Der Verfasser behandelt die sowjetische Entspannungspolitik auf vier Ebenen: 1. Im Zusammenhang mit der deutschen Frage und der Teilung Berlins: Die Teilung Deutschlands ist für die Sowjetunion irreversibel, West-Berlin eine selbständige politische Einheit. 2. In Europa soll die bisherige Konfrontation durch weitgehende Entspannung abgelöst werden; dabei soll jedoch das Vorfeld in Ost-und Südost-Europa fest in sowjetischer Hand bleiben. Die Atlantische Gemeinschaft wie auch die Union Westeuropas finden keine Sympathie. 3. Die wirtschaftliche, technologische und wissenschaftliche Zusammenarbeit mit allen Industriestaaten der Erde, besonders mit den USA und Japan, wird für die Sowjetunion immer wichtiger; ohne eine weitgehende politische und militärische Entspannung ist die Kooperation mit diesen Staaten jedoch nicht zu erreichen. 4. Wichtigster Adressat sind die USA; die Sowjetunion ist ernsthaft bemüht, allen Entwicklungen aus dem Wege zu gehen, die — wo auch immer — zu kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen den beiden Supermächten führen könnten. Unter Wahrung ihrer politischen Grundpositionen versucht sie, vor allem auf wirtschaftlichem Gebiet, weitgehend mit den Vereinigten Staaten zusammenzuarbeiten, um das Interesse und das Potential der USA von China fernzuhalten und das Zusammengehen dieser beiden Staaten zu verhindern. Erste Priorität der sowjetischen Gesamtpolitik haben die Erfordernisse der äußeren und der inneren Sicherheit. Die Entspannungspolitik ist diesen Bereichen keineswegs übergeordnet, denn Breshnjew und das Politbüro werden, wo vermeidliche Gefahren bestehen, immer den Belangen der Sicherheit Vorrang gewähren. Die ideologische Auseinandersetzung mit den Kräften des Kapitalismus kennt hingegen keine Entspannung. Nach sowjetischer Vorstellung bewegen sich die zwischenstaatliche Entspannungspolitik und das innerstaatliche Ringen in den nicht-kommunistischen Ländern zwischen Gegnern und Fürsprechern des Marxismus in völlig getrennten Dimensionen.
leser Aufsatz ist die erweiterte Fassung eines im vortr 1974 im Haus Rissen, Hamburg, gehaltenen I. Die sowjetische Entspannungspolitik weist vier verschiedene Bereiche auf. Sie sind zwar alle miteinander verbunden, aber doch durch verschiedene Motivationen und Zielsetzungen gekennzeichnet:
1. Entspannungspolitik im Zusammenhang mit der Deutschen Frage, d. h. die Problematik, die mit der Teilung Deutschlands und Berlins und dem Verhältnis der beiden Staaten untereinander und zu Westberlin zusammenhängt. 2. Die europäische Entspannungspolitik, d. h.der sowjetische Versuch, die Konfrontation in Europa zu beenden, den Besitzstand in Ost-und Südosteuropa zu legalisieren, das sowjetische Vorfeld abzusichern, andererseits aber auch das Bemühen, eine westeuropäische Integration zu verhindern und den amerikanischen Einfluß in Europa zurückzudrängen. 3. Das Bemühen der Sowjetunion um Entspannung gegenüber allen kapitalistischen Industrie-Nationen, also nicht nur den europäischen, sondern auch zu Japan und den Vereinigten Staaten — als Voraussetzung für engere Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Wirtschaft, Technologie und Wissenschaft. 4. Die sowjetische Entspannungspolitik gegenüber der anderen Supermacht USA, die bisher überall auf der Erde dem Vordringen des sowjetischen Einflusses Widerstand entgegengesetzt hat und auf internationaler Ebene als der entscheidende Gegenspieler der Sowjetunion betrachtet wird. Dieser Bereich der Entspannungspolitik genießt m. E. für die Sowjets unbedingte Priorität.
Nach sowjetischer Vorstellung darf in diese weitgefächerte Entspannungspolitik die ideologische Auseinandersetzung nicht miteinbegriffen werden. Es handelt sich gewissermaßen hier und dort um zwei voneinander völlig getrennte Ebenen. Der Kampf zwischen Kapitalismus und Sozialismus sowjetischer Vorstellung geht unversöhnlich weiter, über den Ausgang kann es nach dem Gesetz des Historischen Sozialismus keinen Zweifel geben. Nur eben: Diese ideologische Auseinandersetzung darf nicht auf der Ebene der zwischenstaatlichen Beziehungen ausgetragen werden, auf der die Sowjetunion mit ihrer Entspannungspolitik ernsthaft bemüht ist, ihr Land vor jeder kriegerischen Verwicklung zu bewahren und für das sowjetische Volk Sicherheit und Frieden zu gewährleisten.
Nun zu den einzelnen Bereichen der Entspannungspolitik: Zu 1. 1:
Seit 20 Jahren ist die Sowjetunion in Verfolg ihrer außenpolitischen Ziele um Entspannung in Europa bemüht. Um die Konfrontation in Europa mit den einstigen Alliierten zu vermeiden, vor allem aber um die Integration Deutschlands in die NATO und in eine westeuropäische Wirtschaftsunion zu verhindern, war die Sowjetunion einst bereit, Opfer zu bringen: Noch 1952 hat sie die Bildung eines entmilitarisierten und neutralisierten Gesamt-deutschlands vorgeschlagen. 1954/1955 verband sie diesen Vorschlag a) mit dem Plan kollektiver Sicherheit in Europa (statt Blockbildung in gegeneinander gerichteten militärischen Allianzen), b) mit dem Streben nach wirtschaftlicher Zusammenarbeit zwischen Staaten West-und Osteuropas. Der Westen unter Führung der Vereinigten Staaten lehnte diese Vorschläge ab. Er sah in der Entspannungsbereitschaft der Sowjetunion nur ein taktisches Vorgehen, um im Schutz der Entspannung besser in Mitteleuropa infiltrieren zu können. Die Errichtung kommunistischer Regime in Ost-und Südosteuropa im Schutz der Roten Armee war nicht vergessen. Sie war für den Westen ein schwerer Schock gewesen, hatte den Zerfall der Kriegsallianz zur Folge und veranlaßte Truman bereits 1947 zu seiner Politik der Eindämmung der Sowjetunion (containment-policy). Sie sollte in den fünfziger Jahren für die westlichen Alliierten bestimmend sein.
Angesichts des Übergewichts ihrer nuklearen Rüstung war für die USA eine Konfrontation mit der Sowjetunion kein Grund zur Sorge, während für die Sowjetunion die umgekehrte Beurteilung nahelag.
Die sowjetischen Vorschläge zur Lösung der Deutschen Frage, die Neutralisierung eines wiedervereinigten Deutschlands, mißfielen den Vereinigten Staaten besonders. Sie waren für eine Wiedervereinigung Deutschlands nur unter der Voraussetzung, daß Gesamtdeutsch-land die Freiheit behalten würde, sich zum Westen zu schlagen, — eine Forderung, die die Sowjetunion ablehnte, aus dortiger Interessenlage verständlich.
Die Konfrontation von West und Ost in Europa hatte die Teilung Deutschlands sowie die Integration der beiden neuentstandenen deutschen Staaten in das westliche und östliche Block-system zur Folge.
Nach 1955 folgte eine Zeit der Spannungen, für die Chruschtschow weitgehend verantwortlich zeichnet: Ungarn-Intervention 1956, das Berlin-Ultimatum 1958, der Mauerbau 1961, die Kuba-Krise 1962.
Die nun folgende zweite sowjetische Entspannungs-Offensive war völlig anders angelegt als die erste der Jahre 1952— 1955. Die Sowjetunion versuchte in die geschlossene Front der Westmächte eine Bresche zu schlagen, wozu sich das Frankreich de Gaulle s als besonders geeignet erwies. De Gaulle betrieb eine nationale Politik, die allein bestimmt war von der Grandeur de la France. In seinen Aug gefährdete die westeuropäische Integration (Unabhängigkeit Frankreichs; ebenso lehnte die Führung der Vereinigten Staaten in ein integrierten NATO und in einer eventuell Atlantischen Gemeinschaft ab. Diese Polii Frankreichs war und ist der Sowjetunion I auf den heutigen Tag sehr gelegen.
Bei ihrem Bemühen um eine Auflockerung Bereich der NATO und der westeuropäisch Integration hat Moskau allerdings Mitte d sechziger Jahre nicht bedacht, daß jede Ei Spannungspolitik zwischen West und Ost au im eigenen Bereich zu Auflockerungen füh Sie traten in der Tschechoslowakei in Erscheinung, in den Bemühungen Dubecks, in seinem Lande einen allmählichen Wandel zu eine demokratischen Sozialismus (in westliche Sinne) herbeizuführen. Das Politbüro der S wjetunion unter Führung Breschnews hat sich damals schweren Herzens entschlossen, die im Vordringen begriffene Entspannungspolitik zurückzustellen und durch militärische Interve tion in der Tschechoslowakei diesen ideologischen Gefahrenherd für die Herrschaft des kommunistischen Regime in Ost-und Südos europa und für die Absicherung des Sowjet sehen Vorfeldes in Europa zu beseitigen. (Ai Rande: Im Zuge ihrer heutigen Entspannungspolitik wird die Sowjetunion nicht noch einmal diesendiesen Fehler der mangelnden Absicherun des ost-und südosteuropäischen Vorfeldes ge gen Auflockerungserscheinungen wiederholen!).
Gleichzeitig mit dieser ideologisch unnatüi liehen, aber taktisch gerechtfertigten Forcierung freundschaftlicher Beziehungen zu Frankreich verstanden die Sowjets es, in ihrerBerlin-Politik die drei Westmächte imme mehr unter Druck zu setzen. Die Verbindun zwischen der Bundesrepublik und West-Berl war in Kriegs-und Nachkriegs-Vereinbarun gen völlig unzureichend geregelt. Uber di DDR ließ die Sowjetunion immer neue Schwie rigkeiten und Hindernisse für den Berlin-Ver kehr entstehen. Dies bereitete den West mächten und ganz besonders der Bundesrepu blik schwere Sorgen für die Zukunft. Schon in April 1969 begannen die Westmächte zu son dieren, ob Moskau zu Verhandlungen in der Berlin-Frage bereit sei. Moskau war es. Die Verhandlungen begannen ein Jahr später, zunächst allerdings ohne jeden Erfolg. Erst als Bonn dann — ermutigt von den Westmächten _ zunächst Gespräche, dann Verhandlungen mit den Sowjets über die Normalisierung der bilateralen Beziehungen und damit auch über Probleme des geteilten Deutschlands aufnahm und erfolgreich im August 1970 abschloß, war der entscheidende Durchbruch zum Beginn einer weitreichenden Entspannungspolitik erzielt.
Nüchterne Betrachtung zwingt zu der Feststellung, daß die Bundesrepublik in ihrer Bedeutung für die sowjetische Entspannungspolitik zurückgetreten ist, seit für die deutsche Frage, die so lange Jahre jede west-östliche Annäherung blockiert hatte, ein modus vivendi gefunden worden ist.
Zu 1. 2:
Der zweite große Bereich der sowjetischen Entspannungspolitik betrifft Europa im ganzen und das Verhältnis der westeuropäischen Staaten zu den osteuropäischen, unter denen he Sowjetunion die führende Macht ist. Das tetreben der sowjetischen Seite, die harte Konfrontation zwischen NATO und War«hauet Pakt und den beteiligten Mitgliedstaaen in einen Zustand der Entspannung und der tiedlichen Koexistenz zu überführen, in dem leine konfliktträchtigen Gebietsansprüche aufrechterhalten werden, hängt (wenn auch icht ausschließlich) mit der Verschlechterung er sowjetisch-chinesischen Beziehungen und er Befürchtung zusammen, von Jahrzehnt zu Jahrzehnt einer ernsteren Bedrohung von sei-6 Chinas ausgesetzt zu sein. Die Sowjetunion 'daher an einer definitiven Befriedung je-" enfalls ihrer europäischen Westgrenze einBeßlich des Vorfeldes der sozialistischen Wen lebhaft interessiert. ebei muß man innerhalb Europas * 1 eine den eigenen Bereich absichernde und 0 eine über den eigenen Bereich hinausgehende Zielsetzung der Sowjetunion unterscheiden. Beide Tendenzen spielen bei der Genfer Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa eine große Rolle. zu a) Einerseits ist die Sowjetunion bemüht, den Besitzstand der Gemeinschaft sozialistischer Staaten, wie er sich nach diesem Kriege ergeben hat, zu legalisieren und ihre Herrschaft in diesem ost-und südosteuropäischen Vorfeld ein für allemal gewissermaßen durch westliche Anerkennung de facto zu konsolidieren. Die allseitige Anerkennung bestimmter völkerrechtlicher Prinzipien durch die Teilnehmer der Konferenz von Helsinki/Genf soll diesem Ziel dienen.
Dabei ist zu beachten, daß West und Ost zwar von den gleichen völkerrechtlichen Prinzipien (wie z. B. Souveränität und Gleichberechtigung der Staaten, Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten, Selbstbestimmung) reden, daß man aber im Osten etwas anderes darunter versteht als im Westen. Tatsächlich gibt es heute zwei völlig verschiedene Völkerrechtsordnungen: Das traditionelle Völkerrecht ist statischer Art; alle Staaten sind ohne Rücksicht auf ihre Staatsform und Ideologie gleichberechtigt. Diese Völkerrechtsordnung beruht auf der Devise der beati possidentes: Wer im Laufe der Geschichte — und sei es durch gewaltsame Eroberung — etwas erworben hat, besitzt das Recht, es zu verteidigen. Demgegenüber ist die kommunistische Völkerrechtsauffassung dynamisch. Sie orientiert sich an den Gesetzen des Historischen Materialismus, wonach der Kapitalismus dem Sozialismus weichen wird und die imperialistischen Staaten entmachtet werden. Alles, was in dieser Richtung geschieht, ist demnach völkerrechtlich korrekt (z. B. Befreiungs-Kriege in den Kolonien, Interventionen zur Beseitigung sogenannter konterrevolutionärer Einflüsse innerhalb der kommunistischen Staatenwelt); alles, was dieser Entwicklung zuwiderläuft, ist völkerrechtswidrig (Festhalten der imperialistischen Mächte an ihrem kolonialen Besitz, Unterstützung Südvietnams durch die USA, Unterstützung konterrevolutionärer Kräfte von außen). Während im Westen nach unserem Völker-recht die Souveränität eines Staates die oberste Gewalt ist, über der es keine übergeordnete rechtliche Gewalt geben kann, steht im kommunistischen Bereich über dem Prinzip der staatlichen Souveränität das sogenannte Prinzip des Sozialistischen Internationalismus: Ein Staat, der sich durch entsprechende brüderliche Hilfs-und Freundschafts-Verträge zur Sozialistischen Gemeinschaft bekennt, erkennt damit an, daß die existentiellen Fragen der sozialistischen Staatengemeinschaft der Souveränität der einzelnen Mitgliedsstaaten entzogen sind und allein der Entscheidungsgewalt der sozialistischen Staatengemeinschaft unterliegen. Der weitaus mächtigste Partner dieser Gemeinschaft ist die Sowjetunion, die sich damit in lebenswichtigen Fragen über die Souveränität der anderen sozialistischen Staaten hinwegsetzen kann. Seit der Intervention 1968 in Prag spricht man im Westen daher von der Breshnjew-Doktrin, die man als Verletzung unseres Völkerrechts ansieht. Die Sowjetunion hat dagegen zu erkennen gegeben, daß nach ihrer Völkerrechtsauffassung eine militärische Intervention ä la Prag unter den entsprechenden Voraussetzungen im Rahmen des Prinzips des sozialistischen'Internationalismus als gerechtfertigt zu betrachten ist und keine Verletzung des Prinzips der Souveränität darstellt.
Zeitungsberichten zufolge hat es in Genf bei der Sicherheitskonferenz erhebliche Meinungsdifferenzen gegeben, ob die bestehenden Grenzen im Osten durch friedliche Vereinbarungen der Anlieger (z. B. zwischen Bundesrepublik Deutschland und DDR) abgeändert werden können. Wenn sich die Sowjetunion jetzt mit einer entsprechenden Bestimmung über peaceful change von Grenzen unter der Bedingung einverstanden erklärt, daß diese Bestimmung im Zusammenhang mit dem Prinzip der staatlichen Souveränität erwähnt wird, so bedeutet das nach kommunistischer Auffassung nichts anderes, als daß über friedliche Grenzänderungen, die nicht nur für den einzelnen sozialistischen Staat, sondern für die ganze sozialistische Staatengemeinschaft von lebenswichtiger Bedeutung sind, nach dem zuvor Gesagten nicht mehr allein der betroffene Staat, sondern die gesamte sozialistische Staatengemei schäft — und damit eben auch die Sowjetuni — zu entscheiden hat. In dem theoretisch Fall einer nur von den beiden deutschen Sta ten vereinbarten Wiedervereinigung die Sowjetunion im Einklang mit ihrer völlig rechtlichen Auffassung trotz Bestehens ein Bestimmung über peaceful change einen Bru des Völkerrechts mit Recht zur Intervent bei dem sozialistischen Partner konstruiere Der Westen müßte nach seinem althergebrachten Völkerrecht eine solche Handlungsweise dagegen als schweren Rechtsbruch bezeichne Die Auffassung, es müsse möglich sein, d Sowjetunion in Genf zum Aufgeben der sog nannten Breshnjew-Doktrin zu veranlasse ist abwegig. Ebenso abwegig wäre natürli auch, dem‘Westen zuzumuten, dieses Prinzzip des sozialistischen Internationalismusdie Vorherrschaft der Sowjetunion im ost-un südosteuropäischen Raum begründet, anzue kennen. Diese grundsätzlich verschiedene Auffassungen in West und Ost, die nur der Aufrechterhaltung der bestehenden Macht dienen, sollten indessen keinesfalls Macht sein, die im Übrigen Bereich mögliche Entspannung auf zwischenstaatlicher Ebene aufzuge ben. Es sollten jedoch Formulierungen in einem Vertrage zwischen West und Ost gegeben werden, die eindeutig sichtbar werden würdenen, daß in diesen gewichtigen Machtfrage keine Übereinstimmung besteht. Die der bisherigen Ost-West-Verträge geht oft-z. B. in dem von den Vier abgeschlossene Berlin-Vertrag — den umgekehrten Weg Ernste Meinungsverschiedenheiten werdend« durch vermieden, daß man Formulierungen findet, diedie Vertragspartner zwar billigen, aber völlig verschieden aiuslegen. Der Entspannungseffekt ist im Zeitpunkt des Vertragsabschlusses erreicht, der Auslegungsstret bricht aber später in der Praxis aus, wobei man sich der (nicht immer gerechtfertigten Hoffnung hingibt) in der entspannten Atmosphäre sei bei gutem Willen der beiden Seite-leichter eine Lösung zu finden. zu b) Der ausgreifende Faktor der sowjet sehen Entspannungspolitik in Europa beste in dem Versuch, die westeuropäische Integt tion zu verhindern oder doch jedenfalls aufzuhalten. Hier muß jedoch unterschieden werden zwischen der wirtschaftlichen, politischen und militärischen Seite der Integration. aa) Auf wirtschaftlichem Gebiet nehmen die Sowjets inzwischen gegenüber der Europäischen Gemeinschaft eine abwartende Haltung ein; sie haben die nicht unbegründete Hoffnung, daß es die westeuropäischen Staaten (an ihrer Spitze Frankreich) angesichts ihrer widersprechenden nationalen Interessen, insbesondere in Krisenzeiten, nicht zu einer wirklieh integrierten Wirtschaftsunion kommen lassen werden. bb) Die Sowjets wissen weiter, daß eine außenpolitische Integration wesentlich schwieriger ist als eine wirtschaftliche und erst nach dieser realisiert werden kann. Sie beobachten die heutigen Bemühungen zur Zusammenarbeit der Neun auf außenpolitischem Felde mit Interesse, ohne hierin einen ernsthaften Ansatz zur Integration zu sehen. cc) Außerordentlich ernst nehmen die Sowjets dagegen alle etwaigen Bemühungen der westeuropäischen Staaten, sich auf dem Verteidigungsgebiet zu formieren. Entsprechende Forderungen des französischen Außenministers Jobert, die auf der Furcht vor einem Zusammengehen der beiden Supermächte basieren, haben in Moskau Unruhe ausgelöst. Die Sowjets werden mit allen geeigneten Mitteln zu verhindern suchen, daß die 1954 gescheiterte Europäische Verteidigungsgemeinschaft eine Neuauflage erlebt. dd) Sollte es jemals zu einer solchen Verteidigungsgemeinschaft unter Einschluß der atomaren Watten kommen, so würde dies den größten Konfliktstoff mit der UdSSR seit dem Zweiten Weltkrieg abgeben. Moskau wird es m. E. niemals zulassen, daß die Bundesrepu-Mik in irgendeiner Weise an nuklearen Streitkräften beteiligt wird — und dieser Standpunkt ist keineswegs allein ein sowjetischer! -Der Kreml hat daher die Bereitschaft der Bundesregierung zur Unterzeichnung und Ratitizierung des Nichtverbreitungsabkommens 'on Atomwaffen mit Beruhigung zur Kenntnis genommen, ist aber entschlossen, sich nicht mit dieser vertraglichen Sicherung abzufinden, wenn etwa die vorgezeichneten Entwicklungen im westeuropäischen Raum eintreten sollten.
Ein einstmals entscheidendes Motiv der Sowjetunion für ihre Entspannungspolitik in Europa war das Bemühen, die Amerikaner mit ihren Truppen, ihrem politischen Einfluß und ihrer wirtschaftlichen Macht aus Europa zu verdrängen. Die Frage des Rückzugs einerseits der US-amerikanischen, andereseits der sowjetischen Truppen aus Europa steht in der Konferenz von Wien auf der Tagesordnung. Seit sich aber Breshnew und Nixon im vorigen Jahr n Washington getroffen haben, hat die sowjetische Zielsetzung eine gewisse Prioritätsverlagerung erfahren. Sie beruht darauf, daß seit damals, ausgelöst durch französische Unkenrufe, die Zuverlässigkeit des amerikanischen Partners von westeuropäischen Politikern in Frage gestellt wird und der Gedanke einer eigenen, von Amerika unabhängigen Verteidigung Europas wieder an Boden gewonnen hat. Für die Sowjets ist die Vorstellung einer Neuauflage der Europäischen Verteidigungs-Gemeinschaft unerträglich, da sich diese leicht als der nucleus einer werdenden integrierten Föderation in Westeuropa erweisen könnte. Die so überaus erfolgreiche Zusammenarbeit mit den Amerikanern im letzten Jahr hat die sowjetischen Führer vor die Frage gestellt, ob nicht die Anwesenheit der Amerikaner in Europa und ihre Mitwirkung bei der Lösung der europäischen Fragen in Genf und (Wien geradezu im sowjetischen Interesse liegt. Jedenfalls hat das Drängen der Sowjetunion, die Amerikaner hätten nichts mehr in Europa zu suchen, sichtlich nachgelassen. Langfristig wird es aber wohl bei der sowjetischen Zielsetzung einer kollektiven Sicherheit in Europa unter Beteiligung aller europäischen Staaten, darunter auch der Sowjetunion selbst, jedoch ohne die zweite (nicht-europäische) Supermacht USA verbleiben.
Zu I. 3:
Ein immer wichtigeres Motiv für die gesamte sowjetische Entspannungspolitik bildet das Bestreben, mit allen westlichen Industrienationen (einschließlich USA und Japan) in engere wirtschaftliche, technologische und wissenschaftliche Zusammenarbeit einzutreten. Ein Land mit einer sozialistischen Wirtschaft, das den Anspruch erhebt, gerechter und für die breiten Massen effizienter zu wirtschaften als die westliche kapitalistische Marktwirtschaft, kann sich auf die Dauer den Abstand zum Westen auf verschiedenen Gebieten (wie z. B.der chemischen Industrie, der computer-gesteuerten Betriebe, der Elektronik, der Rationalisierung der Arbeit) nicht leisten. Die UdSSR hat, gemessen an ihren Ausgangspositionen und angesichts der ungeheuren Zerstörungen zweier Weltkriege im europäischen Teil des Landes, gewaltige Aufbauleistungen vollbracht und ist quantitativ zur zweiten Industriemacht der Welt geworden. Sie hat jedoch nicht Schritt halten können mit der stürmischen Entwicklung der westlichen Wirtschaft im qualitativen Bereich. Ausnahmen bilden nur gewisse Bereiche der Schwerindustrie, insbesondere auf dem Rüstungssektor, auf denen die Sowjetunion mit dem Westen gleichgezogen ist. Auch in der Raumfahrttechnik bestand anfangs ein qualitativ gleicher Entwicklungsstand; inzwischen haben die USA in diesem Bereich die Sowjetunion allerdings hinter sich gelassen.
Diese bestehenden Lücken können — soll der Abstand zum Westen nicht größer werden — nur in Zusammenarbeit mit den Industrienationen geschlossen werden. Eine Basis wechselseitigen Vertrauens ist Voraussetzung für engere wirtschaftliche Handelsbeziehungen. Dieses Vertrauen zwischen West und Ost kann aber nur geschaffen werden, wenn es gelingt, alle ernsten politischen Spannungen im zwischenstaatlichen Bereich zu beseitigen oder doch abzumildern. Dieses wirtschaftliche Motiv für die sowjetische Entspannungspolitik hat von Jahr zu Jahr an Gewicht zugenommen. Dabei geht es der Sowjetunion auch um die beschleunigte Entwicklung des gewaltigen, noch schlummernden Potentials von Sibirien. Die eigenen Investitions-Reserven und -Möglichkeiten sind zu gering, um diesen Prozeß in dem Tempo voranzutreiben, das den sowjetischen Führern — auch mit Rücksicht auf die wirtschaftliche Entwicklung Chinas und die Hilfe, die China hierbei von kapitalistischen Staaten erfahren könnte — erforderlich erscheint. Die sowjetische Aufforderung zur Zusammenarbeit in Sibirien richtet sich in erster Linie an die Vereinigten Staaten und Japan.
Man begegnet bisweilen in Selbstüberschät. zung unserer Möglichkeiten der Auffassung, die Sowjetunion sei zuvörderst an der wirtschaftlichen Zusammenarbeit mit der Bundesrepublik interessiert. Ich halte das für falsch. Alle Industrienationen der Erde sind von den Sowjets gleichermaßen zur wirtschaftlichen Zusammenarbeit aufgerufen. Angesichts der Konkurrenz, die unter den industriellen Staaten uer Erde besteht und die die Sowjetunion geschickt ausznutzen versteht, sollten wir ja nicht glauben, die sowjetische Seite sei auf uns und unsere Bedingungen beim Zustande-kommen gewichtiger industrieller Lieferungsverträge angewiesen. (Der Kursker Vertrag war eine Ausnahme, weil es in ihm um ein neues Stahlgewinnungsverfahren ging, zu dem wir allein die Patente besitzen.) Die Sowjetunion ist heute an den Vereinigten Staaten wirtschaftlich weit mehr interessiert als an uns. Soweit es um sibirische Entwicklungsprojekte geht, wird die Sowjetunion den Japanern den Vorzug geben, schon um deren Potential von China abzulenken. Und ansonsten stehen wir als primus inter pares in einer Front mit anderen Industrienationen Europas, erfüllt mit den gleichen Stabilitätssorgen, die durch die Erdölkrise nur zu deutlich in Erscheinung getreten sind. Die sowjetische Planungswirtschaft mit den notwendigen Ressourcen im eigenen Lande kann etwaigen Krisen der kapitalistischen Wirtschaft gelassen entgegensehen.
Zu I. 4.:
Der für die Sowjetunion wichtigste Bereich ihrer Entspannungspolitik betrifft m. E. ihr Verhältnis zu den Vereinigten Staaten. Das historisch so hoch bedeutsame Treffen Nixons mit Mao Tse-tung und Tschou En-lai 1972 hat Konsequenzen ausgelöst, die in andere Richtung gingen als von den Chinesen gewünscht. Diese Begegnung hatte in Moskau Erschrecken ausgelöst, es könnten sich womöglich Amerikaner und Chinesen, die Macht des Kapitalismus und die kommunistische Gegenmacht der Sowjetunion, zu engerer wirtschaftlicher, politischer und militärischer Zusammenarbeit zusammenfinden. Der Kreml sah sich veranlaßt, seiner Entspannungspolitik gegenüber den USA eine ganz neue Wendung zu geben. Die gegenseitigen Besudle von Nixon und Breshnew, die als Salt I bezeichnete Vereinbarung und das so überaus wichtige Abkommen zur Verhütung des Entstehens von Nuklearkriegen haben zu einer weitgehenden Annäherung der beiden Supermächte geführt, die sich bereits wenige Monate später, während des 4. Nahost-Krienes, bewähren konnte. Man wird beobachten, ob sich auch in Genf und in Wien zwischen den beiden Supermächten gewisse Absprachen über die Verhandlungsführung ergeben könnten. Jedenfalls ist die amerikanisch-sowjetische Entspannung für die Sowjets das weitaus wichtigste Nahziel, hinter dem m. E. alles andere zurücktritt. Die Vereinigten Staaten haben von diesem sowjetisch-amerikanischen Ausgleich im Nahen Osten dank des Verhandlungsgeschicks von Henry Kissinger zunächst mehr profitiert und an Einfluß gewonnen als die Sowjetunion. Die Sowjets haben sich im Interesse eines Disengagements — an dem sie selbst auch interessiert sind, um die mit der anderen Weltmacht erreichte Entspannung nicht zu gefährden — mit einer passiven Rolle begnügt. Das wird sich bei den jetzt zu lösenden wesentlich schwierigeren Problemen des Rückzugs der Israeli aus den besetzten Gebieten der Golanhöhen ändern. Trotzdem werden aber nach meiner Einschätzung beide Supermächte bestrebt sein, die zwischen ihnen erreichte Entspannung nicht zu gefährden.
Das Bemühen der Sowjetunion um die Vereinigten Staaten dürfte allein schon um der Existenz Chinas willen dauerhaften Charakter haben. Zwar erhoffen sich die Sowjets nach dem Tode Maos und Tschous einen gewissen Wandel in den parteilichen und zwischenstaatlichen Beziehungen der beiden kommunistischen Staaten. Die Sowjets sind aber Reaisten genug, um nicht zu verkennen, daß die sowjetisch-chinesischen Gegensätze tiefer gehen als in den heutigen ideologischen Meinungsdifferenzen mit Mao zum Ausdruck kommt. Davon legt die langfristig angelegte Politik der kollektiven Sicherheit in Asien, die absichernde Europa-Politik im Westen, die sowjetische Containment-Politik gegenüber China, die immer größeren Truppen-Absicherungen an den 7 000 km langen Grenzen, die sich von Afghanistan über das chinesische Tibet bis zur Mongolei und nach Wladiwostok hinziehen, und letztlich auch die Forcierung des wirtschaftlichen Aufbaus von Sibirien Zeugnis ab.
Alles das sind Vorkehrungen, die doch wohl auch von der Sorge diktiert sind, die kapitalistischen Mächte einschließlich der Vereinigten Staaten und Japan, mit denen ja nach eigener Lehre die ideologische Auseinandersetzung in voller Härte weitergeht, könnten sich eines Tages des wirtschaftlichen und militärischen Aufbaus Chinas annehmen, um sich Entlastung gegenüber dem andrängenden Kommunismus in den eigenen Ländern und seinem Führungszentrum in Moskau zu verschaffen. Eine solche für die Sowjetführer verhängnisvolle Entwicklung könnte doch wohl in ihren Augen nur durch intensive Entspannungspolitik gegenüber den Vereinigten Staaten und weitgehende Annäherung und Abstimmung mit den für die Außenpolitik der USA verantwortlichen Persönlichkeiten verhindert oder aufgehalten werden. Diese Einschätzung des Dreiecksverhältnisses Moskau—Washington—Peking läßt es verständlich erscheinen, daß m. E. für die sowjetischen Führer dieser vierte Bereich ihrer Entspannungspolitik die weitaus größte Bedeutung hat. Daraus ergeben sich weitgehende Folgerungen, die zu analysieren nicht Aufgabe dieser Ausführungen ist.
II. Welche Erwartungen können wir Deutschen auf der Basis dieser sowjetischen Entspannungspolitik für die beiden wichtigsten Anliegen unserer Nation, und zwar 1. für die Teilung Deutschlands, d. h. unser Verhältnis zum anderen deutschen Staat, sowie 2. für das Berlin-Problem, d. h. die Bindung zwischen West-Berlin und der Bundesrepublik, haben? Beide Fragen sollten trotz des emotionalen Ge-halts, der allen nationalen Anliegen zueigen ist, so nüchtern und realistisch wie nur möglich und fern jedes wishful thinking gesehen werden. 1. Mir hat einmal ein kluger französischer Diplomat gesagt: „Es gibt und wird wohl auch niemals einen Friedensvertrag der einstigen Kriegs-Alliierten geben. Aber es gibt zwischen West und Ost eine stillschweigende friedensvertragliche Übereinstimmung: Die Teilung Deutschlands ist endgültig und darf im Interesse des Friedens in Europa nicht in Frage gestellt werden." — Das ist jedenfalls genau die sowjetische Position. Es ist Bestandteil ihrer Sicherheitspolitik im ost-und süd-osteuropäischen Vorfeld.
Der zweite deutsche Staat, die DDR, stellt heute für die Sowjetunion den wichtigsten Partner der sozialistischen Staatengemeinschaft dar. Im sowjetischen Schachspiel war die DDR noch Anfang der fünfziger Jahre ein Bauer, den man notfalls zu opfern bereit war: heute, 20 Jahre später, ist dieser Bauer ein Turm geworden, der zur Basis des sowjetischen Sicherheitssystems gehört. Wie Breshnjew 1968 entschlossen war, die sowjetische Entspannungspolitik in Europa zurückzustellen, um zunächst den internen Gefahrenherd in der Tschechoslowakei zu beseitigen, genau so würde er m. E. heute und morgen allen Gefahren, die der DDR von innen (konterrevolutionäre Entwicklungen) oder von außen (Tendenzen zur Aufhebung oder wesentlichen Abmilderung der Teilung Deutschlands) mit gleichen Mitteln entgegentreten, ohne Rücksicht auf die Folgen für die Entspannung in Europa.
Wer glaubt, die sowjetischen Führer ließen in Fragen der Teilung Deutschlands mit sich reden, ist ein Träumer. Der Moskauer Vertrag und die nachfolgenden Verträge der beiden deutschen Staaten gehen realistisch von der nach dem Hitler-Krieg eingetretenen Macht-lage in Europa aus. In der Tat: Es ist nichts weggegeben worden, was nicht schon verloren war.
Aber es wird oft übersehen, daß sich die Sowjetunion bei ihrem Bemühen, die Teilung Deutschlands und die Existenz der DDR auch uns gegenüber völkerrechtlich zu perfektionieren, keineswegs in allen Punkten hat durchsetzen können: Wir haben die DDR bisher nicht völkerrechtlich anerkannt, wir betrachten sie nicht als Ausland, wir gehen noch von der Existenz einer gemeinsamen Nation aus, wir haben noch ein Staatsangehörigkeits-Gesetz, das ein gemeinsames Deutsches Volk voraussetzt, wir verfolgen weiterhin — wie es in dem „Brief zur deutschen Einheit" des Bundesaußenministers heißt — das politische Ziel, auf einen Zustand des Friedens in Europa hinzuwirken, in dem das deutsche Volk in freier Selbstbestimmung seine Einheit wiederfindet; wir haben die Sowjetunion in gleicher Weise wie die anderen drei Mächte nicht aus ihrer Verantwortung entlassen, die Einheit Deutschlands wiederherzustellen; wir haben die neuen Grenzen in Europa nicht als solche völkerrechtlich anerkannt, sondern nur ihre Unantastbarkeit zugesichert. Und schließlich: Solange es keinen Friedensvertrag gibt, betrachten wir die getroffenen Regelungen nicht als definitiv, sondern als einen (vielleicht langfristigen) modus vivendi.
Alle diese Positionen'werden von den sowjetischen Führern als potentielle Gefahren für die definitive Teilung Deutschlands angesehen. Es ist ihr gutes Recht, die Verträge dort, wo sie nicht eindeutig sind, so auszulegen, wie es das sowjetische Interesse gebietet, wir tun schließlich das gleiche in umgekehrter Richtung. Die Sowjets wissen auch, daß so manche papierenen Vorbehalte im Laufe der Zeit gegenstandslos werden; die normative Kraft des Faktischen setzt sich eben doch immer durch. Und im übrigen hat Breshnjew das Vertrauen, daß die Bundesregierung in realistischer Sicht an einer entspannten Praxis und einer friedlichen Zusammenarbeit mit der Sowjetunion interessiert ist und nicht rechtliche Streitfragen, die für die Praxis unserer gegenwärtigen bilateralen Beziehungen ohne Belang sind zum Schaden des bestehenden Entspannungsklimas hochspielen wird.
Soweit die Gegenwart. Aber die Zukunft, ein möglicher Regierungswechsel, mit dem in Pa lamentarischen Demokratien immer gerechnet werden muß, läßt für die Sowjets Unsicherheitsfaktoren bestehen. Alle Ansatzpunkte, die auf eine mögliche Änderung der gegenwärtigen Ostpolitik der Bundesregierung deuten könnten, werden voll Mißtrauen und Sorge verfolgt. Aber auch Tendenzen, der Weiterentwicklung der Ostpolitik Zügel anzulegen und gewissermaßen den jetzigen Zustand als äußerstes Zugeständnis einfrieren zu lassen, müssen natürlich in Moskau Besorgnis auslösen. Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts über den Grundvertrag hat daher herbe Reaktionen ausgelöst; die Feststellung des Gerichts, daß das Deutsche Reich rechtlich heute noch existiere, wenngleich es mangels Organisation z. Z. nicht handlungsfähig sei, mußte von Moskau als gefährlicher Angriff auf eine Grundposition der sowjetischen Europapolitik, die Teilung Deutschlands, gewertet werden.
Aber auch die Entwicklung in der DDR wird von den Sowjets aufmerksam verfolgt. Nachdem deutsch-deutsche Grenzen im Verfolg der mit der DDR geschlossenen Verträge „durchlässiger" geworden sind, gilt es für die Führer der Sowjetunion und der DDR zu verhindern, daß sich nicht aus den Kontakten zwischen Deutschen diesseits und jenseits der binnen-deutschen Grenze wachsende Tendenzen zur Bewahrung nationaler gesamtdeutscher Gefühle und Ideen ergeben. Begegnungen amtierender Politiker beider deutscher Staaten sind auf sowjetischer Seite Grund zu mißtrauischer Sorge. Man darf annehmen, daß die Erhaltung gewisser Spannungen zwischen den beiden deutschen Staaten geradezu im sowjetischen Interesse liegt. Freilich dürfen diese Spannungen kein Ausmaß annehmen, die das allgemeine Entspannungsklima in Europa und die wirtschaftliche Zusammenarbeit zwischen der Sowjetunion und der Bundesrepublik beeinträchtigen könnten.
Die Entspannungspolitik wird — und das war allen an ihr beteiligten deutschen Politikern von vornherein klar — in der Frage der Über-windung der deutschen Teilung über das hinaus, was in den Verträgen erreicht ist, keine weiteren Fortschritte bringen können. Hier gehen unsere und die Interessen der Sowjetunion völlig auseinander. Wir werden uns damit begnügen müssen, durch Normalisierung unserer Beziehungen zur DDR laufend von den in den Verträgen vorgesehene Möglichkeiten menschlicher Kontakte über die Grenzen hinweg Gebrauch zu machen. Das ist unglaublich viel, wenn man es mit dem Zustand der Jahre nach 1958 bis in die siebziger Jahre hinein vergleicht. 2. Das Berlin-Problem liegt sehr viel komplizierter. West-Berlin wurde vom ersten Tage an von der Sowjetunion und später auch von der DDR als Pfahl im eigenen Fleisch empfunden. Die Politik der Sowjetführer lief seit den Tagen der Luftbrücke über das Berlin-Ultimatum Chruschtschows von 1958 hinweg bis 1970 darauf hinaus, Mittel und Wege zu finden, um West-Berlin in den eigenen Machtbereich zu überführen. Die mangelnde rechtliche Sicherung der Zufahrtswege zwischen der Bundesrepublik und West-Berlin ließen unsere westlichen Freunde und uns die künftige Entwicklung der Lage West-Berlins mit großer Sorge sehen. Daß die drei Westmächte der Sowjetunion in der Frage der Verbindungswege im Berlin-Abkommen ein großes und für die Entspannung in Europa wesentliches Zugeständnis abgerungen haben, kann gar nicht hoch genug bewertet werden. Die Sowjetunion hat dieses Zugeständnis gemacht, weil anders für sie der Durchbruch zur allgemeinen Entspannung auch in den anderen Bereichen (s. o. I. 2. — 4.) nicht zu erzielen war. Die Zeche hat damals die DDR bezahlen müssen; sie hat, soweit wir wissen, in der Person Ulbrichts harten Widerstand geleistet, sich dann aber nach dem Führungswechsel Ulbricht/Honecker der höheren Einsicht der sowjetischen Führung gebeugt.
Nichts wäre verfehlter, als daraus zu folgern, daß es also auch heute möglicht sein müßte, die Sowjetunion im Zuge der Entspannung zu veranlassen, sich über die DDR-Führung hinwegzusetzen und eine dauerhafte Lösung der West-Berlin-Frage mit uns herbeizuführen. Ich neige dazu — und das ist eine ganz persönliche Beurteilung —, daß die Sowjetunion und die DDR langfristig an dem Ziel, West-Berlin in den eigenen Machtbereich zu überführen, festhalten. Dieses Ziel ist für die Dauer der Gültigkeit und vollen Anwendung des Berlin-Abkommens zurückgestellt. Das Abkommen selbst ist nicht befristet und nicht kündbar. Aber kein völkerrechtlicher Vertrag ist für die Ewigkeit abgeschlossen, und jeder Vertrag unterliegt der clausula rebus sic stantibus.
Der Vertrag wird leben, solange eine wirkliche Entspannung in Europa besteht — ein Grund mehr für uns, an dieser Entspannung aus höchstem eigenen Interesse weiter mitzuarbeiten.
Das Berlin-Abkommen birgt eine Fülle von Bestimmungen, die nicht eindeutig formuliert sind, sondern verschieden ausgelegt werden können. Man kann es geradezu als einen Tummelplatz für die Juristen beider Länder bezeichnen. Es war seinerzeit nicht möglich, anders zu einer Lösung zu kommen. Für die drei Westmächte war der entscheidende Gesichtspunkt, daß die Sicherung der Zufahrtswege zwischen der Bundesrepublik und West-Berlin eindeutig festgelegt war; alle anderen Bestimmungen hatten und haben für sie geringere Bedeutung. Ich teile diese Auffassung, daß — wenn man die Positiva und Negativa dieses Berlin-Vertrages auf eine Waage legen wollte — die Positiva, vor allem eben die Sicherung der Zufahrtswege, weitaus gewichtiger sind als die erheblichen Unklarheiten in anderen Teilen des Vertrages.
Die Sowjetunion ist heute — sicherlich in Übereinstimmung mit den Führern der DDR — entschlossen, alle nur möglichen Auslegungen des Berlin-Abkommens, die in Richtung auf eine Trennung West-Berlins von der Bundesrepublik zielen, zu aktivieren. Noch ist § 6 des Freundschaftsvertrages zwischen der Sowjetunion und der DDR vom 12. Juni 1964 in Kraft, in dem sich beide Seiten verpflichten, West-Berlin hinfort als selbständige politische Ein-, heit zu betrachten. Nach Ansicht der Sowjetunion läßt das Berlin-Abkommen eine Auslegung zu, die nicht in Widerspruch zu dem genannten § 6 steht.
Die wichtigste Folgerung ist, daß die sowjetische Regierung es ablehnt, mit der Bundesregierung über die Auslegung und Anwendung des Berlin-Abkommens Vereinbarungen zu treffen. Das können nur die Vier, die den Hauptvertrag abgeschlossen haben, und das kann nach sowjetischer Auffassung nur der Westberliner Senat, keinesfalls die Bundesregierung, der jedes Recht, für Berlin Verträge abzuschließen, bestritten wird. Um fortlaufende Reibungen in unwichtigen Detailfragen zu vermeiden, hat sich die sowjetische Regierung oder die von ihr beauftragten Verbände zwar zu gewissen Vereinbarungen mit Verbänden in der Bundesrepublik bereit gefunden, aber eben nicht mit amtlichen Bundesstellen. Soweit es um den öffentlich-rechtlichen, staatlichen Sektor von West-Berlin geht, ist man nicht bereit, gegenüber der Bundesregierung Verpflichtungen einzugehen. Wo dennoch in der Praxis des Alltags ein Entgegenkommen bewiesen wird, handelt es sich um einseitige Zugeständnisse, die jederzeit wieder zurückgenommen werden können. Auch das zeigt, daß der Berlin-Vertrag nur so lange funktionieren kann, wie die gegenwärtige Entspannung in Europa andauert.
Die heutige Anwendung des Berlin-Abkommens durch die sowjetische Regierung mag uns in vieler Beziehung nicht befriedigen. Dennoch beruht sie — soweit ich das beurteilen kann — auf zwar einseitigen, aber doch juristisch möglichen Auslegungen nicht eindeutig gefaßter Vertragsbestimmungen. Der Wille der Sowjetunion, West-Berlin im Rahmen der juristisch gegebenen und sonstigen Möglichkeiten mehr und mehr zu einer wirklich selbständigen Einheit zu machen, gehört m. E. zu den Grundpositionen der langfristigen sowjetischen Außenpolitik.
Auch das gehört zu den realistischen Einsichten. Es wäre gut, wenn man insoweit nicht allzu viel spekuliert, ob hier die DDR oder die Sowjetunion die treibende Kraft ist: Nach meiner Ansicht sind sich beide Seiten einig, und das war höchstwahrscheinlich der Preis, den sich seinerzeit die DDR hat zahlen lassen, als sie bei Abschluß des Berlin-Abkommens gezwungen war, nachzugeben.
III. Noch ein letzter Punkt: In unserer Presse und darüber hinaus begegnet man des öfteren der Vorstellung, als ob im Kreml fortwährend eine harte Auseinandersetzung pro und contra Entspannungspolitik stattfände; dabei wird meist Breshnjew, Kossygin, Podgorny und Gromyko zu den Tauben, dagegen Suslow, Andropow und Gretschkow zu den Falken gerechnet.
Ich kann diese Beurteilung nicht teilen. Wir sollen uns m. E. mit der Sicht befreunden, daß die heutige Politik der Sowjetunion, wie sie von Breshnjew als dem Führer der Kommunistischen Partei in Übereinstimmung mit dem gesamten Politbüro vertreten wird, eine geschlossene langfristige Politik ist, die mehrere Seiten hat, welche keineswegs in Gegensatz zueinander stehen. Mir ist das bei der Erweiterung des Politbüros im April 1973 um drei neue Vollmitglieder klargeworden: Gretschko, der als Verteidigungsminister für die Äußere Sicherheit der Sowjetunion einzustehen hat, Andropow, der als Chef des KGB für die innere Sicherheit der Sowjetunion verantwortlich ist, und Gromyko, der als Außenminister die eigentliche Entspannungspolitik nach den Weisungen des Politbüros in Szene gesetzt und ausgeführt hat. Gretschko, mit dem Breshnjew seit Kriegszeiten freundschaftlich verbunden ist, und Andropow, der sich im Gegensatz zu seinen Vorgängern stets an die Linie des Politbüros und seines Generalsekretärs gehalten hat, sind gewiß nicht Gegner Breshnjews. Vielmehr hat Breshnjew in seinem Leben bewiesen, daß er in Fragen der äußeren und inneren Sicherheit der Sowjetunion, wo es nötig ist, hart durchzugreifen bereit ist. Das gilt sowohl für die Intervention von Prag wie für das Anziehen der Zügel gegenüber Künstlern und Schriftstellern.
Es wäre daher m. E. falsch anzunehmen, daß die nur Breshnjew und den Tauben zugesprochene Entspannungspolitik allem anderen übergeordnet wäre und daß also die Sicherheitspolitik der Sowjetunion sich der Entspannungspolitik anzupassen habe. Was nach An-sich des Politbüros im Interesse der Sicherheit der Sowjetunion zu geschehen hat, geschieht T und die heutige von Moskau nicht dementierte Aufrüstung in gewissen Sachbereichen ist ein Beweis dafür. Sie ist sicherlich nicht Breshnjew von den „Falken im Politbüro" aufgezwungen worden, sondern findet mit seinem vollen Einverständnis, wenn nicht sogar auf seine Initiative statt.
Kommunisten, die von Lenin geschult sind, der Macht die höchste Priorität in ihrer Politik zu-zuerkennen, wären die letzten, sich auf Frieden, Entspannung und Verträge, die beides absichern, zu verlassen. Und schließlich tun wir es ja auch nicht.
Ebenso gibt es für das Politbüro und für Breshnjew keine Entspannungspolitik, ohne daß nicht die Belange der inneren Sicherheit in all ihren Problemen, die durch die immer größeren Kontakte einer an sich geschlossenen Gesellschaft mit dem kapitalistischen Ausland entstehen, voll berücksichtigt werden. Auch dies ist ein weites Feld, das nicht beiläufig abgehandelt werden kann.
Wenn überhaupt, könnte es im Politbüro nur eine Persönlichkeit geben, die vielleicht Vorbehalte gegenüber der Entspannungspolitik anzumelden hat: Suslow, der Ideologe. Aber die seit 20 Jahren immer wieder beschworene Politik der friedlichen Koexistenz, hinter der auch Suslow uneingeschränkt steht und die er überzeugt gegenüber den Chinesen vertritt, sieht ja gerade vor, daß die ideologische Auseinandersetzung mit dem Kapitalismus völlig getrennt von der staatlichen Politik der Sowjetunion, die auf Frieden, Koexistenz und wirtschaftliche Zusammenarbeit auch mit den kapitalistischen Staaten gerichtet ist, fortgesetzt wird. Und die heutige These lautet, daß gerade in einer Atmosphäre der erdumspannenden zwischenstaatlichen Entspannung die kommunistische Ideologie besondere Chancen hat, in den kapitalistischen Staaten vorzudringen und sich eines Tages innenpolitisch durchzusetzen. Das dürfte gemeinsame Ansicht von Breshnjew und Suslow sein.
Natürlich werden im Politbüro von den einzelnen Verantwortlichen die Belange ihrer Ressorts vertreten und zur Geltung gebracht. Aber anzunehmen, daß die in zwei Jahrzehnten unter größten Bemühen gegenüber der westlichen Welt durchgesetzte Entspannungspolitik, deren wirtschaftliche Zielsetzungen überhaupt erst nach ein bis zwei Jahrzehnten zum Erfolge kommen können, im Politbüro umstritten ist und bei zeitweiligen Mißerfolgen selbst zusammen mit dem sie verfechtenden, unter Erfolgszwang stehenden Generalsekretär in Gefahr gerät, halte ich für ganz und gar abwegig. Das ist aus der Sicht eines schwankenden westlichen Parlamentarismus gesehen. Die langfristig angelegte Außenpolitik der Führungsmacht der sozialistischen Staatengemeinschaft kennt keine derartigen Unsicherheiten.
IV. Diese Analyse der sowjetischen Entspannungspolitik nimmt und will mit keinem Wort Stellung nehmen zu der Frage, welche Politik unsererseits gegenüber diesen Grundpositionen der sowjetischen Entspannungspolitik -n-gezeigt ist. Jedenfalls sollte man sich, wenn man an die Beantwortung dieser Frage herantritt und damit seinen politischen Standort zur heutigen Ostpolitik der Bundesregierung festlegt, vorher — und nicht etwa erst (wie man es oft erlebt) hinterher — mit diesen Grundpositionen auseinandersetzen. Wer anders handelt, wer die Sowjets und ihre Politik nicht mit allem Realismus — der bei Kommunisten immer angezeigt ist — sieht, könnte leicht von der Entspannungspolitik zu viel erwarten und sich, enttäuscht von der Härte der sowjetischen Haltung, von unserer Ostpolitik abwenden.
Wer jedoch die Positionen der heutigen sowjetischen Außenpolitik in allen ihren eingangs behandelten Bereichen auf dem Hintergrund der weltpolitischen Konstellation unserer Zeit sieht und verstehen lernt, wird zu der Erkenntnis kommen müssen — und diese politische Bemerkung sei mir am Schluß gestattet —, daß es für uns überhaupt keine Alternative zu der Politik gibt, an der Seite unserer westlichen Alliierten weiterhin mit der Sowjetunion um Ausgleich und Verständigung, um beiderseitigen Truppenabbau und Abrüstung und um wirtschaftliche, technologische und wissenschaftliche Zusammenarbeit bemüht zu sein, — eine Politik, die entschlossen und mit fester Verhandlungsführung in realistischer Sicht der sowjetischen Grundpositionen fortgesetzt werden sollte. Auf sicherheitspolitischem Gebiet sollten wir uns mit unseren westlichen Alliierten die Sowjetunion zum Vorbild nehmen und — unabhängig von aller Entspannungspolitik — die zu unserer wirksamen Verteidigung erforderlichen Rüstungsmaßnahmen weiterhin treffen, bis eines Tages (lieber heute als morgen) die Entspannung schrittweise zu Verträgen über Truppenreduzierung und Abrüstung in Europa führt. Auf unserer innenpolitischen Ebene aber — so gebietet es die friedliche Koexistenz nicht nur den Sowjets -geht die ideologische Auseinandersetzung mit den Anhängern der kommunistischen Lehre zwecks Verteidigung unserer politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Ordnung und ihrer Werte weiter.
Carl H. Lüders, Dr. iur.; geb. 1913; Botschafter; z. Z. Ständiger Vertreter der Bundesrepublik Deutschland beim Europarat in Straßburg; bis April 1974 Gesandter in Moskau; nach der Rückkehr aus englischer Kriegsgefangenschaft zunächst Richter am Hanseatischen Oberlandesgericht, dann 1949/50 persönl. Referent des ersten Bundesministers des Innern, Dr. Heinemann; 1950— 1955 Referent für Presserecht, Rundfunk und Filmwesen im Bundesministerium des Innern, verantwortlich für die Errichtung der Bundeszentrale für Heimatdienst und für die Gründung der Wochenzeitung „Das Parlament"; 1955— 1958 Generalsekretär der Europa-Union Deutschland; 1958/59 Generalsekretär der NATO-Truppenvertragskonferenz in Bonn; 1959— 1961 in der Kulturabt.des Auswärtigen Amts; 1961— 1963 Botschafter in Ghana; 1963— 1966 Gesandter in Neu Delhi; 1966— 1971 Botschafter in Luxemburg; ab 1. April 1971 bis 1. April 1974 in Moskau.
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