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Zur Problematik einer antisozialistischen Streitschrift | APuZ 32/1974 | bpb.de

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APuZ 32/1974 Zur Problematik von „Demokratisierung" und „Systemveränderung" Zur Problematik einer antisozialistischen Streitschrift

Zur Problematik einer antisozialistischen Streitschrift

Fritz Vilmar

/ 7 Minuten zu lesen

Trotz seiner Aggressivität, mit Hilfe gravierender Fälschungen des Sinns meines Textes, finde ich das Pamphlet von G. S. so inhaltsarm, daß ich mich darauf beschränken möchte, es mit wenigen Thesen und Hinweisen „niedriger zu hängen". Lediglich auf die von G. S. als grundlegend angenommene, weitverbreitete demokratietheoretische Fehlkonstruktion zweier alternativer Demokratiemodelle ist präziser einzugehen.

Dubiose Anonymität Wer ist G. S.? Gieselher Schmidt oder Georg Scheid? Letzterer nämlich hat, was ersterenoben langatmig ausbreitet, bereits — teilweise wortwörtlich — am 5. Juli im „Rheinischen Merkur" in Kurzfassung publiziert, um die Bundeszentrale für politische Bildung als linkslastig zu diffamieren. Hat nun Schmidt Scheid plagiiert? — oder umgekehrt? — oder sind beide identisch (G. S. = G. S.)?, und wenn ja, who is who? Die Redaktion der „Beilage" versichert mir, Gieselher Schmidt gibt es wirklich. Bleibt die inhaltlich wichtige und für Pamphlet-Verfasser leider sehr typische Frage: Warum die dubiose Anonymität im Rheinischen-Merkur-Artikel? Erschienen die darin enthaltenen Verdrehungen meiner Gedankengänge — die Umkehrung eines dezidierten Anti-Leninismus in einen Fast-Leninismus! — G. Schmidt am Ende selbst so anrüchig, daß er seinen guten Namen nicht dafür hergeben wollte?

Ungewollte Reklame Dies ist, vorab, das Wichtigste, was ich dem interessierten Leser des Vorstehenden raten, um was ich in der Tat dringend bitten muß: Daß er sich herausgefordert finden möge nachzulesen, was ich in der „Beilage" B 18/74 vom 4. Mai 1974 wirklich gesagt und in den entscheidenden gesellschaftspolitischen Passagen des zugrunde liegenden Werkes („Strategien der Demokratisierung", Sammlung Luchterhand, im Theorieband) ausgeführt habe. Es wäre nämlich ganz einfach zu langweilig, hier en detail G. S. Darstellung zu falsifizieren, durch Repetition sämtlicher Passagen, aus denen er sinnverfälschend Teile herausmontiert und umgedeutet hat.

Positivistische Demokratieverfälschung Vor den unmittelbaren Textverfälschungen G. S.'liegt eine wissenschaftstheoretisch grundlegende Fehloperation, für die G. S, insofern nicht verantwortlich zu machen ist als sie das Fehlurteil einer verbreiteten positivistischenDemokratietheorie-Tradition ist, der er sich zurechnet: Die Stilisierung historischer Gestaltungen („Vermittlungen") von Demokratie zum allgemeinen theoretischen Prinzip von Demokratie — die Erhebung des „positiv" Daseienden zum Wahren — kurz gesagt: die Gleichsetzung bzw. kategorial gleichberechtigte Gegenüberstellung von Erscheinung und Wesen.

Um es mit seinem eigenen Vokabular zu verdeutlichen: G. S.dekretiert, es gebe zwei Demokratie-Modelle: das der „konstitutionellpluralen“ und das der „identitären" Demokratie. Ein großer logischer Irrtum! Diese beiden begrifflichen „Modelle" nämlichsteben gar nicht als alternative ZielVorstellungen nebeneinander zur Wahl, wie G. S. permanent glauben machen will, vielmehr bilden sie im Sinne einer Mittel-Zweck-Relation, als auleinander bezogene Ziel-und Vermittlungsmodelle, eine prozessuale Einheit, sowohl logisch wie realgeschichtlich. Mit anderen Worten: „Idee", Zielmodell von Demokratie, kann, ohne jede denkmögliche Alternative, gar nichts anderes sein als virtuelle „Identität von Regierenden und Regierten": Erstreben einer gesellschaftlichen Lebensform, in der die Menschen nicht der illegitimen (d. h. unkontrollierbaren, unbegrenzten, unwiderruflichen) Herrschaft anderer unterworfen sind. Denn genau dies und nichts anderes ist — im Gegensatz zu vorhandenen, eben nicht-identitären d. h. Fremd-Herrschaftsformen — seit 2 500 Jahren das klar erkennbare Ziel aller demokratischen Verfassungskonzepte. Und all die von G. S. mit Recht hervorgehobenen, aber zu Unrecht in Gegensatz zur Identitätsidee (Selbstbestimmung des Volkes) gesetzten Prinzipien von „Pluralität“ und „Konstitution’: Gewaltenteilung, Rechtsstaatlichkeit, Minderheitenschutz, Menschenrechtsgarantien — sind nichts als „Vermittlungen", instrumentale bzw.

strukturale „approaches", historische Realisierungs-

und Sicherungskonzepte zu dem einen Ziel und Zweck, optimale Selbstbestim- mung eines Kollektivs und des einzelnen in ihm herzustellen — anstelle von Fremdbestim- mung.

„Identitäre Demokratie" („Demo-Auto-kratie“) ist also im Grunde ein Pleonasmus, eine Tautologie, ein weißer Schimmel. Dazu gibt es kein „Gegenmodell" eines schwarzen oder grauen Schimmels. In der Realität freilich existiert so wenig ein völlig weißer Schimmel wie eine bruchlose, reine Identität von volonte generale und volonte de tous in irgendeiner historischen Gestalt von Demokratie. . Parlamentarismus", „Rätesystem" oder Partizipative Demokratie?

Dergrundlegende Fehler in der von G. S. recht schulmeisterlich, mit vielen Klassikerzitaten vorgetragenen theoretischen Voraussetzung Zwei-Modelle-Hypothese) dann zwangs-haft, aufgrund seines konservativen Votums für das zur Idee stilisierte konstituionelle Modell, mitten hinein in das, was man nur als antisozialistische Stimmungsmache gegen mein Konzept einer „Partizipativen Demokratie" bezeichnen kann. Zwangshaft: Denn wenn ich einmal das parlamentarische Repräsentativsystem, wie es „positiv“ hier und jetzt konstruiert ist, als ideelles Gegenmodell zur „identitären" Demokratie hochstilisiert habe, muß ich zwangsläufig weitergehende, am identitären Modell orientierte Konzepte demokratischer Herrschaftskontrolle und Beteiligung der •Betroffenen" an den gesellschaftlichen Entscheidungsprozessen als antiparlamentarisch, utopisch, chiliastisch, totalitär etc. etc. diffamieren. Genau dieses dogmatisch (positivistisch) starre und, wie gezeigt, logisch irreale Entweder-Oder eines Demokratieverständnisses als konstitutionelles Repräsentativ-oder universelles Rätesystem ist zu überwinden, soll Demokratiewirklich zu einer Sache des Volkes werden, jenseits von bloß „demokratischer Elitenherrschaft" und — im Grunde ebenso elitärer, für die Massen gar nicht mitvollziehbarer — imaginärer Herrschaft omnipotenter Räte und/oder Vollversammlungen in allen gesellschaftlichen Bereichen Die Theorie der Partizipativen Demokratie, wie sie in verschiedenen Ansätzen von Cole, Mannheim, E. Fromm, Almond/Verba, Bachrach, Narr/Naschold, Hondrich, Greiffenhagen, Carole Pateman, Zimpel, Bermbach u. a. entwickelt und zum zentralen Thema meiner Arbeit über „Strategien der Demokratisierung“ gemacht worden ist, versucht genau diese Erstarrung der Demokratietheorie und -praxis in der Konfrontation von Statusquo-Idealisierung und naivem plebiszitären Maximalismus zu überwinden.

G. S. vermag dies nicht mitzuvollziehen. Er referiert ganz richtig, daß in einer Partizipativen Demokratie (als einer fortgeschrittenen Vermittlungsform der „identitären" Zielidee) durch enorme Aktivierung von Meinungsbildungs-und politischen Artikulationsprozessen der „Basis", durch „jede Art direkter ge-'waltfreier Aktion (Demonstrationen, Bürgerinitiativen, Streiks, Rote-Punkt-Aktionen etc.)" sowie durch stärkere Rückbindung der Abgeordneten an ihre Wähler das Parlament „permanent unter Druck gesetzt" werden soll. Aber er verfälscht den offenbaren Sinn solchen — übrigens verfassungsmäßig ausdrücklich legitimierten — Drucks von unten, indem er ihn als „Strategie zur Einschüchterung des Parlaments" interpretiert. Das heißt, er isoliert die Institution des Repräsentativsystems positivistisch, es wird zu einem fetischhaften demokratisch An-sich-Seienden, abgesondert und möglichst abzuschirmen von seinem wirklichen demokratischen Legitimitätsgrund, der kollektiven politischen Meinungs-und Willensbildung in der breiten Basis der Wahlbürgerschaft. Was die Theorie der Partizipativen Demokratie Vitalisierung des Parlamentarismus nennt, verdammt solch basisfeindlicher Repräsentationsfetischismus zur „Einschüchterung"

Ebenso wird dann die für jede Theorie Partizipativer Demokratie m. E. konstitutive Forderung optimaler Einbeziehung sinnvoller rätedemokratischer Elemente — vgl.deren Katalog auf Seite 9 meines Textes — von G. S. verfälscht durch die ideologische Unterstellung: „Jede Rätekonzeption geht von dem Kommunemodell aus" — obwohl dieses Modell einer Räte-Omnipotenz von mir ausdrück-lieh als irrelevant abgewiesen wird (was G. S. erst nach vollzogener Diffamierung eingesteht; Nietzsche würde eine derartige Manipulation als Mangel an intellektueller Redlichkeit qualifiziert haben).

Antisozialistische Stimmungsmache Die letzten Abschnitte von G. S.'Text gleiten vollends ins Pamphletische ab: Antisozialistische Stimmungsmache wie in den kältesten Zeiten des Kalten Krieges. Es macht sich immer gut, den theoretischen wie politischen Gegner in die Nähe des bösen Lenin zu rükken (G. S. Doppelgänger im Rheinischen Merkur tut es ganz plakativl), selbst wenn zu diesem Zweck die Position des Gegners verfälschend in ihr Gegenteil verkehrt werden muß. Das Konzept der revolutionären Avantgarde, von dem ich mich ausdrücklich distanziere, wird mir gleichwohl von G. S. ohne Hemmung untergeschoben (S. 12 f.), und der weitverbreitete politologische Begriff der gesellschaftlichen Avantgarde — auch bekannt als „aktive Minderheit“, in der Partizipationsforschung gut belegt — wird flugs zur leninistischen Vokabel umfunktioniert.

G. S., der ja wissenschaftlichen Anspruch erhebt, muß meine dem Aufsatz zugrunde liegende Arbeit „Strategien der Demokratisierung" (Bd. I) kennen. Er weiß also ganz genau, daß ich die m. E. in der Tat im Prozeß der Demokratisierung (der Partizipativen Demokratie) liegende transformatorische Kraft in Richtung auf einen demokratischen Sozialismus expressis verbis als positive und vertassungsgemäße Alternative zu allen totalitären leninistischen Transformationskonzepten verstehe (vgl. insb. Bd. I, S. 89 ff., 241 ff., 296ff und gerade als solche hochschätze. Warum also versucht er den gegenteiligen Eindruck zu suggerieren? Sehr einfach: Weil ihm die ganze Richtung nicht paßt. Weil eine lebendige, in allen gesellschaftlichen Bereichen sich durchsetzende, die Menschen aus ihrer obrigkeitshörigen Apathie befreidende soziale Demokratie — eine Demokratie, die sich als Demokratisierung, als reales Mündigwerden der Bürger, als optimale Mitbestimmung der „Betroffenenoder ihrer Interessenvertreter in allen sie betreffenden Entscheidungsbereichen fortentwickelt — die herrschende klassengesellschaft. liehe Ordnung aufhebt, die G. S. erhalten wissen möchte.

Eine Unterstellung? Durchaus nicht. Er wendet sich (S. 18) klipp und klar gegen „ein fragwürdiges Mitbestimmungsmodell ..., welches ... ein erster Schritt ist, um den Gegensatz von Kapital und Arbeit und damit (I!) die pluralistische Struktur unserer Gesellschaft abzuschaffen." Ein demokratietheoretisch fürwahr phantastisches Verständnis von Pluralismus, welches den ökonomisch fixierten Fortbestand von Herrschenden und Beherrschten zum wünschenswerten gesellschaftlichen Strukturelement hochstilisiert! Hier wird also das theoretisch wie praktisch unabdingbare Pluralismuspostulat herabgewürdigt zur Rechtfertigung des gesellschaftlichen Status quo, und Sozialwissenschaftler wie ich, die (im Gegensatz zur verleumderischen Unterstellung G. S.'den Pluralismus gerade auch in der sozialistischenTheorie und (partei-) politischen Praxis, in offener Auseinandersetzung mit der marxistischen Orthodoxie, entschieden eintreten, werden sich ebenso entschieden von Pluralismusideologien ä la G. S. zu distanzieren haben.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Mit und vor ihm freilich die ganze konservative demokratietheoretische Tradition bis hin zu Roben Dahl: Was wieder einmal — trotz der zweifello weiterführenden Ansätze in Poppers „Kritischen Rationalismus" — die immanente konservative Tendenz positivistisch orientierter Sozialwissen schäft erweist: Hypostasierung des Status quo.

  2. Der Denkfehler der rätedemokratischen Theoretiker besteht, umgekehrt wie bei den Positivisten, in der Annahme, das Ziel-Modell der Selbstbestimmung des Volkes unmittelbar (unvermittelt), in ple-biszitären Gestaltungsformen, realisieren zu können.

  3. Vgl. die Literaturhinweise in Bd. I meiner „Strategien der Demokratisierung", Darmstadt 1973, u. insbes. die vorzüglich zusammenfassende Studie von Carole Pateman, Participation and Democratic Theory, Cambridge 1970.

  4. Dieselben Autoren, die gern vor dem „Druck der Straße" auf die demokratischen Institutionen warnen, verschweigen fast immer, daß bisher eine winzige Minderheit: die Kapitalbesitzer (1, 7 % der Erwerbstätigen), weit überwiegend den Druck ausgeübt hat, unter dem Parlament und Regierung stehen.

  5. Bereits Goethe manifestierte deren unerläßliche soziale Fortschrittsfunktion unübertrefflich lakonisch: „Wo Wahn und Bahn der Erste brach, folgt an und an der Letzte nach."

  6. Waschechte Marxisten-Leninisten haben im Gegensatz zu G. S. meine Gegenposition zur kommunistischen Orthodoxie sehr genau begriffen, wie etwa die wütenden Ausfälle Volperts gegen mich in den DKP-nahen „Blättern für deutsche und

Weitere Inhalte

Fritz Vilmar, geb. 1929, Soziologiestudium, praktische Arbeit seit 1954 in der Erwachsenenbildung, seit 1960 besonders in der Bildungsabteilung der IG Metall. Seit 1970 Forschungsaufträge zu Problemen der Industriellen Demokratie; seit 1971 Lehrauftrag an der Gesamthochschule Kascel. Veröffentlichungen u. a.: Die Welt des Arbeiters, Frankfurt 1963 (mit H. Symanowski); Rüstung und Abrüstung im Spätkapitalismus, Frankfurt 1965, 6. neu bearbeitete Auflage Reinbek 1973; Mitbestimmung am Arbeitsplatz, Neuwied 1971; Sozialistische Friedenspolitik für Europa, Reinbek 1972 (mit W. Möller); als Herausgeber und Mitautor: Menschenwürde im Betrieb, Reinbek 1973; Strategien der Demokratisierung (2 Bde.), Darmstadt 1973; Industrielle Arbeitswelt — Grundriß einer kritischen Betriebssoziologie, Nürnberg 1974.