sauer, Das Problem des deutschen Nationalstaates, a. a. O., S. 426— 436.

  25. Bertrand Russell, German Social Democracy, London 1896, 2. Aufl. 1965; deutsch jetzt auszugsweise: B. Russell, Politische Schriften I. Was wir tun können. Ausgewählt, eingeleitet und mit Anmerkungen versehen von Achim v. Borries, München 1972, S. 11— 14, 59.

  26. Zitiert nach Karl Marx/Friedrich Engels, Studienausgabe in 4 Bänden, hrsg. von Iring Fetscher, Bd. III, Geschichte und Politik I, Frankfurt/Main 1966, S. 133.

  27. Th. Schieder, Die Bismarcksche Reichsgründung von 1870/71 als gesamtdeutsches Ereignis, in: Stufen und Wandlungen der deutschen Einheit, S. 342 bis 401, vor allem S. 376— 378, mit damals (1943) üblichem Duktus gegen die demokratischen Strömungen „der Abwendung, der Abkehr von Volk und Reich“ (S. 378) in der Schweiz. Selbstverständlich findet sich auch dort bereits die später beim gleichen Historiker anzutreffende Vermischung von Nation und Deutschem Reich (S. 378; vgl. auch oben Anm. 2).

  28. Der Leipziger Hochverratsprozeß von 1872. Neu herausgegeben von Karl-Heinz Leidigkeit, Berlin 1960, S. 256 f.

  29. Vgl. Hans-Ulrich Wehler, Krisenherde des Kaiserreichs 1871— 1918. Studien zur Sozial-und Verfassungsgeschichte, Göttingen 1970, vor allem das Kapitel: „Unfähigkeit zur Verfassungsreform: Das . Reichsland'Elsaß-Lothringen von 1870 bis 1918", S. 17— 63, ferner: „Symbol des halbabsolutistischen Herrschaftssystems: Der Fall Zabern von 1913/14 als Verfassungskrise des Wilhelminischen Kaiser-reichs", S. 65— 83. Für die polnische Problematik vgl. Martin Broszat, Zweihundert Jahre deutsche Polenpolitik, München 1963 (2. Aufl. dtv München 1972), vor allem das Kapitel „Germanisierungs-und Kampfpolitik unter Bismarck und Wilhelm II. (1871— 1914)", S. 96— 131 (zit. nach der 1. Aufl.).

  30. Das war die für unser Thema zentrale Begründung der deutschen Reichspolitik in der Julikrise 1914; vgl. dazu I. Geiss, Julikrise und Kriegsausbruch 1914. Eine Dokumentensammlung, Hannover 1963/64, vor allem Bd. I, Nr. 138 (S. 214), 157, 188, 284, Bd. II, Nr. 1089 (S. 637— 639).

  31. Fritz Fischer, Griff nach der Weltmacht. Die Kriegszielpolitik des kaiserlichen Deutschland 1914/18, Düsseldorf 1964 3.

  32. Kurt Riezler, Tagebücher, Aufsätze, Dokumente. Eingeleitet und herausgegeben von Karl Dietrich Erdmann, Göttingen 1972; für eine Zusammenfassung der wichtigsten Tagebucheintragungen vgl. I. Geiss: Weltherrschaft durch Hegemonie. Die deutsche Politik im I. Weltkrieg nach den Riezler-Tagebüchern, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 50/72, vor allem S. 10— 16, 18 f.; für eine systematische Analyse des gleichen Aspekts vgl.ders., Kurt Riezler und der Erste Weltkrieg, in: Deutschland in der Weltpolitik des 19. und 20. Jahrhunderts, S. 298 bis 418, vor allem S. 409— 415.

  33. Vgl. Hans Rosenberg, Große Depression und Bismarckzeit. Wirtschaftsablauf, Gesellschaft und Politik in Mitteleuropa, Berlin 1967; generell dazu vor allem H. -U. Wehler, Bismarck und der Imperialismus, Köln und Berlin 1970 2.

  34. Vgl. John C. G. Röhl, Deutschland ohne Bismarck. Die Regierungskrise im Zweiten Kaiserreich 1890— 1900, Tübingen 1969; insbes. das Unterkapitel „ Weltpolitik', . Flottenpolitik'und die . Mobilisierung der Massen'", S. 228— 234; ausführlicher, vor allem für die innenpolitischen Aspekte: Dirk Steg-mann, Die Erben Bismarcks. Parteien und Verbände in der Spätphase des Wilhelminischen Deutschlands, Köln und Berlin 1970, vor allem Teil II: „Das Bündnis zwischen Junkertum und Großindustrie und die Bedeutung der Miquelschen Sammlungspolitik", S. 59— 130; ders., Wirtschaft und Politik nach Bismarcks Sturz. Zur Genesis der Miquelschen Sammlungspolitik 1890— 1897, in: Deutschland in der Weltpolitik des 19. und 20. Jahrhunderts, S. 161— 184.

  35. Vgl. Hans Herzfeld, Die Moderne Welt 1789— 1945, Braunschweig 1961 3, Teil I, S. 219.

  36. Wolfgang J. Mommsen, Max Weber und die deutsche Politik 1890— 1920, Tübingen 1959, S. 139 ff.

  37. Vgl. J. C. G. Röhl, Deutschland ohne Bismarck, vor allem die Unterkapitel „Der Wille zum Staatsstreich" (S. 52— 56) und „Weitere Pläne zum Staatsstreich — der Sturz Caprivis und Eulenburgs" (S. 105— 111).

  38. Dazu zuerst Eckart Kehr, Englandhaß und Weltpolitik. Eine Studie über die innenpolitischen und sozialen Grundlagen der deutschen Außenpolitik um die Jahrhundertwende, in: Eckart Kehr, Der Primat der Innenpolitik. Gesammelte Aufsätze zur preußisch-deutschen Sozialgeschichte im 19. und 20. Jahrhundert, herausgegeben und eingeleitet von H. -U. Wehler, mit einem Vorwort von Hans Herzfeld, Berlin 1970 2, S. 149— 175; vgl. auch die oben bei Anm. 34, 35 angegebene Literatur.

  39. E. Kehr, ebenda.

  40. Vgl. Peter-Christian Witt, Die Finanzpolitik des Deutschen Reiches von 1903— 1913. Eine Studie zur Innenpolitik des Wilhelminischen Deutschland, Lübeck und Hamburg 1970.

  41. Vgl. D. Stegmann, Die Erben Bismarcks, a. a. O., das Unterkapitel: „Pläne zur Verfassungsreform und alldeutsche Staatsstreich-Forderungen: Ein Reichsoberhaus?" (S. 368— 381); vgl. auch Hartmut Pogge-von Strandmann, Staatsstreichpläne, Alldeutsche und Bethmann Hollweg, in: ders. /I. Geiss, Die Erforderlichkeit des Unmöglichen. Deutschland am Vorabend des Ersten Weltkrieges, Frankfurt 1965.

  42. Am ausführlichsten bisher behandelt bei I. Geiss, Die Fischer-Kontroverse. Ein kritischer Beitrag zum Verhältnis zwischen Historiographie und Politik in der Bundesrepublik, in: ders., Studien, a. a. O., (edition Suhrkamp 569), S. 108— 198; jetzt auch Arnold Sywottek, Die Fischer-Kontroverse. Ein Beitrag zur Entwicklung des politisch-historischen Bewußtseins in der Bundesrepublik, in: Deutschland in der Weltpolitik des 19. und 20. Jahrhunderts, a. a. O., S. 19— 47.

  43. Vgl. oben Anm. 33.

  44. K. Riezler, Tagebücher, a. a. O., Eintragungen vom 29. 6. 1916; 25. 3., 28. 3., 9 6. 1917; 15. 4. 1918.

  45. Zitiert nach Th. Schieder, Das Deutsche Reich 1871— 1945 (vgl. oben Anm. 2), S. 428, Anm. 13.

  46. Ebenda, iS. 429, Anm. 13.

  47. So Th. Schieder, ebenda, S. 428.

  48. Vgl. Werner Conze, Die deutsche Nation, a. a. O., S. 135, 138.

  49. Generell zu dieser Problematik jetzt auch Horst Lademacher, Aufbruch oder Restauration. Einige Bemerkungen zur Interdependenz von Innen-und Außenpolitik in der Gründungsphase der Bundesrepublik Deutschland, in: Deutschland in der Weltpolitik des 19. und 20. Jahrhunderts, a. a. O., S. 563— 584, vor allem S. 568— 582.

  50. Vgl. Hans-Peter Schwarz, Vom Reich zur Bundesrepublik. Deutschland im Widerstreit der außen-politischen Konzeptionen in den Jahren der Besatzungsherrschaft 1945— 1949, Neuwied und Berlin 1966, S. 439 1.; das Buch ist grundlegend für die Gesamtproblematik, die schon der Titel ausdrückt, den Übergang „Vom Reich zur Bundesrepublik".

  51. H. -P. Schwarz, a. a. O., S. 402— 405, 479.

  52. Vgl. oben Anm. 53.

  53. Vgl. Diether Koch, Heinemann und die Deutschlandfrage, München 1972, vor allem S. 168 passim; vgl. auch Gustav Heinemann, Verfehlte Deutschlandpolitik. Irreführung und Selbsttäuschung, Frankfurt/Main 1966, 3. Aufl. 1971.

  54. Dazu jetzt auch D. Koch, ebenda, das Unterkapitel: „Die sowjetischen Noten seit März 1952 und ihre Diskussion in der westdeutschen Öffentlichkeit" (S. 305— 332).

  55. Eugen Gerstenmaier, Neuer Nationalismus? Von der Wandlung der Deutschen, Stuttgart 1965, vor allem S. 121: „Aber von wirklicher Bedeutung erscheint mir, daß wir uns daran erinnern lassen, daß das Deutsche Reich weder als Rechtssubjekt noch als geschichtlich-politische Realität aufgehört hat zu existieren." Das Festhalten am „Reich" als „Staatsnamen" setzt Gerstenmaier mit dem Festhalten an der deutschen Geschichte schlechthin gleich, leugnet aber, daß damit eine „Hinwendung zur alten Orientierung" verbunden sei. Und er kommt zu dem erstaunlichen Schluß: „Ich sehe nicht, warum es uns nicht gestattet sein sollte, in diesem Sinn und Geist ja zu sagen zu der Wiederherstellung des Deutschen Reiches." (S. 124).

  56. Vgl. oben Anm. 26, 30— 35, 39, 41— 43, ferner als provisorische Zwischenbilanz der neueren Forschung über das Bismarckreich Michael Stürmer (Hrsg.), Das kaiserliche Deutschland. Politik und Gesellschaft 1870— 1918, Düsseldorf 1970.

Weitere Inhalte

Imanuel Geiss, Dr. phil., Professor für Neuere Geschichte an der Universität Bremen; geb. 1931 in Frankfurt/M. Veröffentlichungen u. a.: Der polnische Grenzstreifen. Ein Beitrag zur deutschen Kriegszielpolitik im Ersten Weltkrieg, Hamburg und Lübeck 1960 (polnische Ausgabe, Warszawa 1960); Julikrise und Kriegsausbruch 1914. Eine Dokumentensammlung, 2 Bde., Hannover 1963/64; Juli 1914. Die europäische Krise und der Ausbruch des Ersten Weltkriegs, München 1965 (dtv 293); Gewerkschaften in Afrika, Hannover 1965; Panafrikanismus. Zur Geschichte der Dekolonisation, Frankfurt/Main 1968; Die Afro-Amerikaner, Frankfurt/Main 1969; Studien über Geschichte und Geschichtswissenschaft, Frankfurt/Main 1972 (edition suhrkamp 569); Tocqueville und das Zeitalter der Revolution. Nymphenburger Texte zur Wissenschaft, München 1972; Weltherrschaft durch Hegemonie. Die deutsche Politik im I. Weltkrieg nach den Riezler-Tagebüchern, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 50/72; (zusammen mit Bernd Jürgen Wendt) Hsg.: Deutschland in der Weltpolitik des 19. und 20. Jahrhunderts, Düsseldorf 1973 (Festschrift für Fritz Fischer).