Bevölkerungspolitik in der Bundesrepublik -eine neue gesellschaftspolitische Aufgabe?
Wolf Rainer Leenen
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Zusammenfassung
Die schon von der Sache her äußerst emotional gefärbte Diskussion um eine Bevölkerungspolitik in der Bundesrepublik wird inzwischen mit wachsender Vehemenz und zunehmenden polemischen Überzeichnungen geführt. Der Beitrag will durch eine eher nüchterne Bestandsaufnahme noch einmal die Vielschichtigkeit der hier anstehenden Probleme ins Bewußtsein rücken. Bevölkerungspolitische Fragestellungen verlangen nicht nur einen das Fachwissen zahlreicher wissenschaftlicher Disziplinen integrierenden Ansatz; die Struktur der dabei auftretenden politischen Entscheidungsprobleme ist zudem äußerst komplex. In der bisherigen Diskussion wurde vor allem diese eher entscheidungstheoretische Diskussion des Problems stark vernachlässigt; aus grob vereinfachenden Analysen der demographischen Entwicklung und deren Folgen werden z. T.sehr weitreichende politische Schlußfolgerungen gezogen. Unbestritten ist, daß bei einem Anhalten des derzeitigen generativen Verhaltens sich langfristig einige durchaus ernst zu nehmende Folgeprobleme einstellen würden. Ob darauf allerdings mit dem Versuch einer Steuerung der Bevölkerungsentwicklung reagiert werden sollte oder aber Maßnahmen finanztechnischer oder organisatorischer Art nicht problemadäquater sind, ist noch völlig ungeklärt, zumal der Geburtenrückgang kurz-und mittelfristig ja auch durchaus positive Wirkungen besitzt. Was die Möglichkeiten einer solchen politischen Steuerung anbetrifft, so ist allzu großer Optimismus fehl am Platz. Ganz unabhängig von diesen bevölkerungspolitischen Fragen und ihrer Beantwortung muß der Sozialstaat natürlich Sorge tragen, daß den Eltern die Realisation der gewünschten Kinderzahl so leicht wie nur möglich gemacht wird und gleichwertige Lebensbedingungen für Eltern und Kinder gesichert sind.
Bevölkerungspolitik — lange Zeit kein sehr ernst zu nehmendes Thema in der Bundesrepublik — ist inzwischen fast schon ein Dauerbrenner der öffentlichen Diskussion. Auf eine drastische Veränderung der demographischen Situation in jüngster Zeit ist das nicht zurückzuführen. Die Geburtenzahlen gehen ja bereits seit Mitte der sechziger Jahre zurück. Der Grund ist wohl eher in der auf statistische Schwellenwerte fixierten Sensibilität der öffentlichen Meinung zu sehen: 1974 ist nämlich erstmalig in der Geschichte der Bundesrepublik die Bevölkerungszahl im Bundesgebiet absolut zurückgegangen. Seitdem geistern gespenstische Visionen von der „vergreisten Gesellschaft" oder vom „Deutschland ohne Deutsche" durch die Presse. Die Oppositionsparteien bemühen sich eifrig, die Entwicklung der Koalitionsregierung anzulasten: Die sinkenden Geburtenzahlen werden als Zeichen mangelnden Vertrauens in die Regierungspolitik gewertet oder pauschal als Folge einer „familienfeindlichen" Politik interpretiert. Und Rezepte en mässe sind flugs bei der Hand, wie der Staat durch den einen oder anderen Eingriff auf die Entwicklung korrigierend einwirken könnte.
I. Rationalitätsfallen in der bevölkerungspolitischen Diskussion
Mit dem vorliegenden Beitrag soll vor allem die Komplexität der hier anstehenden Fragen etwas deutlicher ins Bewußtsein gerückt werden. Entscheidungen für oder gegen Bevölkerungspolitik lassen sich nicht durch einen flüchtigen Blick auf die Daten fällen. Damit soll nun keineswegs der Eindruck vermittelt werden, daß die demographische Entwicklung keine Probleme aufwirft. Nur sind die Probleme, die durch bevölkerungspolitische Aktivitäten des Staates gelöst werden sollen, bislang nicht gerade klar umrissen. Ist die derzeitige und auch für die Zukunft prognostizierte Bevölkerungsschrumpfung an und für sich schon problematisch oder sind es lediglich deren Folgen? Welche Folgen sind als Problem anzusehen, welche sind aus der Sicht der Regierungspolitik durchaus zu begrüßen? Welche Maßnahmen könnten überhaupt greifen? Muß es sich dabei zwangsläufig um Maßnahmen bevölkerungspolitischer Art handeln?
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Abbildung 2: Bevölkerungsbewegung in Deutschland 1850 bis 1950
Abbildung 2: Bevölkerungsbewegung in Deutschland 1850 bis 1950
Diese und ähnliche Fragen verweisen auf ein vielschichtiges und in seinen Konturen noch recht unscharfes Entscheidungsproblem, das bis in letzte Verästelungen ganz maßgeblich von den jeweils eingebrachten Werturteilen geprägt ist. Je nach normativem Hintergrund bzw. politischem Standort gilt ein hoher oder niedriger Bevölkerungsstand als erstrebenswert, wird eine mehr oder weniger starke Beeinflussung des generativen Verhaltens befürwortet oder abgelehnt, werden die Ursachen und Folgen der demographischen Entwicklung eher positiv oder eher negativ eingeschätzt. Rationale Problemlösungen erfordern hier, in ein verwickeltes Geflecht von Normen und Fakten, Zielen und Mitteln einzudringen. Die Verführung ist groß, den gordischen Knoten zu durchschlagen und die Diskussion in den zwar ausgetretenen, aber relativ sicheren Bahnen der Parteienideologie zu führen.
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Tabelle 3: Vorstellungen von der in der Bundesrepublik Quelle: E. Noelle-Neumann, Allensbacher Jahrbuch der Demoskopie 1976— 1977, Bd. VII, Wien-München-Zürich-Innsbruck 1977, S. 155.
Tabelle 3: Vorstellungen von der in der Bundesrepublik Quelle: E. Noelle-Neumann, Allensbacher Jahrbuch der Demoskopie 1976— 1977, Bd. VII, Wien-München-Zürich-Innsbruck 1977, S. 155.
Vernünftige Problemlösungen können allerdings nicht nur in ideologischen Fallstricken hängen bleiben. Auch die wissenschaftliche Diskussion steht in Gefahr, in klassische Rationalitätsfallen zu stolpern. Zwei der wichtigsten sind in einer Überschätzung der Leistungsfähigkeit des traditionellen Zweck-Mittel-Denkens sowie in einer Vernachlässigung der Anwendungsproblematik zu sehen. 1. Rationalität wird häufig so verstanden, daß zunächst eine Entscheidung über die Ziele der Bevölkerungspolitik zu fällen, dann entsprechende Mittel auszuwählen und schließlich Intensitätsgrad, Zeitpunkt und Ort, also die genaueren Umstände politischer Aktivitäten, festzulegen seien. So groß die Vorzüge analytischer Trennungen dieser Art im Rahmen wissenschaftlicher Untersuchungen auch sein mögen, so groß sind ihre Gefahren im politischen Entscheidungsprozeß. G. Myrdal hat auf diese Gefahren bereits in den dreißiger Jahren in seiner pointiert vorgetragenen Kritik am „Zweck-Mittel-Denken" in der Nationalökonomie hingewiesen, die sich vor allem gegen die fatale Trennung des politischen Handlungsfeldes in einen normativen Bereich der Zwecke bzw. Ziele und einen scheinbar neutralen Bereich der Mittel wendete. Myrdals Gegenthese lautet: Der Bereich der Mittel ist einer wertenden Abwägung nicht enthoben. Uber politische Programme darf nicht allein anhand ihrer Ziele entschieden werden; auch die zur Anwendung kommenden bzw. Strategien Mittel sowie deren Nebenfolgen sind in die Bewertung einzubeziehen. Uber die Notwendigkeit einer Bevölkerungspolitik läßt sich demnach nur auf der Basis einer umfassenden Programmbewertung entscheiden. Zu den zu prüfenden Handlungsalternativen zählt natürlich auch die Unterlassungsalternative. Die Rationalität eines Politikentwurfs hängt maßgeblich von der faktischen Verfügbarkeit und Tauglichkeit des Instrumentariums ab. H. Albert hat die hiermit angesprochene Anwendungsproblematik in Form des sog. Realisierbarkeitspostulates aufgegriffen und auf die prägnante Formel „Sollen impliziert Können" 2) gebracht. Anschaulicher ist hier die kontrapositive Formulierung „NichtKönnen impliziert Nicht-Soilen": Nach dieser Regel ist es sinnlos, anspruchsvolle Leitvorstellungen festzulegen, wenn bereits absehbar ist, daß der bevölkerungspolitische Werkzeugkasten im Bedarfsfall leer ist. Das bevölkerungspolitisch Wünschenswerte ist nicht unabhängig vom instrumentell Machbaren bestimmbar et vice versa! Entsprechend kritisch müssen die Erfolgschancen einer aktiven Bevölkerungspolitik geprüft werden.
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Übersicht 2
Übersicht 2
Eine Berücksichtigung dieser methodologischen Argumente führt zu der Einsicht, daß bevölkerungspolitische Fragestellungen nicht nur das theoretische und faktische Wissen zahlreicher Wissenschaftsdisziplinen voraussetzen, also einen interdisziplinären Ansatz erfordern sondern zudem in ihrer Entscheidungsstruktur komplex sind. Die relevanten Ziele müssen eine Realisierbarkeitsprüiung, die in Frage kommenden Mittel einen Eignungstest bestehen. Ziele und Mittel müssen eine Legitimitäts-und Kompatibilitätsprüfung durchlaufen, d. h., sie müssen mit Grundwerten unserer Gesellschaftsordnung, sie sollten mit dominanten Zielen gesellschaftspolitischer Nachbarbereiche verträglich sein. Grundsätzlich sollte also die Reflexion über bevölkerungspolitische Ziele und Mittel nicht isoliert, sondern in wechselseitiger Abstimmung erfolgen. So sehr in der Praxis ein zeitliches Nacheinander dieser Verfahrensschritte unumgänglich sein mag: grundsätzlich sind Überlegungen über das Ob, Wie und Wann einer Bevölkerungspolitik als dynamischer Rückkoppelungsprozeß zu organisieren.
II. Individuelle versus gesellschaftliche Rationalität
Abbildung 2
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M. Wingen hat in einem bemerkenswerten Beitrag in dieser Zeitschrift (B 52/77) an grundlegender Stelle den amerikanischen Bevölkerungswissenschaftler Ch. F. Westoff mit dem Satz zitiert: „Vielleicht entwickelt sich Bevölkerungspolitik in dem expliziten Sinne des Begriffs nur dann, wenn es sich zeigt, daß das Verhalten der einzelnen und die Wohlfahrt der Gesellschaft beträchtlich auseinandergehen" und daran Überlegungen geknüpft, die wiederholt diesen klassischen Topos der Politischen Ökonomie aufgreifen: Die vielen einzelnen realisieren ihr persönliches Wohlergehen — das Wohl der Allgemeinheit bleibt auf der Strecke. Obwohl M. Wingen zunächst nur von der Möglichkeit einer solchen Diskrepanz spricht, wird man seine weiteren Ausführungen kaum überinterpretieren, wenn man ihnen die grundsätzliche Einschätzung entnimmt, daß in der Bundesrepublik — die ja bekanntlich die Liste der Länder mit den niedrigsten Geburtenraten anführt — eine solche Diskrepanz auch tatsächlich entsteht und damit Ansatzpunkt und Legitimation staatlicher Eingriffe gegeben sind.
Unsere Argumentation lautet nun wie folgt: Es ist durchaus denkbar, daß das generative Verhalten der Individuen bzw. Paare nicht zu einer gesamtgesellschaftlich erwünschten Reproduktionsrate führt. Der Grund kann in Störvariablen oder Verzerrungsfaktoren individueller Rationalität gesehen werden; es kann sich auch um Übersetzungsprobleme von der Mikroebene der Familienwohlfahrt zur Makro-ebene der gesellschaftlichen Wohlfahrt handeln. Wie dem auch sei: Aus der Möglichkeit solcher Diskrepanzen darf nicht auf ihre tatsächliche Existenz geschlossen werden. Das gilt vor allem angesichts der erheblichen Schwierigkeiten, eine solche gesamtgesellschaftlich erwünschte Reproduktionsrate festzulegen. Der dazu erforderliche umfassende und möglichst demokratisch organisierte Informations-und Bewertungsprozeß darf nicht vorschnell auf einige plausible Zielvorgaben verkürzt werden.
Es kann kaum Zweifel bestehen, daß die einzelnen Paare ihr persönliches Wohlergehen im Auge haben, wenn sie heutzutage die Kinderzahl stärker beschränken, als das vielleicht in früheren Zeiten üblich war. Unter den Lebensbedingungen einer entwickelten Industriegesellschaft kommt Kindern ein anderer Stellenwert zu als beispielsweise unter den ökonomischen und politischen Bedingungen einer Agrargesellschaft. So sind beispielsweise ökonomische Anreize, Kinder zu haben, dank eines ausgebauten sozialen Sicherungssystems längst entfallen. An die Stelle persönlicher Verpflichtungen innerhalb der Primärinstitution Familie ist mehr und mehr die kollektive Daseinsvorsorge über ein anonymes, aber prinzipiell verläßliches staatlich organisiertes Sicherungssystem getreten. Kinder sind damit weder unter dem Aspekt eines zusätzlichen Beitrags zum Familieneinkommen noch als „lebende Alterssicherung" von unmittelbarer Bedeutung. Dagegen fällt die Kostenseite um so mehr ins Gewicht. Veränderte Wertvorstellungen, gestiegene gesellschaftliche Anforderungen hinsichtlich Bildungsniveau, Mobilität usw., wachsende Ansprüche an das eigene Leben angesichts erweiterter Möglichkeiten der Lebensgestaltung und schließlich die Übertragung dieser Ansprüche auf die Kinder führen zu veränderten Leitvorstellungen hinsichtlich der wünschenswerten Kinderzahl. Entscheidungen für kleinere Familiengrößen entsprechen von daher individueller Handlungsrationalität.
Sofern das Wohl der Gesellschaft nun kein hinter oder über den individuellen Interessen der Bürger schwebendes Abstraktum ist, es also stets um die konkreten — in möglichst demokratischen Verfahren ermittelten — Interessen von Personen oder Personengruppen geht, stellt sich zu Recht die Frage weshalb von einer unterstellten Beeinträchtigung der gesellschaftlichen Wohlfahrt nicht automatisch Korrekturen des individuellen Ver-haltens zu erwarten sind, die gesellschaftliche und individuelle Rationalität wieder zur Deckung bringen könnten. Dafür lassen sich drei Argumente finden.
Man kann erstens behaupten, daß es nicht die eigentlichen, wahren oder natürlichen Präferenzen sind, von denen sich die Individuen derzeit in ihrem generativen Verhalten leiten lassen. Einer Bevölkerungspolitik käme dann lediglich die Aufgabe zu, den entsprechenden Einstellungswandel durchzusetzen, sei es durch Information und Aufklärung über Sachzusammenhänge, sei es durch Propagierung andersartiger Wertvorstellungen. Jeder ideologiekritische Zeitgenosse wird sich allerdings nur mit höchster Vorsicht auf diesen schwankenden Boden begeben wollen; zwischen der Aufdeckung wahrer Interessen und ihrer Unterschiebung oder Suggerierung liegt nur ein kurzer Schritt.
Ein zweites Argument läßt sich in dem sog. Theorem von der Minderschätzung zukünftiger Güter (E. von Böhm-Bawerk) finden. Nath diesem Theorem ist der zeitliche Horizont des individuellen Präferenzsystems derart eng gezogen, daß daraus eine systematische Unterschätzung des Zukunftsbedarfs resultiert. Es würde demnach heute von den Eltern auf eine größere Kinderzahl verzichtet, obwohl sie ihnen morgen durchaus erwünscht sein könnte. In Analogie zur Regelung in der Sozialversicherung ließe sich eine staatliche Vorsorge-und Eingriffspflicht konstruieren, wenn eine solche generelle Unterbewertung von Zukunftsbedarfen und Langfristproblemen nachzuweisen wäre.
Als drittes Argument für ein Auseinanderfallen von individueller und gesellschaftlicher Rationalität läßt sich die Möglichkeit anführen, daß sich die Individuen konsequent im Sinne ihrer — auch richtig erkannten — Wohlfahrtsfunktion verhalten, damit im Ergebnis jedoch der Realisierung einer gesamtgesellschaftlichen Wohlfahrtsfunktion im Wege stehen. Interessant ist diese Möglichkeit vor allem unter dem Aspekt, daß der einzelne die gesamtgesellschaftliche Problematik seiner Entscheidung durchaus sehen und deren Folgen für die Gemeinschaft möglicherweise ablehnen mag, sich aber dennoch nur aus purem Altruismus zu einer Verhaltensänderung bereitfinden könnte. Weshalb ethische Appelle hier kaum fruchten würden, läßt sich anhand der aus der finanzwissenschaftlichen Theorie bekannten Kollektivgutproblematik verdeutlichen Diese Kollektivgutproblema-tik liegt generell dann vor, wenn gesellschaftliche oder gemeinschaftliche Ziele durch eine Vielzahl — für das Gesamtergebnis jeweils unmerklicher — individueller Beiträge realisiert werden sollen und von den Vorteilen der Zielerreichung niemand ausgeschlossen werden kann. Für den einzelnen entsteht dann die paradoxe Interessenkonstellation, daß — obwohl für ihn das Gemeinschaftsziel von hoher Bedeutung sein mag — es gleichwohl rational ist, möglichst wenig zu seiner Realisation beizusteuern. Dieses Paradoxon entsteht durch das Auftreten externer Effekte: Der gesellschaftliche Nutzen individueller Handlungen ist größer als ihr privater Nutzen. Auf das Reproduktionsverhalten übertragen: Das Aufziehen von Kindern hat nicht nur individuelle, sondern auch darüber hinausgehende soziale Vorteile. Ein Beitrag des einzelnen zur „Produktion" dieser sozialen Vorteile wäre aber nur sinnvoll, wenn sich gleichzeitig alle Bürger oder eine hinreichende Zahl Gleichgesinnter zu demselben Verhalten entschließen könnten. Darauf hat der einzelne mit seiner Entscheidung jedoch keinen Einfluß. Für ihn ist es deshalb nur rational, sich ausschließlich von seinen Partikularinteressen leiten zu lassen und hinsichtlich der gesellschaftlichen Ziele auf die Fruchtbarkeit der anderen zu vertrauen.
Fassen wir kurz zusammen: Es lassen sich plausible — allerdings empirisch kaum belegbare — Argumente für die Möglichkeit finden, daß individuelle und gesellschaftliche Rationalität im Hinblick auf das Reproduktionsverhalten auseinanderklaffen. Diese „Rationalitätslücke" könnte wohl auch dauerhafter Natur sein, da sie keine automatischen Verhaltensänderungen auslöst. Daß eine soi che Diskrepanz allerdings auch faktisch vorliegt, wäre noch nachzuweisen. Hier liegt die eigentliche Problematik der Wingenschen These.
Der Begriff der gesellschaftlichen Wohlfahrt oder des Gemeinwohls ist ja leider nur eine Worthülse für die Vielzahl unterschiedlichster Ziele, die in einem Gemeinwesen verfolgt werden. Alle wissenschaftlichen Erfahrungen sprechen dafür, daß sich diese heterogenen Ziele nicht einfach auf einen Nenner, eine gesellschaftliche Wohlfahrtsfunktion bringen lassen. Was nun den Bevölkerungsrückgang anbetrifft, wissen wir zudem noch wenig über die Wohlfahrtsrelevanz alternativer demographischer Entwicklungen. Deren Einschätzung wird überdies in hohem Maße kontrovers ausfallen. Die Formel vom „Wohl der Gesellschaft" setzt also in ihrer verführerischen Plausibilität voraus, was gerade noch zu leisten ist: die umfassende Wirkungsanalyse der demographischen Entwicklung und eine Einigung über deren Gesamtbewertung. Von daher ist es nicht unproblematisch, wenn sich in M. Wingens Beitrag die gesuchte — in einem demokratischen Rückkoppelungsprozeß zu bestimmende — demographische Zielbestimmung mit dem Nullwachstumsziel unter der Hand plötzlich zur gesellschaftlichen Notwendigkeit verkehrt. Wäre es nicht denkbar, daß die Plausibilität des Nullwachstumszieles darin liegt, daß es im Grunde auf die vertrauten Verhältnisse des gegenwärtigen Bevölkerungsstandes abhebt und uns auf den ersten Blick der Begründungspflicht für die Vorzugs-würdigkeit einer anderen Bevölkerungsgröße enthebt? Wie läßt sich aber dann die Notwendigkeit einer aktiven Bevölkerungspolitik einsichtig machen?
III. Zur Frage der Notwendigkeit einer aktiven Bevölkerungspolitik
Abbildung 3
Abbildung 3
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1. Autonome Bevölkerungspolitik Allein um einer bestimmten Bevölkerungsgröße willen wird selten für eine aktive Bevölkerungspolitik plädiert. Das mag daran liegen, daß es äußerst schwer fällt, positiv diese wünschenswerte Bevölkerungsgröße anzugeben. Negativaussagen über nicht hinreichende Bevölkerungszahlen oder nicht mehr tolerierbare Schrumpfungsraten werden da schon eher gewagt. Damit sind vor allem diejenigen angesprochen, die mit deutlich nationalen Untertönen in negativen Bevölkerungswachstumsraten eine „Existenzbedrohung des deutschen Volkes" sehen und daran die Befürch-tung knüpfen, es gebe in der demographischen Entwicklung einen „point of no re-turn", nach dessen überschreiten es zunächst zur Überfremdung, dann unaufhaltsam zum Aussterben des deutschen Volkes kommen werde
Wie ernst solche Befürchtungen zu nehmen sind, ist zunächst eine Frage der Zuverlässig- keit der Prognosedaten. Es ist inzwischen eine Alltagsweisheit, daß Prognosen stets nur so gut sein können wie die bei der Berechnung unterstellten Prämissen. Skeptische Stimmen verweisen deshalb stets nachdrücklich auf den Modellcharakter von Bevölkerungsvorausschätzungen. Prognosen der natürlichen Bevölkerungsentwicklung müssen vor allem zwei Unsicherheitsfaktoren abschätzen: Die zukünftige Sterblichkeit und die zu erwartende Geburtenhäufigkeit. Die Existenz eines florierenden Lebensversicherungsgewerbes zeigt, daß die Sterblichkeitsentwicklung relativ sicher abschätzbar ist. Hauptunsicherheitsfaktor von Bevölkerungsprognosen ist die Voraussage der Geburten-häufigkeit. Relativ sicher läßt sich beispielsweise für das Jahr 2025 die Zahl der dann 50jährigen prognostizieren, weil der Jahrgang, über den Aussagen getroffen werden, heute schon lebt. Dagegen müssen die im Jahr 2025 lebenden 25jährigen erst noch geboren werden; ihre Zahl hängt also von zukünftigem generativem Verhalten ab, was sehr viel schwieriger vorauszusagen ist. Hieran knüpfen sich zwei Folgerungen: 1. Je weiter Bevölkerungsprognosen in die Zukunft vorgreifen, desto weniger sicher sind Aussagen für die jüngeren und jüngsten Bevölkerungsgruppen. Eine Aussage über die Zahl der Grundschüler im Jahr 2010 setzt Annahmen über das generative Verhalten von Eltern voraus, die in ihrer Mehrzahl heute noch gar nicht leben. 2. Aussagen über die Entwicklung der Gesamtbevölkerung sind somit um so unsicherer, je größer der Anteil der Altersgruppen in dieser „Unsicherheitszone" ist, also auch: je weiter die Prognose in die Zukunft reicht.
Die Qualität langfristiger Bevölkerungsvorausschätzungen hängt demnach in hohem Maße von der Treffsicherheit ab, mit der die Entwicklung des generativen Verhaltens prognostiziert wird. In amtlichen Vorausschätzungen wird üblicherweise so verfahren, daß alternative Annahmen modellmäßig hochgerechnet werden. Besondere Bedeutung kommt dabei der sog. Null-Variante zu, die das heute feststellbare Verhalten in die Zukunft extrapoliert. In der 5. koordinierten Bevölkerungsvorausschätzung aus dem Jahr 1975 wurde von einem weiteren Rückgang der Geburten-häufigkeit bis 1977 und von einer Konstanz in der Folgezeit ausgegangen. Diese Annahmen haben sich bis heute ganz hervorragend bestätigt. Eine Trendumkehr des generativen Verhaltens müßte natürlich sofort zu einer Revision aller Vorausschätzungen führen.
Bislang gibt es allerdings keinen Anlaß, nicht von den vorliegenden Prognosedaten und den dabei unterstellten Annahmen auszugehen. Irritierend wirkt zunächst, daß bei der gegenwärtig feststellbaren Netto-Reproduktionsrate (NRR) von etwa 0, 64 — eine NRR von 1, 0 gibt an, daß die lebende Generation der Frauen im gebärfähigen Alter sich in ihrem Bestand gerade reproduziert — die Bevölkerungszahl über sehr langfristige Zeiträume betrachtet tatsächlich gegen Null tendiert. Der 5. koordinierten Bevölkerungsvorausschätzung ist zu entnehmen, daß die deutsche Wohnbevölkerung von etwa 57,9 Mio. Personen im Jahre 1975 sinken wird. Mit der dabei ab 1978 als konstant unterstellten Geburtenhäufigkeit ist impliziert, daß der demographische Prozeß keinen „eingebauten Stabilisator" enthält, der die Talfahrt der Bevölkerungsziffer auffangen könnte. Etwas präziser ausgedrückt: Es liegt hier die Annahme zugrunde, daß im relevanten Untersuchungsbereich die Bevölkerungsgröße selbst keine Determinante des generativen Verhaltens darstellt, also die NRR nicht beeinflußt. Vom heutigen Erkenntnisstand ausgehend, sind solche Hoffnungen auf eine automatische Tendenzwende tatsächlich auch kaum begründet. Im Gegenteil: K. Schwarz hat recht eindrucksvoll die drastischen Verhaltensänderungen aufgezeigt, die notwendig wären, um die bestandserhaltende Zahl von 220 Kindern je 100 Ehen zu erreichen. Nach seinen Modellüberlegungen müßten nahezu alle Ehen mit bisher einem Kind und über die Hälfte der Ehen mit bisher zwei Kindern zu einem weiteren Kind bereit sein, um diesen Durchschnittswert zu erreichen. Jede zehnte Familie müßte obendrein willens sein, vier Kinder großzuziehen
Daß die Netto-Reproduktionsrate keine Funktion der Bevölkerungszahl ist, hat allerdings auch eine Implikation, die eher zu Optimismus Anlaß gibt: Die Chancen, eine bestands-erhaltende NRR von 1. 0 zu erreichen, stehen in 50 Jahren im Prinzip nicht schlechter als heute. Verbaut ist nicht die Rückkehr zu einer stationären Bevölkerung, problematisch ist lediglich die Sicherung einer bestimmten, früher allerdings höheren Bevölkerungszahl. Die These vom „point of no return" verliert damit eines ihrer beängstigenden Elemente. Das Problem der Bestandserhaltung reduziert sich auf die Frage nach der wünschenswerten oder vielleicht sogar idealen Bevölkerungszahl. Die Wissenschaft liefert leider nicht die Kriterien, nach denen ein optimaler Bevölkerungsstand auszumachen und als politische Zielgröße festzumachen wäre. Damit fehlt bislang jeglicher Maßstab für eine autonome Bevölkerungspolitik. 2. Abgeleitete Bevölkerungspolitik Eine stichhaltige Begründung für eine Bevölkerungspolitik mit instrumentellem Charakter hat zwei Voraussetzungen: Es sollten Folge-probleme der demographischen Entwicklung erkennbar sein, die Anlaß zu staatlichem Eingreifen geben, und es sollte hinreichende Gründe geben, diesen Problemen mit bevölkerungspolitischen Aktivitäten und nicht mit Korrekturmaßnahmen anderer, z. B. finanztechnischer, organisatorischer oder raumplanerischer Art zu begegnen.
Die Existenz solcher demographischen Folge-probleme ist nach heutigem Stand der Diskussion unbestritten. Übersicht 1 stellt einen Versuch dar, die wichtigsten Primärwirkungen der Bevölkerungsentwicklung in einem Tableau zusammenzufassen. Die dabei entstandene Auflistung von Belastungs-und Entlastungsfeldern legt auf Anhieb die Deutung nahe, daß die demographische Entwicklung auf kurze und mittlere Sicht sogar überwiegend Chancen bietet und erst bei den langfristigen Konsequenzen die Risiken überwiegen. Es wäre allerdings mit Sicherheit ein überhöhter Anspruch, über diesen ersten Eindruck hinaus aus der Übersicht eine verläßliche und umfassende Einschätzung der Nutzen und Kosten der Bevölkerungsentwicklung entnehmen zu wollen. Denkt man nur an die zahllosen Probleme, denen sich Nutzen-Kosten-Untersuchungen in sehr viel überschaubareren Problembereichen gegenüberstehen, so wird klar, daß eine Gesamteinschätzung auf einen Blick hier keinesfalls möglich ist. Es gibt zudem nicht nur Primärwirkungen, sondern auch Sekundär-und Tertiäreffekte und schließlich sicher auch Rückwirkungen auf den demographischen Prozeß. Da diese Effekte nahezu alle Politikbereiche betreffen, muß man bereits hochzufrieden sein, wenn nur die wichtigsten Primärwirkungen erfaßt sind. Darüber hinaus bereitet die Einschätzung und Bewertung dieser Effekte Kopfzerbrechen: Streng genommen müßte ja für jede unter ceteris-paribus-Bedin-gungen stehende demographische Vorausschätzung auch eine entsprechende Prognose des betroffenen Politikbereichs vorliegen. Dazu ein kurzes Beipiel:
Der nach 1990 in der Bundesrepublik einsetzende Rückgang der Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter wird oft unter Wachstumsgesichtspunkten auf Anhieb negativ beurteilt. Ob das allerdings zutreffend ist, hängt ganz entscheidend von der dann zu erwartenden gesamtwirtschaftlichen Nachfrage bzw.der Zahl der dann vorhandenen Arbeitsplätze ab. Je nach Nachfrageentwicklung kann sich der Rückgang der Erwerbsbevölkerung gesamtwirtschaftlich auch als durchaus günstig erweisen. Geht man z. B. von der nicht unrealistischen Annahme aus, daß innerhalb der weltweiten Arbeitsteilung die Zukunftschancen der deutschen Wirtschaft vor allem in der Produktion von blue prints oder sogenannter high-sophisticated technology liegen, dann wird die demographische Entwicklung die hierdurch erforderlichen Umstrukturierungsprozesse sogar begünstigen. Bereits heute könnte man sich auf eine entsprechende Förderung von Bildung und Weiterbildung einstellen. Dies würde auch die produktivitätssenkenden Effekte einer sinkenden Erneuerungsgeschwindigkeit der Erwerbsbevölkerung kompensieren.
Folgeprobleme der demographischen Entwicklung auszumachen, die Anlaß zu staatlichem Eingreifen geben könnten, erfordert also nicht nur komplizierte Informations-und Bewertungsprozesse, sondern häufig auch weitrei-chende Zusatzannahmen über die zukünftige Entwicklung unseres Wirtschaftsund Gesellschaftssystems. Prognosen fallen dort leichter, wo demographische Veränderungen auf relativ konstante soziale Strukturen treffen. Das ist z. B. im System der sozialen Sicherung der Fall. Auf die hier anstehenden Fragen soll etwas ausführlicher eingegangen werden. Es handelt sich dabei vor allem um die in der Sozialversicherung ausgelösten Finanzprobleme und die damit eng verknüpften Verteilungsfragen. Unsere These lautet: Selbst wenn hier ernst zu nehmende Folgeprobleme absehbar sind, ist damit über die Notwendigkeit einer Bevölkerungspolitik keineswegs vorentschieden.
IV. Der Geburtenrückgang als Finanz-und Verteilungsproblem
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Tabelle 1: Schätzung der Beitragsentwicklung in der Gesetzlichen Rentenversicherung der Bundesrepublik bis zum Jahre 2030
Tabelle 1: Schätzung der Beitragsentwicklung in der Gesetzlichen Rentenversicherung der Bundesrepublik bis zum Jahre 2030
Eine der drängendsten Fragen in der bevölkerungspolitischen Diskussion ist wohl die nach der Sicherheit der Renten. Die Rentenversicherung ist von demographischen Entwicklungen insoweit betroffen, als das in ihr z. Z. praktizierte Umlageverfahren auf einem Transfer von der jeweils erwerbstätigen an die nicht mehr erwerbsfähige Generation beruht. Dieses Umlageverfahren setzt also an die Stelle der früher üblichen Kapitalbildung einen sog. Vertrag zwischen den Generationen, der die jeweilige Nachfolgegeneration auf die Versorgung der älteren Generation verpflichtet. Das Verfahren ist insofern ideal, als es die gewaltige Kapitalansammlung erübrigt, die die erwerbstätige Generation aufbringen müßte, um daraus später ihre Rente zu beziehen; das Verfahren ist zudem unproblematisch, solange nicht erhebliche Schwankungen in der quantitativen Besetzung der Beiträge zahlenden und Leistungen empfangenden Gruppen auftreten. Die in der 5. koordinierten Bevölkerungsvorausschätzung vorhergesagte Entwicklung läßt allerdings Altersstrukturveränderungen von erheblicher Größenordnung erwarten. Die daraus resultierenden Finanzierungsprobleme sollte man mit Verweis auf den Generationenvertrag nicht leichtfertig zur Sozialversicherungsidylle hochstilisieren: Das hierbei anklingende „pacta sunt servanda" ist zwar ein Grundsatz politischer Moral, aber kein geltendes Recht Erst wenn die Generation der geburtenschwachen Jahrgänge „ihre" Rentner tatsächlich zu versorgen hat, also die dann aufzubringende Rentensumme sich spürbar auf relativ wenig Köpfe verteilt, wird sich zeigen, ob und in welcher Weise der Generationenvertrag auch bei sich gegenläufig entwickelnden Interessenlagen der „Vertragspartner" eingehalten wird.
Mit einer Überschlagsrechnung läßt sich ein Eindruck-vom Ausmaß der Beitragslast gewinnen, die durch den wachsenden Anteil der Rentenaltrigen an der Wohnbevölkerung auf die erwerbstätige Generation dann zukommen wird. Dabei wird mit folgender Faustformel für das finanzielle Gleichgewicht in der gesetzlichen Rentenversicherung operiert
Die Zahl der Beitragszahler (B) multipliziert mit ihrem durchschnittlichen Versicherungs-, pflichtigen Einkommen (E) und der Höhe des Beitragssatzes (b) entspricht dem Produkt aus der Höhe der durchschnittlichen Rentenlei-stung (L) und der Zahl der Rentenempfänger (R), also:
B*E*b=R*L, oder auch:
R - R/B*L/E
Der Beitragssatz (b) ist also auch gleich dem R Produkt aus Belastungsquote (-) und Rentenniveau (F). Abstrahiert man von den kurzfristigen Schwankungen in der Höhe des Rentenniveaus, so ist bei langfristiger Betrachtung und damit der Konstanz des Quotienten der Beitragssatz eine Funktion der Belastungsquote. Die demographische Größe „Alterslast" — darunter ist die Zahl von Personen im Rentenalter zu verstehen, die von 100 Personen im erwerbsfähigen Alter statistisch zu versorgen sind — kann als An-näherungswert für die Höhe der Belastungsquote verwendet werden, die von der tatsächlichen Zahl der Rentenfälle und der der Beitragszahler in der Rentenversicherung ab-hängt. Aus einer steigenden Alterslast folgt also nach den hier unterstellten Modellannahmen ein steigender Beitragssatz. Unter Verwendung der Ergebnisse der 5. koordinierten Bevölkerungsvorausschätzung nähme der Beitragssatz dann den folgenden Verlauf:
Bis in die neunziger Jahre dieses Jahrhunderts sinkt die Alterslast aufgrund der noch wachsenden Erwerbsbevölkerung. Bei einer Beibehaltung des heute erforderlichen Beitragssatzes von 18°/o müßten sich also bis zum Jahre 2000 Überschüsse in der gesetzlichen Rentenversicherung bilden. Nach diesem Zeitpunkt müßte der Beitragssatz zunächst nur leicht, nach dem Jahre 2020 allerdings drastisch angehoben werden. Die Geburten-entwicklung der sechziger Jahre schlägt sich dann in einer kopflastigen Alterspyramide nieder: Der Rentneranteil an der Bevölkerung wird doppelt so hoch wie der der Kinder sein; über 28 0/0 der Bevölkerung werden im Rentenalter stehen. Die Bewältigung dieses . großen Rentnerberges'wird erhebliche finanzielle Anstrengungen der erwerbstätigen Generation verlangen. Die Erhöhung der Versicherungsbeiträge müßte noch kräftiger oder bereits zu einem früheren Zeitpunkt erfolgen, wenn Überschüsse aus dem Zeitraum bis zum Jahre 2000 für Leistungsverbesserungen in der Rentenversicherung verwendet würden. Eine generelle Senkung der flexiblen Alters-grenze auf 60 Jahre würde z. B. das Beitragssatzniveau um etwa weitere 2 %-Punkte steigen lassen.
Gegen eine Überwertung dieser eher bedrohlichen Perspektiven werden vor allem zwei Argumente vorgebracht. Der erste Einwand kritisiert die Einseitigkeit, mit der die Beitragsentwicklung in der Rentenversicherung als das Finanzproblem der demographischen Entwicklung diskutiert wird. Ein abgewogenes Urteil sei erst möglich, wenn man die Auswirkungen der Bevölkerungsentwicklung auf die Haushalte der Sozialversicherung, des Staates und der Privaten insgesamt in den Blick nehme. Eine derart umfassende Analyse zeige, daß die Gesamtbelastung der Erwerbstätigen durch Noch-nicht-bzw. Nicht-mehr-Erwerbsfähige keineswegs ansteige. Ein Blick auf Tabelle 2 bestätigt zunächst diese These: Den Mehrbelastungen durch eine wachsende Zahl von älteren Mitbürgern stehen tatsächlich . Einsparungen'aufgrund einer sinkenden Kindeslast gegenüber.
Bei nur leicht ansteigender Gesamtversorgungslast verschiebt sich bis zum Jahre 2030 die Belastung lediglich von den Jungen zu den Alten. Nun ist es jedoch keineswegs ausgemacht, daß diese Entlastungsund Belastungseffekte gegeneinander aufgerechnet werden können, also auch ökonomisch gleichwertig sind. Es spricht zunächst einiges für die Vermutung, daß für die Versorgung der Rentner höhere Mittel aufzubringen sind als für den Unterhalt der Kinder Das gilt insbesondere dann, wenn durch den wissenschaftlich-technischen Fortschritt die . Grenzkosten einer steigenden Lebenserwartung'weiterhin stark ansteigen werden. Selbst bei gleich hohen Unterhaltskosten wäre zu beachten, daß die Versorgung der Rentner überwiegend aus anderen Finanzquellen bestritten wird als die der Kinder. Bei kollektiver Mittelaufbringung ist die Merklichkeit der Belastung höher und der Beitrags-bzw. Abgaben-widerstand stärker. Mit Sicherheit läßt sich jedenfalls sagen: Das Problem ansteigender Kosten im Bereich der Alterssicherung und Altershilfe ist nicht durch eine einfache Um-lenkung von Haushaltsmitteln zu lösen. Ein Großteil dieser Haushaltsmittel ist kurz-und
mittelfristig gebunden, steht also nur bedingt für alternative Einsatzmöglichkeiten zur Verfügung.
Das gilt beispielsweise für Infrastrukturinvestitionen, aber auch für Investitionen in human Capital. Aus Kindergärten sind nicht ohne weiteres Altersheime, aus Kindergärtnerinnen nicht ohne weiteres Altenpflegerinnen zu machen; „die möglichen und notwendigen , Umwidmungsvorgänge'erfordern mehr Anstrengungen, als dies ein bloß rechenhaftes Vorgehen denken läßt"
Der zweite Einwand gegen eine Dramatisierung der langfristigen Finanzprobleme in der Rentenversicherung verweist darauf, daß die Versorgung der Rentnerbevölkerung nicht einfach eine Frage der Kopfzahl, sondern eine der volkswirtschaftlichen Produktivkraft sei.
Bei steigender Arbeitsproduktivität seien auch wenige Erwerbstätige auf der Grundlage hoher Arbeitseinkommen in der Lage, eine vergleichsweise zahlreiche Rentnerpopulation zu unterhalten Natürlich ist auch bei einer bescheidenen Produktivitätsentwicklung ein Rentenniveau in Höhe des Existenzminimums gesichert. Mit unserem heutigen System der Altersversorgung wird aber mehr angestrebt. Der Deutsche Gewerkschaftsbund hat erst in jüngster Zeit seine Forderung bekräftigt, daß es ihm um die Absicherung des in der Aktivenphase erworbenen Lebensstandards gehe. Diese Lohnersatzfunktion der Rente ist bei einer Verschlechterung der Beitragszahler/Rentenempfänger-Relation jedoch nur gesichert, wenn die an die Rentenversicherung oder an den Staat abzuzweigenden Lohnbestandteile erhöht werden. Die zentrale Frage bleibt also, ob die zukünftige Erwerbstätigengeneration bereit sein wird, für diese Ziele mit einem relativ hohen Anteil ihres Arbeitseinkommens einzustehen. Diese Frage stellt sich vor allem unter dem Aspekt einer gerechten intergenerativen Verteilung.
Stellt man aus Veranschaulichungsgründen die Mittelaufbringung im derzeit praktizierten Umlageverfahren der alternativ denkbaren eines Kapitaldeckungsverfahrens gegenüber, so wird deutlich, daß der Geburtenrückgang in der Rentenversicherung einem Kapitaldefizit entspricht. Um im Vergleich zu bleiben: Ein Teil des für spätere Rentenzahlungen notwendigen Kapitals wird bei einer zahlenmäßig schrumpfenden Nachfolgegeneration nicht aufgebracht. Bei Anwendung des Kapitaldek-kungsverfahrens müßte die Durchschnittsren-14 te zwangsläufig sinken. Die derzeitige Organisation des Sicherungssystems verwischt diesen Zusammenhang, der früher für den einzelnen zwischen Leistung und Gegenleistung bestanden hat; es fehlen offensichtlich wirksame Rückkoppelungsmechanismen, die die . Unterakkumulation'signalisieren und die notwendigen Verhaltensänderungen oder Systemkorrekturen automatisch in Gang setzen.
Das geltende Umlageverfahren läßt völlig offen, wer für die unterlassene Investition nachträglich geradestehen muß. Der Verteilungseffekt entspricht dem eines verlorenen Zuschusses an Kinderlose bzw. . Kinderarme', über dessen Finanzierung noch entschieden werden muß. Bleibt das Leistungsrecht unangetastet, so hat die Generation der geburten-schwachen Jahrgänge als Steuer-oder Beitragszahler die Last zu tragen, über das System der Alterssicherung entsteht dann eine intergenerative Lastverschiebung im Werte einst ersparter Aufwendungen. Wälzt dagegen die erwerbstätige Generation die Last über eine Beschneidung der Leistungen zurück, so entsteht der Verteilungseffekt zwischen den kinderarmen und kinderreichen Familien derselben, dann im Rentenalter stehenden Generation. Ein solcher Verteilungseffekt wird auch durch eine möglicherweise steigende Erwerbsquote nicht grundsätzlich vermieden; die Last wird dann lediglich in die Zukunft weitergewälzt. In detaillierten Untersuchungen bliebe zu prüfen, ob das System der Alterssicherung nicht derart eingerichtet werden könnte, daß es demographische Umbrüche verteilungsneutral . verarbeiten'kann.
Die dazu erforderliche Kostenzurechnung fällt ja vergleichsweise leicht, so daß statt des Gemeinlastprinzips, also einer Finanzierung der Kapitallücke durch alle Beitrags-bzw. Steuerzahler, das Verursacherprinzip zur Anwendung kommen könnte.
Für diese modellhaften Überlegungen gilt allerdings die Einschränkung, daß sie von bereits institutionalisierten Umverteilungsvorgängen innerhalb und außerhalb des Systems der Alterssicherung abstrahieren. So finanzieren ja kinderlose Ehepaare oder Junggesellen auch lastenausgleichende Transfers an Familien mit Kindern nach dem in der Sozialpolitik generell wohl anerkannten Grundsatz, „daß Menschen ohne Kinder ihre Zunkunft auf den Kindern anderer Menschen aufbauen und daher an deren wirtschaftlichen Lasten der Kinderaufzucht teilhaben sollten" Bei einer detaillierten Erfassung der Verteilungseffekte der demographischen Entwicklung müßte das natürlich berücksichtigt werden.
Es sind — um auf den Ausgangspunkt der Überlegungen zurückzukommen — also durchaus Folgen der demographischen Entwicklung absehbar, die Anlaß zu politischen Handeln geben könnten. Dies müßten aber nicht zwangsläufig Maßnahmen bevölkerungspolitischer Art sein. Es hieße sich zum Sklaven institutionalisierter Verfahren machen, wollte man jedes Folgeproblem demographischer Veränderungen durch eine Beeinflussung der Geburtenrate auffangen. Hätte man beispielsweise — um es anschaulicher zu machen — in den sechziger Jahren Bevölkerungspolitik betreiben sollen, um der nachwachsenden Generation die heutigen und zukünftigen Probleme im Bildungsbereich und am Arbeitsmarkt zu ersparen? Ein Votum für bevölkerungspolitische Aktivitäten verlangt also offenbar eine weitere Entscheidung darüber, ob 1. solchen Folgeproblemen tatsächlich von der .demographischen Wurzel'her begegnet werden soll, also bereits ihr Entstehen durch eine Beeinflussung der Bevölkerungsentwicklung verhindert oder gemildert werden sollte (Steuerungsstrategie), oder 2. ausschließlich anderweitige Maßnahmen und Vorkehrungen getroffen werden sollen, solche Negativeffekte aufzufangen (Anpassungsstrategie), oder schließlich 3. Maßnahmen beider Art — in welchem Verhältnis auch immer — kombiniert eingesetzt werden sollen.
Eine strenge Abgrenzung zwischen diesen Strategien fällt schwer: So haben beispielsweise Maßnahmen im Rahmen der sog. Anpassungsstrategie häufig auch indirekte bevölkerungspolitische Wirkungen, durch die sie von der zuletzt genannten Kombinationsstrategie nur noch konzeptionell zu unterscheiden sind. Verschwimmende Grenzen zwischen den politischen Strategien eröffnen hier vielleicht die Möglichkeit, sich aus dem bislang sehr verbreiteten Denken in falschen Alternativen zu lösen und die weitere Diskussion mehr problemorientiert als alternativ-radikal zu führen. Zu eindeutig bevölkerungspolitischen Maßnahmen wird man um so eher raten, je wirkungsloser und teurer die den Folgeproblemen geltenden Auffangmaßnahmen und je schwächer anderweitige Vorbehalte gegenüber einer aktiven Bevölkerungspolitik sind. Für Vorkehrungen nicht bevölkerungspolitischer Art wird man plädieren, wenn bevölkerungspolitische Maßnahmen als teurer und wirkungslos einzuschätzen sind. Das sind allerdings Fragen, die die bevölkerungswissenschaftliche Forschung zu beantworten hat.
V. Erfolgsaussichten eines Einsatzes bevölkerungspolitischer Maßnahmen
Abbildung 5
Tabelle 2: Entwicklung der Belastungsquoten 1) in der Bundesrepublik 1975— 2030
Tabelle 2: Entwicklung der Belastungsquoten 1) in der Bundesrepublik 1975— 2030
Was bevölkerungspolitisch erreichbar ist, ist in erster Linie ein theoretisches Problem. Dem Sozialwissenschaftler ist die Erfahrung nur zu geläufig, daß der praktische Steuerungsbedarf das verfügbare theoretische Wissen meist übersteigt. Leider bildet die Bevölkerungswissenschaft hier keine Ausnahme: Die Ursachen des Geburtenrückgangs sind wissenschaftlich keineswegs eindeutig geklärt
Im Hinblick auf diese Ursachen sind zunächst demographische von nicht-demographischen Einflußfaktoren zu trennen. Nach jüngsten Modellrechnungen des Statistischen Bundesamtes läßt sich der Geburtenrückgang im Zeitraum 1965 — 1975 nur zu etwa einem Drittel auf sog.demographische Bestimmungsfaktoren wie Geschlechts-, Familienstands-und Altersstruktur der Bevölkerung zurückführen. Zwei Drittel der fehlenden Geburten entfallen nicht auf strukturelle Veränderungen, sondern auf Verhaltensänderungen. Untersuchungen H. Schubnells zeigen, daß solche Verhaltensänderungen bereits für den Beginn der sechziger Jahre nachweisbar sind Der fälschlich Pillenknick genannte Geburtenrückgang in der Mitte der sechziger Jahre ist kaum allein auf die Verbreitung der Pille zurückzuführen. Die Verbreitung oraler Kontrazeptiva ist lediglich eine relevante Nebenbedingung, nicht aber die Ursache des Geburtenrückgangs. Sie berührt eher die Durchsetzungsmöglichkeit eines erwünschten gene-rativen Verhaltens als die Veränderung der hier maßgeblichen Leitbilder. Es bleibt die Frage, weshalb generell weniger Kinder gewünscht und auch gezeugt werden. Für die Ursachenanalyse ist entscheidend, daß hiermit kein auf die letzten 10 oder Jahre beschränktes oder ein auf das Gebiet der Bundesrepublik begrenztes Problem angesprochen ist. Seit geraumer Zeit sind sinkende Geburtenziffern in allen westlichen und östlichen Industrienationen festzustellen.
Stark sinkende Werte der Fruchtbarkeitsindikatoren lassen selbst für das bislang als Musterland der Kinderfreundlichkeit geltende Frankreich eine in Zukunft schrumpfende Wohnbevölkerung erwarten 20). Der Geburtenrückgang kennt auch keine Grenzen konkurrierender Gesellschaftssysteme, überraschende Ähnlichkeit weist z. B. die (ausländerbereinigte) Bevölkerungsentwicklung der Bundesrepublik mit der der Deutschen Demokratischen Republik auf.
Seit Anfang der siebziger Jahre schrumpft in beiden Teilen Deutschlands die deutsche Wohnbevölkerung; in der DDR trat das Geburtendefizit nur deshalb früher auf, weil die Sterbeziffern aus Gründen der Altersstruktur höher liegen. Vergleichbare Entwicklungen sind auch für andere Ostblockländer oder den europäischen Teil der Sowjetunion nachweisbar. Ein Vergleich der Geburtenziffern der fünfziger Jahre dieses Jahrhunderts mit den entsprechenden Werten des vorigen Jahrhunderts (siehe Abb. 2) läßt den säkularen Charakter dieses Trends erkennen, der in der Bevölkerungslehre auch als „demographischer Übergang" bezeichnet wird Damit ist eine Schematisierung des langfristigen Bevölkerungsprozesses angesprochen, die in vier Phasen den Übergang von den hohen Geburten-und Sterbeziffern einer Agrargesellschaft zu den niedrigen Werten der der sog. Bevölkerungsweise fortgeschrittener Industrieländer beschreibt.
R. Mackensen hat diese Veränderung der .demographischen Landschaft'anschaulich mit dem Begriff der Ausbreitung eines „Leittyps des generativen Verhaltens" beschrieben Eine bis dahin nur partiell verbreitete Einstellung zur gewünschten Kinderzahl und zur praktizierten Familienplanung wird von wachsenden Teilen der Bevölkerung übernommen. Die Verbreitung des generativen Verhaltens-musters ist einem der Diffusion von Innovationen ähnlichem Modernisierungsprozeß vergleichbar, in dessen Verlauf konfessionelle, schichtenspezifische und regionale Verhaltensunterschiede eingeebnet werden. Als Leittyp wird das ursprünglich minderheitliche Verhalten von materiell bessergestellten, großstädtischen und nicht-katholischen Bevölkerungsgruppen angesehen, das mit bewußter Geburtenkontrolle auf die Kleinfamilie mit geringer Kinderzahl abzielt. Mit der Verbreitung dieses Leittyps konzentriert sich die Vorstellung von der idealen Familiengröße auf den Zwei-Kinderhaushalt:
Die tatsächliche Verbreitung dieses Leittyps generativen Verhaltens stellt sich für die Bundesrepublik nun dergestalt dar, daß in den seit 1960 geschlossenen Ehen zunehmend weniger Kinder geboren werden, wobei längere Wartezeiten bis zum ersten Kind und größere Abstände zwischen den Geburten gewählt werden Dabei wird insbesondere auf Kinder höherer Ordnungszahl verzichtet. Nach der bereits zitierten Analyse von K. Schwarz nahm die Zahl der ersten Kinder im Zeitraum 1966— 1975 um etwa ein Drittel, die der vierten und weiteren Kinder um fast zwei Drittel ab. Nach regionalen Analysen des gleichen Autors ist zudem eine Angleichung der Fruchtbarkeit in ländlichen Gebieten an das niedrigere Fruchtbarkeitsniveau der verdichteten Gebiete zu beobachten. Der Geburtenrückgang war und ist in den Regionen am stärksten, die vormals höhere und höchste Geburtenraten aufzuweisen hatten.
Von einer Angleichung der Geburtenhäufigkeit kann allerdings nur im Hinblick auf die absoluten Zahlen gesprochen werden. Relativ ist die Geburtenhäufigkeit in den Städten noch stärker als in den ländlichen Gebieten zurückgegangen
Es kann kein Zweifel darüber bestehen, daß sich die Wissenschaft bislang mit einer bloßen Plausibilitätsüberlegungen genügenden Beschreibung dieser Entwicklung weitaus leichter tut als mit einer bündigen Erklärung des veränderten generativen Verhaltens. Eine Vielzahl konkurrierender Erklärungsansätze steht zur Auswahl. Die Theoriengeschichte der Bevölkerungslehre liefert hier praktisch , für jeden etwas'. Es gibt kaum ein Vorurteil, das sich bei einer Durchsicht der wichtigsten Bevölkerungstheorien nicht bestätigt sehen könnte. Keiner der als Hauptdeterminanten der Bevölkerungsentwicklung herausgestellten Faktoren — sei es nun der wachsende Wohlstand, das Aufstiegsstreben der Individuen, die zunehmende soziale Mobilität oder der Verstädterungsprozeß — kann letztendlich als falsifiziert gelten. Der Geburtenrückgang ist offensichtlich ein komplexes Phänomen, das sich monokausalen Erklärungsversuchen verschließt. Man muß also wohl davon ausgehen, daß hier eine Vielzahl von Einflußfaktoren — subjektiver wie objektiver Art — wirksam ist.
Zweifellos hat die allgemeine Tendenz der Rationalisierung und Säkularisierung des Sozialverhaltens auch für den generativen Bereich Bedeutung gewonnen. Die Selbstverständlichkeit, mit der man früher Kinder hatte, ist der Auffassung gewichen, daß über das Ob, Wann und Wie des Kinderhabens Entscheidungen zu fällen seien, über die gewünschte Kinderzahl wird also im Vergleich mit anderen Lebensalternativen entschieden und von daher sehr viel bewußter und planend auf Zeitpunkt und Zahl der Geburten Einfluß genommen. Mit wachsender . technischer Perfektion'der Empfängnisverhütung und dem sich ausbreitenden Bewußtsein von der Planbarkeit der Familiengröße wächst die Bedeutung von Nutzen-Kosten-Überlegungen.
Die Kostenseite wiegt natürlich um so schwerer, je höher die Ansprüche sind, die an das eigene Leben oder an das Leben der Kinder gestellt werden. Damit ist nicht nur ein hoher Lebensstandard angesprochen, sondern auch der Wunsch noch höherer Lebensqualität, was höhere Anforderungen hinsichtlich Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung einschließt. Es setzt sich — wie es in der Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der CDU/CSU heißt — in unserer Gesellschaft die Vorstellung durch, „daß nur eine recht kleine Kinderzahl mit den derzeitigen Leitbildern von persönlicher Freiheit, Selbstverwirklichung und Lebensstandard vereinbar ist". In diesem Sinne ist der Geburtenrückgang nur ein Teilprozeß innerhalb einer sich über sehr weite Zeiträume vollziehenden Umwälzung der Lebensverhältnisse, für die u. a. erhebliche Veränderungen in den Lebenslagen der Bevölkerung sowie ein deutlicher Wandel in den Einstellungen und Lebensstilen charakteristisch ist.
In diesen Zusammenhang sind auch die Ziel-konflikte einzuordnen, die aus den veränderten Rollenerwartungen der Frau entstehen. Hier hat sich ein gewaltiger Bewußtseinswandel vollzogen. Die Einstellungen zur Berufstätigkeit der Frau, ihrer Ausbildung und zur Aufgabenverteilung in der Ehe haben sich grundlegend verändert. Das hat auch Konsequenzen für das generative Verhalten. Eine größere Kinderzahl ist mit den neuen Leitbildern sehr viel schwerer vereinbar. Der gesellschaftliche Strukturwandel, der die drohenden Rollenkonflikte für die Frau hätte beheben oder mildem können, hat mit dem Einstellungswandel nicht Schritt halten können.
Soweit die Ursachen des veränderten generativen Verhaltens in einem derart breiten Spektrum sozialer Wandlungsprozesse zu sehen sind, fällt es naturgemäß schwer, unmittelbar erfolgversprechende Therapien vorzulegen. Übersicht 2 zeigt eine breite Palette denkbarer Instrumente, die sich in bevölkerungspolitischer Absicht einsetzen ließen Uber deren Wirkungsgrad, Kosten, Nebeneffekte und Verträglichkeit mit anderweitigen gesellschaftspolitischen Zielen und Instrumenten ist allerdings noch vergleichsweise wenig bekannt. Man begnügt sich hier bislang mit Grobeinschätzungen und isolierten Überschlagsrechnungen. Keines dieser Instrumente wäre nach heutigem Erkenntnisstand allein in der Lage, eine Tendenzwende in der Geburtenentwicklung herbeizuführen. Allenfalls der kombinierte Einsatz mehrerer Maßnahmen könnte möglicherweise Erfolgsaussichten bieten. Erfahrungen, die in der DDR mit dem Einsatz eines derart breit gefächerten Maßnahmenkatalogs gemacht wurden, sind nicht allzu ermutigend. Zwar wurde bereits auf dem VIII. Parteitag der SED (1971) ein Programm mit eindeutig pronatalistischem Charakter verabschiedet das u. a. Eheschließungskredite, vergleichsweise hohe Geburtenbeihilfen und weitere Vergünstigungen für Mütter (verbesserter Mutterschutz, Freistellungsmöglichkeiten von der Arbeit bei Krankheit des Kindes usw.) beinhaltete. Das Programm wurde allerdings schon 1976 aufgestockt weil nach wie vor negative Bevölkerungswachstumszahlen die DDR-Offentlichkeit schreckten. Der Schwangeren-und Wochenurlaub wurde nochmals auf insgesamt 26 Wochen erhöht; Mütter von mindestens zwei Kindern können während des ersten Lebensjahres ihres jüngsten Kindes eine bezahlte Freistellung von der Erwerbstätigkeit in Anspruch nehmen. 1976 lag nun die Geburtenziffer in der DDR mit 190 000 Lebendgeborenen erstmals wie-der deutlich (um etwa 5 °/o) über der des Vorjahres Auch für das Jahr 1977 scheint sich nochmals ein Anstieg der Geburtenzahlen anzubahnen. Dem obligatorischen Jubel in der DDR-Presse ist dennoch mit Skepsis zu begegnen. Das generative Verhalten ändert sich nicht schlagartig von heute auf morgen. Zunächst ist die naheliegendste Erklärung zu prüfen: Auch in der DDR kommen wieder stärkere Jahrgänge ins gebärfähige Alter. Allein die Zahl der 20— 30jährigen Frauen nahm von 1974 bis 1976 um rd. 10% zu. Vor dem Hindergrund dieses strukturellen Wandels ist die Geburtensteigerung bislang durchaus im Rahmen geblieben.
Was die Erfolgsaussichten einer politischen Einflußnahme angeht, ist allzu großer Optimismus also wohl fehl am Platze. Solange die Bevölkerungswissenschaft keine empirisch erhärteten Aussagen über die Ursachen des Geburtenrückgangs treffen kann, muß stets mit Mißerfolgen beim Einsatz bevölkerungspolitischer Instrumente gerechnet werden. Solange den einschlägigen Theorien die prognostische Kraft fehlt, ist natürlich auch ihre praktische Verwertbarkeit gering; in den theoretischen Schwächen sind die politischen Risiken bereits angelegt. Exakte Steuerungsmöglichkeiten sind nicht gegeben, da die wichtigsten Einflußfaktoren, insbesondere die letztendlich bestimmenden Werthaltungen, bislang nicht isoliert werden konnten und bevölkerungspolitische Instrumente in ihrer Wirkung nur sehr grob abschätzbar sind Der Geburtenrückgang stellt sich zudem als ein komplexes Phänomen dar, das nicht über eine Variable politisch zu steuern ist. Eine isolierte Erhöhung des Kindergeldes oder die Einführung von Ehestandsdarlehen würde wohl kaum durchschlagenden Erfolg haben — falls man nicht die übrigen Einflußfaktoren mit drastischen finanziellen Anreizen überspielen will
VI. Folgerungen und offene Fragen
Abbildung 6
Abbildung 1: Geburten-und Sterbefallentwicklung der deutschen Bevölkerung in der Bundesrepublik und in der DDR (1950 bis 1975) Quelle: Angaben des Statistischen Bundesamtes (bis elnschl. 1960 mit geringem Ausländeranteil >; Statistisches Jahrbuch der DDR.
Abbildung 1: Geburten-und Sterbefallentwicklung der deutschen Bevölkerung in der Bundesrepublik und in der DDR (1950 bis 1975) Quelle: Angaben des Statistischen Bundesamtes (bis elnschl. 1960 mit geringem Ausländeranteil >; Statistisches Jahrbuch der DDR.
Aus dieser Prüfung ihrer Erfolgsaussichten läßt sich folgern, daß eine Bevölkerungspolitik in der Bundesrepublik zum gegenwärtigen Zeitpunkt — hinsichtlich ihrer instrumentellen Möglichkeiten nicht als direkte Steuerung, sondern bestenfalls als Rahmensteuerung denkbar wäre, — hinsichtlich ihrer Wirkungschancen nicht als Feinsteuerung des demographischen Prozesses, sondern überhaupt nur als Grobsteuerung möglich wäre, und — hinsichtlich ihrer Erfolgschancen wohl kaum über ein Instrument, insbesondere nicht allein über monetäre Anreize zum Erfolg kommen würde, also generell mit sehr ungewissen Eriolgsaussichten antreten müßte und kaum eine schnelle und gründliche Trendumkehr bewirken könnte.
Auf diese skeptische Position des Wissenschaftlers kann sich der politisch Verantwortliche natürlich nicht völlig zurückziehen; ein gewisses Maß an theoretischer Unsicherheit ist schließlich nie ganz auszuräumen. Grundsätzlich ist schon davon auszugehen, daß bei entsprechendem politischen Willen auch die Bevölkerungsentwicklung in Grenzen beeinflußbar wäre — allerdings nur in sehr engen Grenzen, da die hier maßgeblichen Entscheidungen auf der Mikroebene der Familie in Lebenszusammenhänge eingebettet sind, die sich nicht beliebig varriieren lassen. Die Einsicht in solche Grenzen einer politischen Beeinflußbarkeit wird vielleicht auch für Befürworter einer Bevölkerungspolitik durch die Perspektive erträglicher, daß das veränderte generative Verhalten der Eltern u. a.der Preis ist, den eine hochentwickelte Industriegesellschaft für ein hohes Maß an Arbeitsteilung und Mobilität einerseits und für eine zunehmende Freiheitlichkeit andererseits zu zahlen hat. Was die Notwendigkeit einer aktiven Bevölkerungspolitik anbelangt, so haben die Skeptiker in der bevölkerungspolitischen Diskussion sehr triftige Einwände ins Feld zu führen. Es sind zwar schwerwiegende Probleme absehbar, die im Zusammenhang mit der zu erwartenden demographischen Entwicklung auftreten werden. Ob darauf allerdings mit bevölkerungspolitischen Maßnahmen reagiert werden sollte oder nicht vielmehr Auffangmechanismen anderer Art problemadäquater sind, ist völlig ungeklärt, zumal ja der Geburtenrückgang kurz-und mittelfristig auch durchaus positive Effekte vorzuweisen hat. Die Diskussion leidet hier generell noch unter eklatanten Wissenslücken. Es stellt sich noch eine Fülle offener Fragen, die im Interesse weitsichtiger und dauerhafter politischer Lösungen abgeklärt werden sollten: — Uber welche Zeiträume hinweg sind Bevölkerungsprojektionen als politische Entscheidungsgrundlagen verwendbar? Lassen sich theoretisch besser fundierte Annahmen über das zukünftige generative Verhalten finden? — Wie sind die Chancen und Risiken der Bevölkerungsentwicklung in einer integrierten Gesamtschau zu bewerten? Welche Rückwirkungen auf den demographischen Prozeß werden sich aus den Primär-und Sekundärwirkungen der Bevölkerungsentwicklung ergeben? — Wo liegen die schwerwiegendsten Folge-probleme der demographischen Entwicklung? Welche Möglichkeiten gibt es, diese Folge-probleme mit nicht bevölkerungspolitischen Maßnahmen aufzufangen? — Was läßt sich mit bevölkerungspolitischen Instrumenten überhaupt ausrichten? Wie hoch ist der Wirkungsgrad einer Erhöhung des Kindergeldes, der Schaffung von Teilzeitarbeitsplätzen, einer Einführung des Karenzurlaubs? — Welche Kosten werden durch bevölkerungspolitische, welche durch Maßnahmen nicht bevölkerungspolitischer Art verursacht? Wie ist das Kosten-Wirksamkeits-Verhältnis der einzelnen Maßnahmen? — Mit welchen positiven und negativen Nebeneffekten ist beim Einsatz dieser Instrumente zu rechnen? Wie ist die Verträglichkeit mit den Zielen der bisherigen Regierungspolitik zu beurteilen?
Ganz unabhängig von diesen Fragen und ihrer Beantwortung muß natürlich stets gesichert sein, daß den Eltern die Realisation der gewünschten Kinderzahl weitestgehend erleichtert wird. Wenn es Belege dafür geben sollte, daß auch in der Bundesrepublik — wie es französische Untersuchungen nahelegen — das Aufziehen von Kindern mit erheblichen Lebensstandardnachteilen, Einschränkungen in der Freizeit und geminderten Aufstiegschancen geradezu bestraft wird, muß unbedingt Abhilfe im Sinne einer „gerechteren" Lasten-verteilung geschaffen werden. Es handelt sich wohlgemerkt nicht darum, möglichst wirksame pronatalistische „incentives" zu setzen, sondern um die Frage gleichwertiger Lebensbedingungen und Lebenschancen. Der bevölkerungspolitischen Diskussion kommt das Verdienst zu, noch einmal in aller Deutlichkeit die soziale Bedeutung des individuellen Reproduktionsverhaltens und die damit verflochtenen Verteilungsfragen hervorgehoben zu haben. Gesellschaftliche Vorteile individuellen Verhaltens sollten auch in gesellschaftlichen Hilfen angemessene Unterstützung finden.
Wolf Rainer Leenen, Dr. rer. pol., geb. 1947; Studium der Nationalökonomie, Finanzwissenschaft und Sozialpolitik; z. Z. in der wissenschaftlichen Politikberatung tätig. Veröffentlichungen: Zur Frage der Wachstumsorientierung der marxistisch-leninistischen Sozialpolitik in der DDR, Volkswirtschaftliche Schriften Nr. 261, Berlin 1977; mehrere Aufsätze zur Sozialpolitik,
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