I. Einleitung
*) Auszugsweiser Vorabdruck aus dem im Oktober 1974 bei der Deutschen Welthungerhilfe (Bonn, Adenauerallee 49) erscheinenden Taschenbuch , Der Hunger wartet nicht".
Das Taschenbuch kann bei der Deutschen Welthungerhilfe kostenlos angefordert werden.
Die vor Jahren in Gang gekommene, wenn auch an Intensität nicht immer gleich gebliebene Diskussion über das Welternährungsproblem erhält in diesem Jahr durch die Einberufung der Welternährungskonferenz einen sozusagen institutionellen Höhepunkt. Die Flut der Diskussionsbeiträge ist im Steigen begriffen. Von der Voraussage einer baldigen, apokalyptische Ausmaße annehmenden weltweiten Hungerkatastrophe reicht die Skala der Meinungen bis zu einem mehr oder minder gedämpften Optimismus.
Die Reihen der Optimisten, deren Altmeister nach wie vor Colin Clark
Sollte es zutreffen, daß der »Storch schneller ist als der Pflug“, so bestünde ein Rezept oder vielleicht ein Teilrezept darin, daß sich die Menschheit „gesundschrumpfen“ muß. Aber treffen solche und ähnliche Thesen mehr als Teilaspekte des Problems? Welche Kausalzusammenhänge bestehen und welche Maßnahmen müssen ergriffen werden, um eine Katastrophe zu vermeiden oder wenigstens zu mildem? Mit diesen und anderen Fragen ist die für die Zeit vom 5. bis 16. November 1974 nach Rom einberufene Welternährungskonierenz kon-Reinhardt Rummel:
Sozialunion — Stimulans der westeuropäischen Gemeinschaftsbildung? .. S. 31 frontiert. Im Reigen der im Jahre 1974 stattfindenden Sonderkonferenzen im Bereich der Vereinten Nationen nimmt sie einen bedeutungsvollen Platz ein. Vorausgingen ihr die Sondersitzung der UN-Generalversammlung über Rohstoff-Fragen' (New York, vom 10. April bis zum 2. Mai) und die Weltbevölkerungskonferenz (Bukarest, vom 19. bis zum 31. August). Die beiden letzterwähnten Konferenzen hatten enge Berührungspunkte mit dem Ernährungsproblem.
Die Initiative für die Welternährungskonferenz ging von den Blockfreien Staaten, von den USA und — weniger spezifisch — von der Bundesrepublik Deutschland aus.
Die Konferenz der Blockfreien Staaten, die im September 1973 in Algier stattfand, forderte „im Zusammenhang mit der ernsten Ernährungskrise, welche weite Gebiete und Bevölkerungsgruppen der Welt bedroht, die Einberufung einer gemeinsamen Konferenz der INHALT I. Einleitung U. Die Welternährungskrise im Überblick -
Labile gegenwärtige Versorgungslage . Hunger“ heute Der Trend seit 1952 Die mittelfristige Zukunft (1985)
. Futurologie'der Welternährung Die zwei Dimensionen des Welternährungsproblems
III. Nationale Aktionen Die Bemühungen der Entwicklungsländer Produktionssteigerung durch Erweiterung der Anbaufläche Produktionssteigerung durch Intensivierung der pflanzlichen und tierischen Erträge
Die soziale und wirtschaftliche Dimension — insbesondere das Beschäftigungsproblem
IV. Internationale Aktionen Strategie der Weltbank für die ländlichen Gebiete Sicherung der Welternährung durch nationale und internationale Nahrungsmittelreserven
Die Rolle der Nahrungsmittelhilfe V. Ausblick FAO und der UNCTAD
Im gleichen Monat gab auch der Außenminister der USA, Henry Kissinger, in einer Ansprache vor der Generalversammlung der UNO eine ähnliche Anregung. Er ließ darin das allgemeine Rohstoffproblem unerwähnt, beschränkte vielmehr seinen Vorschlag ausschließlich auf die Welt-Nahrungsmittelversorgung im Zusammenhang mit Naturkatastrophen.
Für eine weltweite Initiative setzte sich ferner auch der damalige Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland, Willy Brandt, im Herbst 1973 in seiner Ansprache in der Generalversammlung der Vereinten Nationen ein, indem er für einen Welternährungsplan und die Ausarbeitung einer umfassenden Strategie für die Nahrungserzeugung und Verteilung zur Vermeidung von Katastrophen plädierte.
Die Welternährungskonferenz wird — anders als die Weltemährungskongresse der FAO der Jahre 1963 (Washington) und 1970 (Den Haag) — eine Regierungskonferenz auf „ministeriellem Niveau“ sein. Ihre Hauptaufgabe besteht darin, «Mittel und Wege aufzuzeigen, wie die internationale Gemeinschaft als Ganzes konkrete Schritte unternehmen kann, um das Welternährungsproblem im größeren Zusammenhang der internationalen wirtschaftlichen Zusammenarbeit zu lösen.“
Zum Generalsekretär wurde der Ägypter S. A. Marei ernannt. Marei (Jahrgang 1913), in letzter Zeit Sonderberater des ägyptischen Präsidenten Anwar Sadat, hatte zweimal das Amt des Landwirtschaftsministers bekleidet und gilt als der Architekt von zwei erfolgreichen Bodenreformen.
Marei ist von der Überzeugung durchdrungen, daß der Hunger viel mehr Menschen direkt trifft als die Energiekrise, und er hat das in einer seinc. ersten Ansprachen nach Antritt des neuei Amts ganz klar ausgedrückt: „Die ganze Welt leidet heute unter Hunger — mit Ausnahme einer Minorität. Diese Minorität leidet unter dem Energiemangel, während die Majorität etwas viel Wichtigeres braucht, nämlich Nahrung. Die Publizität und die Sorgen richten sich auf die sogenannte Energiekrise, während nur sehr Wenige sich Gedanken über die Verzweiflung von Hunderten von Millionen Menschen machen. Ich möchte diese Minorität fragen, ob es nicht an der Zeit ist, daß Gerechtigkeit geschieht.“ Die vorläufige Tagesordnung der Konferenz gliedert sich in zwei Hauptabschnitte: 1. Bestandsaufnahme und 2. Nationale und internationale Maßnahmen. Das , Aktions*-Programm umfaßt hauptsächlich drei Gruppen von Problemen 1. Maßnahmen zur Erhöhung der Nahrungsptoduktion in den Entwicklungsländern. 2. Erhöhung der Sicherheit der Nahrungsmittelversorgung durch koordinierte Lagerhaltung, durch Notstandshilfe und durch Nahrungsmittelhilfe. 3. Internationaler Handel und internationale Agraranpassung.
Es herrscht heute wohl völlige Übereinstimmung darüber, daß dem ersterwähnten Problem, nämlich der Steigerung der Nahrungsproduktion in den Entwicklungsländern selbst, die Schlüsselrolle unter allen zu treffenden Maßnahmen auf nationaler und internationaler Ebene zukommt. Die im Zusammenhang mit den Problemkreisen 2. und 3. zu treffenden Maßnahmen haben flankierenden Charakter.
II. Die Welternährungskrise im Überblick
Labile gegenwärtige Versorgungslage Nach einer Faustregel ist eine jährliche Steigerung der Welterzeugung an Getreide (gegenwärtig etwa 1, 2 Milliarden Tonnen) um durchschnittlich 25 Millionen Tonnen erforderlich, wenn wenigstens der sich aus dem Bevölkerungszuwachs ergebende Zusatzbedarf sichergestellt werden soll. Im Jahr 1972 blieb nicht nur die erforderliche Steigerung aus, sondern die Erzeugung war — zum ersten Mal seit dem Zweiten Weltkrieg — rückläufig. Der Importbedarf vieler Länder stieg, und die bis dahin gehaltenen Lagerbestände der Hauptexportländer schmolzen erstmalig zusammen.
Produktionsrückgang durch Wettereinflüsse Wettereinflüsse waren die Hauptursache für den Produktionsrückgang. Dabei wirkten sich allerdings zusätzlich auch planmäßig vorgenommene Anbaubeschränkungen aus, die in Nordamerika zwecks Reduzierung der Überschußproduktion getroffen worden waren.
Stellt man die Betrachtung auf die Entwicklung der Gesamtproduktion ab, ohne den Bevölkerungszuwachs zu berücksichtigen, so blieb im Gesamtdurchschnitt aller Entwicklungsländer die Indexzahl zwischen 1971 und 1972 unverändert (125), und, weltweit gesehen, ging sie nur um einen Punkt zurück (von 126 auf 125). Das Bild ändert sich aber, wenn unter Berücksichtigung des Bevölkerungszuwachses auf die Entwicklung der Pro-Kopf-Produktion abgestellt wird: Im Gesamtdurchschnitt aller Entwicklungsländer ging die Erzeugung um etwa 3 % zurück, und für den Femen Osten sogar um etwa 6 °/o. In vielen einzelnen Ländern sind jedoch noch erheblich stärkere Produktionsrückgänge zu verzeichnen, unter denen die in den Ländern der Sahelzone und in Bangladesh besonders traurige Berühmtheit erlangt haben. Die negativen Faktoren, die sich im Jahre 1972 zusammenballten, nachdem bereits das Jahr 1971 in vielen Entwicklungsländern durch schlechtes Wetter gekennzeichnet war, lassen sich stichwortartig wie folgt rekapitulieren: Katastrophale sowjetrussische Getreide-Ernte (minus 7 Prozent; die Weizenproduktion verminderte sich sogar um 13 Prozent). Russische Importe von knapp 28 Mio. Tonnen Getreide, vor allem aus den USA und Kanada. Dürre in Argentinien und Australien. Unzureichender Monsunregen in Indien. Trockenheit und Typhone in den Philippinen. Zusammenbruch der Anchoveta-Fischerei in Peru durch Schwankungen in der hydrographischen Situation mit der Folge eines sehr starken Rückgangs der Fischmehlproduktion. Anhalten der Dürre in den Sahelländern. Starker Rückgang der Reisernte in Südostasien aus Wettergründen. Auftreten Chinas als Groß-käufer auf den Weltmärkten.
Unzureichende Weltreserven Die Weltreserven an Getreide, die 1971/72 noch bei 49 Mio. Tonnen lagen, haben ihren tieisten Stand seit 20 Jahren erreicht, während sich die Weltbevölkerung in diesem Zeitraum um etwa 50 °/o vermehrt hat. Die Vorräte lagen Mitte 1973 nur noch bei einem Niveau, welches einem Weltverbrauch von knapp sieben Wochen entspricht.
Es kann noch nichts Verläßliches über die Versorgungslage in der nahen Zukunft gesagt werden. Die Ernte-Ergebnisse im Jahre 1973 waren in fast allen Weltgebieten gut, zum Teil sehr gut. Die Lage hat sich also gegenüber 1972 zum mindesten nicht weiter verschlechtert, und die ohnehin geringen Reserven mußten nicht noch stärker in Anspruch genommen werden. Angesichts der Ungewißheit über die im Jahr 1974 zu erwartenden Ernten ist es nicht einmal möglich, über die Entwicklung in den nächsten ein bis zwei Jahren eine Voraussage zu machen. Die Energiekrise and die knappe Versorgung mit Düngemitteln haben die Lage noch weiter verschärft.
Die weltweiten inflationistischen Tendenzen sind nicht ohne Auswirkungen auf die Welt-ernährungslage geblieben und haben — ebenso wie spekulative Einflüsse — vor allem Auswirkungen auf die Preisentwicklung gehabt. Die Hauptursache für die ungewöhnlich starken Preiserhöhungen liegt freilich in der Verknappung der Grundnahrungsmittel. Der Weizenpreis (für die Sorte „U. S. no. 2", f. o. b.) ist von US$60 je Tonne im Juni 1972 auf US$106 im Juni 1973 und US$220 im Februar 1974 gestiegen. Für Mais lauten die entsprechenden Preise 53, 113 und 266 US$. Im Februar 1974 setzte dann ein Preisverfall ein, dessen Ende noch nicht abzusehen ist.
Insgesamt kann zur Zeit — weltweit gesehen — wohl kaum Besseres erwartet werden, als daß die diesjährige Ernte ausreicht, um wenigstens einen noch weiteren Abbau der vorhandenen Reserven zu vermeiden. Die Getreideversorgungslage ist mit andern Worten nach wie vor höchst labil, und die Sicherstellung der Ernährung zahlreicher Länder hängt mehr denn je zuvor vom Ernte-Ergebnis eines einzelnen Jahres ab. „Hunger" heute Selbst heute ist es schwierig, verläßliche Aussagen über die in vielen Entwicklungsländern bestehende Ernährungslage zu machen, da es an ausreichenden Statistiken fehlt. Immerhin läßt sich die Größenordnung des Phänomens Hunger einigermaßen umreißen. Eine Hungersnot ist die extremste Auswirkung des Mangels an Nahrungsmitteln. Weniger spektakulär — aber nicht frei von menschlichem Leiden — ist das jahrelange Dahinsiechen von Millionen von Menschen, knapp an der Hungergrenze. Nach einer gelegentlich vom Generaldirektor der FAO, A. H. Boerma, benutzten Definition kann das „Fehlen einer zur Führung eines gesunden und aktiven Lebens ausreichenden Menge von Kalorien als grober Maßstab für das Vorhandensein von Hunger"
Mindestens 400 Millionen hungern Nach den — freilich 10 Jahre zurückliegenden — als konservativ anzusehenden Schätzungen der FAO sind in diesem Sinne etwa 10— 15 Prozent der Weltbevölkerung unterernährt. Aber dieser Prozentsatz erhöht sich erheblich, wenn man über die Kalorienseite hinaus auch den Aspekt der Mangelernährung miteinbezieht, d. h. die unzureichende Aufnahme von hochwertigen Proteinen, Vitaminen und Mineralstoffen. Nach Boermas Auffassung kennzeichnet der erwähnte Prozentsatz auch heute noch die Größenordnung des Problems, und es ist anzunehmen, daß in absoluten Zahlen heute mindestens 400 Millionen Menschen unterernährt sind. Zu diesen kommen weitere Hunderte von Millionen, die an Mangelernährung leiden (Die zentral geplanten Wirtschaften Asiens sind in diesen Zahlen nicht berücksichtigt.) Die Zahl von 400 Millionen Menschen, die unterernährt sind, kann nach oben oder unten korrekturbedürftig sein, aber es ist kein Zweifel möglich, daß mindestens 10 Prozent der Weltbevölkerung unterernährt sind. Die Mehrzahl der Unterernährten lebt in den Entwicklungsländern und zwar vor allem in Ostasien und in Afrika.
Nach neuesten Schätzungen leiden mindestens 10 Millionen Kinder bis zu fünf Jahren unter ernster Unterernährung, 200 Millionen an Unterernährung milderer, aber nicht zu bagatellisierender Form. Insgesamt sind etwa 50 Prozent aller Kinder in den Entwicklungsländern unter-oder mangelernährt. In einigen südamerikanischen Ländern ist mehr als die Hälfte aller Todesfälle von Kindern unter fünf Jahren direkt oder indirekt auf unzureichende Ernährung zurückzuführen, übrigens: die Verbesserung des Ernährungsstandards dieser Altersgruppen wäre gleichbedeutend mit der Senkung der Sterblichkeitsrate und daher — ceteris paribus — mit Beschleunigung des Bevöikerungswachstums.
Das sogenannte Proteinproblem Im Rahmen der Erörterung des Hungerproblems ist es seit etwa zwei Jahren um das so-genannte Proteinproblem etwas stiller geworden. Es hat sich wenigstens in Fachkreisen endlich herumgesprochen, daß das Protein-problem im Grunde nur einer der vielen Aspekte des Ernährungsproblems ist und daß es zum Beispiel wenig Sinn hat, einem Hungernden, der mangels ausreichender Kalorien-zufuhr nicht die erforderliche Energie aufnimmt, kostspielige Proteinnahrungsmittel zu geben. Solange die Energiezufuhr unzureichend ist, haben die aufgenommenen Proteine nahrungsmäßig kaum eine andere Funktion als billigere Kohlehydrate
Schon Ende der sechziger Jahre vertrat der damalige Direktor der Statistischen Abteilung der FAO, der Inder P. K. Sukhatme, die Auffassung, daß die sogenannte Eiweißlücke die indirekte Folge einer zu niedrigen Aufnahme von Kalorien, also der Unterernährung, sein kann. Solange die Diät in ihrem Kaloriengehalt unzüreichend ist, werden vom menschlichen Körper selbst größere, an sich ausreichende Mengen von Protein nicht ihrer eigentlichen Funktion entsprechend ausgenützt, sondern wie Kalorien als Energie „verbrannt". Sukhatme wörtlich: „Wenn der Mangel an Kalorien dadurch behoben werden kann, daß die breiten Massen ausreichende Mengen der von ihnen bereits laufend verbrauchten Lebensmittel erhalten, so ist die Eiweißlücke damit geschlossen."
Sogar die von der WHO (Weltgesundheitsorganisation), FAO und UNICEF 1955 gebildet Protein-Advisory-Group (Protein Beratungsgruppe — PAG) in New York, hat die Veränderung der Lage gespürt. Freilich haben die hinter dem ziemlich aufwendigen Apparat stehenden Stellen, der seit Jahren in endloser Wiederholung den Slogan von der „ProteinLücke" mit leichten Nuancen abwandelte und zu untermauern versuchte, daraus nicht die Konsequenzen zur Einschränkung der Tätigkeit des PAG gezogen, sondern die Flucht nach vorn angetreten und den Zuständigkeits-bereich erheblich erweitert. Die Gruppe ist inzwischen in »The Protein-Calory-Nutrition-Advisory-Group“
umbenannt worden und widmet sich nun nicht mehr nur den technischen Aspekten des Proteinproblems, sondern ganz allgemein sämtlichen Ernährungsproblemen, und zwar auch auf wirtschaftlichem, sozialem und kulturellen Gebiet. Damit sind nicht nur die Kalorienprobleme einbezogen worden, sondern — um einige Beispiele herauszugreifen — sogar Probleme der Landnutzung und der Verwendung von Exporterlösen
Der Trend seit 1952
Der Versuch einer Voraussage über die mittelfristige oder gar langfristige Zukunft setzt Kenntnis der bisherigen Trends voraus. Trotz erheblicher statistischer Schwierigkeiten — vor allem in den Entwicklungsländern — hat die FAO versucht, die Wachstumsraten der Nahrungsmittelproduktion und der Bevölkerung dür die beiden Dekaden 1952— 62 und 1962— 72 zu ermitteln. Selbst wenn man die statistischen Unzulänglichkeiten in Betracht zieht, so dürften die ermittelten Werte doch wenigstens eine gewisse Vorstellung über den Trend ermöglichen.
Weltweit gesehen: der Pflug ist etwas schneller als der Storch
Weltweit gesehen lag in diesen beiden Dekaden die Wachstumsrate der Nahrungsproduktion leicht über der der Bevölkerungsentwicklung. Die schon in den fünfziger Jahren knappe Spanne hat sich allerdings in den sechziger Jahren noch weiter verringert. In den sechziger Jahren stieg die Nahrungsproduktion jährlich um 2, 7 Prozent, während sich die Weltbevölkerung um 2 Prozent vermehrte.
Stellt man auf den Kopf der Bevölkerung ab, so lag — immer weltweit gesehen — die Steigerungsrate der Nahrungsproduktion bei nur 0, 7 Prozent jährlich.
Aber diese auf die gesamte Welt bezogenen Angaben dürfen nicht über die wesentlich kritischere Lage der Entwicklungsländer hinwegtäuschen. In diesen stieg die Bevölkerung jährlich um durchschnittlich 2, 5 Prozent, ihre Nahrungserzeugung um 2, 7 Prozent. Es ist richtig, daß damit — statistisch und im Durchschnitt aller Entwicklungsländer — der Pflug und der Storch etwa gleich schnell waren, ja daß der Pflug den Storch sogar immer noch etwas überflügelte, nämlich um 0, 2 Prozent. Aber in diesem Zusammenhang von einer »ungeheuren Leistung“ („tremendous achievement") zu sprechen, wie es in einigen FAO-Dokumenten geschieht, mutet allerdings etwas seltsam an.
Ziele des FAO-Weltleitplans für landwirtschaftliche Entwicklung nur teilweise erreicht
Das UN-Strategiedokument für die (zur Zeit laufende) Zweite Entwicklungsdekade hatte eine jährliche Steigerung der Agrarproduktion um 4 Prozent als »Ziel“ gesetzt. Dieser Prozentsatz beruhte auf Empfehlungen des 1969 veröffentlichten FAO-Weltleitplans für die landwirtschaftliche Entwicklung’). Die gesetzten Ziele sind bisher in keiner Region erreicht worden. Stellt man die Betrachtung auf Einzelländer ab, so ist das Ergebnis nicht ganz so enttäuschend: In 21 von den 62 in die Untersuchung einbezogenen Entwicklungsländern ensprach die tatsächlich erreichte Zuwachsrate der Agrarproduktion den im Weltleitplan empfohlenen Zielen. Es überrascht angesichts dieser Ergebnisse nicht, wenn man im FAO-Sekretariat die bisherigen Ergebnisse der Agrarpolitik der Entwicklungsländer unter dem Blickpunkt sowohl der von den Ländern selbst gesetzten als auch der von der FAO im Weltleitplan empfohlenen Produk-tionsziele als „sehr enttäuschend'empfindet. Bei allen Betrachtungen über den Trend der beiden letzten Dekaden sollte der Irrtum vermieden werden, die Entwicklung der Nachfrage nach Nahrungsmitteln in ein starres Verhältnis zur Entwicklung der Bevölkerungszahl zu setzen. Auch bei konstanter Bevölkerungszahl hätten sich Nachfragesteigerungen ergeben, vor allem im Zusammenhang mit der Steigerung der Einkommen weiter Bevölkerungskreise, sowie auch durch eine Veränderung der Eßgewohnheiten aus geschmacklichen oder gesundheitlichen Gründen.
Die mittelfristige Zukunft (1985)
Voraussichtliche Nachirageentwicklung Die Projektionen bezüglich der Entwicklung der kaufkräftigen Nachfrage beruhen vor allem auf Annahmen hinsichtlich der Bevölkerungs-und Einkommensentwicklung zwischen 1970 und 1985. Des spekulativen Charakters solcher Annahmen ist man sich natürlich auch im FAO-Sekretariat bewußt. Bezüglich der Bevölkerungszuwachsrate — der Hauptkomponente zusätzlicher Nachfrage nach Mit der voraussichtlichen Entwicklung der Welternährungslage in der mittelfristigen Zukunft, d. h.dem bis zur Mitte der achtziger Jahre reichenden Zeitraum, befassen sich Studien der FAO, die der Welternährungskonferenz in endgültiger und insbesondere hinsichtlich der einzelnen Regionen verfeinerter Fassung vorliegen werden. Projektionen sind vor allem hinsichtlich der zu erwartenden Nachfrage für Nahrungsmittel einerseits und der Entwicklung der Produktion andererseits ausgearbeitet worden. Der Vergleich der bei den Projektionen der Nachfrageentwicklung und der Produktionsentwicklung ermittelten Werte macht es trotz aller Problematik solcher Versuche möglich, wenigstens in groben Konturen eine gewisse Vorstellung über die in Betracht kommenden Größenordnungen zu gewinnen, die in ein-bis eineinhalb Jahrzehnten die Gesamtversorgungslage kennzeichnen könnten.
Nahrungsmitteln — basieren die Projektionen auf den „mittleren'Annahmen der UNO, wonach mit einer durchschnittlichen jährlichen Bevölkerungszuwachsrate von 0, 9 Prozent in den entwickelten und von 2, 7 Prozent in den Entwicklungsländern zu rechnen ist. Die Durchschnittswerte verdecken natürlich wesentliche regionale Unterschiede.
Unvermeidlicherweise noch spekulativer sind die den Projektionen zugrundeliegenden Annahmen hinsichtlich der Einkommensentwicklung. Danach wird in den entwickelten Ländern mit einer Steigerungsrate des Einkommens um 4, 5 Prozent gerechnet gegenüber 6, 3 Prozent in den Entwicklungsländern. Die Berechnungen werden dadurch erschwert, daß neben der Schätzung der Entwicklung des Volkseinkommens auch eine Schätzung bezüglich der zu erwartenden Einkommensverteilung erforderlich ist. Eine Umverteilung zugunsten der ärmeren Schichten muß zu eier verstärkten Nachfrage nach Lebensmitteln führen.
Bezieht man den Bevölkerungszuwachs in die Berechnungen ein und stellt daher auf den Pro-Kopf-Einkommenszuwachs ab, so gleichen sich die Zuwachsraten stark an: 3, 6 Prozent in den entwickelten Ländern, 3, 5 Prozent in den Entwicklungsländern. Im Ostblock liegt der entsprechende Wert erheblich höher, nämlich bei 5, 2 Prozent.
Das Ergebnis der auf der Basis solcher Schätzungen vorgenommenen Berechnungen ist folgendes: Die kaufkräftige Nachfrage nach Lebensmitteln wird zwischen 1970 und 1985 weltweit gesehen jährlich um 2, 5 Prozent steigen; und zwar in den entwickelten Ländern um 1, 6 und in den Entwicklungsländern um 3, 7 Prozent. Auf die Welt bezogen würde die Nachfrage nach Nahrungsmitteln im Jahre 1985 um 45 Prozent über der im Jahre 1970 liegen. In den entwickelten Ländern würde die Nachfragesteigerung nur 27 Prozent ausmachen, in den Entwicklungsländern 72 Prozent.
Versucht man, die für 1985 gegenüber 1970 zu erwartende Nachfragesteigerung in absoluten Zahlen auszudrücken, so ergeben sich nach den Berechnungen der FAO bemerkenswerte Größenordnungen hinsichtlich der zusätzlich benötigten Mengen von Nahrungsmitteln (alle Werte in Mio. Tonnen): Getreide (für die direkte menschliche Ernährung und für Futter-zwecke) 470; Zucker 40; Gemüse 110; Obst 90; Fleisch 60; Milch 140.
Entwicklung der Produktion Noch schwieriger und spekulativer ist der von der FAO ebenfalls unternommene Versuch, Projektionen bezüglich der Produktionsentwicklung bis zum Jahre 1975 zu erarbeiten. Angesichts der vielfältigen Alternativen wurde dabei von der (natürlich fiktiven) Grundannahme ausgegangen, daß die Agrartechnologie und ihre Anwendung etwa im gleichen Tempo wie bisher fortschreiten und daß die beteiligten Länder keine umwälzenden agrarpolitischen Maßnahmen treffen werden. Mit anderen Worten: man unterstellt bei den Projektionen betreffend die Entwicklung der Produktion, daß der Trend der Jahre 1961— 1973 in etwa anhalten wird.
Es ist beachtenswert — wenn auch nicht überraschend—, daß die für die entwickelten marktwirtschaftlichen Länder errechnete Produktionssteigerungsrate (2, 4 Prozent) niedriger ist als die der Entwicklungsländer (2, 6 Prozent). Aber die Produktionssteigerungsrate der entwickelten Länder liegt erheblich über ihrer Bevölkerungszuwachsrate (2, 6 gegen 0, 9 Prozent), während die Bevölkerungszuwachs-rate der Entwicklungsländer (ohne die zentral geplanten asiatischen Länder) leicht die Produktionssteigerungsrate übertrifft (2, 7 gegenüber 2, 6 Prozent). Der fiktive Charakter der hohen Produktionssteigerungsraten für die entwickelten Länder ist den Autoren der FAO-Projektionen natürlich bekannt. Tatsächliche Produktionssteigerungen eines entsprechenden Ausmaßes würden voraussetzen, daß die entwickelten Länder die über den Eigenbedarf hinaus erzeugten Nahrungsmittel kommerziell exportieren oder als Nahrungsmittelhilfe bereitstellen können.
Basierend auf diesen extrapolierten Wachstumsraten der Nahrungsproduktion könnte angenommen werden, daß die Weltnahrungsproduktion von Anfang der siebziger Jahre bis zum Jahre 1985 insgesamt um etwa 50 Prozent steigen wird, während — wie oben erwähnt — die kaufkräftige Nachfrage sich um 45 Prozent erhöhen dürfte. Auf die ganze Welt bezogen könnte man also mit einer in etwa ausgeglichenen Versorgungslage rechnen, ein Bild, das sich freilich wesentlich ändert, wenn man zwischen den entwickelten Ländern einerseits und den (nicht-kommunistischen) Entwicklungsländern andererseits unterscheidet. Überschüsse und Fehlbedari In den entwickelten Ländern dürfte einer Nachfragesteigerung um 27 Prozent eine Produktionssteigerung um 51 Prozent gegenüberstehen, d. h. es ist — immer unter den gemachten Annahmen — mit erheblichen Produktionsüberschüssen zu rechnen. In den Entwicklungsländern ist eine Nachfragesteigerung um 72 Prozent zu erwarten, während die Produktionssteigerung bei nur 46 Prozent liegen dürfte. Ein beträchtliches Defizit würde die Lage kennzeichnen. Das schon heute bestehende Ungleichgewicht in der Weltversorgungslage mit Nahrungsmiteln wird sich somit aller Voraussicht nach bis zum Jahre 1985 erheblich verschärfen.
Das Beispiel Getreide Die in Betracht kommenden Größenordnungen können am eindruckvollsten am Beispiel Getreide illustriert werden. Während im Jahresdurchschnitt 1969— 72 die (nicht-kommunistischen) Entwicklungsländer ein jährliches Getreidedefizit von etwa 13 Mio. Tonnen aufweisen, könnte sich dieses Defizit bis zum Jahre 1985 auf 70— 100 Mio. Tonnen vergrößern. Die entwickelten Länder könnten bei einem Anhalten des gegenwärtigen Produktionstrends mit einem Uberschuß von etwa 34 Mio. Tonnen rechnen, und theoretisch würde dieser zur teilweisen Deckung des Defizits in den Entwicklungsländern herangezogen werden können. Sehr wahrscheinlich könnten die Industrieländer ihre Getreideproduktion rein technisch gesehen sogar weiter so stark steigern, daß sie darüber hinaus in der Lage wären, das erwähnte Defizit voll zu decken. Legt man einen Getreidedurchschnittspreis von 200 $je Tonne zugrunde, so müßten allerdings die Entwicklungsländer allein für die kommerzielle Einfuhr von Getreide Devisen im Betrage von 14— 20 Mrd. $jährlich aufwenden. Geht man von den Getreidepreisen 1962— 72 aus, so würde der Import der Fehlmenge etwa 6 bis 8 Mrd. 8 kosten.
Gewaltiges Defizit
Auch für andere Grundnahrungsmittel ist mit Defiziten in erheblicher Höhe zu rechnen. Insgesamt könnte das Totaldefizit der Entwicklungsländer an Nahrungsmitteln ein Ausmaß erreichen, welches schon aus Zahlungsbilanz-gründen nicht durch kommerzielle Importe voll gedeckt werden kann. Wollte man das Defizit durch die Leistung von Nahrungsmittelhilfe gewaltigen Umfangs zu decken versuchen, so würden die dafür benötigten finanziellen Mittel Summen erreichen, die dem Betrag der im Jahre 1972 von den OECD-Ländem etwa geleisteten gesamten öffentlichen Entwicklungshilfe gleichkommen oder ihn übersteigen — ein utopischer Gedanke.
Steigende Zahl der Hungernden
Ein weiterer dunkler Aspekt kann nicht unerwähnt bleiben. Auf Grund der bereits erwähnten, zur Zeit verfügbaren bestmöglichen Schätzungen der FAO ist davon auszugehen, daß heute etwa 400 Mio. Menschen an Hunger leiden. Wollte man diesen Hungernden täglich pro Kopf zusätzlich auch nur etwa 250 Kalorien zukommen lassen, so würde man dafür zusätzlich jährlich 10 Mio. Tonnen an Getreide benötigen.
Wenn — wie zu erwarten — der prozentuale Anteil der Hungernden an der Weltbevölkerung in den nächsten 10 Jahren unverändert bleibt, so würden aus den heute hungernden 400 Mio. bis zum Jahre 1985 mindestens 750 Mio. werden. Wollte man ihnen pro Kopf die erwähnten zusätzlichen 250 Kalorien zuführen, so würde schon das allein einem Mehrbedarf in Höhe von weiteren 20 Mio. Tonnen Getreide jährlich entsprechen, die in den nur die Entwicklung der kaufkräftigen Nachfrage einbeziehenden Projektionen nicht berücksichtigt sind. Ein anderes offenes Problem besteht darin, sicherzustellen, daß diese zusätzlichen Kalorien gerade den Hungernden (und nicht anderen Bevölkerungsgruppen) zugutekommen — wobei unterstellt ist, daß man die entsprechenden Mengen an Nahrungsmitteln verfügbar machen könnte.
Wettereinflüsse Die erwähnten FAO-Projektionen hinsichtlich der zu erwartenden Trends basieren auf der Annahme, daß von der Wetterseite keine allzu großen Abnormitäten zu verzeichnen sind. Produktionsschwankungen durch Wettereinflüsse könnten alle Versuche zu einer Voraussage über den Haufen werfen. Im Jahre 1972 löste ein — vor allem wetterbedingter — Rückgang der Welt-Getreideernte um etwa 33 Mio. Tonnen eine Versorgungskrise aus, deren Auswirkungen noch heute zu spüren sind. In den achtziger Jahren wird das normale Produktionsvolumen erheblich über dem von heute liegen, und daraus würde sich auch ein durch Wetter beeinflußbares erhöhtes Schwankungspotential ergeben. Es wäre dann nicht auszuschließen, daß Wettereinflüsse, weltweit gesehen, in einem einzigen Erntejahr Ausfälle in einer Größenordnung von 50 und mehr Millionen Tonnen zur Folge haben.
Nach Auffassung der Meteorologischen Welt-organisation (WMO) ist kein Trend erkennbar, der mittelfristig wesentliche, weltweite Wetterveränderungen erwarten läßt. Nur für Teile der nördlichen Hemisphäre ist ein Trend zur Abkühlung bemerkbar. „Gewisse“ Gebiete werden allerdings mehr als bisher mit unvorhersehbaren Wettereinflüssen durch Trockenheit, Fluten und extremen Temperatu11 ren zu rechnen haben. Es fällt dem Laien schwer, diese Thesen ganz auf einen Nenner zu bringen, zumal auch der Nicht-Meteorologe sich vorstellen könnte, daß der angekündigte Trend zur Abkühlung gewisser Gebiete in der nördlichen Hemisphäre nicht ohne Einfluß auf die Wetterentwicklung — und zwar die langfristige — in der südlichen Hemisphäre bleiben kann ...
Ein Faktum steht heute schon fest, daß nämlich mehr Länder als zuvor nicht länger bereit sind, wettermäßig verursachte Ernteschwankungen durch Engerschnallen der Gürtel aufzufangen. Wer die erforderlichen Mittel besitzt, wird dazu tendieren, nationale Erntedefizite durch Rückgriff auf den internationalen Markt auszugleichen oder wenigstens zu mildern. Angesichts des im Verhältnis zur Weltproduktion relativ geringen Volumens des Welt-Getreidehandels können so verursachte plötzlich auftauchende Importbedürfnisse überproportionale Konsequenzen für den Weltmarkt und das Preisgefüge haben. Die Auswirkungen der russischen und chinesischen Getreideimporte im Jahre 1972 sind dafür Beispiele.
Warnung vor falschen Schlußfolgerungen Im Vorstehenden ist nicht über Fakten berichtet worden, sondern über Projektionen und über die ihnen zugrundeliegenden Annahmen. Der spekulative Charakter aller einschlägigen Untersuchungen wurde klar herausgestellt. Vor allem aber wurde bei den Extrapolationen ausdrücklich betont, daß die Projektionen auf das Jahr 1985 von der Annahme ausgehen, daß der Trend der Jahre 1961— 1973 anhalten wird und daß die beteiligten Länder keine umwälzenden agrarpolitischen Entscheidungen treffen werden. Infolgedessen wurde — um ein Beispiel herauszugreifen — nicht . vorausgesagt“, daß im Jahre 1985 tatsächlich die Entwicklungsländer ein Getreidedefizit in Höhe von 70— 100 Mio. Tonnen aufweisen werden. Ein solches Defizit wurde vielmehr im Falle des Nicht-Handelns aller Beteiligten als denkbar erwähnt, um klar zu stellen, daß eine Vielfalt von Maßnahmen erforderlich ist, um Defizite der erwähfiten Größenordnung zu vermeiden. Daran, daß die Versorgungslage vieler Entwicklungsländer mit Nahrungsmitteln in zunehmendem Maße defizitär werden wird, kann leider kein ernster Zweifel bestehen. Das „Sandkastenspiel“ der Projektionen trägt wesentlich zur Aufhellung der Lage bei, selbst wenn die ermittelten Werte „nur“ den Trend und potentielle Größenordnungen erkennen lassen sollten. Die Entwicklungs-und Agrarpolitiker müssen diese möglichen Größenordnungen in ihrer Planung für die nächsten zehn Jahre in Rechnung stellen. „Futurologie" der Welternährung Sind schon Projektionen bis zur Mitte der nächsten Dekade unvermeidlicherweise stark spekulativ, so gilt das erst recht für jeden Versuch eines Vorstoßes bis zur Jahrhundertwende oder gar darüber hinaus. Eine breite Skala von Meinungen wird vertreten. Sie geben den zahlreichen zu berücksichtigenden Aspekten wie z. B. Bodenknappheit, Agrartechnologie, Bevölkerungswachstum, Einkommenentwicklung und Umwelt verschiedenes Gewicht und kommen daher zum Teil zu diametral entgegengesetzten Schlüssen. Von der Voraussage einer apokalyptischen weltweiten Hungerkatastrophe bis zu einem mehr oder minder gedämpften Optimismus gibt es alle Schattierungen von Zukunftserwartungen. Hier seien nur einige besonders bemerkenswerte Stimmen herausgegriffen.
Zurückhaltung der FAO Das FAO-Sekretariat übt große Zurückhaltung, soweit es sich um Projektionen handelt, die über die achtziger Jahre hinausreichen, zumal es an ausreichend verläßlichen Grundlagen für die Schätzung über die Bevölkerungs-und die Nachfrageentwicklung fehlt. Die UN-Projektionen über die Bevölkerungsentwicklung zwischen den Jahren 1970 und 2000 gehen von „niedrigen", „mittleren" und „hohen“ Annahmen aus. Im ersten Fall ist in den Entwicklungsländern mit einem Bevölkerungszuwachs von 85 °/o zu rechnen, in den beiden anderen Fällen von 99 bzw. 112 Prozent. Was die Nachfrageprojektionen angeht, so können sie weder Geschmacksveränderungen noch die Entwicklung des Volkseinkommens geschweige denn die besonders wichtigen Veränderungen in der Einkommensverteilung gebührend berücksichtigen.
Eine bloße Extrapolation der bisherigen Einkommentrends (die, wie gesagt, alle anderen Faktoren außer acht läßt), wie sie für die Zeit bis 1985 zugrunde gelegt wurde, ließe für die Zeit von 1970 bis 2000 weltweit eine Steigerung der Nachfrage für Nahrungsmittel um 93 Prozent erwarten. Dabei wird von der „niedrigsten“ Annahme der UN bezüglich der Bevölkerungsentwicklung ausgegangen. Legt man die „mittlere“ bzw. „hohe" Annahme zugrunde, so ist weltweit eine Nachfragesteigerung von 104 bzw. 117 Prozent zu erwarten. Für die Entwicklungsländer lauten die entsprechenden Sätze 160, 175 und 192 Prozent.
Sorgen des Club of Rome Der vom Club of Rome in Auftrag gegebene Bericht über die „Grenzen des Wachstums'
Auch wenn man den Bericht über „Die Grenzen des Wachstums“ als einen die Wachstums-Illusionisten zum Nachdenken zwingenden Markstein in der einschlägigen Literatur ansieht, so sind doch die Schwächen einzelner Thesen nicht zu übersehen. Die hier zitierten Stellen des Berichts sehen die Grenzen für die Steigerung der Nahrungsmittelproduktion ausschließlich in der beschränkten Verfügbarkeit kultivierbaren Landes. Sicherlich handelt es sich dabei um einen ersten Faktor für die Bestimmung der Grenzen des Wachstums der Nahrungsproduktion. Es kann ferner kein Zweifel darüber bestehen, daß es auch Grenzen für die Erhöhung der Hektarerträge gibt. Aber niemand hat bisher verläßlich die Frage beantwortet, wo diese Grenzen liegen, und es erscheint ziemlich willkürlich, sie beim Vier-oder Sechsfachen des heutigen Standes als erreicht zu betrachten. Völlig ignoriert werden im erwähnten Bericht die Möglichkeiten zur Steigerung der Produktion unkonventioneller Nahrungsmittel. Vor allem aber gehen „Die Grenzen des Wachstums" überhaupt nicht auf das Potential des Meeres zur Steigerung der Nahrungserzeugung ein 7a).
Utopische Voraussagen In einer Studie, die der Weltbevölkerungskonferenz im Jahre 1965 vorlag, schätzt K. M. Malin
Wäre das Problem der Welternährung vorwiegend eine Frage der technischen Möglichkeiten zur Steigerung der Nahrungsmittelproduktion, so würde es etwas von seinem tödlichen Ernst verlieren. Es bestehen sicherlich — abgesehen von dem Potential des Meeres und der Möglichkeiten zur Erzeugung unkonventioneller Nahrungsmitei — rein technisch gesehen noch beträchtliche Steigerungsmöglichkeiten, auch auf der Landoberfläche der Welt.
Der frühere Chefplaner der FAO, der Australier Walter Pawley, hat in einem Vortrag in Stavanger im Jahre 1971
Mit einer Verdoppelung wird für das Jahr 2005 gerechnet.) Pawley ist oft mißverständlich von denjenigen zitiert worden, die fast krampfhaft nach jedem Argument zur Bagatellisierung des Welternährungsproblems greifen. Aber er hat ausdrücklich zwei grundlegende Voraussetzungen für die Verwirklichung seiner These genannt, nämlich folgende technologischen Durchbrüche:
— Entwicklung einer Agrartechnik für die ständige Bodenbearbeitung in den Tropen nach Entfernung des Baumbestandes;
— Die Entsalzung des Meereswassers bei einem Kostenaufwand, der Bewässerungsvorhaben wirtschaftlich zuläßt. Dabei müßte auch billige Energie verfügbar sein, um das Wasser hunderte von Meilen weit zu pumpen und es auch in beträchtliche Höhen zu leiten.
Produktion nicht einziger Engpaß Pawley scheint zwar auch heute noch — trotz der sich einstellenden, von ihm wohl unterschätzten Umwelt-und Kostenprobleme — davon überzeugt zu sein, daß die von ihm genannten beiden Voraussetzungen in absehbarer Zukunft geschaffen werden könnten. Gleichzeitig stellt er aber klar, daß das Problem einen eher akademischen Charakter besitzt, da der eigentliche Gefahrenpunkt für die Lösung des Welternährungs-und Bevölkerungsproblems vor allem in der Aufgabe besteht, für die stetig steigende Weltbevölkerung Beschältigung und damit Kaufkraft zu schaffen: „Man verfehlt den entscheidenden Punkt, wenn man das Bevölkerungsproblem in erster Linie zu der Fähigkeit,'Nahrung zu produzieren,in Beziehung setzt. Ein solches Vorgehen ist sogar gefährlich, da es denjenigen eine willkommene Ablenkung bietet, die, wie Colin Clark, das ganze Problem (gemeint ist das des Bevölkerungswachstums) negieren möchten, und es nicht schwer finden zu beweisen, daß theoretisch der Nahrungsmittelproduktionskapazität keine Grenzen gesetzt sind."
Schon die Notwendigkeit, die Pro-Kopf-Einkommen zu steigern, und die wachsende Schwierigkeit, Arbeitslosigkeit und Unterbe-schäftigung zu beseitigen, sind nach Auffassung von Pawley zwingende Gründe, so schnell wie möglich alles zu unternehmen, um das Bevölkerungswachstum zu verlangsamen.
Damit wirft Pawley entscheidende Gesichtspunkte in die Debatte. Hätte er solche Erkenntnisse bereits zur Geltung gebracht, als er Mitte der sechziger Jahre mit der Leitung der Arbeiten am Weltleitplan für landwirtschaftliche Entwicklung in der FAO betraut wurde, so wäre die 1969 vorgelegte „provisorische' Fassung des Weltleitplans wesentlich anders ausgefallen (eine Endfassung ist nie vorgelegt worden). Das Beschäftigungs-und Kaufkraftproblem stellt in der Tat den ernstesten Engpaß bezüglich der Lösung des Welt-ernährungsproblems dar, und das haben vor Pawley schon andere Autoren — damals noch Rufer in der Wüste dargelegt
Die zwei Dimensionen des Welternährungsproblems Die Ablehnung von Thesen wie z. B.denen von Clark ist nicht gleichbedeutend mit völliger Ablehnung des Schlagworts vom Storch, der schneller ist als der Pflug. Dieses Kli-schee ist an sich nicht falsch, aber es verschleiert den Fragenkomplex durch Ubervereinfachung. Die Hauptschwäche der Storch-Pflug Parabel liegt darin, daß das Problem der für die Sicherung der Welternährung erforderlichen Steigerung der Nahrungsmittelproduktion einseitig nur auf die agrartechnische Dimension (den „Pflug") bezogen wird. Heute sollte es sich eigentlich herumgesprochen haben, daß das Problem des Hungers (Unter-oder Mangelernährung) nicht nur eine Frage des technischen Produktionspotentials und seiner Erweiterungsfähigkeit ist, sondern außerdem noch eine völlig andere Dimension hat, nämlich die wirtschaftlich-soziale.
Freilich spricht vieles dafür, daß die Lösung der Probleme in dieser Dimension noch weitaus schwieriger ist als die der technischen Seite. Das Hungerproblem kann dauerhaft nur durch die Schaffung von zusätzlichen Arbeitsplätzen und die damit bewirkte Bildung von Kaufkraft überwunden werden. Erhöhte Kaufkraft führt in armen Ländern fast automatisch zu verstärkter Nachfrage nach Lebensmitteln. Nur soweit der physiologische Hunger von Kaufkraft begleitet wird, stellt er einen Anreiz für zusätzliche Produktion dar. Kein Produzent kann seine Erzeugnisse verschenken. Der Mangel an Nahrungsmitteln und die Unterernährung sind also nicht immer die Folge eines unzureichenden Produktionspotentials. Die eigentliche Kausalkette ist: Arbeitslosigkeit — Armut — fehlende kaufkräftige Nachfrage — geringe Produktion von Nahrungsmitteln — Unterernährung. Die Arbeitslosen und die Unterbeschäftigten werden sich erst dann die notwendige Nahrung kaufen können, wenn sie eine Beschäftigung finden. Sonst bleiben sie auf Daueralmosen angewiesen. Hier liegt der untrennbare Zusammenhang zwischen dem Beschäftigungs-und dem Ernährungsproblem.
III. Nationale Aktionen
Die Bemühungen der Entwicklungsländer Wenn es zutrifft, daß weltweit gesehen 10 bis 15 Prozent aller Menschen hungern, und wenn dieser Prozentsatz in den Entwicklungsländern bei 20 und mehr liegt, so ist schon das ein Zustand, der nicht als Dauerzustand hingenommen werden kann und den die Entwicklungsländer nicht länger bereit sind, als unvermeidliches Schicksal zu akzeptieren oder gar als ewige Bürde sozusagen fortzuschreiben. Sie können sich auch nicht damit abfinden, daß er im Jahre 1985 (bei gleich-bleibendem Prozentsatz der Unterernährten) 750 Millionen statt heute 400 Millionen Menschen Hunger leiden werden.
Es gibt keine Patentlösung für die Deckung des heutigen und erst recht nicht des zu erwartenden noch weitaus größeren Defizits. Soweit die Eigenanstrengungen der Entwicklungsländer nicht ausreichen, um das Defizit zu decken, kommen hauptsächlich kommerzielle Importe sowie Nahrungsmittelhilfe als flankierende Maßnahmen in Betracht. Kommerzielle Importe setzen die Verfügbarkeit von Auslandsdevisen voraus; Nahrungsmittel-hilfe die entsprechende Bereitschaft bilateraler oder multilateraler Geber.
Wenn die Eigenproduktion plus kommerzielle Importe plus Nahrungsmittelhilfe nicht ausreichen, um den Nahrungsbedarf zu decken, so wäre das gleichbedeutend mit Unterernährung bzw. Fortdauer der Unterernährung. Wollte man zum Ausgleich von Angebot und Nachfrage den Preismechanismus frei spielen lassen (statt zu rationieren), so wären die Armen die Hauptopfer.
Die Eigenbemühungen der Entwicklungsländer hinsichtlich der vorerwähnten und anderer Aspekte bedürfen der Unterstützung von außen. Hier öffnet sich der bilateralen und multilateralen Entwicklungshilfe ein breites Feld für Projekte, die nicht unbedingt spektakulär sind, aber die die Chance bieten, daß die investierten Hilfsgelder und die eingesetzten menschlichen Energien nicht in Potemkinsche Dörfer oder — schlimmer noch — in Entwicklungsruinen verwandelt werden.
Die für die bilaterale und multilaterale Entwicklungshilfe zuständigen Instanzen haben die besondere Bedeutung der Landwirtschaft für die Gesamtentwicklung der Länder der Dritten Welt in zunehmendem Maße erkannt.
Bezeichnend ist es, daß z. B. die Weltbank, die in den Jahren 1964/68 Kapitalhilfe in Höhe von nur 872 Mio. $für die Förderung der Landwirtschaft in der Dritten Welt gewährte, das Volumen dieser Hilfe im Zeitraum 1969/73 auf 3, 1 Mrd. $erweitert hat, und für den Zeitraum 1974/78 ein Hilfsvolumen von 4, 4 Mrd. S vorsieht.
Die Hauptmöglichkeiten zur Steigerung der landwirtschaftlichen Erzeugung sind nach wie vor:
— Produktionssteigerung durch Erweiterung der Anbauflächen;
— Produktionserhöhung durch Intensivierung der pflanzlichen und tierischen Erzeugung (durch verbessertes Saatgut, verbesserte Düngung, Pflanzenschutz und angepaßte Mechanisierung). Aber nicht nur die Landwirtschaft trägt zur Deckung des Nahrungsbedarfs bei. Daneben spielen auch — die unkonventionellen Nahrungsmittel und — das Potential der Meere eine Rolle.
Angesichts der »zwei Dimensionen" des Welternährungsproblems können sich die Eigenanstrengungen der Entwicklungsländer aber nicht auf die Steigerung der Nahrungsproduktion in ihren verschiedenen Formen beschränken. Sie müssen sich mindestens ebenso dringend um die Lösung der sozialen und wirtschaftlichen Aspekte bemühen, insbesondere um das Beschäftigungsproblem.
Produktionssteigerung durch Erweiterung der Anbaufläche Es herrscht kaum Meinungsverschiedenheit darüber, daß auch heute noch mehr als die Hälfte der potentiell als Ackerland in Betracht kommenden Bodenfläche ungenutzt ist.
Freilich fehlt es bisher an einer genügend präzisen, praktisch verwendbaren Definition des Adjektivs . potentiell", und schon hieraus erklären sich manche weit auseinandergehende Thesen. Ohne den Versuch einer Quantifizierung zu machen, vertrat FAO-Generaldirektor A. H. Boerma in einem Vortrag bei der Royal Society, London, im vorigen Jahre die Auffassung, daß die Erweiterung der Anbaufläche nach wie vor einen der ^wichtigeren Produktionsfaktoren" darstelle.
Die Bemühungen, genauere Vorstellungen darüber zu gewinnen, welches zusätzliche Potential möglicherweise noch als Ackerland zur Verfügung steht, sind ziemlich spekulativ.
Auf die überaus optimistischen Schätzungen, die K. M. Malin der Weltbevölkerungskonferenz im Jahre 1965 vorgelegt hat, ferner auf die Thesen von W. Pawley sowie die düsteren Prognosen des Club of Rome wurde bereits eingegangen.
Relevanter für die mittelfristige Zukunft sind die Schätzungen der FAO, die bereits im •Vorläufigen Weltleitplan für die landwirtschaftliche Entwicklung" vom Jahre 1969 enthalten waren. Danach wurde nach dem Stand 1962 die für den Ackerbau potentiell geeignete Fläche in den Entwicklungsländern im Gesamtdurchschnitt nur zu 45 Prozent genutzt. Während der Nutzungsgrad in Lateinamerika bei nur 23 Prozent, in Afrika südlich der Sahara bei 50 Prozent lag, erreichte er im Fernen Osten und Asien 84 Prozent. Die Studie sieht bis 1985 für Lateinamerika eine Steigerung des Nutzungsgrades auf 30 Prozent, in Afrika südlich der Sahara auf 62 Prozent und in Asien und im Fernen Osten auf 89 Prozent vor. Für sämtliche Entwicklungsländer (außer China) würde der Nutzungsgrad von 45 Prozent im Jahre 1962 auf 53 Prozent im Jahre 1985 steigen.
Auch wenn die Landknappheit gegenwärtig noch keine globale Erscheinung ist, so darf doch, abgesehen von der technologischen Seite, die Kostenfrage nicht übersehen werden. Die Inanspruchnahme des nicht genutzten Potentials setzt z. T.sehr erhebliche Investitionen voraus. Das gilt nicht nur für Afrika, sondern auch für Südamerika. Der zitierte Bericht der US-Regierung gibt (für 1967!) die Kosten der Urbarmachung je acre mit 5, 5 $in Brasilien, 61 $in Argentinien, bis zu 220 und 360 $in Venezuela an. Hinzukommen die Kosten für Bewässerung, Drainage, Infrastrukturen usw. usw. Die gleiche Studie erwähnt, daß sich z. B. die gesamten Aufschließungskosten (Dammbau, Kanäle, Behälter, Urbarmachung usw.) im 30 000 acres umfassenden Kano-Bewässerungsprojekt auf 973 $je acre stellten. Nicht das technische, sondern das Kostenproblem stellt damit ein ernstes Hindernis für die Erweiterung der Anbauflächen in den meisten Ländern dar.
Kein Zweifel herrscht darüber, daß jährlich Ackerland durch Erosion verloren geht (klassische Beispiele Mittelamerika und die Andenstaaten). Wollte man in großem Maßstab die Tropenwälder abholzen, um Ackerland zu gewinnen, so droht nach dem heutigen Stande der Erkenntnis die Gefahr, daß sich der gerodete Boden schon in kurzer Zeit unter der Sonneneinstrahlung durch chemische Veränderungen in Wüste verwandelt. Ehe Projekten dieser Art näher getreten werden kann, bedarf es noch umfassender weiterer Forschung. Die FAO ist mit Untersuchungen befaßt, die feststellen sollen, welches Ausmaß die Boden-erosion weltweit angenommen hat. Nach den heutigen Unterlagen kann nicht einmal darüber Verläßliches gesagt werden, ob Verluste an Ackerland, die durch Erosion verursacht werden, wenigstens durch die Ausdehnung der Ackerflächen anderswo voll kompensiert werden. Dem Problem der Erhaltung der Boden-und Wasserressourcen muß künftig erheblich mehr Aufmerksamkeit gewidmet werden.
Produktionssteigerung durch Intensivierung der pflanzlichen und tierischen Erträge Wenn auch die von Land zu Land verschiedenen Möglichkeiten der Produktionssteigerung durch Ausdehnung der Ackerfläche nicht außer acht gelassen werden dürfen, so besteht doch heute Übereinstimmung darüber, daß — vor allem kurzfristig — die Hauptanstrengungen der Entwicklungsländer der Intensivierung der Nahrungserzeugung auf den bereits kultivierten Flächen gelten müssen.
In vielen Entwicklungsländern wird in manchen Gebieten Landwirtschaft noch wie vor Hunderten oder gar Tausenden von Jahren betrieben, und die Erträge entsprechen daher nur einem Bruchteil dessen, was heute schon möglich wäre. Die Steigerung der Hektarerträge kann u. a. durch bessere Bodenvorbereitung, verbessertes Saatgut, durch sachgemäße Düngung und Pflanzenschutz und, in geeigneten Fällen, durch eine — selektiv der Lage des einzelnen Landes angepaßte — Mechanisierung erfolgen.
Grüne Revolution
In diesem Zusammenhang fällt das Stichwort „Grüne Revolution". Die Enttäuschung mancher allzu großer Hoffnungen war die Folge davon, daß sich das „Flutlicht der Publizität“ (Boerma) zu schnell und zu spekulativ auf die Hochleistungssorten und ihre Verwendung gerichtet hat. Die Steigerung der Produktion von Reis, Weizen und Mais beruht bekanntlich auf der Verwendung von Qualitätssaatgut hochertragreicher Sorten, das bei ausreichenden Gaben von Düngemitteln und Wasser Ernteerträge ermöglicht, die ein Mehrfaches des Gewohnten erreichen. In einer für jedermann verständlichen Kurzformel kann man sagen, daß die hinter der Grünen Revolution stehenden umfassenden züchterischen Bemühungen die Pflanze so restrukturiert haben, daß sie bei ausreichenden Wassergaben mehr Stickstoff aufnimmt und die Sonneneinstrahlung besser ausnutzt.
Anstelle der zunächst übergroßen Euphorie ist im Lichte der praktischen Erfahrungen die Erkenntnis getreten, daß zur vollen Ausnutzung des Potentials der Hochleistungssorten nicht nur bei der Saatgutzüchtung, der Düngung und Bewässerung, sondern auch bei der Anbautechnik noch sehr viel zur Anpassung an die örtlichen Verhältnisse getan werden muß. Die Grüne Revolution hat neben den oft erörterten sozialen und wirtschaftlichen auch zahlreiche neue technische Probleme aufgeworfen. So sind z. B. die Risiken der Verbreitung von Pflanzenkrankheiten und -Schädlingen bei Anbau von Hochleistungssorten, die auf einer engen genetischen Basis gezüchtet werden, in weiten zusammenhängenden Gebieten größer als in heterogeneren Anbaugebieten. Umfassende Forschungsarbeit ist insbesondere noch erforderlich, um Hochleistungssorten auch für weitere Getreidearten wie Gerste, Hirse und Sorghum zu entwickeln. Interessante Perspektiven eröffnen sich aus der Entwicklung von Sorten, die neben einem höheren Ertrag je Flächeneinheit auch die Möglichkeit des Mehrfachanbaus in jedem Jahr — verbunden mit Fruchtwechsel — bieten; oder aus der Züchtung ganz neuer Getreidearten, wofür als Beispiel die Züchtung von Triticale, einer Kreuzung aus Weizen und Roggen, erwähnt sei.
Großes Interesse verdienen die Bemühungen des mexikanischen Züchtungszentrums in El Batan, Maissorten mit erhöhtem Proteingehalt (Lysin) zu züchten. Hochlysinhaltiger Mais ersetzt nach dem heutigen Stand der Wissenschaft wesentlich teurere eiweißhaltige Lebensmittel tierischer Herkunft, insbesondere Milch, und kann den Proteinbedarf von Erwachsenen und Kindern voll decken. Im Rahmen der Forschungsarbeiten wurden Hochleistungssorten entwickelt, die neben einem höB heren Lysingehalt auch quantitativ höhere Erträge aufweisen. Da die Eiweißlücke weitgehend ein Kaufkraftproblem darstellt, würde die ausreichende Verfügbarkeit von hochly-sinhaltigem Mais auch den ärmeren Bevölkerungsschichten die Deckung ihres Eiweißbedarfs erleichtern. Dieser Maistyp würde sich auch vorteilhaft als proteinhaltiges Futtermittel vor allem bei der Schweine-und Geflügel-zucht eignen, da er eine Produktionssteigerung zu niedrigeren Kosten ermöglichen würde.
Keine wesentlichen Erfolge wurden bisher bei der Entwicklung von Hochleistungssorten auf dem besonders wichtigen Gebiet der Hülsenfrüchte und der Olsaaten erzielt. Die diesbezüglichen Forschungsarbeiten gehen weiter.
Forschung allein ist freilich nicht ausreichend. Bei der FAO weiß man, daß in vielen Entwicklungsländern noch — neben der ungenügenden Versorgung mit ausreichenden Mengen von Qualitätssaatgut — eine Kommunikationslücke zwischen Bauern, Forschern und Agrarbürokratie besteht. Als weitere institutioneile Schwächen hat Boerma wiederholt das Fehlen effizienter Kreditsysteme, die Unzulänglichkeit der Düngemittelversorgung und des Wassermanagements hervorgehoben. Den Bauern muß ein ausgewogenes . Paket“ von Technologien geboten werden, das sämtliche notwendigen Produktionsfaktoren umfaßt und nicht nur isolierte technische Elemente.
Trotz aller Rückschläge kann nicht bezweifelt werden, daß die unter dem Schlagwort „Grüne Revolution" sich weiter abzeichnenden Fortschritte, kurzfristig gesehen, die wichtigste Hoffnung für eine Steigerung der landwirtschaftlichen Produktivität in vielen Entwicklungsländern darstellen.
Die Energiekrise und die damit verbundene Verknappung und Verteuerung der Düngemittel trifft viele Entwicklungsländer besonders hart, und sie stellt ein zusätzliches Problem für die Anwendung der Hochleistungssorten dar. In diesem Zusammenhang sollte auch nicht übersehen werden, daß die Verwendung einer Einheit Düngemittel in bestimmten Entwicklungsländern einen wesentlich höheren Ertrag im Vergleich zu Ertragssteigerungen in Ländern erbringen kann, welche schon an der Grenze des Düngungsoptimums angelangt sind.
Ertragserhaltung
In klimatisch und bodenmäßig weniger begünstigten Gebieten, für die eine Verwendung der Hochleistungssorten nicht in Betracht kommt, könnte der Akzent auf die Ertragserhaltung statt auf hohe Erträge gelegt werden. Hierher gehören nicht nur Stichworte wie Boden-und Feuchtigkeitskonservierung, sondern auch integrierte Schädlings-und Krankheitskontrolle und insbesondere die Verhinderung von Verlusten nach der Ernte durch unsachgemäße Lagerung, Behandlung, Rattenfraß usw. (Nach sachverständigen Schätzungen gehen allein durch unzweckmäßige Behandlung und Lagerung jährlich 10 bis 20 Prozent der Ernte verloren, d. h. 130 bis 260 Mio. Tonnen Getreide im Jahr — Mengen, die über denen des Weltgetreidehandels in einem Jahr liegen.)
Förderungswürdigkeit der tierischen Erzeugung
Auch hinsichtlich der tierischen Erzeugung bestehen erhebliche Steigerungsmöglichkeiten. Die in den letzten Jahren erzielten Fortschritte u. a. auf den Gebieten der Seuchenbekämpfung, der Genetik und der Futterversorgung könnten und sollten auch in den Entwicklungsländern weitmöglichst in praktische Maßnahmen umgesetzt werden. Aber ist die Tierzucht förderungswürdig?
Die Veränderung der Eßgewohnheiten hat vor allem eine starke Erhöhung der Nachfrage nach tierischen Produkten wie Fleisch und Milch, sowie anderen Molkereierzeugnissen, mit sich gebracht. In den Industrieländern werden im Durchschnitt heute jährlich je Kopf der Bevölkerung etwa 20— 25 Kilogramm an tierischem Eiweiß verbraucht gegenüber nur etwa einem Kilogramm in den asiatischen und afrikanischen Ländern. Die Neigung zum erhöhten Verbrauch von Fleisch-und Molkereiprodukten zeigt nicht nur in den Industrie-ländern, sondern auch in den Entwicklungsländern steigende Tendenz. In den von 1952 bis 1972 reichenden beiden Dekaden lag die jährliche Zuwachsrate für Fleisch bzw. Molkereiprodukte in den Industrieländern bei durchschnittlich 4, 5 und 2 Prozent. In den Entwicklungsländern waren Zuwachsraten von 3 und 2, 5 Prozent jährlich zu verzeichnen.
Die entscheidende Frage ist, ob man diesen Trend — wenn man es könnte — in den Entwicklungsländern fördern und in den entwikkelten Ländern bremsen sollte. Nach einer Faustregel werden etwa 7 Kilogramm Getreide benötigt, um ein Kilogramm Rind-oder Schweinefleisch zu erzeugen. Es gehen daher durch die Umwandlung von Getreide in tierische Erzeugnisse — ganz grob gerechnet — etwa 6/7 der im Getreide enthaltenen Kalorien für die menschliche Ernährung verloren. Hier knüpft sich eine zunehmend polemischer werdende Diskussion an die These an, daß den Armen das Brot vorenthalten wird, damit
die Rinder der Reichen Fleisch ansetzen.
In einem FAO-Dokument heißt es, daß allein in den entwickelten Ländern heute jährlich etwa 300 Millionen Tonnen Getreide zur Viehfütterung verwendet werden — eine Menge, die größer ist als die in Indien und China für die menschliche Ernährung verwendete. In dem gleichen Dokument wird die ernste Frage gestellt, ob es zum Wohl der Menschheit in ihrer Gesamtheit gereicht, daß ein großer und wachsender Teil der Getreideproduktion zum Zwecke der Tierfütterung verwendet wird, solange nicht erwartet werden kann, daß die gesamte Getreideproduktion stärker steigt, als die Nachfrage für direkten menschlichen Verbrauch. Es kann heute als gesicherte Erkenntnis angesehen werden, daß Hülsenfrüchte und Getreide eine billigere und vor allem weniger landwirtschaftliche Produktionsfläche beanspruchende Eiweisquelle sind als die Rinder-und Schafzucht. In dünnbesiedelten Ländern mit großen Weideflächen kann die Lage anders sein.
Eine Patentlösung des Problems gibt es nicht. Einige Konklusionen erscheinen immerhin schon heute erlaubt: In den wohlhabenden Ländern sollte grundsätzlich alles unterlassen werden, den schon von sich aus starken und anhaltenden Trend zum erhöhten Verbrauch tierischer Eiweiße noch künstlich zu stimulieren und zu fördern. Falls es keine anderen Mittel zur Eindämmung des bestehenden Trends gibt, so sollte zum mindesten dem Preis seine volle Steuerungsfunktion überlassen bleiben — ohne Rücksicht auf pseudosoziale Argumente. übrigens würde eine systematische Einschränkung des Verbrauchs an tierischen Proteinen seitens der „Reichen" nicht automatisch zu einer höheren Verfügbarkeit von Getreide bei den „Armen“ führen. Da Nahrungsmittel nicht wie Wasser in kommunizierenden Röhren automatisch hin-und herströmen, müßten die Armen auch die Kaufkraft haben, um das zusätzlich verfügbare Getreide zu importieren. Allerdings würde eine wesentliche Einschränkung der Viehzucht möglicherweise zu Preissenkungen für Getreide führen.
Die soziale und wirtschaftliche Dimension — insbesondere das Beschäftigungsproblem Die Eigenanstrengungen der Entwicklungsländer zur Lösung ihres Ernährungsproblems haben nicht nur der Steigerung ihres technischen Produktionspotentials (durch Erweiterung der Anbauflächen, Intensivierung der pflanzlichen und tierischen Erzeugung und Nutzung des Potentials der Meere) zu gelten, sondern sie müssen sich auch auf die „zweite Dimension" des Problems erstrecken: die sozialen und wirtschaftlichen Aspekte. Selbst die beste Agrartechnik nützt wenig, solange ihre Anwendung aus wirtschaftlichen und sozialen Gründen — insbesondere wegen Fehlens eines aufnahmefähigen Marktes mangels kaufkräftiger Nachfrage — nicht sinnvoll wäre. Eine nachhaltige Steigerung der Agrarproduktion ist nicht isoliert, sondern nur im Rahmen der Förderung der gesamtwirtschaftB liehen Entwicklung denkbar, es sei denn, man wolle sich planwirtschaftlicher Steuerungsmethoden bedienen, wobei der Staat nicht nur gegenüber den Produzenten als Abnehmer, sondern zwischen ihnen und den Konsumenten auch als Verteiler zu fungieren hätte. Mit anderen Worten: Die Welternährung kann nicht anders als in Harmonie mit der allgemeinen wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Entwicklung der Länder der Dritten Welt sichergestellt werden, wobei parallel dazu eine Senkung der Geburtenrate unerläßliche Voraussetzung ist (die freilich ihrerseits engstens durch eben diese Entwicklung maßgeblich beeinflußt wird).
Entwicklung durch Arbeitsbeschaffung
Hungrig ist — von Katastrophenfällen abgesehen — nur der Arme, und arm ist der Arbeitslose. An diesen primitiven Erkenntnissen muß sich jede Entwicklungspolitik orientieren. Der Slogan „Entwicklung durch Arbeitsbeschaffung“ ist der Grundgedanke des im Sommer 1969 von der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) verabschiedeten Weltbesdiäftigungsprogramms (World Employment Programme).
Wenn es auch schwierig ist, den gegenwärtigen Umfang der Arbeitslosigkeit in den Entwicklungsländern genau anzugeben (bis heute fehlt es sogar noch an einer befriedigenden Definition des Begriffs der Arbeitslosigkeit), so kann doch schätzungsweise angenommen werden, daß die offene und versteckte Arbeitslosigkeit im Gesamtdurchschnitt der Entwicklungsländer bei nicht weniger als etwa 20 Prozent des Arbeitskraftpotentials liegt. Nach Schätzungen der ILO wird die Zahl der bis zum Jahr 2000 in den Entwicklungsländern zu schaffenden zusätzlichen Arbeitsplätze eine Größenordnung von mindestens 800 Mio. erreichen, falls alle Arbeitsfähigen beschäftigt werden sollen. Selbst wenn die Zahl nicht 800, sondern vielleicht „nur“ 700 oder 600 Mio. lauten sollte, so steht doch fest, daß die Dritte Welt damit vor einem ungeheuren Problem steht.
Die Entwicklungsländer besitzen hinsichtlich des Problems der Arbeitsbeschaffung ein beträchtliches Eigenpotential. Hier können dazu nur einige Stichworte gegeben werden. Im Strategiedokument für die Zweite Entwicklungsdekade (1971— 1980)
Notwendigkeit zusätzlicher Arbeitsplätze auf dem Lande
Den ländlichen Gebieten, vor allem den landwirtschaftlich genutzten, kommt in den nächsten Jahrzehnten zunehmende beschäftigungspolitische Bedeutung zu. Die große Masse der auf dem Lande Geborenen wird auf eine Beschäftigung in der Landwirtschaft oder auf dem Lande angewiesen bleiben. Während der durchschnittliche Anteil der landwirtschaftlichen Erwerbsbevölkerung an der gesamten Erwerbsbevölkerung in den entwickelten Ländern von gegenwärtig etwa 20 Prozent bis zum Jahre 2000 auf etwa 3, 5 Prozent zurückgehen dürfte, ist für die Entwicklungsländer in ihrer Gesamtheit nur ein Rückgang von rund 66 Prozent auf 44 Prozent zu erwarten.
Der prozentuale Rückgang der landwirtschaftlichen Erwerbsbevölkerung in den Entwicklungsländern darf allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, daß in absoluten Zahlen eine starke Zunahme zu erwarten ist. Nach den heute verfügbaren Projektionen wird sich die Zahl der zur landwirtschaftlichen Erwerbsbevölkerung zu rechnenden Personen von 669 Mio. im Jahre 1970 auf 786 im Jahre 1990 und 842 im Jahre 2000 erhöhen. Das bedeutet eine Erhöhung um 173 Mio. zwischen den Jahren 1970 und 2000.
Landwirtschaft: , Wartesaai der Entwicklung'Angesichts der Tatsache, daß etwa 60 bis 80 Prozent der Bevölkerung der Entwicklungsländer auf dem Lande leben und dort im Zusammenhang mit der Landwirtschaft beschäftigt sind, ist es klar, daß der Verbesserung der Strukturen und Lebensverhältnisse in den ländlichen Gebieten bei allen entwicklungspolitischen Maßnahmen höchste Priorität zukommen muß. Nach einer Formulierung von Winfried Böll „muß und wird die Landwirtschaft noch auf lange Zeit als , Wartesaal
IV. Internationale Aktionen
Strategie der Weltbank für die ländlichen Gebiete Wenn auch Einmütigkeit darüber herrscht, daß die Lösung des Problems der Nahrungsversorgung im Grunde nur durch die Eigenanstrengungen der Entwicklungsländer erfolgen kann, so sind sich doch alle Beteiligten ferner darüber einig, daß die Dritte Welt in diesem Zusammenhang Hilfe von außen erhalten muß. Der bilateralen und der multilateralen Entwicklungshilfe stellt sich hier eine Aufgabe von großer Priorität.
McNamara stellt die Probleme Armut und Wirtschaftswachstum gegenüber: „Die Armen bekommen weder einen gerechten Anteil des Wirtschaftswachstums, noch leisten sie einen wesentlichen Beitrag dazu. Obwohl im letzten Jahrzehnt das Bruttosozialprodukt der Entwicklungsländer anstieg wie nie zuvor, profitierten die ärmsten Bevölkerungsschichten sehr wenig davon. Nahezu 800 Millionen Menschen — 40 Prozent der Gesamtbevölkeder Entwicklung' die Masse der in den Produktionsprozeß hereinwadisenden Menschen aufnehmen, sinnvoll beschäftigen und damit den Hauptbeitrag zur Lösung des Beschäftigungsproblems leisten"
Zu dieser Erkenntnis hat sich nunmehr auch die Weltbank durchgerungen, deren Präsident, Robert S. McNamara, in seiner Ansprache vor den Gouverneuren der Bank im September 1973 in Nairobi eine radikale Neuorientierung der Entwicklungsstrategie vorgeschlagen und innerhalb dieser Strategie den Hauptakzent auf die Entwicklung der ländlichen Gebiete gelegt hat. Der sich schon seit einigen Jahren abzeichnende, nunmehr vollzogene Kurswechsel der Weltbank könnte flankierend zu den Eigenbemühungen der Entwicklungsländer maßgebliche Bedeutung haben. Es liegt an ihnen, sich im Rahmen der eigenen Anstrengungen der von außen gebotenen Hilfe zu bedienen. rung von 2 Milliarden — können mit einem Einkommen von 30 Cents pro Tag (geschätzt nach Kaufkraftverhältnissen der USA) gerade noch überleben, und das in einem Zustand der Unterernährung, des Analphabetentums und der Verwahrlosung."
Weltbank-Strategie Als Ziel schlägt die Weltbank vor, die Produktion landwirtschaftlicher Kleinbetriebe so zu erhöhen, daß ab 1985 ihr jährliches Wachstum 5 Prozent beträgt. Eine Erreichung dieses Zieles würde bedeuten, daß die Jahres-produktion zwischen 1985 und der Jahrhundertwende etwa verdoppelt wird. Es wird unterstellt, daß der Fortschritt während der nächsten fünf bis zehn Jahre langsam sein wird, zumal neue Institutionen geschaffen werden müssen. Wesentliche Elemente der Strategie der Weltbank sind die folgenden: -Beschleunigung von Land-und Pachtreform; -besserer Zugang zur Finanzierung; _ gesicherte Verfügbarkeit von Wasser; -Ausbau des Beratungswesens auf der Grundlage einer verstärkten landwirtschaftlichen Forschung; — besserer Zugang zu öffentlichen Dienstleistungen; und — der kritischste aller Punkte: neue Institutions-und Organisationstypen für ländliche Gebiete, die die bestehenden Möglichkeiten und die Produktivität der Armen ebenso fördern, wie bisher die Macht der Privilegierten geschützt wurde.
Die Weltbank ist bereit, im Rahmen dieser Strategie finanzielle Hilfe zu leisten.
Bei der Weltbank weiß man, daß die von der Bank für den Zeitraum 1974— 78 für die ländlichen Gebiete eingeplanten Mittel (4, 4 Mrd. $) nur einen kleinen Teil des Kredit-und Investitionsbedarfs der landwirtschaftlichen Kleinbetriebe decken können. Diese Mittelknappheit wird die Bank daher veranlassen, in ihren Verhandlungen mit den interessierten Regierungen solchen Programmen und Projekten besondere Priorität einzuräumen, die vor allem den Armen auf dem Lande zugute kommen.
Die Grundfrage, ob die im Rahmen des Aktionsprogramms angestrebte Produktivitätssteigerung in den bäuerlichen Kleinbetrieben ein realistisches Ziel darstellt, ist nach der Auffassung von McNamara dann positiv zu beantworten, wenn die Regierungen in den Entwicklungsländern bereit sind, den „erforderlichen politischen Willen zur Verwirklichung dieses Zieles“ aufzubringen: „Die Entscheidung liegt bei ihnen ... aber keine Hilfe von außen, wie groß sie auch sein mag, kann die Entschlossenheit der Regierungen in Entwicklungsländern ersetzen, die Aufgabe selbst anzupacken.“
Evolution oder Revolution?
Das Kernstück einer Strategie für die ländlichen Kleinbetriebe ist natürlich die Agrarreform. Bei der Bank bestehen insofern keine Illusionen, da man weiß, daß sich die Inhaber der politischen Macht, die selbst Großgrundbesitzer oder solchen eng verbunden sind, aus kurzsichtigem Egoismus allen durchgreifenden Reformbestreben widersetzen werden. Nach Auffassung von McNamara lautet die wirkliche Frage aber nicht, ob eine Landreform politisch leicht durchsetzbar ist, sondern ob eine „permanente Verschleppung einer Reform politisch vertretbar ist. Eine ständig zunehmende Ungleichheit stellt eine wachsende Gefahr für die politische Stabilität dar". Das Problem besteht freilich darin, diese zwingende Logik in Taten umzusetzen. Auch McNamara gibt dafür kein Rezept, um die Entwicklung durch Evolution statt durch Revolution zu beeinflussen, aber er stellt fest: „Ungeheurer Muf wird dabei verlangt, denn politisches Risiko ist damit verbunden.“
Diese Analyse verdient Zustimmung, auch wenn keine plausible Therapie verschrieben wird. Denn der Appell an den politischen Willen der Regierungen stellt als solcher noch keine Antwort dar. Solange nicht dargelegt wird, wie sich der „richtige“ politische Wille in Taten transformieren läßt, ist seine Beschwörung eine Leerformel.
Das Risiko der Nicht-Reform ist stets gegenüber dem Risiko einer Revolution abzuwägen. Durch Evolution wird sich der Widerstand der Interessentengruppen nur selten überwinden lassen.
McNamara plädiert an die Regierungen der wohlhabenden Länder, solche Entwicklungsländer, die den politischen Mut haben, das Problem der Armut auf dem Lande anzupakken, nachhaltig zu unterstützen: durch Abbau diskriminierender Handelsschranken und durch eine erhebliche Ausweitung der öffentlichen Entwicklungshilfe. Sicherung der Welternährung durch nationale und internationale Nahrungsmittelreserven Die seit 1972 weithin sichtbar gewordene Unsicherheit der Weltversorgungslage mit Grundnahrungsmitteln und die damit verbundene starke Verringerung der Weltvorräte haben die Frage der Sicherung der Welternährung durch die Bildung von nationalen und internationalen Nahrungsmittelreserven zu einem Problem großer Aktualität gemacht. Die Frage wird auch auf der Welternährungskonferenz breiten Raum einnehmen.
Weltweite Gremien waren in den letzten Jahrzehnten bereits mehrfach mit dem Thema befaßt. Allerdings ist es bisher nie zu einem Durchbruch in Form von allgemein angenommenen Empfehlungen, geschweige denn bindenden Entscheidungen gekommen.
Die Verschärfung der Welternährungslage seit 1972 hat die FAO trotz der wenig ermutigenden Erfahrungen in den letzten Jahrzehnten veranlaßt, das Thema unter dem Stichwort der Sicherung der Welternährung wieder aufzugreifen. Mit Entschlossenheit setzt sich Generaldirektor A. H. Boerma dafür ein, durch vorbeugende Anlegung von Nahrungsmittelreserven auf nationaler Ebene und durch regelmäßige — auf verbesserter Information beruhende — Konsultationen, größere Stabilität und Sicherheit zu schaffen. Die Bildung internationaler und regionaler Vorrats-lager steht zur Zeit in der FAO nicht zur Debatte.
Das neue Konzept, bei dessen Ausarbeitung die Diskussion im FAO-Rat im Sommer 1973 berücksichtigt wurde, geht von einigen „Strategischen Elementen“ aus, die grundsätzlich auch von der Konferenz im November 1973 gebilligt wurden. Sie haben in einer Konferenz-„Resolution über die Sicherheit der Welternährung* ihren Niederschlag gefunden. Die Resolution wird durch den Entwurf einer mehr ins einzelne gehenden . Internationalen Verpflichtung bezüglich der Sicherheit der Welternährung“ („Draft International Undertaking on World Food Security“) ergänzt.
Die Resolution spricht die Verpflichtung der „gesamten internationalen Gemeinschaft“ aus „jederzeit die angemessene WeltVersorgung mit Grundnahrungsmitteln, insbesondere Getreide, in einer Weise sicherzustellen, die dem ständigen Verbrauchszuwachs entspricht und Produktions-und Preisschwankungen ausgleicht“. Sie stellt ferner fest, daß das Problem der Sicherung der Welternährung von verschiedenen Seiten angepackt werden muß, u. a. durch „nationale und internationale Aktion, um die Nahrungsmittelproduktion der Entwicklungsländer zu fördern, durch Nahrungsmittelhilfe-Programme und durch eine geeignete nationale Vorratspolitik'.
Wegen der Einzelheiten verweist die Resolution auf den ebenfalls bereits von der Konferenz erörterten Entwurf der „Internationalen Verpflichtung bezüglich der Sicherheit der Welternährung“. Der Konferenzbeschluß stellt allerdings klar, daß dieser Entwurf nur vorläufigen Charakter hat und durch eine Arbeitsgruppe überprüft werden soll. Die Arbeitsgruppe (Ad hoc Working Party on World Food Security) trat für eine Woche im Mai 1974 in Rom zusammen und unterzog den Verpflichtungsentwurf einer gründlichen Revision. Die revidierte Fassung ist etwas straffer als der erste Text, läßt aber weiterhin zahlreiche Fragen offen.
Fünf . strategische Elemente’
Nach der revidierten Version des Entwurfs der „Internationalen Verpflichtung“ lassen sich zusammenfassend die folgenden fünf Hauptpunkte herausschälen:
Verpflichtung der Unterzeichner, a) „ . . zusammenzuarbeiten, um ihr Äußerstes zu tun, damit jederzeit die weltweite Verfügbarkeit angemessener Mengen von Grundnahrungsmitteln, insbesondere Getreide, derart sichergestellt ist, daß akute Nahrungsmittelverknappungen im Falle von weit-verbreiteten Mißernten oder von Naturkatastrophen vermieden werden; ferner um eine ständige Steigerung der Produktion sicherzuB stellen und Schwankungen der Produktion und der Preise zu vermindern ..." b) .... bezüglich ihrer Getreidebevorratung eine Politik zu betreiben, welche die Maßnahmen anderer Länder berücksichtigt und die Aufrechterhaltung eines Mindestniveaus von Vorräten an Getreide für die Welt als Ganzes sicherstellt..." c) die Entwicklungsländer durch Nahrungsmittel-und finanzielle Hilfe zu „weichen" Bedingungen oder geschenkweise nicht nur hinsichtlich der Steigerung ihrer Eigenproduktion, sondern auch bei der Bildung und Aufrechterhaltung von Vorräten an Grundnahrungsmitteln, insbesondere für Notstandsfälle, zu unterstützen. d) dem Generaldirektor der FAO regelmäßig sämtliche verfügbare Informationen insbesondere über folgende Punkte zu geben:
Höhe der nationalen Vorräte;
Bevorratungsprogramme;
laufende und voraussichtliche Exportverfügbarkeiten; Importbedarf; sonstige wichtige Aspekte der Angebots-und Nachfragesituation. e) zu regelmäßigen Konsultationen unter Einschaltung der FAO und anderer internationaler Organisationen. Die Konsultationen sollen sich insbesondere auf folgende Punkte erstrecken: 1. Entwicklung der Erzeugung in den Entwicklungsländern unter Berücksichtigung der in diesem Zusammenhang geleisteten Hilfe; 2. Periodische Evakuierung der Angemessenheit des laufenden und zu erwartenden Bevorratungsniveaus, um einen regelmäßigen Fluß der Getreidelieferungen entsprechend dem eigenen Bedarf und dem des Weltmarkts sicherzustellen (einschließlich des Bedarfs an Nahrungsmittelhilfe) ;
3. Prüfung von kurz-oder langfristig erforderlichen Maßnahmen, um voraussehbaren Schwierigkeiten durch abgestimmte Sicherstellung von angemessenen Getreidelieferungen zu begegnen.
Die unter a) erwähnte Grundverpflichtung zur Zusammenarbeit zwecks Sicherstellung der jederzeitigen weltweiten Verfügbarkeit von angemessenen Mengen von Grundnahrungsmitteln ist so generell gefaßt, daß ihr kaum mehr Bedeutung als die einer von mehreren Präambeln oder allenfalls die einer Absichtserklärung zukommt. Sie kann allerdings für die Auslegung der Bestimmungen über die etwas konkreteren Verpflichtungen der Abmachung von Wichtigkeit sein.
Auch die Verpflichtung jedes Unterzeichners zu nationaler Bevorratung (b), der sachliche Kem der ganzen Abmachung, hat im Grunde nur den Charakter einer Absichtenerklärung. Sie ist so elastisch formuliert, daß es schwer sein würde, daraus irgendwelche konkreten Verpflichtungen abzuleiten. Sie stellt aber wohl das zur Zeit erreichbare Maximum dar.
Die Klausel wird ergänzt durch — ihrerseits sehr elastische — Bestimmungen: Danach ist jeder Unterzeichner verpflichtet sicherzustellen, daß die Vorräte so schnell als „möglich“ wieder aufgefüllt werden, falls sie unter ein Niveau sinken, welches unzureichend ist, um einer Mangellage zu begegnen. Es liegt selbstverständlich beim Unterzeichner, hier seine eigene Beurteilung der Lage zugrunde zu legen. Viel ernster klingt die Klausel, wonach bei akuten Mangellagen, diejenigen Unterzeichner, die Vorräte besitzen, welche über das erforderliche Mindestniveau für den eigenen Bedarf und für Notstandsfälle hinausgehen, die „Überschüsse" für den Export zu „vernünftigen Bedingungen" freistellen sollen.
Konkreter — und praktisch wichtig — ist die Informationspflicht aller Unterzeichner gegegenüber dem Generaldirektor der FAO (d). Ihre Erfüllung würde manchen Notstandsfall so rechtzeitig erkennen lassen, daß Hilfe von außen durch eine abgestimmte Aktion möglich wird. Die Sitzungen des FAO-Rats im Sommer 1973 und der FAO-Konferenz im gleichen Jahr, ebenso wie die der Arbeitsgruppe im Mai 1974 vermittelten den Eindruck, daß wohl alle Teilnehmer nicht nur den Ernst der Lage erkannt haben, sondern im Sinne einer vernünftigen internationalen Solidarität auch gewillt sind, ihren Teil zur Lösung beizutragen. Die ausführlichen Diskussionen des Problems der Sicherung der Welternährung haben den beteiligten Regierungen in den entwickelten und in den Entwicklungsländern deutlich gemacht, daß der Fragenkomplex viele „Facetten“ hat. Wenn auch herausgearbeitet worden ist, daß es in erster Linie auf die Förderung der Eigenerzeugung in den Entwicklungsländern ankommt, so herrschte doch gleichzeitig Übereinstimmung darüber, daß im Gesamtzusammenhang die Bildung von nationalen Getreidereserven dringlich ist.
Die USA und Kanada, die in den vergangenen Jahrzehnten — nicht unbedingt freiwillig — die Rolle der Kornkammer der Welt übernommen hatten, stellten auf der FAO-Konferenz klar, daß sie sich zwar ihrer besonderen Verantwortung als große Getreideexporteure und Geberländer von Nahrungsmittelhilfe auch weiterhin bewußt sind und daher der Resolution und dem Entwurf der „Internationalen Verpflichtung" zustimmen. Sie ließen allerdings keinen Zweifel daran, daß es nicht angehe, ihnen fast allein und für alle Zukunft die Haltung der Welt-Nahrungsmittelreserven zu überlassen.
Die Rolle der Nahrungsmittelhilfe Es ist heute nicht voraussehbar, wann es den einzelnen Entwicklungsländern gelingen wird, ihren Eigenbedarf an Nahrung durch Steigerung ihrer Erzeugung zu decken. Das Defizit kann im Grunde nur durch kommerzielle Import® oder durch Einfuhren unter Sonderbedingungen, d. h. durch Nahrungsmittelhilfe, ausgeglichen werden. Utopisch wäre der Gedanke, daß sich zuspitzende Welternährungsproblem etwa ganz oder zu einem erheblichen Teil durch massive Nahrungsmittelhilfe zu „lösen", indem die Uberschußländer ihre Überschußproduktion nicht nur fortsetzen sondern sogar planmäßig so stark steigern, daß damit der wachsende Bedarf vieler Entwicklungsländer gedeckt werden kann. Nicht selten wird auch in deutschen Publikationen über agrarpolitische Fragen die These vertreten, daß es zu den Aufgaben der Agrarpolitik gehört, die Agrarmärkte in den Ländern der Dritten Welt zu erschließen, um angesichts des dort herrschenden Hungers die Nahrungsüberschüsse zu „vermarkten".
Sicher würde eine solche Politik manche agrarpolitischen Probleme der westlichen Welt mit ihren bei weitem nicht vollgenutzten Kapazitäten vereinfachen. Aber eine so motivierte Nahrungsmittelhilfe wäre in erster Linie durch das kurzsichtige Geberinteresse bestimmt. Es wäre bedenklich, auf diese Weise Entwicklungshilfe — in diesem Falle Nahrungsmittelhilfe — in den Dienst der Agrarpolitik der Geberländer zu stellen. Beide Konzepte müssen grundsätzlich voneinander getrennt werden, und wer es ehrlich mit der Entwicklungshilfe meint, muß das Interesse der Entwicklungsländer in den Vordergrund stellen. Diese aber geht offensichtlich in Richtung vor allem auf eine Steigerung ihrer eigenen Nahrungserzeugung als der einzig möglichen Dauerlösung.
Nach jahrzehntelanger Erfahrung kann es als erwiesen angesehen werden, daß richtig eingesetzte und sorgfältig geplante Nahrungsmittelhilfe — eine schwierige Form der Entwicklungshilfe — nicht nur einen Beitrag zur Verwendung von Agrarüberschüssen leistet, sondern eine Methode der Entwicklungshilfe darstellen kann, deren Ergebnisse denen der Kapitalhilfe durchaus nicht nachstehen müssen. Um so wenig wie möglich marktverdrängend zu wirken, sollte Nahrungsmittelhilfe vor allem der Deckung „zusätzlichen“ Bedarfs dienen. Das ist zum Beispiel weitgehend dann sichergestellt, wenn Lebensmittel als Teilentlohnung für produktive Arbeit von arbeitslosen Kräften (Food-for-work-Projekte) oder zur Speisung besonders anfälliger Gruppen der sevölkerung (Kleinkinder, werdende und stillende Mütter, Schulkinder) verwendet werden, wobei allerdings eine umfassende. Plamng auf Geber-und auf Empfängerseite unerläßlich ist. Nahrungsmittelhilfe ohne ausrei-chende Verwendungsplanung, so insbesondere der einfache Verkauf auf den freien Märkten der Empfängerländer, kann leicht mehr Schaden als Nutzen stiften. Daher ist die bloBe Massenverschiffung („bulk supply") von
Nahrungsmitteln ohne ausreichende Planung
alles andere als problemlos. Gerade solche Massenverschiffungen von Lebensmitteln aber stellten und stellen noch heute bedauerlicherweise die Hauptform der von einzelnen Geberländern und von der EG gewährten Nahrungsmittelhilfe dar.
Es ist ja nicht immer so, daß ein Entwicklungsland aus klimatischen Gründen oder wegen technischer Rückständigkeit nicht in der Lage ist, die für die Bevölkerung notwendige Nahrung zu erzeugen. Die eigentliche Ursache des Hungers ist eine andere, nämlich die Armut. Die Bevölkerung in den Entwicklungsländern hat ganz einfach zu wenig Kaufkraft für Nahrungsmittel. Folglich fehlt der Anreiz zur Produktion, auch da, wo sie objektiv durchaus möglich wäre. Der böse Kreis, unter dem die Entwicklungsländer leiden, kann durch das bloße Schenken von Nahrungsmitteln nicht dauerhaft werden.
Die bis ins Jahr 1973 hinein geleistete Nahrungsmittelhilfe beruhte im Wesentlichen auf Agrarüberschüssen. Das jährliche Volumen der weltweit gewährten Nahrungsmittelhilfe lag in den sechziger Jahren und noch zu Anfang der siebziger Jahre bei etwa 1— 1, 5 Mrd. US S. Das Volumen der Nahrungsmittelhilfe ist in letzter Zeit infolge des Weg-falles oder Rückgangs der Überschüsse in den letzten zwei Jahren wesentlich gesunken.
Es gibt gegenwärtig keine großen strukturellen Agrarüberschüsse mehr. Manche Anzeichen sprechen dafür, daß kurzfristig gesehen allenfalls ziemlich unbedeutende Überschüsse anfallen dürften. Auch mittelfristig betrachtet sieht es so aus, als ob die früheren großen Überschußländer USA und Kanada ihre Produktionspolitik heute so in der Hand haben, daß sie künftig den fast regelmäßigen Anfall von beträchtlichen strukturellen Überschüssen vermeiden können. Anders könnte die Lage im EG-Raum sein.
Angesichts der Ungewißheit der Lage stellt sich die Grundfrage, ob auch in Zukunft Nahrungsmittelhilfe noch eine entwicklungspolitische Notwendigkeit darstellt. Sie ist eindeutig zu bejahen. Nahrungsmittelhilfe wird auch künftig zum mindesten bei Katastrophenfällen eine wesentliche Rolle spielen, und sie wird auch für die Bildung von Nahrungsmittelreserven in vielen Entwicklungsländern unentbehrlich sein.
In der Überschußlage, die die Form der gesamten Nahrungsmittelhilfe bisher maßgeblich bestimmte, konnte man ihre sehr hohen Kosten und manche Unzulänglichkeiten hinnehmen, da es nicht zuletzt darauf ankam, die Überschüsse sinnvoll unterzubringen. Man konnte argumentieren, daß (abgesehen von den erheblichen Kosten der Verschiffung, des Managements usw.) nicht mit konvertiblen Dollar oder anderen Währungen operiert wurde, sondern mit ungeplant anfallenden Überschüssen.
Seit die Nahrungsmittelhilfe nicht mehr fast ausschließlich aus Überschüssen gespeist wird, hat sich die Lage grundlegend verändert. Man setzt bewußt Ressourcen ein, wenn man für Zwecke der Nahrungsmittelhilfe Agrarprodukte planmäßig produziert. Das drängt die Frage auf, ob man der Dritten Welt nicht wesentlich nachhaltiger und flexibler helfen könnte, indem man bei der Hilfe-leistung nicht Agrarprodukte in natura hergibt, sondern den Entwicklungsländern direkt die entsprechenden finanziellen Mittel überläßt, um sich — natürlich unter zu kontrollierenden Auflagen — die benötigten Nahrungsmittel beim billigsten Produzenten — gegebenenfalls auch in Entwicklungsländern zu beschaffen. Ganz offen äußerte sich dazu auf der FAO-Konferenz im November 1973 der Landwirt-schaftsminister von Botswana, E. S. Masisi. Für ihn ist Nahrungsmittelhilfe ein schwieriges Geschäft. Er sieht die Gefahr, daß sie als Vorwand benutzt wird, um in Entwicklungsländern strukturelle Reformen auf dem Gebiet der Landwirtschaft zu unterlassen. Wörtlich:
„Idealerweise wäre es vorzuziehen, einen gleichwertigen Betrag von Entwicklungshilfe in ungebundener Form zu leisten, um damit das Empfängerland in die Lage zu versetzen, seinen Nahrungsmittelbedarf durch den normalen Handel zu importieren. Allerdings ist es wohl politisch naiv anzunehmen, daß in beiden Fällen das gleiche Volumen an Hilfe zur Verfügung stehen würde."
Völlig konträr zu der These des Ministers aus einem Entwicklungsland ist die Auffassung des Chefs der Kommission für Landwirtschaft in der EG, P. Lardinois. Er setzte sich auf der FAO-Konferenz für ein grundlegend neues Konzept der Nahrungsmittelhilfe ein. Seiner Auffassung nach wird Nahrungsmittelhilfe in Zukunft eine immer wichtigere Rolle spielen, und die EG wird ihre schon beachtliche Aktivität auf diesem Gebiet wesentlich ausbauen. Daher müßte — so Lardinois — das Volumen der Nahrungsmittelhilfe erweitert werden, zumal diese Form der Hilfe eine Teilantwort für verschiedene Probleme der Entwicklungsländer darstelle.
Neu ist seine These, daß „Nahrungsmittelhilfe nicht das mehr oder minder willkürliche Ergebnis von Überschüssen, die zufällig in entwickelten Ländern erzeugt wurden, sein kann und sein darf." Die bezüglich der Nahrungsmittelhilfe bisher oft fehlende Kontinuität müsse dadurch geschaffen werden, daß Nahrungsmittel für Zwecke der Nahrungsmittelhilfe planmäßig erzeugt würden: „Nahrungsmfttelhilfe sollte das Ergebnis einer bewußten Politik (deliberate policy ) sein, über die auf internationaler Ebene Übereinstimmung zu erzielen wäre und die zwischen den Geberländern mit dem Ziel der Deckung der spezifischen Bedürfnisse der Entwicklungsländer abgestimmt werden müßte."
Der Kernpunkt der Thesen von Lardinois liegt in seinem letztzitierten Satz: Abstimmung über einen Produktionsplan zwischen den Geberländem. Es wäre gegen die menschliche Natur, wenn man erwarten würde, daß die Landwirte und ihre Verbände einem in der angedeuteten Art geplanten massiven Nach, fragestoß ungern entgegensehen würden.
Auch die — weltweit betrachtet — weniger effizienten Produzenten kämen zum Zuge. Wenn man von den zum Teil divergierenden Interessen der Geberländer absieht, die mehr oder minder starte von der Interessenlage ihrer eigenen Landwirtschaft bestimmt sind, so würde die ideale Lösung in die Richtung der Gedanken gehen, die der Minister aus Botswana geäußert hat. Nach Wegfall der ungeplanten Überschüsse sollte Nahrungsmittelhilfe in einer weitaus flexibleren — und schon daher effizienteren und billigeren — Form als bisher geleistet werden. Man könnte sich einen Welt-Nahrungsmittelfonds (World Food Fund) vorstellen (vielleicht ein grundlegend modifiziertes WEP), der grundsätzlich nicht mit Nahrungsmitteln, sondern mit ihm zur Verfügung zu stellenden finanziellen Mitteln operiert
Die bestmögliche Ausnützung der Ressourcen wäre sichergestellt, zumal in der Regel der effiziente Lieferant bevorzugt werden dürfte. Das Sekretariat des Fonds hätte als Wahrer der Interessen der Weltgemeinschaft die Transaktionen im einzelnen zu überwachen. Das heikle Problem des Lastenausgleichs zwischen den Geberländern („bürden sharing’) würde vereinfacht: Nicht nur Länder mit starker Landwirtschaft, sondern alle wohlhabenden Länder könnten und müßten sich mit finanziellen Spenden beteiligen.
Wenn auch der Fonds grundsätzlich auf der Basis von finanziellen Beiträgen operieren würde, so wären gelegentliche Beiträge in Form von Agrarprodukten, die als Überschüsse anfallen, nicht auszuschließen. Die Blockfreien Staaten und der USA-Außen-
minister Henry Kissinger wollten dem Weltemährungsproblem die erforderliche politische Dimension geben, als sie sich für die Einberufung einer Welternährungskonferenz aussprachen. Die Konferenz gibt Gelegenheit, die Frage der Welternährung in einem weit über das Fachliche hinausgehenden Rahmen ni erörtern, wie ihn normalerweise die FAO in ihren Konferenzen und Sitzungen bietet. Es liegt an den Mitgliedsländern der UN, ob sie die sich bietende Gelegenheit so nutzen, wie es in Aussicht genommen ist, oder ob sich in Roma-EUR doch wieder ausschließlich die gleichen Fachleute treffen, die sonst an den Routineveranstaltungen im Hauptquartier der FAO in Roma-Terme di Caracalla teilzunehmen pflegen. Ohne die Sachverständigen geht es auch auf der Welternährungskonferenz nicht. Außer ihnen sollten aber auch die führenden Entwicklungspolitiker der Welt durch ihre Teilnahme klarstellen, daß das Welternährungsproblem über die Agrar-und Ernährungsaspekte hinaus fundamentale entwicklungspolitische Probleme aufwirft.
Die Welternährungskonferenz sollte über der Erörterung der zu treffenden sachlichen und institutionellen Maßnahmen die Erkenntnis nicht verwischen, daß unter allen Maßnahmen den Eigenbemühungen der Entwicklungsländer die entscheidende Rolle zukommt; Eigenbemühungen, die freilich nicht nur auf Produktionssteigerung ausgerichtet sein dürfen, sondern die gleichzeitig auch die sozialen und wirtschaftlichen Aspekte, insbesondere aber das Beschäftigungsproblem anpacken müssen. Die gesamte internationale Aktion muß — bilateral und multilateral — in erster Lime auf die direkte und indirekte Unterstüt-zung der Eigenbemühungen der Entwicklungsländer abzielen. wäre sicherlich eine Illusion annehmen zu llen, daß die Welternährungskonferenz ei-h echten politischen Durchbruch zur Lö1g des großen Bündels von Problemen, die dieser Schrift skizziert wurden, bringen kann. Außerordentlich viel wäre schon gewonnen, wenn die Konferenz nicht nur ein Forum für den Austausch wohlmeinender Platitüden bieten würde, sondern wenigstens eine weitgehende Übereinstimmung in der Analyse der Zusammenhänge erzielten würde. Der von vielen Politikern heute so gern gebrauchte Slogan, es käme alles auf den politischen Willen der Regierungen an, ist eine Leerformel, solange nicht Einigkeit hinsichtlich des Ziels und der Methoden, es zu erreichen, besteht. Die Bildung des politischen Willens setzt gemeinsame Erkenntnis voraus, d. h. eine wenigstens in den Grundzügen übereinstimmende Analyse der Lage und der Kausalzusammenhänge.
Von einer solchen Übereinstimmung kann bisher nicht einmal in einer der Grundfragen die Rede sein, ob nämlich die Welternährungslage in erster Linie ein technologisches Problem darstellt, oder ob nicht die Lösung der wirtschaftlich-sozialen Aspekte noch viel ernstere Schwierigkeiten bietet, überaus kontrovers ist nach wie vor das Problem der Bildung von nationalen oder übernationalen Nahrungsmittelreserven, und wenig Überein-stimmung — nicht einmal unter den Gebern — herrscht hinsichtlich der Nahrungsmittel-hilfe. Für die Behandlung dieser und der anderen Probleme stehen der Konferenz nur etwa 10 Arbeitstage zur Verfügung. Ein großer Teil dieser Zeit wird für die Erklärungen der einzelnen Delegationschefs und für die Erörterung einer Anzahl von Vorschlägen beansprucht werden, in denen einzelne Regierungen neue Fonds oder institutioneile Änderungen anregen. Sehr umfassende Vorschläge haben die folgenden Länder unterbreitet: „Weltbank für Nahrung, landwirtschaftliche Produktionsmittel und Forschung" — Mexiko; „Landwirtschaftlicher Entwicklungsfonds" — Sierra Leone für die afrikanische Gruppe; ein Welternährungs-Sicherheitsrat" kombiniert mit einer " Welt-Nahrungsbank" und einem „Internationalen Landwirtschaftlichen Entwicklungsfonds" — Bangladesh. Alle vorerwähnten Vorschläge werden in ihrer Größenordnung und in ihrem Aufgabenbereich durch einen überaus ehrgeizig anmutenden Plan weit übertroffen, den der Generalsekretär der Welternährungskonferenz, Marei, der Konferenz zu unterbreiten beabsichtigt: Die Schaffung einer neuen Welt-Nahrungsmittelbehörde („World Food Authority"). Ihre Aufgabe soll die Durchführung und Koordinierung der Empfehlungen und Entscheidungen der Konferenz sein. Die Behörde soll a) die internationale finanzielle Hilfe für die landwirtschaftliche Entwicklung der Länder der Dritten Welt mobilisieren; b) ein weltweites Informationssystem über die Versorgungslage mit Nahrungsmitteln „unterstützen“ (sic!) und c) die Verwirklichung einer langfristigen Nahrungsmittelhilfepolilik fördern.
Für die Erfüllung dieser Aufgaben, die — zum mindesten federführend — unter die Charter der FAO fallen, sollen die folgenden Organe geschaffen werden: 1. Ein Permanenter Regierungsausschuß, dessen Mitglieder je zur Hälfte von der UN-Generalversammlung und der FAO-Konferenz zu wählen sind.
2. Ein Landwirtschaftlicher Entwicklungstands,der „überwiegend durch vorhandene Institutionen“ den Entwicklungsländern zwecks Steigerung ihrer Nahrungsproduktion geschenkweise oder in Form von weichen oder harten Krediten die erforderlichen Mittel zur Verfügung stellt. Die Steuerung dieses Fonds soll einem vielköpfigen Direktorat nach dem Vorbild der Weltbank („Board of Executive Directors") obliegen, welches dem Permanenten Regierungsausschuß verantwortlich ist. 3. Ein Ausschuß für die Sicherheit der Welternährung zwecks Überwachung der Einhaltung der darüber abzuschließenden Internationalen Vereinbarung.
4. Ein Ausschuß für die Durchsetzung einer
langfristigen Nahrungsmittehilfe-Politik.
Kernstück des ganzen Apparats soll der Landwirtschaftliche Entwicklungsfonds sein, für den Marei eine jährliche Dotierung in Höhe von 5 Mrd. $vorschlägt. Die Mittel sollen von den üblichen nationalen und internationalen, aber auch „aus neuen potentiellen Quellen", vor allem von den ölproduzierenden Ländern, aufgebracht werden. Die neu zu errichtende Behörde könnte nach den Plänen von Marei auch die Gründung einer multinationalen . Entwicklungsagentur für die SahelZone" unterstützen.
Die Verwirklichung der Pläne Mareis würde nicht nur eine zusätzliche internationale Maschinerie schaffen, sondern auch zu tiefgehenden Überschneidungen mit dem Arbeitsbereich der FAO führen, ja diese wesentlicher Funktionen berauben. Eine zwingende Notwendigkeit oder auch nur die Opportunität zur Herausnahme der von Marei für seine neue Behörde angestrebten Zuständigkeiten ist nicht erkennbar. Es wäre insbesondere eine Illusion anzunehmen, daß eine neu gegründete Super-FAO schon deshalb effizienter als die bestehende FAO wäre, nur weil sie neu ist.
Der von Marei angeregte Agrarfonds würde zwar nicht direkt in den heutigen Zuständigkeitsbereich der FAO fallen. Sollten aber Entscheidungen im Sinne der Errichtung dieses Fonds fallen, so könnte man eine organisatorische Konstruktion in engster Anlehnung an die FAO erwägen (z. B. nach dem Vorbild des Welternährungsprogramms) oder den Fonds bei der Weltbank bilden. Abgesehen von dem Problem der organisatorischen Zuordnung sind hinsichtlich des Agrarfonds ernste sachliche Vorbehalte anzumelden, von denen am schwerwiegendsten der ist, daß sich ein solcher Fonds mit dem von der UN-Konferenz über Rohstoff-und Entwicklungsfragen im Mai 1974 beschlossenen UN-Sonderfonds für Notstands-und Entwicklungshilfe überschneiden würde. Ein grundlegender Irrtum wäre es zu glauben, daß die Geberländer, die sich heute schon schwer tun, dem UN-Fonds die erforderlichen Mittel zu gewähren, nur wegen der Idee eines neuen Fonds morgen bereit sind, das Gesamtvolumen ihrer Hilfe zu steigern.