Wie kam der ehemalige Wissenschaftler und Theoretiker der Außen-und Sicherheitspolitik Henry A. Kissinger, der sich heute im Zentrum der Macht befindet, in die für die internationale Politik so immens wichtigen Schlüsselpositionen als Berater des Präsidenten, Direktor des Nationalen Sicherheitsrates und Außenminister? Man ist versucht, zu sagen, daß sich Kissinger auf diese „Rolle" bereits seit mehr als zwei Dekaden vorbereitet hat: Er widmete seine akademische Arbeit im wesentlichen der praxisorientierten Politik, und hier speziell den Problemen eines neuen weltpolitischen Mächtegleichgewichtes, wobei er an die klassische Lehre der Metternichschen Gleichgwichtspolitik anknüpfte. Von daher konnte er schon in den fünfziger Jahren der strategischen Debatte bedeutsame, wenn nicht sogar „kreative" Anstöße geben. Während der Kennedy-Johnson-Jahre machte er sich vorwiegend als Kritiker der Methoden der amerikanischen Außenpolitik einen Namen. Nach Nixons Wahl zum Präsidenten der USA wurde Kissinger überraschend zum Präsidentenberater für Fragen der Nationalen Sicherheit ernannt. Innerhalb von nur zwei Jahren brachte er es fertig, das geschwächte Instrument des Nationalen Sicherheitsrates zu reorganisieren und es vor allem in seiner Planungsfunktion zu stärken. Im Zeichen der Theorie des Mächtegleichgewichts und der besonderen außen-und sicherheitspolitischen Vorstellungen Kissingers vermochte die Nixon-Kissinger-Politik neue Brücken sowohl zur Sowjetunion als auch zur Volksrepublik China zu schlagen. Diese Politik, die unter Johnson unvorstellbar gewesen wäre, führte zu einem entscheidenden Wendepunkt in der amerikanischen Außenpolitik. Noch sind die von ihr ausgelösten Kräfte, noch sind die Konsequenzen der Suche nach einer neuen Struktur des internationalen Systems nicht genauer abzuschätzen, und noch ist Kissinger nicht in der Lage, seiner Idee eines umfassenden Friedens auf der Basis eines Systems des Mächtegleichgewichts einen ausreichenden institutioneilen Rückhalt zu geben, der den persönlichen Schaffensakt überdauert. Es ist auch die Frage zu stellen, inwieweit das „KissingerSystem", ein Konzept, in dem es primär um die Begriffe legitime internationale Ordnung, Gleichgewicht der Kräfte und Stabilität geht, überhaupt zu verwirklichen ist und ob ein mögliches Scheitern dieser Politik nicht Schäden zur Folge haben kann, die nur schwer auszugleichen wären.
I. Nixon—Kissinger: Wandel in der US-Außenpolitik?
Ende der sechziger und Anfang der siebziger Jahre erlitten die Vereinigten Staaten ein Pearl Harbor unter umgekehrtem Vorzeichen (Vietnam) Während die frühere Katastrophe Amerika in den Zweiten Weltkrieg führte und Konsensus für ein gewaltiges ÜberseeEngagement schuf, drohte letztere demgegenüber den politischen und gesellschaftlichen Konsensus der USA zu zerstören. Durch die Konsequenzen des vietnamesischen Traumas wurden über das militärische und ideologische Engagement hinaus tiefgreifende Fragen nach dem nationalen Interesse und der künftigen Rolle der Vereinigten Staaten in einer sich schnell ändernden Umwelt hervorgerufen. Das gefürchtete Wort „Neo-Isolationismus" lag spürbar in der Luft und das Drängen eines stetig wachsenden Teils der amerikanischen Öffentlichkeit und amerikanischer Parlamentarier nach einer zumindest schrittweisen Reduktion des globalen amerikanischen Engagements wurde größer.
Richard Nixon, der im Jahre 1968 das Präsidentenamt von Lyndon B. Johnson übernahm, erkannte wohl den neo-isolationistischen Trend der amerikanischen Politik. Er umschrieb die globale Zielsetzung seiner Außenpolitik mit dem Übergang von der „Ära der Konfrontation" zu einer „Ära der Verhandlungen", schien jedoch für die zukünftige Rolle der Vereinigten Staaten im internationalen System noch kein festes Konzept zu haben, und die Vermutung lag nur zu nahe, daß er sich verschiedene Optionen offenhalten wollte. Seine zentrale Idee war, daß es nicht möglich sei, einzelne Fragen aus dem Gesamtzusammenhang der internationalen Beziehungen und der Suche nach globaler Entspannung herauszulösen. So deutete er zwar anfänglich unter dem Druck der neo-isolationistischen Tendenzen eine entsprechend neu einzuschlagende politische Hauptrichtung an, fürchtete jedoch dann die potentiellen Auswirkungen derartiger politischer Schritte und brachte es schließlich fertig, diese Politik zu umgehen. Von nun an war er eifrig bemüht, die Vereinigten Staaten — wenn auch mit vermindertem Einsatz — im internationalen Spiel zu belassen. Zu diesem Zweck wandte er sich einem Konzept zu, das bislang in der amerikanischen Außenpolitik wenig praktiziert worden war, der „Balance of Power", dem Gleichgewicht der Macht oder der Kräfte — ein aus der Mechanik in den politischen Bereich übertragener Begriff Dieser Nixon-Entschluß sollte eine höchst eindrucksvolle Wende für die amerikanische Außen-und Sicherheitspolitik darstellen und letztlich das Ende jener Politik der Dominanz und des Globalismus bedeuten, die für die Vereinigten Staaten nach dem Zweiten Weltkrieg so bezeichnend gewesen war. Washington legte weitgehend das ideologische Vokabular des Kalten Krieges ab und machte sich daran, mit seinen ehemaligen Feinden Moskau und Peking ins politische „Geschäft" zu kommen.
Um diesen bedeutenden Wechsel realisieren zu können, benötigte Nixon ein „Alter Ego" in Form einer Persönlichkeit, die vor allem mit den Prinzipien des internationalen Gleichgewichts vollkommen vertraut war. Im Dezember 1968 ernannte er den 43jährigen Professor Henry Alfred Kissinger vom Havard-Studienzentrum für internationale Angelegenheiten, der sich durch Veröffentlichungen und Beratung der amerikanischen Regierung einen Namen gemacht hatte und als europaorientierter Allianztheoretiker und Verteidigungsexperte galt, zu seinem Berater für Fragen der nationalen Sicherheit.
Da zunächst beachtet werden sollte, daß Kissinger lediglich Nixons persönlicher Berater war und damit seine politische Handlungsfähigkeit durch die entsprechenden Richtlinien seines Arbeitgebers limitiert war, ergibt sich zu Beginn dieser Untersuchung die Frage, in welchem Maße Kissinger zu Anfang der siebziger Jahre die US-Außenpolitik beeinflußte.
Kissinger beteuerte in diesem Zusammenhang oft, daß er wenig mehr sei als ein guter und treuer Diener Nixons, der dem Präsidenten Optionen zur Wahl vorlege und nur dann Ratschläge erteile, wenn man ihn darum bäte. Diese Beteuerung Kissingers zieht natürlich die Frage nach sich, wie oft Nixon wirklich seinen Berater konsultierte, was sicherlich ziemlich häufig geschah. „Offen gestanden, ich kann mir nicht vorstellen, wie die Regierung ohne Sie aussähe" so schrieb Nixon in einem persönlichen Brief an Kissinger, nachdem dieser sich nach den beiden ersten Jahren entschlossen hatte, seine Arbeit im Weißen Haus fortzusetzen und somit nicht an die Universität Harvard zurückzukehren. Die beiden Männer waren jedoch keine persönlichen Freunde; Freunde hatte und hat Nixon nur wenige.
Vielleicht läßt sich für diesen frühen Zeitpunkt über die Beziehungen zwischen Nixon und Kissinger sagen, daß sie mehr komplementärer Art waren. Die beiden Männer brauchten einander; Nixon bestimmte die allgemeinen Richtlinien der Politik und lieferte die Macht, während Kissinger sich dem „schöpferischen Denken und der langfristigen Planung" widmete, die politischen Schritte ausarbeitete und sie oft persönlich ausführte.
Kissinger wurde in diesem Zusammenhang so intensiv tätig, daß er den Präsidenten in den Nachrichtenmedien häufig in den Hintergrund drängte. Er ragte überdies sowohl aus der relativ farblosen, nichtintellektuellen Nixon-Administration als auch gegenüber seinen Vorgängern McGeorge Bundy und Walt Rostow hervor.
II. Henry A. Kissinger: Werdegang und wissenschaftliche Arbeit
Abbildung 2
Inhalt I. II. III. IV. V.
VI.
VII. VIII.
IX. X. XI. XII. Nixon—Kissinger: Wandel in der US-Außenpolitik? Henry A. Kissinger: Werdegang und wissenschaftliche Arbeit Die strategische Debatte Professor und Berater für außen-und sicherheitspolitische Fragen Grundlagen des Kissinger-Gerüstes Vietnam Der Nationale Sicherheitsrat Innen-und außenpolitische Probleme China, die Sowjetunion und Deutschland Der Waffenstillstand in Vietnam:
Ein Erfolg?
Westeuropa, Japan und Südasien Fazit einer Analڬ
Inhalt I. II. III. IV. V.
VI.
VII. VIII.
IX. X. XI. XII. Nixon—Kissinger: Wandel in der US-Außenpolitik? Henry A. Kissinger: Werdegang und wissenschaftliche Arbeit Die strategische Debatte Professor und Berater für außen-und sicherheitspolitische Fragen Grundlagen des Kissinger-Gerüstes Vietnam Der Nationale Sicherheitsrat Innen-und außenpolitische Probleme China, die Sowjetunion und Deutschland Der Waffenstillstand in Vietnam:
Ein Erfolg?
Westeuropa, Japan und Südasien Fazit einer Analڬ
Kissinger ist Jude, Deutscher von Geburt (geboren in Fürth, Bayern, 1923), geschieden, „Career Scholar" im Bereich der Internationalen Politik und — das ist besonders relevant — eine Persönlichkeit, die einem Präsidenten direkt diente, ohne jemals vorher offizielle Positionen in den konventionellen Zweigen der Regierung (wie z. B. State Department oder Militär) oder Kongreß bekleidet zu haben.
Die ersten drei der oben angesprochenen Aspekte — Jude, als Deutscher geboren und geschieden — sind wahrscheinlich ziemlich irrelevant. Einige Amateurpsychologen meinen, daß Alfred Heinz (so hieß er ursprünglich) Kissingers Kindheit, die er bis zum Alter von 15 Jahren in Nazideutschland verbracht hatte, seine Psyche angegriffen und ihn zu dem Konservativen gemacht haben müsse, der er wurde. Zum einen stellt sich hier die Frage, warum eine solche Erfahrung einen Menschen eher zum Konservativen als zum Linken oder zum Zionisten (Kissinger zeigte wenig Interesse an jüdischen Angelegenheiten) machen sollte. Und zweitens hat Kissinger immerhin seine Kindheitserfahrungen mit der nicht ganz unplausiblen Behauptung abgetan, daß sie „keinen Schlüssel zu irgend etwas“ bedeuteten: „Ich war nicht bewußt unglücklich . . . und mir dessen, was geschah, gar nicht so direkt bewußt." Als einzig unbestreitbarer Überrest aus seinem Leben vor 1938, dem Jahr, in dem seine Familie nach den USA emigrierte, verblieb sein leichter deutscher Akzent.
Kissinger scheint keinen besonderen Groll gegen Deutschland gehegt zu haben; er meldete sich auch nicht freiwillig zum Militärdienst, sondern wartete die Einberufung 1943 ab. Nachdem er im Jahre 1941 sein Abitur mit den besten Noten bestanden hatte, belegte Kissinger Abendkurse in Buchführung am New Yorker City College und arbeitete tagsüber in einer Rasierpinselfabrik.
Durch seine Erfahrungen in der Armee wandelte sich seine bourgeoise Orientierung schnell in eine mehr intellektuelle Richtung. Eine Schlüsselrolle in diesem Zusammenhang scheint der Oberst Fritz Krämer — ein auch in Deutschland geborener Emigrant, der zwei Doktorhüte besaß und 16 Jahre älter als Kissinger war ’— gespielt zu haben. Die beiden Männer trafen sich in der 84. Infanteriedivision; Krämer scheint den Intellekt seines jüngeren Freundes angesprochen zu haben.
„Er sagte mir, daß ich einen guten politischen Kopf habe", erinnert sich Kissinger viele Jahre später. „Dies war ein Gedanke, der mir noch niemals gekommen war" Krämer muß auch einige sehr gute Anstellungen für Kissinger arrangiert haben, so z. B. eine Dolmetschertätigkeit für einen General, der einen deutschen Distrikt in der Besatzungsregierung verwaltete und später — nachdem Kissinger 1946 die US-Army als Stabsfeldwebel verlassen hatte — eine Lehrtätigkeit als gut bezahlter Zivilist an der Nachrichtenschule des Heeres (US-Army Intelligence School) in Oberammergau.
Zu diesem Zeitpunkt schien sich Kissinger allerdings bereits zu einer intellektuellen Karriere entschieden zu haben. Im Herbst 1946 immatrikulierte er sich mit einem Stipendium des Staates New York an der Harvard Universität, der renommiertesten Universität der Vereinigten Staaten. Die akademische Auszeichnung eines „Phi Beta Kappa" nahm Kissinger im Vorbeigehen mit, dann eilte er über einen Bachelor of Arts in Regierungslehre im Jahre 1950 und einen Master of Arts im Jahre 1952 weiter zur Promotion 1954. Sein Mentor während dieser Zeit war Professor William („Wild Yandell Bill") Elliott, ein stark antikommunistisch Gelehrter auf
dem Gebiet der Internationalen Politik. Kissinger widmete ihm sein Buch „A World Restored": „Professor William Y. Elliott . . ., dem ich geistig und menschlich mehr verdanke, als ich ihm je werde zurückerstatten können" Die Vermutung liegt nahe, daß Kissinger seine anfängliche sogenannte „cold war orientation" zumindest teilweise von Elliott übernommen hat. 1949 heiratete Kissinger als „undergraduate" -Student Ann Fleischer, die ebenfalls deutsch-jüdischer Abstammung war. Die Ehe wurde 15 Jahre später geschieden; Kissinger sah jedoch häufig Sohn und Tochter.
Kissingers intellektueller Grundstein wurde mit seiner 1954 fertiggestellten Dissertation, einer vielbeachteten Analyse des Metternich'schen und Castlereagh'schen Machtspiels, der Methoden der Außenminister Österreichs und Englands, gelegt. Die Arbeit ist der Staatskunst dieser Persönlichkeiten gewidmet und behandelt die letzten Jahre der französischen Revolutionskriege, die Wiederherstellung des Friedens auf dem „Nachlaß" der revolutionären Politik die Errichtung einer Napoleons, internationalen Ordnung und die Schaffung einer längeren Periode der Stabilität mittels einer Politik der Mäßigung und des Gleichgewichts der Kräfte, ein Problem, das sowohl den Wissenschaftler als auch den späteren Politiker Kissinger in seinen nahm. Bann Die Doktorarbeit wurde 1957 veröffentlicht
Nach den späteren Begriffen der Politischen Wissenschaften war seine Dissertation insofern durch und durch „traditionell", als er keine „Variablen" oder Statistiken zur Validation trivialer Hypothesen gebrauchte. Statt dessen vertiefte sich Kissinger in die Aufzeichnungen (von denen viele in deutscher und französischer Sprache geschrieben waren) der beiden Hauptakteure Metternich und Castlereagh und malte in großen Zügen ein Bild des Gleichgewichts der Kräfte in seiner klassischen Periode. Der Fachbereich Politische Wissenschaften, wie wir ihn heute in den Vereinigten Staaten kennen, würde einen solchen „Weisheits" -Ansatz wahrscheinlich mit Geringschätzung bedenken und den Studenten auf die historischen Seminare verweisen (die wiederum die Studie als meta-historisch abwerten könnten). Nicht zuletzt ist es wohl der Großzügigkeit Harvards zu verdanken, daß diese Thematik angenommen wurde. Die Arbeit enthielt mindestens genauso viel Geschichte wie Politikwissenschaft eine Kombination, die in den beiden vergangenen Jahrzehnten unüblich geworden ist und eine empfindliche Lücke in der Forschung der Internationalen Politik hinterlassen hat.
Was auch ansonsten über die sog. „traditionalversus-behavioral" -Debatte in der Sozialwissenschaft gesagt werden mag, Kissingers Ansatz destillierte ein bißchen Weisheit — obwohl es teilweise an der empirischen Nachweisbarkeit mangelte —, die für die praktische Politik von einiger Bedeutung sein konnte. Und genau das war Kissingers Absicht. Obwohl seine Dissertation angeblich das Europäische „Kongreß-System" — das Gleichgewicht der Kräfte, das die 1814/15 in Wien versammelten Staatsmänner zur Beendigung der napoleonischen Kriege erneut geschaffen hatten — vor über eineinhalb Jahrhunderten behandelte, scheint diese Arbeit doch deutlich als Sprungbrett bestimmt gewesen zu sein, ihren Autor in die weltpolitischen Probleme des 20. Jahrhunderts hineinzuversetzen. Die historische Parallele mit der Gegenwart der fünfziger Jahre ist deutlich zu sehen. Diesbezüglich läßt sich auch feststellen, daß er die von Metternichs Zeitalter abgeleiteten Erkenntnisse und Weisheiten vollständig in seinen Bestseller „Nuclear Weapons and Foreign Policy", der auch'im Jahr 1957 erschien, übernommen hat. Er benutzt sogar die gleichen klassischen Aussagen auf Seite 1 beider Bücher:
„Es kommt nicht von ungefähr, daß die Nemesis eine tragende Figur der Geschichte ist, die den Menschen vernichtet, indem sie seine Wünsche anders erfüllt, als er es sich dachte, oder aber seinem Streben zu sehr nachgibt."
„In der griechischen Mythologie haben die Götter manchmal den Menschen dadurch gestraft, indem sie seinem Streben zu sehr nach'gaben."
Kissinger stellte nur für ein einziges Buch, das auch eine umfangreiche Bibliographie enthält, wissenschaftliche Untersuchungen an:
„A World Restored", seine vormalige Dissertation. Die danach folgenden vier Bücher und über 40 Artikel, die eher für Politiker als für Wissenschaftler bestimmt waren, enthielten praktisch weder wissenschaftliche Untersuchungen noch Dokumentationen. Eine Ausnahme hiervon dürfte sein ausgezeichnetes Essay über Bismarck aus dem Jahre 1968 darstellen, das in der „Zeitschrift der amerikanischen Akademie der Künste und Wissenschaften" (Daedalus) erschien. Die anderen Arbeiten reflektierten ganz einfach Kissingers Denkweise über derzeitige strategische und diplomatische Probleme, von nur geringem Beweismaterial gestützt, aber sauber in Argumentation und Stil. Kissinger schien das Wissen, das er aus seiner Metternich-Studie destilliert hatte, immer für die gegenwärtige Lage anwendbar zu halten.
In Kissingers Dissertation sind relevante Aufschlüsse für seine spätere außen-und sicherheitspolitische Praxis zu finden, die bis in den Bereich der Nuklearproblematik hineingehen. Die beiden Hauptmotive seiner Überlegungen sind: revolutionäre Macht, die ein unstabiles, und legitime Macht, die ein stabiles internationales System erzeugt. Ein stabiler Friede (Frieden gedacht als Verhinderung des Krieges) erfordert eine allgemein akzeptierte „Legitimität“, die in diesem Zusammenhang allerdings nicht mit Gerechtigkeit verwechselt werden darf, sondern mehr im Sinne eines internationalen „Arrangements" über das Wesen erlaubter Ziele und Methoden der Außenpolitik zu sehen ist. Diplomatie wird innerhalb dieses allgemein als legitim akzeptierten Systems als Instrument zum Ausgleich der auftretenden Gegensätze benutzt. Sollte jedoch ein Staat dieses Gefüge ablehnen, so geht es um das System selbst, und die Beziehungen zwischen diesem Staat und den anderen Staaten werden revolutionär. Ein Gedanke, der in seiner Konsequenz auch besagt, daß das Schicksal des internationalen Systems von seinem rücksichtslosesten Mitglied abhängen kann. Der charakteristische Zug der revolutionären Macht liegt nicht nur darin, daß sie sich bedroht fühlt, einer Perzeption, die zum Wesen internationaler Beziehungen zwischen souveränen Staaten gehört, sondern von Relevanz ist, daß nichts die revolutionäre Macht beruhigen kann. So argumentierte Kissinger in seiner Dissertation, daß ein revolutionärer, im Alleingang befindlicher Staat (historisch gesehen Frankreich, gegenwärtige Kissinger-Perzeption: Sowjetunion und China) sich in einer Welt der Status-quo-Mächte notgedrungen stark verunsichert fühlen muß und dies zu mildern versucht, indem er — ohne sich unbedingt direkt bedroht fühlen zu müssen — nach absoluter Sicherheit strebt und damit letztlich andere Staaten bedroht. Dieses Verlangen des revolutionären Staates nach absoluter Sicherheit und damit der Zielsetzung der Neutralisierung als gegnerisch perzipierter Staaten führt zur absoluten Unsicherheit für alle, eines Zustandes, in dem die Diplomatie nicht mehr funktioniert. Diplomatie ist die Kunst, die Ausübung der Macht in Schranken zu halten, aber es liegt im Wesen einer revolutionären Macht, daß sie vom Glauben an die Richtigkeit der eigenen Sache getragen wird.
Ein revolutionäres System ruft a priori Kriege und Wettrüsten hervor, da alle Staaten sich von der Expansionspolitik des revolutionären Einzelgängers bedroht fühlen. Kissinger hob diese Problematik in seinem ersten Buch hervor: „Nur die absolute Sicherheit, also die Neutralisierung des Gegners, wird von ihr als ausreichende Garantie angesehen, mit der Konsequenz, daß das Verlangen eines Staates nach absoluter Sicherheit zur absoluten Unsicherheit für alle anderen führt. Unter solchen Umständen kann Diplomatie nicht funktionieren, jene Kunst, die Ausübung der Macht in Schranken zu halten . .
In einem als legitim akzeptierten internationalen System können Staaten vergleichsweise in Frieden miteinander leben, da sie ihre Existenz nicht durch irgendwelche revolutionären Kräfte bedroht sehen. Sie brauchen nicht nach der „absoluten" Sicherheit zu streben, da sie sich auf ihre Nachbarstaaten ver-lassen können. Staaten in einem revolutionären Weltsystem sind jedoch gezwungen, nach der unmöglichen „absoluten" Sicherheit zu suchen, da sie zumindest in einige ihrer Nachbarstaaten kein Vertrauen setzen können.
Dies war eine Einsicht, die Wiederholung verdiente. Und Kissinger wiederholte sie über ein Jahrzehnt lang, wie z. B. in einem Artikel aus dem Jahre 1955: „Und absolute Sicherheit für eine Macht bedeutet absolute Unsicherheit für all die anderen." und in seinem Buch „Nuclear Weapons": „Aber da absolute Sicherheit für eine Macht außer durch die Vernichtung all der anderen unerreichbar ist, kann sie nur durch eine von in der Reihe Gewalttätigkeiten, die Zerstörung des Vielstaaten-Systems und Ersetzung durch die Dominanz einer Macht gipfeln, erreicht werden. Die Suche nach der absoluten Sicherheit produziert unvermeidlich eine revolutionäre Situation." und wiederum im gleichen Werk: „Und da absolute Sicherheit für die UdSSR absolute Unsicherheit für uns bedeutet, ist die einzig sichere Politik der Vereinigten Staaten ..." in „Necessity for Choice" im Jahre 1960: „. . . da absolute Sicherheit für ein Land absolute Unsicherheit für alle anderen bedeuten muß" und 1966 in einem Artikel: „Aber absolute Sicherheit für ein Land bedeutet absolute Unsicherheit für alle anderen; sie kann nur erreicht werden, indem man andere Staaten in einen hilflosen Zustand versetzt."
Viele Gedanken Kissingers aus den sechziger Jahren sind bereits in seiner Dissertation zu finden, manche sogar Wort für Wort. Kissinger hätte seine wissenschaftliche Arbeit ambitiös weiterentwickeln können, wenn er strikt an einer einschlägigen " Karriere festgehalten hätte. „A World Restored" sollte an sich das erste Werk eines geplanten Triptychons über die Diplomatie des 19. Jahrhunderts sein. Die Wiederholungen in den Schriften Kissingers sind typische Kennzeichen für einen Mann, der gegen die Uhr arbeitet. Seine Zielsetzung war, maßgeblich die praktische Politik zu beeinflussen, deshalb mußte er Bücher und Artikel „produzieren", um seinen Namen bekanntzumachen. Dadurch ergab sich die unvermeidliche Tendenz, auf ein Wissen aufbauen zu müssen, das eher aus der Dissertation destilliert wurde, als daraus, daß man sich Monate oder gar Jahre absondert, um neuen Forschungen nachzugehen.
III. Die strategische Debatte
Kissinger schrieb nicht nur. Schon als Student in höheren Semestern an der . Harvard Universität führte er andere Tätigkeiten aus — von der Führung des „Harvard International Seminar", dem er bis 1969 vorstand, bis zur Beratung des „Operations Research Office" und „Psychological Strategy Board" der US-Army in Washington. Im Jahre 1954 zum Lehrbeauftragten für Regierungslehre in Harvard ernannt, besaß der junge Mann (31) die Tollkühnheit, sich für die freie Stelle des Redakteurs der erlauchten Vierteljahresschrift „Foreign Affairs" zu bewerben. Obwohl er abgewiesen wurde, lenkte er doch die Aufmerksamkeit einflußreicher Förderer auf sich und wurde für 18 Monate zum Direktor eines größeren Forschungsprogramms ernannt, das sich mit der Frage beschäftigte, wie der Sowjetunion mit Mitteln knapp unterhalb der Schwelle eines totalen Krieges zu begegnen sei. Aufgrund der entsprechenden Studien entstand sein Buch „Nuclear Weapons and Foreign Policy", das als Lektüre sowohl an den Universitäts-Seminaren über Sicherheitspolitik als auch im politischen Zentrum in Washington verlangt wurde.
Die Grundthese dieses Buches stellte keine Überraschung dar; sie reflektiert in Wirklichkeit nur die konventionelle Weisheit jener Jahre. 1954 hatte Außenminister Dulles eine Politik der „massive retaliation", der massiven Vergeltung mit dem Mittel der strategisch-nuklearen Waffen formuliert, um jeglicher weiteren Expansion der Sowjetunion entgegenzutreten. Ohne Zweifel besaß diese Doktrin in den ersten Jahren nach der Verkündung einen hohen Abschreckungswert, da sie auf der absoluten nuklearen Überlegenheit der Vereinigten Staaten — der Voraussetzung für die Glaubwürdigkeit dieser Strategie — basierte.
Jedoch wurde unverzüglich Kritik an der Dulles-Strategie laut. Bernard Brodie von der RAND Corporation veröffentlichte noch 1954 einen Artikel, der zu Vorbereitungen für eine Strategie der begrenzten Kriegführung drängte, um der Gefahr eines automatischen Atom-krieges auszuweichen
Dem Artikel von Brodie folgte eine Welle von Büchern und Artikeln, die die Strategie der massiven Vergeltung Ende der fünfziger Jahre angriffen Sie beinhalteten im wesentlichen Neubearbeitungen und Variationen der Ausführungen Brodie's aus dem Jahre 1954: Das Vertrauen auf nuklear-strategische Vergeltungsmaßnahmen allein dränge die USA in die unhaltbare Situation, entweder potentielle, relativ geringfügige Aggressionen der Kommunisten zu ignorieren oder sie zum Casus belli einer möglichen weltweiten Auseinandersetzung zu machen. Diese Argumentation gewann durch die Tatsache, daß die Sowjets gegen Ende des Jahrzehnts angeblich Sprengköpfe und Raketen entwickelt hatten, die mindestens ebenso gut, wenn nicht sogar besser als die der Vereinigten Staaten waren, an Bedeutung. Mit dem Ansteigen des sowjetischen Nuklearpotentials sank die Glaubwürdigkeit der Strategie der massiven Vergeltung; im Laufe der Jahre wurde die Notwendigkeit des strategischen Umdenkens immer dringender. Auch Kissingers „Nuclear Weapons and Foreign Policy" war eines dieser vielen Bücher und Artikel, die auf dieser Welle schwammen. Kissinger sagte ganz einfach das, was eine große Anzahl anderer strategischer Denker auch sagte. Seine Essays über den begrenzten Krieg bauten z. B. auf Gedanken von Gavin und Teller auf. Kissinger sagte es aber besser. Seine Analysen zeichnen sich durch Scharfsinn und ausgezeichnete Darstellung aus. Er stand weder abseits des militär-politischen „Hauptstromes" noch führte er ihn an. Kissingers Kritik hatte nichts mit den fundamentalen Annahmen der amerikanischen Außenpolitik zu tun; es war mehr eine Kritik der Methoden. Er ließ die vorherrschenden Dogmen, daß der Kommunismus monolithisch und expansionistisch sei, vom Kreml kontrolliert werde und jene Kraft sei, die letztlich hinter dem Aufruhr in der Dritten Welt stehe, ungeprüft. Die konventionelle Weisheit der fünfziger Jahre, die in ihren Auswirkungen bis Ende der sechziger Jahre andauern sollte, besagte, daß alle Konflikte im Bereich der Auseinandersetzungen mit den Sowjets strategischer Natur seien und es sich bei keinem oder nur wenigen um bloße lokale und somit in ihrer Konsequenz regional begrenzte Streitigkeiten handele. Auch Kissinger akzeptierte diese Ansicht. So schrieb er u. a. in seinem Buch „Nuclear Weapons", da die Vereinigten Staaten in die Strategie des „all-out war" eingeschlossen seien (Strategie der massiven Vergeltung), könne sich der sowjetische Block mit dem Wachsen seines nuklearen Potentials und dem Übergang zum späteren Gleichgewicht zwischen den beiden Supermächten entscheiden, die peripheren Gebiete Eurasiens sich einzuverleiben Kissinger warf den Nahen Osten mit Korea und Indochina zusammen in einen Topf und bezeichnete diese Regionen als Gebiete, wo „aggressive sowjetische und chinesische Bewegungen vorgekommen sind" Die Möglichkeit, daß sowohl Indochina als auch der Nahe Osten eher die Szene intensiver lokaler, nationalistischer Konflikte als Teil einer sino-sowjetischen Umklammerungsbewegung sein könnten, fiel weder Kissinger noch den meisten Amerikanern auf. Natürlich drehte sich die strategische Diskussion dieser Jahre um das wachsende nukleare Potential* der Sowjetunion und die damit verbundene ständig sinkende Glaubwürdigkeit der Strategie der massiven Vergeltung, die letztlich im Falle eines Konfliktes nur die Wahl zwischen totalem Atomkrieg oder Kapitulation ließ. Die „graue Zone" der Abwehr kleinerer und eventuell auch mittlerer militärischer Aktionen war einfach durch diese Strategie nicht abgedeckt. Das strategische Umdenken Ende der sechziger Jahre sollte dann zur Strategie der flexiblen Antwort (flexible response) führen.
Um dieser angeblichen kommunistischen Expansion an der eurasischen Peripherie entgegenzuwirken, befürwortete Kissinger (und viele andere zivile und militärische Strategen), daß die Vereinigten Staaten unverzüglich die Fähigkeit einer regional begrenzten Kriegführung, also die Möglichkeit der späteren „flexible response", entwickelten. Kissinger unterschied sich jedoch in seinen Aussagen etwas von der Hauptkritik an der Strategie der massiven Vergeltung, indem er Nachdruck sowohl auf die Entwicklung der begrenzten nuklearen (also des Einsatzes von taktischen Nuklearwaffen) wie auch der konventionellen Option legte Die meisten Kritiker von Dulles und somit der Strategie der massiven Vergeltung befürchteten demgegenüber, daß jeglicher Gebrauch von Atomwaffen bald zu einem „all-out war" eskalieren würde. Sie drängten auf Ausbau und Entwicklung konventioneller Streitkräfte, um dem Zwang eines jeglichen Nukleareinsatzes zu entgehen. Drei Jahre später revidierte auch der Atomstratege Kissinger seine Vorstellungen und ließ seine taktisch-nuklearen Erwägungen fallen, um sich der Meinung der anderen Kritiker anzuschließen.
Heute sind sich die Experten im allgemeinen darüber einig, daß sowohl ein taktisch-nukleares als auch ein konventionelles Potential als präventiver Schutz oder auch Abschreckung gegen regional begrenzte Kriege besondere Bedeutung verdienen.
Senator John F. Kennedy nahm die Debatte über die Strategie wieder auf, verband sie mit Warnungen und verwandte sie erfolgreich in seiner Wahlkampagne für die Präsidentschaftswahl. Kennedy löste den Streit bezüglich des „missile gap", der Raketenlücke, in einer Rede im Senat im Jahre 1958 aus, indem er darlegte, daß die kritischsten Jahre diesbezüglich zwischen 1960 und 1964 liegen würden.
Kissinger schloß sich der Kennedy-Auffassung an. In seinem Buch „Necessity for Choice" aus dem Jahre 1960 schrieb er: „Für eine Zwischenzeit — vielleicht bis Mitte der 60er Jahre — wird die Verwundbarkeit unserer Vergeltungswaffen der sowjetischen nuklearen Erpressung eine sehr gute Gelegenheit bieten ... bis zum Ausmaß der Drohung eines direkten Angriffes auf die Vereinigten Staaten."
Nach Kennedys Amtseinsetzung 1961 gestanden die Demokraten jedoch etwas einfältig, daß es keine Raketenlücke gegeben habe. Somit war Kissinger durch die Wahlkampfübertreibung, wie viele andere übrigens auch, im militär-strategischen Bereich „gefallen". In Wirklichkeit war das Raketenaufgebot der Vereinigten Staaten, wie u. a. Arnold Horelick von der RAND Corporation argumentierte, so umfassend, daß das Motiv der Russen, 1962 ihre Raketen auf Kuba zu stationieren, durchaus ein Versuch gewesen sein könnte, die eigene strategische Schwäche auszugleichen Wir dürfen in diesem Zusammenhang Kissingers Ausspruch nicht vergessen, daß die absolute Sicherheit einer Macht absolute Unsicherheit für alle anderen Staaten bedeutet.
Auf einer allgemeineren Ebene teilte „Necessity for Choice" gänzlich die „Bangemacher" -Stimmung der Kennedy-Kampagne: „Die Art der Herausforderung kann wie folgt beurteilt werden: die Vereinigten Staaten können sich nicht noch einmal einen (militärischen, Anm. d. Verf.) Niedergang wie jenen, der die vergangenen 15 Jahre charakterisierte, leisten. 15 weitere Jahre einer Verschlechterung unserer Position in der Welt, wie wir sie seit dem Zweiten Weltkrieg erlebten, würden uns zu einem Fort Amerika in einer Welt, in der wir größtenteils irrelevant geworden wären, reduzieren."
Kissingers Lösungsvorschlag war ebenfalls im Kennedy-Stil: Drastische Erhöhung der amerikanischen konventionellen Streitkräfte, insbesondere im Bereich des Heeres: „Mit 14 Divisionen — einige davon unterhalb der Sollstärke und schlechter ausgestattet als die der sowjetischen — sind wir nicht in der Lage, einen begrenzten Krieg gegen einen erstklassigen Gegner durchzustehen."
Zu dieser Kissinger-Aussage ist zu bemerken, daß während der ersten Amtszeit Nixons der Umfang des Heeres von fast 20 Divisionen auf 13 Divisionen verringert würde, ohne daß Protest von Kissinger oder den meisten anderen führenden Verteidigungsexperten eingelegt wurde. Die Verfechter der regional begrenzten Kriegführung hatten sich ihre Finger in Vietnam verbrannt. Während Kennedys Präsidentschaft waren ihre Ideen verwirklicht worden: Sie erhielten ein größeres Verteidigungsbudget, eine erweiterte Armee, ein sog. „Counterinsurgency Committee" einschließlich der berühmt-berüchtigten „Green Berets" und Vietnam. Sie wollten den regional begrenzten Krieg, und sie bekamen ihn. Man könnte in diesem Zusammenhang an das von Kissinger häufig gebrauchte Bild der Nemesis erinnern, der Göttin der ausgleichenden Gerechtigkeit, die die Menschen bestraft, indem sie Wünsche zu vollendet erfüllt.
Man sollte jedoch zu Kissingers Gunsten bemerken, daß er seine Ansichten, wie übrigens viele andere amerikanische Intellektuelle, in großem Umfang änderte. Sie benutzten die Worte „Sowjet" und „Kommunist" nicht mehr im austauschbaren Sinne. Sie bezeichneten auch den größten Teil der Welt nicht mehr als „strategisch bedeutend", und was besonders wichtig ist, sie verwarfen das monolithische Bild des Kommunismus und begannen die Zersplitterung des sino-sowjetischen Blocks zu bemerken. Der Kissinger des Jahres 1960 würde jedoch den Kissinger des Jahres 1970 nicht verstanden haben, wie er eben diese sino-sowjetische Spaltung auszunutzen verstand.
IV. Professor und Berater für außen-und sicherheitspolitische Fragen
Mit der Veröffentlichung seiner Bücher und Artikel machte auch Kissingers akademische Karriere Fortschritte. 1959 wurde er außerordentlicher Professor für Regierungslehre (associate professor of government) und 1962 ordentlicher Professor. Sein Seminar über Außenpolitik war eines der beliebtesten an der Harvard Universität, jedoch war er so tief in seine Beratertätigkeit verwickelt, daß er häufig nicht zu seinen Seminaren erschien.
Kissinger beriet u. a. Nelson Rockefeller, Gouverneur im Staate New York und in den sechziger Jahren ernsthafter Bewerber um die Nominierung zum republikanischen Präsidentschaftskandidaten. Die beiden Männer lernten sich durch die Ernennung Kissingers im Rahmen des bereits angeführten „Council on Foreign Relations Study Project" kennen. 1956 verhalf Rockefeller Kissinger zu einem „Rockefeller-Fund" -Studienprojekt, das zu der Veröffentlichung des Buches „The Necessity for Choice" führte. Zu dieser Zeit begann Kissinger, Rockefeller in außenpolitischen Angelegenheiten zu beraten (u. a. entwickelte er einen Friedensplan für Vietnam) und später Reden für ihn auszuarbeiten — eine Tätigkeit, die bis 1968 anhalten sollte. Kissinger hatte sich sogar einen Fernschreiber in sein Büro in Harvard installieren lassen, um Texte nach Albany, der Hauptstadt des Staates New York und Rockefellers Amtssitz, übermitteln zu können.
Auch in Washington war Kissinger als Berater tätig, so z. B. von 1961 bis 1962 im Nationalen Sicherheitsrat (National Security Council, den Kennedy weniger als Entscheidungsinstrument denn als Diskussionsforum benutzte), von 1961 bis 1967 in der Behörde für Abrüstung und Rüstungskontrolle (US Arms Control and Disarmament Agency) und von 1965 bis 1969 im Auswärtigen Amt (State Department). /Rechtfertigen alle diese Berührungen Kissingers mit temporärer Macht den Verdacht des Opportunismus? Als Antwort scheint sich ein Ja anzubieten, jedoch mit zwei Einschränkungen: Zuerst die Feststellung, daß wahrscheinlich die meisten Politikwissenschaftler nach Macht streben. Es liegt klar auf der Hand, daß Kissinger zunächst einfach profilierter und erfolgreicher war. Alle Veröffentlichungen Kissingers, sogar seine Dissertation, bezogen sich auf die gegenwärtige Politik. Diese Aussage sollte nicht unbedingt als kritische Äußerung aufgefaßt werden; tatsächlich sind viele der Meinung, daß die Universität gegenüber der realen Welt praxisbezogen sein sollte. Zum anderen ist es nur zu verständlich und vollkommen in Ordnung, daß ein Wissenschaftler den Wunsch hat, zum Praktiker zu werden, vor allem, wenn er möglicherweise ein besserer Praktiker als Wissenschaftler ist. Nur in wissenschaftlicher Hinsicht ist es bedauerlich, daß Kissinger durch das Verlassen der akademischen Laufbahn niemals zu dem politischen Denker wurde, der er hätte werden können.
Nach der Veröffentlichung seiner zwei ersten Bücher, die beide im Jahre 1957 erschienen, brachte er wenig Neues. Ein in hohem Maße anthologisierter Artikel, „Domestic Structures and Foreign Policy", war letztlich kaum mehr als eine aus Teilen von „World Restored''(Kapitel 1), „Nuclear Weapons" (Kapitel 3), „Necessity for Choice" (Kapitel 6) und dem im Jahre 1965 herausgebrachten Buch „Troubled Partnership" (Kapitel 7) zusammengeklebte Arbeit. Sie kann jedoch sehr empfohlen werden, weil sie auf ein paar Seiten die Hauptpunkte von Kissingers vier früheren Büchern bringt und somit eine sehr gute Zusammenfassung bietet.
V. Grundlagen des Kissinger-Gerüstes
Wir befassen uns mit Kissingers Einfluß auf die amerikanische Außenpolitik und weniger mit seinen Verdiensten als Akademiker. Der Gelehrte Kissinger beeinflußte jedoch den Politiker Kissinger, indem er ihm einen Rahmen gab, mit dem er an internationale Probleme herantreten konnte. Die Anwendung der Geschichte auf das gegenwärtige Atomzeitalter mit all seinen Kompliziertheiten war sein Streben. Für Kissinger war von höchster Relevanz, daß die Staatsmänner in Wien die napoleonische Tendenz zur Gewalt durch internationale Abkommen ergänzten, denen es zu verdanken war, daß ein allgemeiner Krieg verhindert wurde. Das war die nicht nur von Kissinger anerkannte besondere staatsmännische Leistung von Metternich und Castlereagh, in deren Methodik sich Kissinger vertiefte. Die Grundlagen seines Gerüstes waren: 1. Ein festes Vertrauen in das „Balance-ofPower" -Konzept. Obwohl Kissinger zugab, daß das klassische Balance-of-Power-Spiel für das Zwanzigste Jahrhundert unanwendbar war, kehrt er beharrlich zu den entsprechenden Konzepten und Formeln des Gleichgewichtes der Macht oder der Kräfte als des einzig vernünftigen Weges zur Konstruktion einer stabilen Weltordnung zurück. 1973 erklärte er zum Beispiel in einem Interview, daß die Balance of Power der Vergangenheit angehöre, daß wir aber „ein gewisses Gleichgewicht der Kräfte haben müssen". Um es noch einmal zu wiederholen, Kissinger hatte keine Formel, sondern eher einen flexiblen „general approach", der nur zu sehr vom Scharfsinn und der Gewandtheit des Praktikers abhängig war. Der Friede, so wiederholte Kissinger, sollte nicht auf direktem Wege angestrebt werden; dieser Zustand könnte sich vielmehr ergeben, wenn die Staaten ohne Furcht ihre Forderungen sorgfältig auf den Bereich der nationalen Interessen beschränken würden. Er wandte diese Idee mehr auf das sowjetische, das er als rein defensiv betrachtete, als auf das amerikanische Verhalten an. 2. Die Überzeugung, daß der sowjetische Block der destabilisierende Faktor sei. Seinen Unterschied zwischen „legitimem" und „revolutionärem" Weltsystem — seinem wahrscheinlich bedeutendsten theoretischen Beitrag — in Anspruch nehmend, sah Kissinger im Kreml den internationalen Unruhestifter, die revolutionäre Macht, die das Gefühl hat, die Weltordnung erneuern zu müssen, um sich vor feindlichen äußeren Kräften zu sichern. Kissinger zeigte sich von der Welle des Revisionismus, die im Kielwasser der Vietnamproblematik auftauchte und das Verhalten der Vereinigten Staaten als einen relevanten Beitrag für die Weltspannung ansah, nicht berührt. Wie bereits erwähnt, war Kissinger in keinerlei Hinsicht ein Kritiker fundamentaler Annahmen, eher ein praxisbezogener „Veränderer". 3. Ein Glaube an die letztliche Eingrenzbarkeit der sowjetischen Aggressivität. In den sechziger Jahren erkannte Kissinger, daß die Zeit reif war, um die Weisheit der Staatsmänner von 1815 auf das Nuklearzeitalter anzuwenden. Kissingers subjektive Erkenntnis, daß sowohl die UdSSR als auch China nicht mehr zum Bereich der „revolutionären Staaten" zu zählen waren, öffnete, ihm später die Möglichkeit einer positiven Annäherung an diese beiden Staaten.
Kissinger war sich vollkommen über die Schwierigkeit von Verhandlungen zwischen einer Status-quo-und einer revolutionären Macht bewußt. Mehrmals gebrauchte er folgende Redewendung: „Diplomaten können sich treffen, aber sie können nicht mehr überzeugen, da sie aufgehört haben, dieselbe Sprache zu sprechen" Aber er war überzeugt, daß der Kreml schließlich dazu gebracht werden könnte, die Regeln einer „legitimen" Weltordnung mitzuspielen, wenn die atlantische Gemeinschaft fest im Angesicht sowjetischen Expansionismus zusammenhielte und zur gleichen Zeit verständlich mache, daß sie die Existenz des sowjetischen Staates nicht bedrohen würde, d. h., daß die Russen letztlich nicht drohen würden, da sie ihrerseits selbst nicht bedroht würden. Kurz: Die USA und ihre Verbündeten müßten von einer Position der Stärke, aber unter Berücksichtigung der Interessen der anderen Seite verhandeln. 4. Die Ansicht, das Bürokratien für „policy Innovation“ wertlos sind. Man ist versucht zu behaupten, daß Kissinger die konventionellen Institutionen der amerikanischen Außenpolitik mit Geringschätzung bedachte; aber diese Annahme dürfte übertrieben sein. Kissinger sah nur den Widerspruch zwischen „Inspiration" und „Organisation". Die Inspiration bringe frische Ideen; der Verwaltungsapparat könne nur durch das Routinieren alter Ideen und Methoden funktionieren Obwohl beide benötigt würden, sollte man nicht erwarten, daß auch beide am selben Ort zu finden seien. Er kritisierte den aktuellen Pragmatismus als dominierendes Element der amerikanischen Diplomatie, dem u. a. die langfristige Perspektive fehle. Das State Department könne sich zwar mit der Abwicklung der täglichen Papier-flut zufriedengeben, aber die amerikanische Neigung, höhere Positionen mit Geschäftsleuten und Juristen vollzustopfen, die im allgemeinen eine Tendenz zur bürokratisch-pragmatischen Führung der Außenpolitik zeigten, produziere eher pragmatische „interoffice compromises" als kühne neue Methoden und Ideen Zur Anregung schlug Kissinger bescheiden vor, außenstehende Intellektuelle einzustellen, besonders solche, die ein Verständnis für die historischen Prozesse zeigten.
Wenn man Kissingers Orientierung kurz zusammenfassen müßte, könnte man sie mit dem vergleichen, was George F. Kennan behauptete, mit seiner „Containment doctrine" beabsichtigt zu haben. Kennan bestritt später, daß sein Artikel „X", der 1947 veröffentlicht worden war, auf eine eingefrorene militärische und ideologische Konfrontation zwischen der Sowjetunion und dem Westen abgezielt hätte; die Doktrin sollte vielmehr als ein flexibles Werkzeug betrachtet werden, um den Russen internationales Benehmen beizubringen. Kissinger verstand Kennan wesentlich besser als seine Amtsvorgänger in der Nachkriegszeit, die die Idee des Containment in eine Ideologie umwandelten. Es sollte bemerkt werden, daß sowohl Kennan als auch Kissinger denselben generellen „realist approach" in der Internationalen Politik teilen also zur Schule des amerikanischen „Realismus" gehören Die Kategorie der Macht ist für die Realisten die zentrale Determinante des außen-politischen bzw. internationalen Handelns. Die Verfolgung der nationalen Interessen (national interests) ist von höchster Relevanz für jedes außenpolitische Verhalten. Der Ansatz des Nationalinteresses, der von Hans J. Morgenthau entwickelt worden ist und von den Realisten vertreten wird, ist der weitgehendste Ansatz in der Disziplin der Internationalen Politik. „Er gehört zu den wenigen Versuchen, mit Hilfe einer zentralen Hypothese — hier um den Begriff des in Kategorien der Macht definierten Nationalinteresses organisiert — die Internationale Politik insgesamt und ihre wichtigen Einzelaspekte zu erklären."
Vielleicht erklärt das auch zum Teil, warum Kissinger keine prominente Position unter Kennedy und Johnson in Washington erhielt, da beide Präsidenten eher „globalistische Kreuzfahrer" im Sinne eines traditionellen Dominanzdenkens als scharfsinnige „Balancers of Power" waren. Der „can-do" -Enthusiasmus der Kennedy-Leute und „shootfrom-the-hip" -Stil Johnsons war mit Kissingers Sinn der Vorsicht und Beschränkung nicht zu vereinbaren. Ein anderer Faktor könnte McGeorge Bundy's Monopol des Zugangs zu Präsident Kennedy gewesen sein. Bundy, Kissingers langjähriger Kollege und ehemaliger Harvard Dean, mit dem er schon anläßlich seiner Dissertation richtungsweisende Gespräche geführt und einen Teil des Manuskriptes besprochen hatte, machte von der parttime-Beratung Kissingers wenig Gebrauch. Kissinger hatte allerdings auch kein Interesse, die zweite Geige zu spielen.
VI. Vietnam
Unter Johnson wurde Kissinger jedoch in den Vietnamkrieg verwickelt. 1965 besuchte er Südvietnam, um einen Bericht — einen pessimistischen — über das Jahr des größten amerikanischen Aufbaues abzugeben. 1967 half er über französische Kanäle, Verhandlungsfühler auszustrecken und somit Kontakte zwi-sehen Washington und Hanoi herzustellen. Er reiste auch einige Male nach Paris, um Botschaften zu überbringen; diese unter dem Decknamen „Pennsylvania" laufende Operation blieb bis zum Jahre 1972, als sie im Rahmen der Pentagon-Affäre enthüllt wurde, geheim. Kissinger veröffentlichte jedoch bis 1969 weder etwas über die Vietnamproblematik noch nahm er in auffälliger Weise öffentlich dazu Stellung.
Im Juni 1968 nahm Kissinger kurz an einem Kolloquium in Chicago teil, bei dem er zugab, daß Vietnam „ein sehr kritisches Versa-gen der amerikanischen Philosophie der internationalen Beziehungen" sei, und hinzufügte, daß Vietnam „mit den traditionellen Theorien des Gleichgewichts der Kräfte überhaupt nicht zu fassen ist" Er unterließ es jedoch, irgendeine Verbindung zwischen Vietnam und seinem früheren Enthusiasmus für die Anwendungsmöglichkeit des begrenzten Krieges herzustellen und drang auch nicht auf einen sofortigen Rückzug der USA.
Laut Daniel Ellsberg, der die Pentagon-Papiere „enthüllte" und der mit Kissinger in Harvard zusammengearbeitet hatte, Henry-Kissinger 1968 häufig in privaten Gesprächen, daß das angemessene Ziel der Politik der Vereinigten Staaten ein . annehmbares Intervall'— zwei oder drei Jahre — zwischen dem Rückzug der amerikanischen Truppen und einer kommunistischen Machtübernahme in Vietnam sei" Kissinger selbst hat niemals öffentlich von der Idee eines „annehmbaren Intervalls" im Hinblick auf ein Disengagement von Vietnam gesprochen.
Als Kissinger 1969 endlich selbst etwas über Vietnam veröffentlichte, glichen seine Perzeptionen Banalitäten. „Wir haben einen militärischen Kampf geführt, unsere Gegner einen politischen", schrieb er auf der Basis jener konventionellen Einsichten, die schon seit Jahren von Bernard Fall und Sir Robert G. K. Thompson vertreten worden und inzwischen in den Washingtoner Debatten altbekannt waren. Kissingers Gedanken über den Rückzug waren jedoch bemerkenswert vorausschauend: Saigon würde Hemmschuh wirken; man als würde sich vor dem Waffenstillstand um Territorium schlagen; eine Saigon-Vietcong-Koalition undurchführbar sein — vor würde allem dann, wenn sie von Außenseitern aufgezwungen würde
Kissinger war keineswegs für einen schnellen einseitigen Rückzug, um das Trauma Vietnam zu beenden. Obwohl er zugab, daß der Krieg von falschen Prämissen aus geführt worden sei, argumentierte er jedoch, daß das gewaltige amerikanische Engagement als solches die Vietnamproblematik nicht zu einer Sache werden lassen dürfe, über die die Vereinigten Staaten letztlich das Gesicht verlören: „Zweifellos hat die damalige [1961 und 1962] Unfähigkeit, die geopolitische Relevanz Vietnams adäquat zu analysieren, zu dem gegenwärtigen Dilemma beigetragen. Aber der Einsatz von 500 000 Amerikanern hat die Frage nach der Wichtigkeit Vietnams entschieden. Jetzt steht das Vertrauen in die amerikanischen Versprechungen mit auf dem Spiel. Wie modisch es auch sein mag, Begriffe wie . Glaubwürdigkeit'oder . Prestige'lächerlich zu machen, so sind sie doch keine leeren Phrasen; andere Nationen können ihr Handeln nur dann nach dem unseren ausrichten, wenn sie auf unsere Standfestigkeit zählen können . . . Ein unilateraler Rückzug oder eine Regelung, die unbeabsichtigterweise auf dasselbe hinausläuft, könnte so nur Ablehnung hervorrufen und damit eine noch gefährlichere -interna tionale Situation schaffen. Kein amerikanischer Politiker kann diese Gefahren von sich weisen."
Ein „Friede" wurde in Vietnam zwischen den Vertragspartnern ausgehandelt, weil es sowohl für China als auch für die Sowjetunion wichtiger war, eine Verbesserung der Beziehungen zu den USA als einen raschen Sieg Hanois herbeizuführen. Auch die Nord-vietnamesen lenkten zunächst einmal ein, da der Ausgang der Verhandlungen den Abzug der Amerikaner beschleunigte und die amerikanischen Bombardierungen beendeten. Kissinger erreichte einen prekären Frieden: Für Amerika war der Krieg zu Ende, für beide Teile Vietnams ging er weiter. Das Pariser Abkommen von 1973 lief in seiner Konsequenz auf einen einseitigen Abzug der US-Truppen hinaus. Kissinger hatte entweder ein schlechtes Gedächtnis oder besaß die Fähigkeit, seine akademischen Ansichten von seiner späteren politischen Praxis zu trennen.
Kissingers sorgfältige Rücksichtnahme sowohl auf die innenpolitische als auch die internationale Meinung scheint genau den Ansichten des neugewählten Präsidenten Nixon entsprochen zu haben. Nixon war ebenfalls dafür, die amerikanischen Truppen abzuziehen, jedoch sollte das in einer Weise geschehen, die in ihrer Konsequenz weder im Inland einen „Neo-Isolationismus" noch im Ausland einen Verlust der amerikanischen Glaubwürdigkeit auslösen würde, mit anderen Worten: beide Männer hatten starke Elemente psychologischer Rücksichtnahme in ihrer Vietnam-Strategie.
VII. Der Nationale Sicherheitsrat
Ende November 1968 bestellte Nixon Henry-Kissinger zu ausführlichen Vorgesprächen nach New York. Die beiden Männer waren sich vorher nur einmal bei einer Einladung begegnet. Kissinger hatte bis dahin nicht viel von Nixon gehalten, zeigte sich jedoch nach den Gesprächen beeindruckt. Nixon, der spezielle Interessen und Kenntnisse auf dem Gebiet der Außenpolitik bekundete und schon seit einigen Jahren Kissingers Veröffentlichungen verfolgt hatte, ernannte ihn zum Präsidentenberater für nationale Sicherheitsfragen. Im folgenden Januar wurde Kissinger im Weißen Haus eingestellt. Sein Gehalt betrug $42 000 pro Jahr.
Es wurde nur zu bald offensichtlich, daß Präsident Nixon in seinem Assistenten mehr als einen Berater sehen wollte. Kissinger wurde auch zum „executive secretary" des Nationalen Sicherheitsrates (National Security Council — NSC) und zum Vorsitzenden des Planungsstabes , bei dem „faktisch alle Fäden des außenpolitischen Entscheidungsprozesses unterhalb des Präsidenten zusammenlaufen" , ernannt. Der NSC ist eine Institution, die 1947 zur Beratung des Präsidenten hinsichtlich der „Integration von Innen-, Außen-und Militärpolitik in bezug auf die Nationale Sicherheit" geschaffen wurde und deren Bedeutung seit der Gründung ganz nach dem Stil des jeweiligen Präsidenten in ihrer Relevanz im außen-und sicherheitspolitischen Entscheidungsprozeß schwankte. Der NSC, den man das amerikanische „Politbüro" genannt hat, hatte unter Eisenhower eine wichtige Position eingenommen, unter Kennedy jedoch an Bedeutung verloren und wurde erst von Johnson wieder aufgewertet.
Nixon wertete die Bedeutung des NSC in der Entscheidungsbildung auf (Kissinger hatte an einer Studie über die Reorganisation des NSC für Nixon gearbeitet) und benutzte die Institution als Kontrollzentrum für alle wichtigen außenpolitischen Fragen. Der Akzent sollte nunmehr auf der sog. antizipierenden Eventualplanung für auftretende Krisensituationen liegen und nicht mehr so sehr auf dem Aspekt des „Krisen-Managements". Nach Nixons Vorstellungen sollte sich Kissinger mehr dem schöpferischen Denken und der langfristigen Planung widmen, während die Führung der Außenpolitik dem Außenminister überlassen werden sollte . Der Reorganisator und wirkliche Meister des NSC war Henry Kissinger, der sehr bald viel wichtiger werden sollte als der Außen-oder der Verteidigungsminister.
Kissinger hatte einen Stab von 46 professionellen Assistenten und 105 administrativen Angestellten (mehr als doppelt so viel wie in der vorausgegangenen Johnson-Administration) mit einem jährlichen Budget von $2, 3 Mio. Der NSC-Stab beaufsichtigte die Entscheidungsgremien des State Department, des Pentagon und des CIA, ließ Studien, Berichte und Optionen einholen und strukturierte sie dann nach Kissingers Anordnungen. Während der ersten drei Jahre von Nixons Amtszeit entstanden unter der Aufsicht des NSC-Stabes mehr als 140 Studienmemoranden zur Nationalen Sicherheit in den traditionellen Abteilungen der klassischen Instrumente der Außenpolitik, die er manchmal zurückschickte, wenn er sie nicht als gründlich genug befand. 1969 z. B. erklärte der NSC-Stab die vom State Department verfaßten Studien nur zu „ 50 bis 70 °/o als akzeptabel"
Verständlicherweise fühlte sich das State Department in einem solch untergeordneten Status als zu geringschätzig behandelt, was schließlich zur psychologisch bedingten Beeinträchtigung der Effektivität führte. Allerdings befand sich das Außenministerium in Wirklichkeit schon seit längerer Zeit im Windschatten des Rahmens der präsidentiellen Entscheidungsvorbereitung, zumindest seitdem die Berater des Präsidenten-und das Pentagon Vorrang in der Außenpolitik erlangt hatten. Kissingers NSC-Stab verschärfte lediglich die Fronten. Besonders stechend war 1971 die Bemerkung von Senator Stuart Symington, demokratischer Abgeordneter des Staates Missouri, daß Kissinger und nicht William P. Rogers „der tatsächliche Architekt unserer Außenpolitik“ sei und daß man Rogers in Washington „auslache" Präsident Nixon nannte diese Beschuldigung einen „billigen Witz" auf Kosten seines „ältesten und engsten Freundes im Kabinett" Nichtsdestoweniger hatte Symington völlig recht, und jeder wußte das auch. Ausländische Botschafter z. B. trafen oft lieber mit Kissinger als mit Rogers zusammen.
Vom funktionalen Standpunkt aus gesehen war es unwahrscheinlich, daß die auf 36 600 Angestellte (im In-und Ausland) angeschwollene Bürokratie des Außenministeriums die Außenpolitik fest in ihre Hände nehmen konnte, vor allem, wenn man die empfindliche Vorsicht der Karrierebeamten im Auswärtigen Amt betrachtete und die Tendenz, Spitzenpositionen mit Rechtsanwälten (wie Rogers) zu besetzen, worüber Kissinger früher schon geschrieben hatte.
Der Stellenwert des State Department in der außenpolitischen Entscheidung war vom mehr oder weniger allgemeinen „Niedergang" dieses klassischen Instruments der Internationalen Politik seit Beginn des Zwanzigsten Jahrhunderts betroffen: .. Ein Niedergang, der das Resultat ist von Faktoren wie der radikalen Beschleunigung aller Kommunikationsformen, der weitgehenden Publizität zwischenstaatlicher Politik, der Ausweitung des Kreises von Beteiligten an der außenpolitischen Urteils-und Willensbildung, des Abbaues berufsständischer Codices usw. Er ist aber auch die Folge der zunehmenden Komplexität zwischenstaatlicher Beziehungen, die sich nicht mehr auf die traditionellen Funktionen der Diplomatie — Verhandlung mit anderen Regierungen, Informationsbeschaffung, Repräsentation und konsularische Aufgaben — beschränken lassen"
Das Außenministerium als klassisches Instrument der Diplomatie war wichtig für die Wahrnehmung und Durchsetzung außenpolitischer Interessen des Landes, nicht jedoch für die Formulierung der Außenpolitik selbst. Es war eine Donquichotterie vorzuschlagen, den Primat in der Außenpolitik dem State Department zurückzuübertragen. Das Abwandern der politischen Entscheidung aus dem State Department war ein Prozeß, der schon lange Jahre andauerte und letztlich auch das Produkt einer
Anpassung an aktuell-politische Notwendigkeiten war. Vielleicht begann er schon mit Wilsons Colonel House und wurde mit Franklin Roosevelts Harry Hopkins wiederaufgenommen. Kennedy war so verbittert über die Langsamkeit des Außenministeriums, daß er zumeist unter Beratung von McGeorge Bundy seine eigene Politik betrieb. Johnson bediente sich in ähnlicher Weise Walt Rostows, eine „Kooperation", die bis zur gemeinsamen Planung von Bombenzielen in Nord-Vietnam ging. Mit Kissingers Ernennung zum Sonderberater jedoch wurde dieses Verfahren institutionalisiert. Allein schon diese Tatsache sollte einer von Henry Kissingers bedeutendsten Beiträgen zur amerikanischen Außenpolitik werden.
Es gab wenig Zweifel daran, daß Kissingers NSC-Stab die Politik — im Falle Nixons waren das „politische Optionen", aus denen er auswählte — besser formulierte als die traditionellen Ministerien. Selbst wenn ein Nixon nachfolgender Präsident versuchen sollte, dem State Department einige Kompetenzen für den Entscheidungsprozeß zurückzugeben, wird er sich wahrscheinlich dennoch gezwungen sehen, einen „Koordinator" plus Stab direkt zur Hand zu haben. Obwohl relativ ruhige Zeiten es zulassen könnten, daß die traditionellen Ministerien mehr Entscheidungen übernehmen, wären diese dann wohl mehr in den Bereich reiner Routineentscheidungen einzuordnen. Bis ruhigere Zeiten kommen — eine unwahrscheinliche Erwartung —, wird wohl jeder Präsident seinen eigenen Kissinger haben wollen.
Besonders peinlich für das State Department war die Tatsache, daß Kissinger nicht nur Nixons „Ideenlieferant", sondern überdies sein Vertreter oder „Agent" bei diplomatischen Verhandlungen war. Wichtige Angelegenheiten wurden nicht durch Botschafter oder das State Department in Washington wahrgenommen, sondern durch Kissinger persönlich. Kissinger überging die US-Botschaft in Moskau in einer Art und Weise, daß ein amerikanischer Diplomat sich einmal beschwerte, er hätte seinen sowjetischen Kollegen im Ministerium aufsuchen müssen, um herauszufinden, worüber man gesprochen habe Die amerikanischen Gesandtschaften in allen Teilen der Welt hatten nur zu oft das Gefühl, wenig mehr als Kissingers Hotel zu sein. Sowohl Kissinger persönlich als auch seine Mitarbeiter arbeiteten sehr hart. Er erwartete von seinem Stab eine Arbeitszeit, die bis zu 14 Stunden betragen konnte und hat manchen Mitarbeiter physisch „erledigt“. Kissinger erwartete strikte Loyalität; viele seiner Leute hatten nicht die Courage, gegenüber der Presse oder Dritten ihre eigenen Gedanken zu äußern. Kissinger arbeitete bis zu 18 Stunden am Tag. „Es kann diese Woche keine neue Krise mehr geben", witzelte er oft, „mein Terminplan ist schon voll". Viele Mitarbeiter aus dem NSC-Stab kündigten entweder unter dem Druck von Kissingers Forderungen oder, vor allem zur Zeit der US-Invasion im Kambodscha im Jahre 1971, wegen der Fortsetzung des Vietnam-Krieges. Mitte 1971 war nur noch etwa ein Viertel seiner 28 ursprünglichen ständigen Mitarbeiter da In Washington kursierten viele Geschichten darüber, wie Kissinger seine Assistenten behandelte. So soll er z. B. über ein Telegramm des State Department so wütend geworden sein, daß er seinen Überbringer gegen eine Wand drängte und ihn 10 Minuten lang beschimpfte. „Bevor nicht einige Änderungen darin vorgenommen worden sind, werde ich dieses Telegramm nicht akzeptieren", sagte Kissinger, „und Sie können zum State Department zurückgehen und dem Außenminister sagen ..." Sein Opfer protestierte schließlich: „Aber Dr. Kissinger, ich arbeite doch für Sie !"
VIII. Innen-und außenpolitische Probleme
Rücksichtlos oder nicht, schon nach kurzer Zeit begann eine veränderte amerikanische Außenpolitik sichtbar zu werden. Nur zwölf Tage nach seiner Inauguration gab Nixon Kissinger bereits die Anweisung, über osteuropäische Kontakte Fühlung nach Peking aufzunehmen. Ebenfalls im Jahre 1969 begann Kissinger, sich heimlich mit Vertretern Nord-Vietnams in Paris zu treffen, um einen Kompromiß auszuhandeln, der in seiner Zielsetzung eine Beendigung des US-Engagements in Vietnam durch beiderseitige Wahrung des Gesichts anstrebte. Auf theoretischer Ebene arbeiteten Kissinger und sein Stab eine neue und limitierte politische Orientierung aus, die zum erstenmal Nixons Guam-Doktrin vom 25. Juli 1969 beeinflußte und für den Bericht zur „Lage der Welt" 1970 sorgfältig ausgearbeitet wurde
Große Veränderungen waren zwingend. 1969 zeigten die Vereinigten Staaten Anzeichen einer gesteigerten Kriegsmüdigkeit. Bereits zu jenem Zeitpunkt war der Vietnamkrieg, der sich noch über weitere vier Jahre hinziehen sollte, der längste Konflikt in der Geschichte Amerikas (unter Berücksichtigung des auf 1961 zurückdatierten Kriegseintritts, wie es die Militärs tun). Die öffentliche Meinung reagierte zunehmend gereizt. Viel von der noch vorhandenen Unterstützung für den Krieg war infolge der psychologischen Rückwirkungen der Tet-Offensive von 1968 verpufft. Im Jahre 1968 war der Vietnamkonflikt in ein neues Stadium getreten. Der Verlauf des Jahres 1968 war durch die kommunistische Großoffensive in Südvietnam, die Einstellung des amerikanischen Luftkrieges gegen Nordvietnam, den Beginn der Vorgespräche in Paris und die Präsidentschaftswahlen, in denen sich Nixon für einen Rückzug aus Vietnam einsetzte, bestimmt. In den USA selbst kam es seit 1967 zu Massendemonstrationen und zu einer zunehmenden Entfremdung zwischen Regierung, Öffentlichkeit und Kongreß. Johnsons Vision der „Großen Gesellschaft" wurde nicht zuletzt durch das Vietnamengagement in Frage gestellt. Der Vietnamkonflikt überschattete das gesamte politische Leben; es lag auf der Hand, daß es Johnson nicht gelingen konnte, sowohl die erforderlichen Kredite vom Kongreß für die Fortführung des Krieges in Vietnam bewilligt zu bekommen als auch seine innenpolitischen Pläne zu verwirklichen. Johnson war es zwar gelungen, Öffentlichkeit und Kongreß über die wahre Bürde des Krieges hinwegzutäuschen, aber die Wirtschaft war nicht zu täuschen. Beginnend mit der größten US-Eskalation im Jahre 1965 geriet die überhitzte amerikanische Wirtschaft in eine inflationäre Spirale, die ihr Eigenleben entwickelte und auch mit Nixons Lohn-und Preiskontrolle nicht enden sollte. Die Inflation nährte ernste Zahlungsbilanzdefizite und drückte den Dollar im Ausland. Im August 1971 sah sich Nixon zu einem bislang undenkbaren Schritt gezwungen: zur Abwertung des Dollars. Diese so einschneidende Maßnahme bewirkte letztlich wenig und der Präsident mußte diese monetäre Politik im Februar 1973 wiederholen. Im ganzen gesehen verlor der Dollar ungefähr ein Fünftel seines Wertes in der Relation zur Deutschen Mark und zum Japanischen Yen sogar noch mehr. Zum erstenmal seit den neunziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts mußten die Vereinigten Staaten Handelsdefizite hinnehmen. Große Teile der US-Industrie und des Handels riefen nach einer protektionistischen Handels-gesetzgebung. Amerika entdeckte, daß es nicht mehr die erforderlichen Mittel zur Finanzierung militärischer Verpflichtungen in Über-see besaß.
Einerseits um Geld zu sparen und andererseits um eine Hauptquelle des Unmuts der Jugend Amerikas zu beseitigen, reduzierte Nixon die Truppenstärke von 3, 5 Mio im Jahre 1968 auf 2, 3 Mio im Jahre 1973. Die Kürzungen machten sich besonders hart beim Heer und den „Marines", ohne die überseeische Interventionen unmöglich waren, bemerkbar. 1973 wurde die Wehrpflicht abgeschafft.
Am unangenehmsten für die Republikaner war, daß Nixon einem von Demokraten kontrollierten Kongreß gegenüberstand, der nach Möglichkeiten zur Lähmung der exekutiven Handlungen in der Außenpolitik zu suchen schien. Einerseits zu vorsichtig, um auf dem Höhepunkt des amerikanischen Engagements in Vietnam eine konkrete legislative Entscheidung gegen die exekutive Führung des Krieges zu fällen, versuchte „Capitol Hill" andererseits, verlorenes Terrain und verlorene Zeit einzuholen, indem es die Entwicklungshilfe-programme bremste und die 300 000 Mann starken US-Truppen in Europa zu reduzieren versuchte, überdies stiegen die Bestrebungen, die War Powers (das verfassungsmäßige Recht, die Streitkräfte einzusetzen) des Präsidenten zu begrenzen Die Tonking-Golf-Resolution aus dem Jahre 1964 wurde in aller Stille widerrufen.
Kissinger selbst stellte einen Hauptstörfaktor für den Kongreß dar. Durch das sog. „executive privilege" vor direkten Untersuchungen des Kongresses geschützt, erschien Kissinger als eine Art „unberührbarer" Außenminister, der weder durch den Senat im Amt bestätigt noch ihm verantwortlich war. Der Präsidentenberater berief sich darauf, regelmäßig, aber inoffiziell mit Mitgliedern des auswärtigen Senatsausschusses (Senate Föreign Relations Committee) zusammengetroffen zu sein. Wenn dem so war, so schienen diese Zusammenkünfte das Komitee allerdings nur wenig oder überhaupt nicht beruhigt zu haben. Ein von neuem sich rückversicherndes „Capitol Hill" bedeutete eine weitere Begrenzung für eine Exekutivinitiative in Übersee, eine Möglichkeit, mit der Nixon zu rechnen hatte.
Jeder amerikanische Präsident hätte zu Anfang der siebziger Jahre das US-Engagement im Ausland begrenzen müssen. Nixon und Kissinger erschienen als die richtigen Männer zur richtigen Zeit; beide paßten in die Situation dieser Phase der US-Außenpolitik. Sie hatten ein Gefühl für die Grenzen des politisch Machbaren, das ihre demokratischen Vorgänger nicht immer hatten.
Dies soll nicht heißen, daß Nixon und Kissinger einen amerikanischen Rückzug vom globalen Engagement betrieben. Tatsächlich versuchten sie gerade einen solchen „neo-isolationistischen" Rückzug zu verhindern. Nixon propagierte statt dessen einen stufenweisen, sorgfältig kontrollierten Rückzug vom Globalismus eines Kennedy. Als er 1969 auf Guam ganz informell mit Reportern sprach, erklärte Nixon, daß die Vereinigten Staaten für den Fall eines Angriffs einer Nuklearmacht einen atomaren Schirm für ihre Alliierten bereithalten würden und daß die asiatischen Nationen sich gegen andere Aggressionen jedoch selbst zu verteidigen hätten. Der Bericht zur Lage der Welt vom Jahre 1970 an den Kongreß, den Kissinger und sein Stab ohne Hilfe des Außenministeriums erstellt hatten, verdeutlichte die Konzeption: „Dies ist der Bericht über die Doktrin, die ich in Guam verkündet habe — die , Nixon-Doktrin'. Ihre Zentralthese besagt, daß die Vereinigten Staaten an der Verteidigung und Entwicklung der Alliierten und Freunde teilhaben werden, daß Amerika aber nicht alle Pläne machen, nicht alle Programme ausarbeiten, nicht alle Entscheidungen treffen und nicht die ganze Verteidigung der freien Nationen der Welt übernehmen kann — und auch nicht will. Wir werden dort helfen, wo es wirklich notwendig ist und in unser aller Interesse steht."
Um den frappanten Wandel in der Außenpolitik zu erkennen, braucht man nur (wie es viele Journalisten damals taten) diese Passage mit Präsident Kennedys Inaugurationsversprechen'zu vergleichen, „daß wir jeden Preis bezahlen, jede Bürde auf uns nehmen, jede Härte ertragen, jedem Freund helfen und jedem Feind entgegentreten werden, um den Fortbestand und den Sieg der Freiheit zu sichern" Was hatte sich mehr verändert — der Geist Amerikas oder die Außenwelt?
Wie nicht anders zu erwarten, dachte Präsident Nixon, daß es vor allem Letzteres gewesen sei. In derselben Botschaft von 1970 zog Nixon einen scharfen Trennungsstrich . zwischen „damals" und „heute" in der Welt: „Damals waren wir mit einer monolithischen kommunistischen Welt konfrontiert. Heute hat sich die Natur dieser Welt verändert — die Macht einzelner kommunistischer Staaten ist gewachsen, aber die internationale kommunistische Einheit ist erschüttert worden. Einst ein mächtiger Block, ist seine Solidarität nun durch die gewaltigen Kräfte des Nationalismus gebrochen."
So half Kissinger, eine seiner früheren Thesen, der kommunistische Block sei monolithisch, zu begraben. Die Fragmentation der Roten Welt war schon seit einiger Zeit bekannt gewesen, aber erst die Qual des Vietnamkrieges trug dazu bei, diese Perzeption zum Bestandteil nationaler Politik zu machen.
IX. China, die Sowjetunion und Deutschland
Der Geist Amerikas hatte sich ebenfalls während der Vietnam-Ära so sehr verändert, daß eine Fernseherklärung von Präsident Nixon am 15. Juli 1971, er würde Rotchina besuchen und Kissinger sei heimlich schon dort gewesen, um die Details auszuarbeiten, mit freudigem Erschrecken aufgenommen wurde. Am 21. Februar 1972 übertrug der TV-Satellit Bilder aus Peking, die zeigten, wie der alte „Hetzer gegen die Roten" seine kommunistischen Gastgeber anstrahlte, und das amerikanische Volk war begeistert.
Nun könnte man einwenden, daß eine neue US-China-Beziehung schon seit einiger Zeit in der Luft gelegen habe. Die Kennedy-Administration machte bereits 1963 versteckte Bemerkungen, daß sich die den Dinge zwischen beiden Ländern ändern könnten. Peking streckte, wie man berichtet hatte, 1964 erste Fühler nach der Johnson-Administration aus. Und Ende 1968 war Peking, wie China-Experten zugaben, durch die sowjetische Invasion in der Tschechoslowakei derart aufgeschreckt, daß es klare Signale nach Washington aus-sandte. Lyndon Johnson, der jedoch damit beschäftigt war, einen Krieg gegen vermeintliche Stellvertreter Rotchinas zu führen und außerdem von . einem anachronistischen Außenminister, der darauf bestand, daß Peking nach seinem alten nationalistischen Namen Peiping genannt werden sollte, behindert wurde, hatte keine Möglichkeit, in neue Richtungen vorzustoßen — auch wenn er es gewollt hätte.
Nixon war dazu in der Lage, weil er sich selbst dahin gebracht hatte — wahrscheinlich mit Kissingers Hilfe. Nixon verstärkte seine Guam-Forderung nach asiatischer Selbsthilfe, indem er die US-Streitkräfte in Korea, Japan, Okinawa, Thailand und auf den Philippinen reduzierte, ganz zu schweigen davon, daß er mehr als eine halbe Million US-Truppen aus Südvietnam abzog. Zusätzlich lockerte er die Handels-und Reisebeschränkungen nach China. Peking verstand das amerikanische Vorgehen und signalisierte im April 1971 sein Interesse an einer Annäherung dadurch, daß es eine amerikanische Tischtennis-Mannschaft zu einer Reise durch China einlud. Dieser Durchbruch wurde unter dem Begriff „PingPong-Diplomatie" berühmt. Die Darstellung der neuen Chinapolitik hilft uns, Kissingers Rolle zu verstehen. Die Grundidee scheint nicht von ihm zu stammen. Nixon selbst zog schon mit diesem Gedanken an eine Politik der Detente in das Weiße Haus ein und trug seinem Assistenten auf, daran zu arbeiten. Aber die Ausführung der Idee lag fest in Kissingers Händen. Kissinger unternahm zwei Reisen nach Peking, um den Besuch des Präsidenten zu organisieren, und eine weitere Reise im Februar 1973, um ein weiteres erstaunliches Kunststück zu vollführen: ein Abkommen, nach dem beide Länder in den beiden Hauptstädten „Verbindungsbüros" (lediglich dem Namen nach keine Botschaften) eröffnen konnten. Während der Besuche schmückte das Porträt Henry Kissingers die Titelseiten der chinesischen Zeitungen und später auch die der ganzen Welt.
Es erhebt sich die Frage, ob und inwieweit die China-Politik Präsident Nixons und seines außen-und sicherheitspolitischen Beraters Kissinger zu einem Durchbruch in den sowjetisch-amerikanischen Beziehungen geführt hat. In theoretischer Fragestellung: Erfüllte der Mächtegleichgewichts-Ansatz (Balance-of-PowerApproach) — oder auch „equilibrium of strength", wie es Kissinger vorschwebte — seine praktische Funktion? Hat das Phantom einer stillschweigenden Entente zwischen Peking und Washington Moskau in eine neue und flexiblere Haltung gezwungen?
Sicher ist, daß im Jahre 1972 etwas in diesem Sinne geschah. Das erste Abkommen zwischen den Vereinigten Staaten und der Sowjetunion über die Begrenzung strategischer Waffen im Anschluß an die sog. „Strategie Arms Limitation Talks" (SALT I) vom Mai 1972 bestätigte die nuklear-strategische Ebenbürtigkeit der Supermächte. Das Abkommen enthält einen unbefristeten Vertrag über die Begrenzung von Waffensystemen zur Abwehr ballistischer Raketen und ein auf fünf Jahre begrenztes Interimsabkommen über die quantitative Begrenzung strategischer Offensivwaffen. SALT II mit der größeren Zielsetzung der Einbeziehung quantitativer und qualitativer Kriterien begann im Herbst 1973. Ein drei Tage andauernder Besuch Kissingers in Moskau (September 1972) brachte die zum Erliegen gekommenen Gespräche über die Ausweitung des bilateralen Handels wieder in Schwung — im dringenden Interesse der stagnierenden sowjetischen Wirtschaft. Im November 1972 begannen in Helsinki die vorläufigen Gespräche über eine Europäische Sicherheitskonferenz (KSZE), Anfang 1973 in Wien über die gegenseitige Reduzierung der Streitkräfte in Ost-und Westeuropa (MBFR).
Die Zeit des Kalten Krieges wurde mehr und mehr Vergangenheit. Aber warum? Ehe man übertriebenes Vertrauen in das Konzept der „Balance of Power" setzt, sollte man sich vielleicht bewußt werden, daß die conditio sine qua non der sowjetisch-amerikanischen Entspannung die Beilegung der deutschen Frage durch die Verträge der Bundesrepublik Deutschland mit der UdSSR vom 12. August und mit Polen vom 7. Dezember 1970 durch Bundeskanzler Brandt war. Bonn hat im wesentlichen mit Unterzeichnung des Vertrags-werkes den bestehenden territorialen Status quo anerkannt. Der am 21. Dezember 1972 abgeschlossene Vertrag zwischen den beiden deutschen Staaten bestätigte Bonns Billigung der Kriegsfolgen durch Anerkennung (nicht Legalisierung) der Teilung Deutschlands als eines voraussichtlich permanenten Faktes.
Die Schnelligkeit, mit der sich die Beziehungen zwischen Washington und Moskau zu dieser Zeit verbesserten, lassen, was die Russen betrifft, vermuten, daß der Kalte Krieg zu einem beträchtlichen Teil in der politisch territorialen Frage deutscher und sowjetischer Grenzen, unabhängig von aller Ideologie, bestand. Aber welchen Anteil an der Entspannung in Europa hatte Brandts Ostpolitik und welchen die sowjetische Notwendigkeit der Verlegung eines Teiles der in Osteuropa stationierten Truppen an die chinesische Grenze? Vielleicht läßt sich als Fazit dieser Überlegungen am besten sagen, daß sowohl Brandts Wahl zum Kanzler der Bundesrepublik als auch die militärischen Zusammenstöße am Ussuri (beide im Jahre 1969) in ihrer Konsequenz ein günstiges Zusammentreffen für den Frieden in Europa bedeuteten, überdies sollte die Feststellung getroffen werden, daß die Nixon-Kissinger-Politik faktisch auf eine stillschweigende Anerkennung sowjetischer und chinesischer Positionen in Europa bzw. Asien hinauslief. Durch die Befürwortung der Brandt-Verträge akzeptierten die Vereinigten Staaten die Teilung Deutschlands und somit implizite die Teilung Europas. Mit der Annäherung an Peking überließen es die Amerikaner den Nationalchinesen auf Taiwan, über ihre Zukunft mit den Rotchinesen zu „verhandeln". Die einzigen Einwände, die gegenüber diesen real-politischen Anpassungen kamen, wurden von rechtsgerichteten Kräften vorgetragen, die darüber bestürzt waren, daß die Vereinigten Staaten gegenüber dem Kommunismus nachgaben. Diese Ansicht trug letztlich einen Funken Wahrheit in sich; Amerika gab nach, aber nicht gegenüber dem Kommunismus, sondern gegenüber der politischen Realität.
X. Der Waffenstillstand in Vietnam: Ein Erfolg?
Wenn auch das amerikanische Rapprochement mit der UdSSR und China vom Erfolg getragen war, so waren einige andere Schritte Nixons und Kissingers weniger erfolgreich. 1973 dürfte Kissingers spektakulärer Erfolg das am 27. Januar mit den Nordvietnamesen und dem Vietkong abgeschlossene Waffenstillstandsabkommen gewesen zu sein. Vier Jahre hatte Kissinger an der Lösung dieser Problematik gearbeitet, insgesamt 24 Besuche in Paris gemacht, zuerst geheim, aber später in Begleitung vieler Journalisten außerhalb des vorstädtischen Konferenzplatzes
Obwohl Nixon den Waffenstillstand einen ehrenvollen Frieden („peace withhonor") nannte, behaupteten Kritiker, daß diese Feststellung nicht zutreffe und ein ähnliches Abkommen bereits vier Jahre vorher hätte getroffen werden können. Kissinger beanspruchte dieser kritischen Argumentation gegenüber, daß vor dem 8. Oktober 1972, einem Zeitpunkt, zu dem Hanoi plötzlich dem amerikanischen Verlangen, die Frage der Waffenruhe vom Problem einer politischen Lösung in Saigon zu trennen, nachkam, „kein Geschäft möglich war". Die Amerikaner wollten einen Waffenstillstand, der ihnen die Herauslösung der verbliebenen amerikanischen Truppen aus dem Konflikt und die Rückgabe der Gefangenen ermöglichte. Die Kommunisten hatten verlangt, daß der südvietnamesische Präsident Thieu von den USA und die politische fallengelassen Macht in die Hände einer Koalitionsregierung, die sie dominieren würden, übergehen solle. Nixon und Kissinger lehnten dieses Ansinnen kategorisch mit der Begründung ab, daß die Realisierung eines solchen Verlangens im Resultat auf den Verrat an einem Alliierten in Kriegszeiten hinauslaufen würde.
Kein Zweifel, das Pariser Waffenstillstandsabkommen vom 27. Januar 1973 überließ Saigon dennoch einer äußerst unsicheren Zukunft. Einen Tag nach Ablauf der im Abkommen festgelegten Frist wurde das militärische Engagement der Vereinigten Staaten in Vietnam durch den Abzug der letzten US-Truppen am 29. März 1973 beendet. Damit begann die „Nachkriegszeit" — eine Phase, die durch weitere militärische Aktionen zwischen den beiden beteiligten vietnamesischen Parteien gekennzeichnet ist. Seit dem „Waffenstillstand" wurden allein bis Mitte Juni 1973 etwa 30 000 Menschen getötet Saigon sträubte sich heftig gegen den Vertragsentwurf, weil er 145 000 nordvietnamesische Soldaten (Thieu behauptet sogar 300 000) innerhalb der Grenzen Süd-vietnams ließ. Aber die Amerikaner wollten aus Vietnam heraus, und sie wollten ihre Gefangenen zurückhaben. Zögernd folgte schließlich Thieu dem amerikanischen Vorgehen.
Im Pariser Abkommen sind nur zwei wirklich operative Klauseln enthalten: Abzug der letzten, nur wenige Tausend zählenden US-Soldaten aus Südvietnam innerhalb von 60 Tagen und Entlassung der fast 600 amerikanischen Kriegsgefangenen durch die Kommunisten. Der Rest des Dokuments, eine vage und komplexe Abwandlung des Genfer Abkommens von 1955, war seiner Natur nach undurchführbar. Außer der Präsenz mehrerer nordvietnamesischer Divisionen im Süden, ließ das tigerfellartig verlaufende Muster kommunistischer und südvietamesischer Kontrollen über das Land letzt-lieh beiden Seiten die Möglichkeit, dasselbe Gebiet zu beanspruchen. Die dadurch entstehenden Dispute können praktisch nur durch Waffengewalt entschieden werden. Die aus Vertretern der Länder Kanada, Indonesien, Polen und Ungarn bestehende „International Commission of Control and Supervision" kann höchstens Verletzungen der Abmachung „berichten", vorausgesetzt, daß den entsprechenden Beobachtergruppen der Zutritt zu den Gebieten erlaubt und die Mitglieder der Gruppe sich selbst einig sind. Thieu sagte, daß er kommunistische politische Aktivitäten im Rahmen der im Abkommen vorgesehenen Vorbereitungen für die Nationalwahlen nicht tolerieren würde. Die Nordvietnamesen konnten wiederum der Versuchung, in Abwesenheit amerikanischer Bombenangriffe Menschen und Material auf dem Ho Chi Minh-Pfad heranzubringen, nicht widerstehen. Der Kampf hörte nicht auf. Als Ende März die letzten amerikanischen Soldaten Saigon verließen, grübelte ein Journalist: „Ich möchte gern wissen, ob dies die letzte Woche des zweiten indochinesischen Krieges oder bereits die erste Woche des dritten ist."
In Anbetracht dieser Situation muß sich die kritische Frage aufdrängen, warum Kissinger sich öffentlich optimistisch über einen positiven Verlauf auf der Basis des Abkommens geäußert hat. Es gibt drei vermutliche Motive. Zum einen, daß er es für die Öffentlichkeit tat. Er wollte sowohl das amerikanische Volk als auch den Kongreß überzeugen, daß die Nixon-Administration ein gutes Abkommen mit den Kommunisten abgeschlossen habe und daß ein potentieller späterer Zusammenbruch Südvietnams nicht Amerikas Schuld sein werde. Zum anderen war Kissinger anscheinend wirklich davon überzeugt, daß sowohl Moskau als auch Peking, die beide nun einigen Grund hatten, Washingtons gutem Willen entgegenzukommen, Hanoi vom Bruch des Waffenstillstands zurückhalten könnten und dies auch tun würden. Die dritte Motivation ergibt sich vermutlich aus Kissingers spieltheoretischem oder auch „Poker" -Denken mit der Überlegung, daß Nordvietnam genügend auf die amerikanische finanzielle und materielle Hilfe aus sei, die in der Januar-Übereinstimmung erwähnt und während seines Februar-Besuches in Hanoi diskutiert worden war, so daß Nordvietnam zumindest temporär seine langfristige Zielsetzung der vietnamesischen Vereinigung zügeln werde. Dieser vorgeschlagenen Wirtschaftshilfe, die die Nixon-Administration als „investment in peace" bezeichnete, stand allerdings im Kongreß eine heftige Opposition entgegen.
Glaubte der Harvard-Professor, der immer wieder auf die Unmöglichkeit wirklich effektiver Verhandlungen zwischen Status quo-und revolutionären Mächten aufmerksam gemacht hatte, daß er einen realisierbaren Frieden in Vietnam geschaffen habe? Die Verfasser dieses Artikels sind nicht davon überzeugt. Kissingers Minimalforderung war die Heraus-lösung der Vereinigten Staaten aus dem Vietnamkonflikt ohne Demütigung (eine Art „extrication without humiliation"). In diesem Zusammenhang müssen wir seine Idee des „decent interval" vom Jahre 1968 noch einmal ins Gedächtnis zurückrufen. Die Fragilität des Pariser Waffenstillstandes vom Januar 1973 läßt vermuten, daß dieses Abkommen in letzter Konsequenz solch ein hinhaltender Plan (delaying device) war. Präsident Nixon muß nicht unbedingt mit diesen Ideen Kissingers absolut übereingestimmt haben. Kissinger verkündete zwar am 26. Oktober bei der Beschreibung des Vertragsentwurfs, daß eine friedliche Lösung kurz bevorstehe („peace it at hand"), aber anscheinend muß Thieu derart heftig reagiert haben, daß Nixon seinen Berater Kissinger für weitere drei Monate zum „Feilschen" nach Paris zurücksandte und Hanoi bombardieren ließ. Möglicherweise war Kissinger auch etwas eifriger als Nixon in seinem Bestreben, die Vereinigten Staaten aus dem Vietnamkonflikt herauszubringen.
Die Vietnampolitik bedeutet mit Sicherheit eine schwere Belastung für Kissinger; er wollte dieses Problem loswerden, um sich seiner Ansicht nach besseren und lohnenswerteren Aufgaben zuwenden zu können. 1971 sagte er: „What we are doing now with China is so great, so historic, that the word . Vietnam'will be only a footnote when it is written in history." Noch einige Jahre vorher hatte Kissinger jedoch eine ganz andere Position bezogen. „Vietnam", so betonte er vor den Presseleuten am Anfang seiner Karriere im Weißen Haus, „may be one of those tragic issues that destroys everyone who touches it."
XI. Westeuropa, Japan und Südasien
Während sich die amerikanischen Beziehungen mit der Sowjetunion und China unter der Nixon-Regierung wesentlich verbesserten, sollten sich die alten Bindungen mit Westeuropa und Japan verschlechtern. Handels-und währungspolitische Differenzen zwischen den USA einerseits und der EWG und Japan andererseits führten zu heftigen Auseinandersetzungen, die in ihrer Konsequenz nicht nur zu einem potentiellen atlantischen und pazifischen Handelskrieg führen, sondern die Sicherheitspolitik gefährden konnten. Die Dollar-Krise hinterließ z. B. bei Europäern und Japanern den Eindruck, Amerika habe nicht nur große innenpolitische Probleme zu bewältigen, sondern versuche außerdem, der Verantwortung dadurch zu entgehen, daß es den Handelspartnern vorwerfe, eine Politik der Tarif-Diskriminierung zu betreiben.
Durch die bilateralen Verhandlungen mit Moskau und Peking über die Köpfe seiner europäischen bzw.des japanischen Alliierten hinweg schuf Washington weiteres Mißtrauen. Sowohl Westeuropa als auch Japan begannen nun ihren eigenen Weg zu gehen — eine kontraproduktive Einschränkung der Wirksamkeit der Balance-of-Power-Manöver Nixons. Wenn Feinde nicht permanent Feinde bleiben mußten, so mußten Alliierte auch nicht unbedingt auf permanenter Basis in freundlicher Beziehung bleiben. Aus Partnern konnten Rivalen werden.
Die in dem südostasiatischen Krieg höchst fragwürdig verstrickten USA schienen in den Augen vieler Europäer ihren Sinn für das Gleichgewicht verloren und Europa den Rükken zugewandt zu haben. Professor Stanley Hoffmann faßte Europas Ansichten im Jahre 1971 zusammen: „Wenn die Amerikaner unklug genug sind, ihre Prioritäten zu verwässern, so liegt es an den Europäern — unabhängig und gemeinsam —, ihre eigenen Interessen wahrzunehmen." Brandt leitete seine Ostpolitik mit einem sich überwiegend zurückhaltenden Washington ein. Die EG der Sechs expandierte 1973 zur EG der Neun (durch die neuen Mitglieder England, Irland und Dänemark) und wurde so zu einer mächtigen wirtschaftlichen Einheit, daß die Vereinigten Staaten über ihren früheren Enthusiasmus für die europäische Einigung nachzudenken begannen.
Auch die Japaner unternahmen unabhängige Initiativen. Tokio fühlte sich durch Nixons China-Politik im Jahre 1971 übergangen, weil der Präsident Tokio in einer für Japan so vitalen Angelegenheit nicht konsultiert hatte. Die Japaner nannten das amerikanische Vorgehen einen „Nixon shocku". Dann sorgte Nixon gegenüber den Japanern für einen zweiten shocku, indem er sie zwang, wiederum ohne vorherige Konsultation, den Yen aufzuwerten. Die japanische Reaktion erfolgte prompt. Premier Kakuei Tanaka besuchte nicht nur Peking (1972), sondern knüpfte zur selben Zeit diplomatische Beziehungen mit China an, die das bisherige Verhältnis zu Taiwan abkühlen ließen.
Ein eindeutiger Fehlschlag der Nixon-Kissinger-Politik war das Vorgehen in Südasien. Während Nixon im Bangla Desh-Konflikt zwischen Indien und Pakistan offiziell eine Politik der Neutralität proklamierte, sickerte bald durch, daß Nixon Kissinger befohlen hatte, US-Unterstützung für Pakistan, das durch die Ermordung von Bengalis in einer moralisch unhaltbaren Situation war, zu ermöglichen. Das Gerücht ging um, daß Nixon mit dieser Haltung Pakistan für seine Hilfe beim Arrangement der China-Besuche danken und dem pro-pakistanischen China demonstrieren wollte, daß die Vereinigten Staaten und China Gemeinsamkeiten in ihrer Haltung gegen ein proindisches Moskau haben könnten. Sollte das der Wahrheit entsprechen, so war dies ein Kalkül, der den Amerikanern lediglich die Feindschaft Indiens einbrachte. Noch ist nicht voll und ganz geklärt, ob Kissinger diese sogenannte „Anlehnung" an Pakistan befürwortete oder ob er nur dem Befehl seines Präsidenten nachkam.
XII. Fazit einer Analyse
Nun erhebt sich als Fazit aller Überlegungen die Frage, wie man Kissinger bis zu seiner Ernennung zum Außenminister im Herbst 1973 beurteilen kann. Er half im Gespann mit Nixon, den Kalten Krieg zu beenden und Washingtons Beziehungen mit Moskau und Peking fast zu normalisieren. Während er diese Politik verfolgte, hat er möglicherweise höchst unvorhersehbare Kräfte in Westeuropa und Japan ausgelöst. Kissinger versuchte, das Problem Vietnam zu der Bedeutung einer „historischen Fußnote" zu reduzieren, aber es hat den Anschein, als müsse man eher ein Ausrufungszeichen an diese Stelle setzen.
Sein wahrscheinlich langfristiger Beitrag für die Internationale Politik war jedoch seine Initiative, ein nicht-ideologisches „Balance-ofPower-Denken" in die amerikanische Außenpolitik einzuführen. Vielleicht mußte es gerade jemand sein, der in Europa geboren war, um Amerika zu lehren, daß internationale Politik kein simpler Kampf zwischen Gut und Böse ist. Dennoch enthält dieser „Balanceof-Power" -Ansatz eine Schwäche, nämlich die potentielle Gefahr, daß nach der „Kissinger" -Zeit unbedeutendere Persönlichkeiten dieses Konzept mißbrauchen könnten. Für Kissinger bedeutet das Machtgleichgewicht eine allgemeine Ordnungsvorstellung, keine irgendwie fixierte Formel. Besteht nicht die Gefahr, daß übereifrige Politiker eines Tages diese Formel zu einer simplifizierten Doktrin reduzieren? Im Rahmen dieser Frage kommt die Ernüchterung nur zu schnell, wenn man sich daran erinnert, daß eine Generation von Politikern fest davon überzeugt gewesen sein muß, die „realistischen" Lehren von Hans J. Morgenthau und George Kennan verstanden zu haben, in Wirklichkeit aber wohl nur die sog. „surface toughness" dieser beiden politischen Theoretiker aufgenommen hatten, ohne die zugrunde liegende Ratio zu verstehen.
Einer der Schüler Kissingers scheint genau das getan zu haben. Er wählte eine triviale Version einer komplexen Vorstellung. Ende 1971 betonte Richard Nixon in einem Interview: „Wir dürfen nicht vergessen, daß die einzige Zeit in der Weltgeschichte, in der wir jemals eine längere Friedenszeit hatten, die eines Kräftegleichgewichts war. Erst wenn eine Nation unendlich mächtiger in Relation zu ihrem potentiellen Gegner wird, entsteht die Gefahr eines Krieges. So glaube ich an eine Welt, in der die Vereinigten Staaten mächtig sind. Ich denke, daß wir eine sichere und bessere Welt haben werden, wenn es starke, innenpolitisch . gesunde Vereinigte Staaten, Europa, UdSSR, China und Japan gibt, von denen eines das andere ausgleicht und keiner den einen gegen den anderen ausspielt — ein ausgewogenes Gleichgewicht."
Kissinger empfand das Problem in jenem Essay über Bismarck, den er im Jahre 1968 geschrieben hatte, einem Artikel, der sich mit dem Standard seiner Dissertation vergleichen läßt: „Bismarcks ideenreiche Nachfolger versagten sogar dann, als sie nach , Berechenbarkeit'und , Verläßlichkeit'strebten. Diese Qualitäten schienen eher durch strenge Bindungen erreichbar zu sein als durch das vorsichtige, sich ständig verschiebende Ausgleichen von Bismarcks Politik."
Das Problem spitzt sich im Grunde genommen auf die Frage der Institutionalisierung der „Inspiration" zu, etwas, das Kissinger schon in früheren Jahren diskutiert hatte. Wie konnte ein Prozeß, der stark vom Intellekt, der Tatkraft und dem Denkvermögen eines begabten Individuums abhing, durch eine Anzahl von Bürokraten ausgeführt werden? Eine Bürokratie geht ihrer Natur nach nur einer bereits voretablierten Routine nach. Hieraus läßt sich schließen, daß Kissingers NSC-Stabsystem ohne die Persönlichkeit Kissingers auch nur zu einem routinierten System werden könnte, das letztlich nur wenig effektiver als das State Department arbeitet. Da eine empfindliche politische Schöpfung in der Regel nicht länger hält als ihr Initiator, ist nur zu offensichtlich, daß Kissingers Problem der Schaffung einer überdauernden und sicheren Struktur wesentlich über die bloße Institutionalisierung dessen hinausreicht, was er errichtet hat. Das Kissinger-Problem ist jenem ähnlich, das Bis-marck sein wirkliches Vorbild, aus dessen Fehlern er lernen wollte, in seiner Zeit hinterließ. Kissinger schrieb im Jahre 1968: „Staatsmänner, die Dauerhaftes aufbauen, transformieren den persönlichen Schaffensakt in Institutionen, die durch eine durchschnittliche Handlungsweise erhalten werden kön-nen. Bismarck erwies sich als unfähig, dies zu tun."
So könnten seine Bemerkungen über Bismarck am Ende auf Henry Kissinger zutreffen. Und dies mag, wenn man das Talent des Professors, geschichtliche Vorgänge auf das Atomzeitalter zu beziehen, erwägt, keine zufällige Parallele sein.
Michael Gary Roskin, Ph. D., M. A., A. B., geb. 1939, Ass. Professor of Political Science; Studium der Politischen Wissenschaften an der University of California (Berkeley und Los Angeles) und der American University, Washington DC. Veröffentlichungen u. a.: An American Metternich: Henry A. Kissinger and the Global Balance of Power, in: Frank Merli and Theodore Wilson (eds), Makers of American Diplomacy, New York 1974, U. S. Foreign Policy as Generational Paradigm, in: Political Science Quarterly, 1974. Dieter O. A. Wolf, Dr. phil., B. A., Postgraduate Diploma, geb. 1939; Studium der Politischen Wissenschaften (Internationale Politik), Neueren Geschichte und Amerikanistik in den Vereinigten Staaten, Italien, England und in München; Mitglied des International Institute for Strategie Studies (London); z. Z. Lehrbeauftragter an der Universität München, Dozent an der Hochschule für Politik in München und freier wissenschaftlicher Mitarbeiter der Stiftung Wissenschaft und Politik, Ebenhausen. Veröffentlichungen u. a.: „Präsidenten-Krieg“ in Vietnam? Kompetenzen, Entscheidungsverfahren und Verhalten von Präsident und Kongreß im Indochinakonflikt, München—Wien 1973; Präsident kontra Kongreß. Außen-und sicherheitspolitische Probleme in den USA, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 32/73 vom 11. August 1973; Die Vereinigten Staaten und der Vietnam-Krieg, in: Jahrbuch für Internationale Politik (1968/69), Deutsche Gesellschaft für auswärtige Politik, Bonn 1974.