Das Schicksal Europas und die Zukunft des EG-Ministerrates
Ulrich Weinstock
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Zusammenfassung
Nach einem Vierteljahrhundert ist die Europäische Gemeinschaft immer noch ein „unvollendeter Bundesstaat". Nichts deutet heute darauf hin, daß dieser Zustand sich vor der Jahrtausendwende ändern könnte. Den berühmten „point of no return“ scheint der Integrationsprozeß jedoch überschritten zu haben. Europa gilt vielen als unregierbar, von Krisen geschüttelt und — schlimmer — als uninteressant. Sind daran allein äußere Umstände schuld, wie landläufig behauptet wird? Wohl kaum! Der — freiwillige — Prozeß der Integration von jetzt zehn Mitglieds-staaten zu einer Einheit ist historisch ohne Vorbild, aber auch beschwerlicher, als die erste oder zweite Generation der Europäer gedacht hatte. Um aus seiner Orientierungslosigkeit herauszufinden, fehlen Europa ein Föderator, ein Programm und eine Idee. Hier liegen die wahren Ursachen für fehlende Schwungkraft und für einen gefährlichen Nihilismus hinsichtlich der Zukunft der Gemeinschaft. Weder blanker Pragmatismus noch blinder Idealismus können Europa die verlorengegangene Handlungsfähigkeit zurückgewinnen; beide Methoden sind nicht zeitgemäß, aber auch kaum problemadäquat. Nur mit vielen kleinen Maßnahmen kann der Ministerrat wieder zum Entscheidungszentrum Europas und zu seinem eigentlichen Impulsgeber werden. Die Kommission scheint hierzu wohl kaum in der Lage, und das Europäische Parlament muß erst noch zur Kraftquelle werden. Schwerste Belastungsproben, die heranrücken, gebieten nachdrücklich eine permanente Anstrengung zur Reaktivierung des Rates. Europas Schicksal wird sich an der Vitalität des Rates entscheiden.
I. Wo steht Europa heute?
Während der Tindemans-Bericht in der Öffentlichkeit noch eine gewisse Diskussion auslösen konnte und ihm sein allerhöchster Auftraggeber, der Europäische Rat, immerhin ein zweitklassiges Begräbnis gewährte, hat der vor Jahresfrist publizierte Bericht der soge-nannten „Drei Weisen" über die Verbesserung der Arbeitsweise der Organe der EG weder das eine bewirken können noch das andere erleiden müssen. Er wird schlicht nicht zur Kenntnis genommen, was auch immer noch der Rat hierzu formal an Entscheidungen produzieren mag Und dies ist symptomatisch. Eine eigentliche Verfassungsdebatte über die Europäische Gemeinschaft findet nicht statt. Die institutioneile Diskussion hat vielmehr schon längst fast ritualhafte Formen angenommen. Die verschiedenen Lager stehen gegeneinander, jedes in der Gewißheit, die allein selig machende Wahrheit zu besitzen. Bei diesem, wie es manchmal anmutet, institutionellen Glasperlenspiel sind unverändert wie vor fünfzehn Jahren drei Spielarten zu unterscheiden, wobei jede für sich wegen der unterstellten Monokausalität eigentlich schon formal unbefriedigend bleiben muß: geographisch gesprochen erwartet man das Heil entweder ausschließlich aus Brüssel oder aus Luxemburg/Straßburg oder aber aus den nationalen Hauptstädten.
Alle drei Wege — der technokratische über die Kommission, der demokratische über das Parlament, der mechanistische über Mehrheitsentscheidungen im Rat — haben nicht zum Erfolg geführt. Auf keinem kam man den Vereinigten Staaten von Europa entscheidend näher. Und dennoch: Es gilt, jede sich bietende Möglichkeit auf diesen drei Wegen zu nutzen. Nur in der Kombination der verschiedenen Ansätze und Studien, mit Augenmaß und Stetigkeit betrieben, kann ein Ausweg zu finden sein. Dies vermeidet sterile Diskussionen wie nutzlosen Kraftverschleiß. 1. Institutionen und Interessen Ein solcher synthetischer Ansatz könnte — im zugegeben besten Falle — immerhin einen beachtlichen Dreiklang geben: Die Kommission — wenn sie, wie in der Hallstein-Ära, stärker ein echtes Team würde — könnte, wenn auch nur als Vorläufer, eine europäische Regierung erahnen lassen, die im Ministerrrat kraftvoll und unerschrocken erneut ein natürliches Gravitationszentrum qua Sachkompetenz darstellte, das mehr auf die europäischen Interessen als an die nationalen Partikularinteressen bedacht wäre. Der Rat könnte sich den häufig besseren Sacheinsichten einer solchen Kommission einfach nicht verschließen. Die berühmte „List der Vernunft" würde ihn — manchmal auf dialektischen Umwegen — ans Ziel europäischer Entscheidungen bringen; Mehrheitsvoten wären etwas durchaus Selbstverständliches. Und — wichtiger — die Sachentscheidungen würden nicht zu nahe am kleinsten gemeinsamen Nenner getroffen. Das direkt gewählte Europäische Parlament könnte, aus den nationalen Kraftströmen gespeist, in politischen, zumal gesellschaftspolitischen Fragen Europa entscheidende Impulse geben. Aber es erscheint interessanter, bestechende neue Vorschläge oder Varianten vorzutragen, anstatt den vorhandenen Instrumentenkasten nach ungehobenen Möglichkeiten abzusuchen. Die europäische Diskussion leidet an einem Übermaß an stereotypen Formeln. Institutionen sind — auf eine provozierende Kurzformel gebracht — eben keine Wunderwaffen Der ausgewogenen Aussage von Katharina Focke ist voll zuzustimmen: „Gute Institutionen sind gewiß nicht die Antwort auf alle Probleme, aber sie sind auf der anderen Seite eine Voraussetzung für stetige Arbeits-und Entscheidungsfähigkeit." Ebenso anschaulich wie zutreffend hat diesen Zusammenhang der scheidende Kommissionspräsident Roy Jenkins in seiner Churchill-Gedächtnisrede beschrieben: „Dieser neue Organismus . Gemeinschaft'besteht aus einem Knochengerüst — den Institutionen — und Fleisch und Blut — den Politikern —, die sie mit Leben erfüllen.“
Den Institutionen wird in der öffentlichen Diskussion ein zu großes Gewicht beigemessen, während Sachfragen und vor allem Meinungsverschiedenheiten in Sachfragen, also die wahren Ursachen von Konflikten, die eben in den Institutionen auszutragen sind, viel zu kurz kommen. Daher plädiere ich für eine ausgeglichenere Betrachtungsweise von Interessen und Institutionen in Europa. Nationale Interessen, die im europäischen Alltag häufig auch regionale, lokale oder sektorale Interessen sind, sollten nicht länger von den europäischen Institutionen und auch in den Debatten über europäische Institutionen nicht verschämt und gleichsam nur als Fußnote implizit behandelt werden; sie müssen, klar ausgewiesen, im Zentrum der Debatte stehen und vor allem unbefangener artikuliert werden, von allem technokratischen Beiwerk der Präsentation entkleidet. Bisher kommen sie europäisch erst im Ministerrat, gleichsam durch die Hintertür, vor. Dies ist besonders dann notwendig, wenn die steril gewordene institutioneile Debatte mit frischem Blut und Sauerstoff versorgt werden soll. Denn bisher hat die Hoff, nung, auch nur auf einen Wandel im europäisehen Verhandlungsstil, auf die man, nicht zuletzt inspiriert vom britischen Pragmatismus, geglaubt hatte setzen zu müssen, getrogen. Ist man also weder ein institutioneller AltKonservativer, der an den Einsatz einer der drei institutionellen „Wunderwaffen“ glaubt, noch ein Ultra-Moderner, der schlankweg von den Institutionen, vor allem ihren aktuellen Schwächen und potentiellen Verbesserungsmöglichkeiten absieht, und auch nicht — um Goethe zu zitieren — das Weltkind in der Mitte, das sagt, es fehle eben an dem so oft beschworenen, imaginären politischen Willen, so muß ein bescheidener, nüchterner Neuansatz gesucht werden. All dies scheinen nach so vielen vergeblichen Überlegungen und Versuchen — mehr oder minder — Leerformeln, untaugliche Sandkastenspiele zu sein, weniger geeignet, die Wirklichkeiten zu beschreiben und Verbesserungen taktisch wie strategisch zu fördern, als — nolens volens — solche Chancen zu verschleiern. Hier ist mehr Redlichkeit und Wahrheitsliebe erforderlich. 2. Unregierbares Europa?
Die inflationäre Anwendung des Begriffs Krise — dem europäischen Pendant zu der nationalen Debatte über die Unregierbarkeit — und damit die Banalisierung dieser Vokabel versperren den Blick auf die wahren Probleme eher. Die Gemeinschaft wie ihre Mitglieds-staaten sind mit schwierigen Sachfragen konfrontiert, deren Lösung so oder so nicht übers Knie zu brechen ist. Die von der Gemeinschaft periodisch gegebenen Alarm-, ja Katastrophenmeldungen und selbst häufig beschworene Untergangsbilder sind zwar schlagzeilenträchtig, auch wenn sie sich abnutzen, doch wird mit ihnen kaum die ganze Wirklichkeit abgebildet. Es gebricht an politischem Mut und an schöpferischer Phantasie, gepaart mit dem berühmten „langen Atem", also Qualitäten, mit denen unsere Mitgliedsstaaten wahrlich nicht im Übermaß gesegnet sind. Ohne etwas von Gesundbeten zu halten, liegen die Dinge tatsächlich banaler, „vollzieht sich in Europa doch nur der gewünschte Übergang von der feierlich verkündeten Vision zur politischen Normalität des vielfältigen Interessenausgleichs, der kaum überschaubaren Auseinandersetzungen um einzelne Details, des schwerfälligen Ringens um minimale Entwicklungsfortschritte" Anlaß für Apokalypsen besteht keineswegs. Es ist schon erstaunlich, daß die Erfahrung mit dem „unvollendenten Bundesstaat" (Hallstein), der — analysiert man nur genauer — ja auch noch heute einen „unvollendeten Gemeinsamen Markt" einschließt, schon in den frühen sechziger Jahren einen Vorgeschmack von „Unregierbarkeit" gerade etwa für die „regierte“ Bundesrepublik brachte. Um so erstaunlicher bleibt es, daß die allgemeine Diskussion zur Regierbarkeit gerade von Brüssel schlankweg nicht zur Kenntnis genommen wird. Ein wenig weist diese Beobachtung auf das allgemeine Phänomen hin, daß „Brüssel" sich zu häufig mit der eigenen Nabelschau, zu wenig mit der „Integration" der Gemeinschaft in allgemeine Entwicklungen in den Mitgliedsstaaten beschäftigt. Die viel beschworene gemeinschaftliche Handlungsfähigkeit wird — unausgesprochen — vor dem Hintergrund einer national angeblich voll gewährleisteten Regierbarkeit geschildert. Dabei handelt es sich in beiden Fällen — schon formal — um ein und dieselben Regierungen! Sachlich hat „Unregierbarkeit" die natürliche Tendenz, sich „im Regelfall in äußerer Schwäche und Ineffektivität zu manifestieren" Heute verstärken gerade auch internationale Ursachen nationale Unregierbarkeiten. Alle internationalen Krisen-Vorkehrungen (Vierer-und Siebener-Weltgipfel) bezeugen dies ebenso wie europäische Neuerungen (Europäischer Rat, Telefon-Kontakte).
In Integrationsplänen und -Überlegungen wird von dem Wechselverhältnis von europäischer und nationaler (Un-) Regierbarkeit einfach abstrahiert. Vom gestiegenen Problemdruck einmal abgesehen, kann doch auch in der institutionellen Debatte nicht geleugnet werden, daß eine Reihe von Regierungen der Mitgliedsstaaten der Gemeinschaft strukturell wohl als „schwerregierbare Partner" gekennzeichnet werden müssen, mit denen „man sich nicht auf das Abenteuer einer engen politischen Union einlassen kann" „Grundsätzlich ist die Europäische Gemeinschaft mit allen Strukturproblemen von Industriestaaten konfrontiert — wenn auch mit einer nochmaligen Steigerung der Komplexität; denn wenn Phänomene der Unregierbarkeit vornehmlich als Auswirkungen hoher gesellschaftlicher Komplexität anzusehen sind, dann erwächst daraus zwangsläufig für die Europäische Gemeinschaft eine ganz spezifische Schwierigkeit” Wer will diese Zusammenhänge leugnen? Doch wer bezieht sie in unsere institutioneile Debatte ein? Es ist schon eher die Ausnahme, die diese Regel bestätigt, wenn Vicomte Davignon feststellt, daß „die Kommission nicht von dem allenthalben in Europa anzutreffenden Phänomen der Erosion der staatlichen Autorität verschont bleibt und daß es ganz klar ist, daß die Gemeinschaftsautorität denselben Weg wie die Autorität auf dem Niveau der verschiedenen Staaten nimmt"
In diesem grauen Alltag werden wir uns, ob es uns paßt oder nicht, einrichten müssen; nichts, aber auch gar nichts deutet für die achtziger Jahre auf spektakuläre Durchbrüche oder qualitative Sprünge hin. Das Europa-Geschäft wird beschwerlich bleiben; es geht, einem Grabenkrieg vergleichbar, um den Gewinn von Metern, nicht um strategische Durchbrüche. Und dies sind keine beflügelnden Aussichten! Die vertraglich verankerten Institutionen werden im Rahmen ihrer vertraglichen Befugnisse mit den großen und kleinen Problemen der Gemeinschaft und ihrer Mitglieder konfrontiert bleiben — und sie werden sie zu lösen haben. An schwierigsten Sachfragen und „Krisen" wird sicherlich kein Mangel herrschen. Enttäuschung und Scheitern werden dabei sicherlich keine Ausnahmen bleiben. Wir haben es mit dem Reflex des nicht zu leugnenden Phänomens der „Veralltäglichung" europäischen Geschehens im Sinne Max Webers zu tun. Viele kleine Fortschritte werden das Strickmuster der Integration vervollständigen und stetig nur widerstandsfähiger machen, so daß grundsätzlich die Chancen für einen „großen Sprung" eher zu-als abnehmen werden. Beruhigend ist jedoch, daß der viel beschworene „point of no return", politische Erdbeben einmal ausgeklammert, sicherlich auch erreicht ist. Ein politisches Gesamttableau kann heute nicht gegeben werden. Denn ein klares Leitbild oder selbst Leitbilder existieren nicht.
Gedrängt nur soviel: Grunderkenntnis institutioneller Art ist dabei, unzweifelhaft bei objektiver Analyse, daß der Anteil der Mitglieds-staaten am Entscheidungsverfahren eher steigt: In der Phase der Erweiterung der Gemeinschaft wie ihrer Vertiefung mußten die Staaten selbst größere politische Gestaltungs-möglichkeiten fordern, zumal ihr eigener Handlungsspielraum, nach innen wie nach außen, gleichfalls geschrumpft ist. Das Römische Konzept ist insofern obsolet geworden. Der Vorstoß in neue Sphären forderte seinen Preis. Europäische Legitimation war über die Korn, mission eben aus objektiven wie Kommissions-internen Gründen nicht zu gewinnen. So wird die Gemeinschaft ohne verbindliches Leitbild in einer diffusen Zwischenphase leben und sich dennoch und kaum mehr als tastend entfalten müssen.
II. Wer ist schuld: Umstände oder Strukturen?
Der gegen den Ministerrat von den Integrationsanhängern erhobene Vorwurf ist doppelter Natur: Er entferne sich immer stärker von der ursprünglichen Integrationsstrategie, seine Verhandlungen nähmen also immer deutlicher Züge der klassischen intergouvernementalen Koordination an; dies würde noch dadurch verstärkt, daß das einmal in den Verträgen vorgesehene institutioneile Gleichgewicht aus den Fugen geraten sei, und zwar zu Lasten der föderalen Institution, der Kommission, und zugunsten der konföderalen Institution, eben des Ministerrates. Politische (Führungs-) Legitimation komme eigentlich nur dem Rat, am nachdrücklichsten verkörpert im Europäischen Rat, zu, der so die Balance entscheidend gestört habe. Dies alles finde darin seinen Niederschlag, daß der Rat seiner Funktion als Entscheidungsorgan nicht mehr gerecht werde. Die Entscheidungen würden zu spät und vor allem in sachlich unbefriedigender Weise gefällt. So stehe letztlich der oft beträchtliche Aufwand bei der Entscheidungsfindung in keinem angemessenen Verhältnis mehr zum erzielten Ergebnis
Für den in föderalen Dingen halbwegs Bewanderten sind dies alles Vorwürfe, mit denen er aufs Beste vertraut ist; ja, das Fehlen von solchen vorgeblichen „Krisenelementen" oder eher natürlichen Reibungsverlusten müßte ihn geradezu stutzig machen, handelt es sich doch um konstitutive Charakterzüge eines natürlichen Spannungsverhältnisses partikularer und integrativer Komponenten föderaler Zusammenschlüsse Und sebstverständlich manifestieren sich die Probleme in der Gemeinschaft insofern auch in einem supranationalen, potenzierten Maßstab. Brüssel ist keine Insel der Seligen. Das Ende der als selbstverständlich betrachteten Wachstumsgesellschäft hat die Gemeinschaft natürlich nicht ausgespart. Härtere Verteilungskämpfe jeder Art sind daher überall die Regel.
Diese Vorwürfe sind weder neu, sie waren auch schon vor 1965 zu hören, noch sind sie in dieser Form völlig berechtigt. Denn vor allen Dingen wird nicht klar, an welchen Idealzuständen sie sich orientieren. Kritiker am institutioneilen Gefüge der Gemeinschaft lassen vor allem die genauso grauen nationalen Realitäten aus dem Auge Welche Reformen, Konzepte, Strategien werden denn schon un-verwässert im nationalen Entscheidungsverfahren und zudem noch zur rechten Zeit umgesetzt? Wo funktioniert denn, grob gesagt, der nationale Entscheidungsprozeß befriedigend? Und welcher Mitgliedsstaat ist für die vielfältigen, neuartigen wie großen Herausforderungen der achtziger Jahre konzeptionell auch nur halbwegs gewappnet? Dies alles soll nicht den untauglichen Versuch des Beschönigens darstellen, so als ob wir in der besten aller europäischen Welten lebten. Ganz und gar nicht — nur scheint einiges an den europäischen Kritiken dringend der nationalen Relativierung bedürftig. 1. Krisen-Inflation Die klassischen Beschreibungen und Erklärungen der europäischen Krise, die gehandelt werden — von den sogenannten Drei Weisen bis zu den Regierungschefs —, sind sicherlich nicht ohne Relevanz; sie sind jedoch nicht hinreichend, um eine halbwegs komplette wie schlüssige Analyse zu erlauben. In dieser Diskussion wird die europäische Malaise vor allem drei Komplexen angelastet: der Erweiterung, der (Welt-) Wirtschaftskrise und eben den Institutionen. Für alle drei Erklärungsstränge läßt sich zweifelsohne plausibel nachweisen, daß ohne die Existenz dieser Krisenfaktoren die Gemeinschaft besser in Form wäre. Dies liegt auf der Hand: Wer will das bestreiten?! Die Argumentation läuft, knapp gesagt, darauf hinaus, daß die ursprüngliche Gemeinschaft, wenn sie nur von der weltweiten Wirtschaftskrise verschont worden wäre, manchen Fortschritt hätte machen können und in Zukunft machen könnte, den sie jetzt nicht oder nur beschwerlich zuwege zu bringen vermag. Wenn darüber hinaus die Vertragsvorschriften auf dem institutioneilen Gebiet endlich angewandt würden, wenn es also zu den vertraglich vorgesehenen Mehrheitsentscheidungen im Rat und damit zu einer Rückkehr zum ursprünglichen Gleichgewicht von Kommission und Rat käme, wenn die Kommission wieder als Präfiguration einer europäischen Regierung operieren und wenn schließlich das Europäische Parlament zumindest machtvoll den europäischen Wählerwillen zu artikulieren vermöchte, wirklich agieren statt deklarieren würde, vielleicht, auf diese Weise jedenfalls politische Legitimation erringend, sogar im legislativen Bereich dem Rat Rechte abzutrotzen vermöchte, müßte der Entscheidungsprozeß wie geölt funktionieren. Wenn es zudem bei der ursprünglichen, homogeneren Sechser-Gemeinschaft geblieben wäre, ja dann ...!
Nur sind die Verhältnisse — leider — nicht so. Denn dies sind — so oder so — alles europäische Wolkenkuckucksheime. Es sind nicht die Realitäten, so sehr man dies bedauern mag, die da abgebildet werden. Man kann diese „Erklärungen" wohl nur als Anwendung der Formel „tout comprendre, c'est tout pardonner" ansehen. Will man damit die Verhältnisse keineswegs gesundbeten, so sind sie bestenfalls bedingt tauglich. Wegen ihres Leerformel-Charakters lenken sie von den wahren Gründen ab. Dies ist im übrigen schon deswegen der Fall, weil mit diesen drei Erklärungsversuchen in jeweils unterschiedlichem Maße und zudem häufig noch in monokausaler Form die Schuld auf äußere Ereignisse abgewälzt wird. Lassen wir das angebliche institutionelle Versagen einmal beiseite, so sind Erweiterung und Weltwirtschaftkrise Gründe, mit denen die Schuldzuweisung eben „externalisiert" wird. Mit allen drei Ansätzen hat man jedenfalls das Alibi zur Hand: Es läge nun einmal an den „Umständen“. Politiker sind da kaum zur Abhilfe fähig und gefordert. Im Umkehrschluß unterstellt dies — leider nur unausgesprochen —, daß die Gründe für alle Probleme danach eben nicht im Integrationsvorgang selbst zu suchen seien. Dies sollte schon deswegen verdächtig stimmen, weil dies in Richtung einer ausgesprochenen Schutzbehauptung weist oder eher auf Verdrängungsprozesse hindeutet, als schlüssige Erklärungen zu liefern, mit denen, über Befund und Analyse hinaus, vor allem Ursachen politisch angegangen werden können. Die Inflation auch der europäischen Krisen wie ihre wahren Ursachen sind jedoch im wesentlichen „hausgemacht". 2. Wahre Ursachen Wie es scheint, sind bei genauerem Zusehen vor allem folgende drei Elemente ausschlaggebend für fehlende Erfolge und abhanden gekommenes Vertrauen: die Erschöpfung des Römischen Vertragskonzepts, das Fehlen eines politischen Föderators und die inzwischen überholte, aber heute die Vorstellungen noch beherrschende funktionalistische Integrationsphilosophie. Dies alles sind Erklärungsversuche, die an den Eigenarten eines historisch bislang einzigartigen Vorgangs der Integration, der wirtschaftlichen Verschmelzung von Staaten ansetzen und die nicht mit irgendwelchen Zufälligkeiten, „Äußerlichkeiten“ bewenden lassen.
Erstens, jenseits der institutioneilen Vorkehrungen ist das Römische Integrationskonzept im Sinne eines trait-rgles für neue Politiken nahezu ausgeschöpft. Die unvermeidliche und häufige Berufung auf die Vertragsergänzungsklausel des Artikels 235 durch einstimmige Ratsentscheidung beweist dies; der Anwendungsbereich des Artikels 236 (Ratifizierungsbedürftigkeit durch die nationalen Parlamente) wird zunehmend gestreift. Das heißt, überall, wo die Gemeinschaft Land unter den Pflug nehmen will, begibt sie sich auf wirkliches Neuland; es gilt abzustecken, oft muß erst gerodet werden. Einen Grundkonsens über Bebauungspläne, Fruchtfolge, Investitionen, Düngung, Kosten und Erträge ist zunächst zu erzielen. Kurz und gut: die Gemeinschaft lebt nicht länger in der Phase der relativ einfachen Vertragsexekution, auch wenn dieses Wort fälschlicherweise einen gleichsam mechanischen Umsetzungsprozeß suggeriert Heute befindet sie sich hingegen allenthalben sozusagen ohne festgelegten Wanderweg auf freiem Felde.
Gerade für den weiten und wichtigen Bereich der neuen Politiken, die den Bereich der Wirtschaftsunion im weitesten Sinne des Wortes umfassen, geht es um ständige nachgeholte Vertragsverhandlungen. Für diese ist im übrigen Einstimmigkeit ohnehin unabdingbar, wenn auch viel gewonnen wäre, wenn es zumindest in den klassischen Bereichen, z. B. Agrarpolitik, verstärkt zu Mehrheitsbeschlüssen käme. Vergessen sollte man indes nicht, daß in dem immer sensibler werdenden Bereich der Aufstellung des Haushalts nicht nur das Parlament mitbestimmender Teil der Haushaltsbehörde ist, sondern daß ihr anderer Teil, der Rat, in diesem Bereich systematisch seinerseits auch mit Mehrheit entscheidet. Sicherlich hilft die zwar berechtigte, aber in ihren Wirkungen nur als gebetsmühlenartig zu bezeichnende Berufung auf den Vertrag da wenig weiter.
Zweitens, das Konzept der europäischen Staaten in der Gemeinschaft hat sich in vielfältiger und tiefgreifender Weise in den letzten zwanzig Jahren peu ä peu verändert. Hier nur soviel: Frankreich spielt heute nicht mehr wie in den fünziger und sechziger Jahren und selbst zu Beginn der siebziger die Rolle einer europäischen Vormacht. Es hat, ob man dies in Deutschland wahrhaben will oder nicht, der Integration nicht nur die entscheidenden gedanklichen und politischen Anstöße gegeben; wichtiger: es hat, vielleicht bisweilen ä contre-coeur von der politischen Finalität der Gemeinschaft her, die inhaltliche Umsetzung des Konzepts machtvoll gefördert, im Agrarbereich häufig ultimativ erzwungen. Deutsch-'land tat sich da aus mannigfachen Gründen schwerer; diese sind vor allem politischer, aber auch gerade wirtschaftsstruktureller Natur, der deutsche „impact" entspricht sicherlich keineswegs seinem Potential. Abgesehen von der Durchsetzung des klassischen Marktkon-zepts in der Gemeinschaft — Marktwirtschaft nach innen, Freihandel nach außen —, war Deutschland eigentlich niemals „demandeur", eher vielleicht so etwas wie ein „commis voyageur". Für sein heutiges wirtschaftliches und politisches Gewicht zumal hat es sich nicht konstruktiv in den Ideen und dynamisch-entschlossen in der Durchsetzung erwiesen. Seine typische Haltung war eher: weniger und billiger. In dieses gewisse machtpolitische Vakuum eines Europa der Gleichen ist nach dem Ausklingen der de Gaulle-Ära kein anderer Staat oder Politiker eingedrungen. Das Szenario ist gründlich durcheinander geraten. Großbritannien hat dies zudem noch in einem pejorativen Sinne getan; es bleibt auf absehbare Zeit ein „unsicherer Kantonist". Auch der Wille des externen Föderators, der USA, der so lange für die europäische Integration konstitutiv gewesen ist, ist gleichfalls sichtlich erlahmt. Und alle äußeren Bedrohungen vermochten keinen Integrationswillen oder -druck zu erzeugen.
Aber nicht nur der Föderator — oder auch mehrere — lehlte: auch die Integrationsphilosophie in einem umfassenden Sinne ist ebenso schlicht wie bislang eigentlich unbemerkt abhanden gekommen. Keine umfassende Ideologie, keine sachliche Konzeption, keine neue bestechende Idee und schon gar keine politische Strategie für die achtziger Jahre sind entwickelt worden. Schlimmer, eine Grundsatz-Diskussion hat sich spontan nicht entwickelt; nicht einmal der Versuch, sie zu organisieren, ist gemacht worden. Kaum eine Plattform steht zur Verfügung Angesichts des Fehlens einer politischen Kultur in diesem umfassenderen Sinne ist dies wenig erstaunlich. Aber damit schließt sich leider auch der Kreis. Das System scheint in einem negativen Sinne stabilisiert. Dynamik vermag es nicht zu erzeugen. Politische Führungslosigkeit und, tiefer sitzend, konzeptionelle Orientierungslosigkeit sind zwar uneingestanden, aber ebenso unübersehbar. So haftet der Integration eine eigentümliche Unbestimmtheit schon im Inhaltlichen, aber auch im Politischen an. Und darauf beruht die über den reinen Skeptizismus hinsichtlich der künftigen Entwicklungen im nationalen Bereich weit hinausgehende Krisengestimmtheit in Europa, ja die abgrundtiefe Ratlosigkeit und selbst eine geradezu nihilistische Grundhaltung, die sich breit zu machen beginnt. Also Integration ohne Führer wie ohne volont gnrale nur mit der pragmatischen Methode der kleinen Schritte?
Drittens, und mit dem Vorangehenden schon ein wenig im Zusammenhang stehend, hat sich die vorherrschende funktionalistische Integrationstheorie als irrig erwiesen: „Die Differenzen können bei fortschreitender Integration leichter überwunden werden." Diese Erwartung, vielleicht einer systemimmanenten europäischen Fortschrittsgläubigkeit verpflichtet, ist heute, jedenfalls im Sinne einer relativ starken Zwangsläufigkeit, durch die Realitäten wohl ad absurdum geführt worden. Sie hat im übrigen selbst für die vom Vertrag gedeckten Materien — siehe die letztlich gescheiterte gemeinsame Verkehrspolitik — bestenfalls cum grano salis zugetroffen; sie gilt aber erst recht heute für die aktuellen neuen Bereiche nicht. Denn dort sind die Interessen-divergenzen größer, die nationalen Egoismen stärker, die Handlungs-und Entscheidungszwänge durch die Nationalstaaten geringer. Sofern die Kernbereiche staatlicher Daseins-vorsorge betroffen sind, und um diese geht es in der Gemeinschaft jetzt vor allem, sind sie eben schlichtweg unvergleichbar mit allem bisher gemeinschaftlich in Angriff Genommenen. Mechanistische Vorkehrungen gleich welcher Art erlauben es jedenfalls nicht, derartige Widerstände „auszuhebeln" und solche Schwierigkeiten hinwegzudividieren. Risiken und Kosten zusätzlicher Integration sind heute leichter zu kalkulieren als mögliche Gewinne und angebliche Vorteile. Das ist die europäische crux. Und diese ist auch selbstverschuldet, da die Kommission und ihre Klientel stets allzu hoch gespannte, häufig überzogene
Erwartungen in Gemeinschaftslösungen nährten, ohne klar auszuweisen, wo denn ihre Netto-Vorteile liegen oder, im Falle des NullSummenspiels, welche Umverteilungsprozesse gleich welcher Natur damit zustande kommen sollen. Die Kommission sollte alle Anstrengungen unternehmen, um mit und in ihren Vorschlägen diese „Schieflage" zu beseitigen.
Europa fehlt die Schubkraft; denn es hat weder ein Programm noch einen Führer noch gar eine Idee. Es bedarf dringend aller drei, die letztlich nur die drei Facetten des tatsächlichen Integrationsdefizits sind. Weist man die Schuld ausschließlich anderen, äußeren Faktoren zu und zielt so zu kurz, so kann, ja muß die Diagnose zur falschen Therapie führen, ja sie verkommt zur reinen Rezeptur. Krisengerede, Leerformeln, klischeehafte Formeln, Passe partouts versperren den Blick auf die wahren Zusammenhänge. So zeichnet sich die kärgliche Diskussion zu dieser Thematik eher durch große weiße Flecke aus. Bleibt also nur das Prinzip Hoffnung? Ja! — und europäische Selbsterkenntnis als erster Weg zur Besserung, vor allem die dringende Beherzigung der Einsicht, daß falsche Ungeduld der größte Feind auch der Integration ist. Überspannte, unbefriedigte Erwartungen müssen dialektisch letztlich kontraproduktiv wirken. Max Webers schöne Vokabel von der „Veralltäglichung" sollte daher zum europäischen Leitwort der achtziger Jahre werden.
Aus all diesen skizzierten strukturellen Gründen wird Europapolitik vom Rat heute weniger ausschließlich als klare Dezision betrieben; die Konkordanz-Elemente überwiegen unvermeidlicher-und sogar sinnvollerweise. Da auch, allem Anschein nach, auf absehbare Zeit eine entscheidende Erweiterung der legislativen Befugnisse, des Europäischen Parlaments nicht zu erwarten steht, bleibt vorerst nur der wenig befriedigende, häufig als technokratisch bezeichnete Versuch, das Entscheidungsverfahren in seiner Effizienz zu steigern. Ein solcher „mittlerer" Weg zwischen reinen Geschäftsordnungsretuschen und tiefgreifenden Verfassungsänderungen „orientiert sich am de facto heute Realisierbaren. Die erwogenen Vorschläge halten sich deshalb im Rahmen der geltenden Verträge, für deren Änderung im besonders sensiblen Bereich der Institutionen die Zeit noch nicht gekommen zu sein scheint. Die Aufmerksamkeit gilt nicht den operationeilen Erfordernissen einer föderalen Gemeinschaft, sondern den praktisch nä9 herliegenden Zwischenstationen" -Diese Analyse von Sasse ist auch nach einem halben Jahrzehnt noch aktuell und zutreffend. So läuft auch die Frage, ob der Rat auf dem Wege zur Koordinationsstrategie sei, letztlich an der Thematik vorbei, denn entscheidend ist letztlich in der Politik häufig nicht das Wie, also der methodische Weg, sondern das Was, also das Ziel, auch wenn es nicht lupenrein definiert ist, und — wichtiger — eben die erzielten Ergebnisse.
Blaupausen, Szenarios, Pläne scheinen wenig zeitgemäß, auch wenn sie sicherlich nicht nutzlos wären. Die Frage Bundesstaat oder Staatenbund ist ebenso theoretisch wie obso-let. Denn „über Supranationalität wird nicht mehr geredet" Ein gradualistisches Vorgehen ist angezeigt. Wenn es schon Rezepte sein sollen, lauten sie eben eher in den gängigen Gemeinschaftssprachen iterative Prozesse, „trial and error", „tätonnement". Effizienzsteigerungen im Rahmen des Systems, und zwar auch bei bisher vernachlässigten Elementen, sind geboten. Dies bedeutet nicht den Verzicht auf Theorie oder gar ihr Leugnen, es ist auch nicht billiger Pragmatismus. Es ist nur ein Ansatz, mit dem „facts of life" zur Kenntnis genommen und auf politische, institutionelle und strukturelle Gegebenheiten bezogen werden, anstatt diese auszusparen.
III. Wie ist der Rat zu retten?
1. Ansatzpunkte zur Revitalisierung Im Interorganverhältnis existiert die vertraglich festgelegte Rollenzuweisung. Aber es fehlen auch heute noch Regeln oder Verfahren, mit denen etwa das Zeitbudget zwischen den Organen aufgeteilt werden könnte. So ist es fast zwangsläufig, daß die Institution, die die Initiative ergreift und Vorschläge oder Entwürfe vorlegt, sich — fast systematisch — ein zu großes Stück des Zeitkuchens nimmt, ohne zu berücksichtigen, daß es damit das Entscheidungsorgan häufig in einen unzumutbaren Zeitzwang bringt. Dadurch entsteht in den unter Zeitdruck stehenden Verhandlungen im Rat viel vermeidbare Hektik und — wichtiger — folglich eine natürliche Tendenz zum kleinsten gemeinsamen Nenner; aber auch Stellungnahmen des Europäischen Parlaments und Wirtschafts-und Sozialausschusses geraten in Mitleidenschaft.
Arbeitsprogramme der Kommission sollten daher mit klaren Terminvorstellungen für alle Institutionen versehen werden. Die Kommission muß generell endlich lernen, sich im arbeitsteiligen Prozeß als ein Glied zu begreifen. Ein Vorschlagsmonopol schließt konzeptionell schon gerade ein Verantwortungsmonopol mit ein. Angepeilt wird dabei weder eine Super-Planungsbehörde noch die Einschränkung des Initiativrechts der Kommission, das ja eben auch die zeitliche Komponente mitumfaßt. Es geht letztlich darum, daß Entscheidungen über die Themen, die die Gemeinschaft behandeln und lösen soll, sowie der Zeitpunkt ihrer Erörterung nicht gleichsam naiv angeblichen Sachzwängen überantwortet werden. Bleiben das Ob wie das Wann nicht länger vorgegebene Daten, sondern werden sie zu echten politischen Variablen, können sich die Gemeinschaftsinstitutionen eine Fülle von vermeidbaren Krisen ersparen, und der Rat vor allem könnte, ohne sich häufig nutzlos zu verschleißen, stärker entscheiden und Impulse geben. Neben der strikten Beachtung und vollen Anwendung seiner eigenen Geschäftsordnung sollte der Rat seinen Generalsekretär beauftragen, sich mit den General-sekretären der übrigen Institutionen regelmäßig in diesen Fragen verbindlich abzustimmen und über die klare Einhaltung der in seiner Geschäftsordnung gesetzten Fristen auch gegenüber der Kommission zu wachen.
Fehlende Interorgan-Planung setzt sich jedoch auch ratsintern fort: Zwar legt die Ratsmacht dem Europäischen Parlament zu Beginn jedes Semesters seit einiger Zeit ein Arbeitsprogramm vor und zieht am Ende jeweils Bilanz, aber dies-alles bleibt in relativ allgemeinen politischen Erwägungen stecken. Der Rede des Ratspräsidenten vor dem Parlament sollte vielmehr ein detailliertes Arbeitsprogramm angefügt werden, das einen verbindlicheren Charakter bekommen sollte. Innerhalb der Ratsstrukturen wäre seine Umsetzung entsprechend zu organisieren, so daß jeweils die niedrigere Ebene an die jeweils höhere bilanzierend zu berichten hätte: also die Arbeitsgruppen an den Coreper (Ausschuß der ständigen Vertreter, also der Botschafter), der Coreper an den Rat, der Rat, soweit erforderlich, an den Europäischen Rat. Effizienzsteigerung und Transparenzgewinnung wären die Folgen. Entscheidungen könnten sicherlich damit nicht erzwungen werden, aber es käme zu so etwas wie einer (Selbst-) Kontrolle, was heute so gut wie nicht existiert.
Da die zeitliche, Programmierung nicht nur ungenügend, sondern praktisch inexistent ist, kommt der Rat auch zu wenig, wenn überhaupt, zu seiner wichtigen impulsgebenden Funktion. Es ist häufig unbefriedigend, wenn auf der Gruppenebene oder im Coreper wichtige Zeit vergeudet und viel Kraft verschlissen wird, und zwar in Fällen, wo Kommissionsvorlagen, um sinnvoll behandelt zu werden, eigentlich erst politischer Vorgaben durch den Rat selbst bedürfen. Sicherlich sind gerade auf der Gemeinschaftsebene technische Aspekte und politische Gesichtspunkte oft untrennbar miteinander verwoben, doch ist eine zielgerichtete Rationalisierung der Beratungen häufig durch Orientierungsdebatten im Rat oder auch im Coreper möglich. Einstweilen bleibt die Einschaltung dieser Ebene zu oft dem Zufall überlassen.
Vorschläge bzw. Entwürfe sollten nicht wie bisher eigentlich nur zur höheren Ebene abgegeben werden, sondern grundsätzlich häufiger die verschiedenen Ebenen in beiden Richtungen durchlaufen, anstatt auf der jeweiligen Ebene sozusagen festgehalten zu werden. Der jeweilige Vorsitz hat hier eine Schlüsselrolle, die er ebenso behutsam wie ideenreich wahrzunehmen hat, um den Eindruck der Ausübung einer unangemessenen zeitlichen Pression auf bestimmte Delegationen ebenso zu vermeiden wie den mangelnder Führung und Durchsetzungskraft.
Hier wird deutlich, daß schon mit steigender Zahl der Mitgliedsstaaten die Rolle des Vorsitzes auf allen Ebenen stärker wird. Daher sollte sie auch bewußter eingesetzt und gesteigert werden. Diese objektive Entwicklung geht indes einher mit der subjektiven Bereitschaft aller Mitgliedsstaaten — im vergangenen Jahrfünft erprobt —, der Präsidentschaft eine größere, zunehmende Autonomie einzuräumen. Mehrheitsentscheidungen im Rat werden in der Diskussion viel zu sehr, ja ausschließlich unter dem Gesichtspunkt behandelt, ob bzw. daß sie entscheidungsfördernd im Rat selbst sind. Tatsache ist jedoch gerade, daß sich das Luxemburger „disagreement" auf allen Ebenen des Rates breit gemacht hat. Jeder gute Vorsitzende arbeitet bei seiner Verhandlungsführung besonders auf der Gruppenebene und auch im Coreper mit dem Hebel der Mehrheitsentscheidung, zumindest und eigentlich am besten als „fleet in being", wie es auf gut deutsch heißt. „Das Verhandlungsgeschick des Vorsitzenden — gerade auf Gruppenebene, wo bekanntlich nicht bloß technische Aspekte vorentschieden werden — bestimmt also in großem Maße die praktische Tragweite des Luxemburger Arrangements. Im Gemeinschaftsalltag stellt sich die Frage von Mehrheitsentscheidungen damit vorläufig weniger als politische oder Rechtsfrage, sondern als Frage der Verhandlungspsychologie und der methodisch richtigen Leitung von Gruppen und Ausschüssen ... Hier wäre zu erwägen, durch geeignete Vorkehrungen die Vorsitzenden, insbesondere der Ratsgruppen, in den Besitz des für eine aktive und erfolgreiche Verhandlungsführung nötigen Rüstzeugs zu setzen. Man sollte sich dabei nicht scheuen, auch Erfahrungen aus dem Management-Training der Wirtschaft nutzbar zu machen. Denn es kann nicht genug unterstrichen werden, daß neben Phantasie, Mut und Standfestigkeit des Vorsitzenden seine Vertrautheit mit der erlernbaren Technik der Konsenserzielung, insbesondere der Herausarbeitung von Mehrheitsmeinungen, für den Erfolg der Beratungen ausschlaggebend ist." 2. Arbeitsgruppen über die schon zahlenmäßig beeindruckende Ebene der Arbeitsgruppen des Rates herrscht weitgehend Unkenntnis. Politsoziologisch bilden sie den sich stets verändernden und erneuernden Brückenkopf der Mitgliedsstaaten in Brüssel. Sie bringen Europa weiter oder lassen es stagnieren . — so ist das nun einmal weitgehend in diesem technokratischen Euro-pa. Kein Weg führt an ihnen vorbei, von seltenen Ausnahmen wie dem Europäischen Währungssystem abgesehen.
Und wegen ihres technokratischen Grundzugs neigen Politiker wie Wissenschaftler in der Regel dazu, sie einfach zu übersehen. Unter Rückgriff auf die einzige Studie, die dieser Ebene angemessene Bedeutung beimißt nur soviel: Klare Aufgaben sind ihnen zu stellen, und ein eindeutiger Tagungsrhythmus ist festzulegen. Der Zusammensetzung der Arbeitsgruppen muß endlich qualitativ wie organisatorisch angemessene Bedeutung zukommen; ihr haften zuviel Zufälligkeiten an. Die Rolle des Vorsitzes wird allgemein unterschätzt. Dabei bietet sich hier ein ganz wichtiger Hebel an: Um sukzessive den Charakter der Präsidentschaft im Ratsgefüge zu entnationalisieren und auch aus Effizienzgründen sollte damit begonnen werden, den Vorsitz zunächst in bestimmten ständigen Gruppen, die sich aufgrund ihrer Besetzung mit Beamten der Brüsseler Vertretungen durch eine größere Homogenität auszeichnen, wählen zu lassen; zu denken wäre etwa an die Gruppen für Soziales, Umwelt, Verkehr, Haushalt. Die Bildung von „Erbhöfen" ist dabei durch längerfristige Rotation zu vermeiden. So schockierend auf der einen Seite für eingefleischte Nationalisten dieser Vorschlag ist, so kommt in ihm auf der anderen Seite der supranationale Charakter gleichsam lehrbuchhaft zum Ausdruck, aber eben nicht an der Spitze, sondern an der Basis. Wer langfristig die Vereinigten Staaten von Europa will, muß solche Gedanken in die europäische Debatte einführen, ja, sie haben einen wichtigen Platz in der Diskussion einzunehmen. Im Zusammenhang damit ist auch an das Vermitteln von Arbeits-und Verhandlungstechniken für Vorsitzende wie Delegierte sowie die Verlängerung der Amtszeit des Vorsitzenden auf etwa zwölf Monate zu denken. 3. Ergänzung des Coreper Der Verfasser bleibt davon überzeugt daß eine Erweiterung und damit Entlastung der Ebene des Coreper, die seit 1962 unverändert als Coreper I und II — vom Sonderausschuß Landwirtschaft einmal abgesehen — besteht, nicht allein aus Kapazitätsgründen unerläß. lieh ist. Ist jetzt nach der 1 000. Sitzung des Coreper der Moment nicht gekommen? In die im wahrsten Sinne des Wortes alltäglichen Beratungen auf der mittleren Ebene in Brüssel muß ein stärker politisch ausgerichtetes Element eingeführt werden, um das doch noch prädominante Gegeneinander von Integration und Außenpolitik zu überwinden. Denn Integration ist eben nicht klassische Außenpolitik, so wichtig Diplomatie als europäischer Wegbereiter war und auch bleibt. Wenn bisher die Auswärtigen Ämter in und für Europa dominierten, sollte dies eigentlich zu denken geben, heißt doch die Veranstaltung Integration und nicht an klassischen Regeln der Diplomatie auszurichtende Dominanz oder Kooperation! Das eigentliche Schwergewicht der europäischen Themen verlagert sich ja immer eindeutiger weg von der klassischen Diplomatie der Außenbeziehungen, auch wenn sie weiter an Bedeutung relativ gewonnen haben, und auch weg von der klassischen, „negativen" Integration. Und ohne stärkeren Einfluß der immer wichtiger werdenden innenpolitischen Komponente, die beamtete Botschafter zwangsläufig nach ihrer Funktion eben nicht im gleichen Maße repräsentieren können, wird Europa eher intergouvernemental bleiben als integrativ werden.
Eine andere Begründung für die Notwendigkeit einer Ergänzung des Coreper ist, daß er zahlenmäßig erweitert und in qualitativer Hinsicht deutlich angehoben werden müßte. So sehr diese Probleme in aller Munde sind und so gewichtig der Umfang der institutioneilen Debatte ist, so ist neuerlich für die Fragestellung Fehlanzeige zu melden. Die periodische Beschwörung in Kommuniques des Rates, den Coreper „mit einer größeren Entscheidungsbefugnis auszustatten wird wohl, ja muß folgenlos bleiben, wenn es nicht gelingt, fachlichen Rang und politische Durchschlagskraft des Ausschusses anzuheben. Warten wir also unbesorgt die nächsten fünf Jahre ab, überzeugt davon, daß sich die objektive Not-wendigkeit schon nach und nach auch durchsetzen wird. Schade nur, daß sich Einsichten in gleichsam geschichtliche oder strukturelle Notwendigkeiten häufig so langsam verwirklichen lassen.
Die Einrichtung eines Teils III scheint überfällig; sie wurde schon bei der Pariser Gipfelkonferenz von 1972 in einem Arrangement zwischen Staatspräsident Pompidou und Bundeskanzler Brandt nur um Haaresbreite verfehlt; doch dabei kann es sicherlich nicht bleiben. Das grundsätzliche Problem und die einzelnen Argumente sind bekannt -Wesentlich ist, daß ohne weitere Komplizierung der jetzigen Entscheidungsmechanismen der Ausschuß der Ständigen Vertreter zugleich personell verstärkt wie politisch aufgewertet wird. Die Zuständigkeit eines solchen Teils III müßte alle diejenigen Aufgaben umfassen, für deren Verwirklichung nach den Verträgen keine hinreichende Handlungsgrundlage zur Verfügung steht, sowie solche Angelegenheiten, die wegen ihres politischen Gewichts von Teil II abgegeben werden. Nach der skizzierten Konzeption versteht es sich von selbst, daß die Vertreter eines solchen Teils III beim Regierungschef selbst anzusiedeln wären. Dies ist insofern die konsequente Weiterentwicklung des Modells Europäischer Rat. 4. Beschlußfassung des Rates Eine neuere Interpretation weist dem Ministerrat eine Doppelfunktion als Gemeinschaftsorgan wie als zwischenstaatliches Gremium zu. Denn „als Organ der Gemeinschaften hat er die Pflichten zu erfüllen, die ihm in den Verträgen übertragen worden sind; seine Befugnisse leitet er dabei ausschließlich aus den Verträgen her, und er hat sie nach den in den Verträgen festgelegten Verfahren auszuüben. Andererseits ist der Rat in bedeutsamer Weise ein zwischenstaatliches Gremium. Er setzt sich aus den Mitgliedern der Regierungen zusammen. Die beiden Phasen der Ratstätigkeit, die dieser Doppelfunktion entsprechen — Harmonisierung einzelstaatlicher Standpunkte und Interessen unter seinen Mitgliedern und anschließende kollektive Legislativbeschlüsse —, sollten eigentlich Teil eines einzigen konstruktiven Prozesses sein."
Hierzu ist klar zu sagen: Selbst wenn man sich auf den Wortlaut des Artikels 145 EWGV als Ausgangspunkt stützt, der Rat ist das gemeinschaftliche politische Entscheidungs-und Rechtsetzungsorgan und sonst gar nichts. Denn die Tätigkeit des Rates teilt sich eben gerade nicht in zwei zeitlich hintereinander geschaltete Phasen, zuerst Koordinierung, dann Entscheidung, sondern, wenn schon, in alternative Ansätze, wobei die erste jedenfalls als förmliche Rechtsgrundlage eher bedeutungslos geworden ist. Wenn die „Drei" jedoch nicht diesen Vertragsartikel im Auge gehabt haben, so haben sie folglich dem Rat eine „außervertragliche" Rolle zuweisen wollen. Doch der Rat ist keinesfalls ein „zwischenstaatliches Organ". Eine Verwechslung mit den „im Rat vereinigten Vertretern der Regierungen der Mitgliedsstaaten bzw. Ministern", einer Konstruktion, die im Falle fehlender Rechtsgrundlage und klarer Gemeinschaftszuständigkeit oft als Entscheidungsbehelf herangezogen wird, wäre gleichfalls fatal.
Der Rat muß in seiner Arbeit endlich den Versuch machen, aus dem Reagieren unter großem äußerem Zwang herauszukommen. So sehr das Extemporieren und das Improvisieren in der Musik schöne Tugenden sind, so unangebracht sind sie im politischen Bereich. Planung, Umsicht und Überlegung sollten endlich stärker im Ministerrat in den Vordergrund treten. Tagesordnungen werden zu stark unter äußerem, auch zufälligem Druck zusammengestellt. Die Vorbereitungen sind auf nationaler wie europäischer Ebene zu häufig inadäquat, hastig. Die erst vor Jahresfrist erlassene Geschäftsordnung des Rates wird permanent mit Füßen getreten, ja eigentlich als nicht existent angesehen. Zahlreiche und vielfältige Verfahrensregeln für den Rat wie seine Organe, selbst wenn sie die Weihen des Europäischen Rates bzw.der Gipfelkonferenzen haben, sind das Papier nicht wert, auf dem sie stehen. „Dem Gewicht des Rates entspricht seine Organisation nicht.“ Hier fehlt es an einer Instanz, die als ständige, relativ unabhängige Einrichtung das einmalige Informations-und Erfahrungskapital des Rates, das in einem komplizierten Europa der Zehn oder Zwölf nicht brachliegen darf, optimal und im Interesse aller Beteiligten ausschöpft. Eine solche Instanz hätte die Funktion eines Sekretariats ohne eigenständige politische Verantwortung. Nach Lage der Dinge wäre hierzu wohl nur das Ratssekretariat in der Lage; es müßte aber das „standing" der Sekretariate internationaler Organisationen gewinnen, so unbestritten seine effiziente Arbeitsleistung in den Kulissen des europäischen Geschäftes ist. Sicherlich wird dies keine Veränderung sein können, die von heute auf morgen durchzusetzen ist. Vieles an organisatorischer und inhaltlicher Vorbereitung sollte aber in immer größerem Maße dem Sekretariat überlassen werden. Gelingt es dem Sekretariat des Rates, in dieser Beziehung Prestige und Ansehen zu erringen, wird sich schnell herausstellen, welche wichtige Lücke damit im europäischen Geschäft geschlossen wird. Wichtig dabei ist, daß sich der Generalsekretär im Zweifels-und damit im Konfliktfall auf die Autorität des Vorsitzes berufen kann.
Der Vorsitzende des Rates hat selten genug Zeit und ist im übrigen kaum mit den Subtilitäten europäischer Probleme, vor allem mit den Prozeduren und Verhaltensweisen so hinreichend vertraut, daß sein Einfluß wirksam werden könnte, so sehr er sich auch auf seine Beamtenschaft wie insbesondere den Vorsitzenden des Coreper in allen Fragen stützen mag. Letzterer ist zu stark in das Geflecht von nationalen Interessen, kollegialem Entgegenkommen, europäischen Konzessionen eingebunden, als daß er sich etwa in den wichtigen Verfahrensfragen unabhängig behaupten könnte. Im übrigen ist die sechsmonatige Zeitspanne zu kurz und das Übergewicht nicht-europäischer Fragen zu groß, als daß sich hier der Respekt von Regeln und Verfahren durchsetzen ließe.
Die Erwägungsgründe im Beschluß des Rates zur gerade erfolgten Ernennung seines Generalsekretärs sprechen eine klare Sprache.
Dieser Neuansatz im methodischen Vorgehen muß vom Rat aus auf alle Beteiligten ausstrahlen: auf Rat, Kommission und die anderen Organe. Zeitdruck und Entscheidungszwänge waren wichtige Instrumente in der Anfangsphase der Gemeinschaft; inzwischen haben sie sich geradezu verselbständigt und sind Selbstzweck geworden. Dies ist objektiv nicht mehr gerechtfertigt. Denn damit hat die sicherlich gewichtige zeitliche Komponente im europäischen Entscheidungsprozeß eine viel zu große Bedeutung, häufig fast eine Monopolrolle erhalten, und ihre ursprünglich beabsichtigten Auswirkungen sind sachlich wie taktisch ins Gegenteil verkehrt worden.
Bleibt noch die wichtige Frage, wem die wesentliche Rolle der Koordination zwischen den verschiedenen Fachräten obliegen sollte. Die Vorstellung, die häufig geäußert und auch von den „Drei Weisen" geteilt wird, daß hier den Außenministern die zentrale Stellung zukomme, ist wohl als ein Mißverständnis zu betrachten, und zwar aus den Gründen, die oben im anderen Zusammenhang schon erörtert worden sind Sie geht in doppelter Hinsicht von falschen Voraussetzungen aus: Einerseits ist der Außenminister in seinem nationalen Kabinett, ob in einer Koalitionsregierung oder einer Einparteienregierung, eben nicht regelmäßig der primus inter pares, also der Vizekanzler; andererseits wird heute die Europapolitik immer mehr zur Innenpolitik. Das Spannungsverhältnis von nationaler und europäischer Interdependenz wird damit auch verkannt. Eher läßt sich heute der umgekehrte Leitsatz aufstellen: Außenpolitik wird mehr und mehr zur Innenpolitik. Solche Vorstellungen sind zudem kaum von der Einsicht in fach-liehe Zusammenhänge und subjektive Hierarchien in nationalen Kabinetten getrübt Die Aussagen der „Drei Weisen" zu dieser Frage sind denn auch bezeichnend widersprüchlich. Den Außenministern wird nämlich im Grundsatz die Koordinierungsrolle abgesprochen, sie wird ihnen aber für die sogenannten „neueren Fach-Räte“ attestiert.
Integration umfaßt nun einmal heute schlechthin alle, wirklich alle Ressorts und es ist gut — auch psychologisch betrachtet —, die Ressorts und ihre Chefs europäisch zu integrieren. „Fachministerräte sind Integrationsinstrumente erster Ordnung", hat Hallstein zutreffend bemerkt. Die nationale Koordination europäischer Politik muß schon in den Hauptstädten geleistet werden; sie kann nicht gleichsam exterritorialisiert und erst in Brüssel nachgeholt werden, so wichtig die begleitende Funktion gerade des Ausschusses der Ständigen Vertreter ist, und so sehr sie zu stärken ist. 5. Europäischer Rat Mit der formalen wie faktischen Einbeziehung des Europäischen Rates in den europäischen Entscheidungsprozeß scheint mir etwas ganz Selbstverständliches endlich organisch vollzogen zu sein. Gerade wegen der im vorangehenden Kapitel geäußerten Argumente ist insofern die Ergänzung der politischen Entscheidungsebene dringend geboten gewesen. Das hat sich bei allen fachübergreifenden und daher gewichtigen Fragen als unerläßlich erwiesen. Ohne Mobilisierung der obersten Autorität sind wichtige Weichenstellungen in Europa nicht mehr zu erreichen. Aber dies bezieht sich nicht allein auf den Entscheidungsprozeß, also die Funktion des Europäischen Rates als Berufungsinstanz, sondern gilt umgekehrt auch für den Beginn gleichsam des Entscheidungsverfahrens, also die Rolle des Europäischen Rates als Impulsgeber Daher ist es berechtigt und wichtig, den Europäischen Rat als „anschauliches Beispiel für die Fähigkeit der Gemeinschaft zur Selbsterneuerung" zu würdigen. Sicherlich mag man darin auch ein Armutszeugnis für die vorhandenen Institutionen, vor allem den Ministerrat, erblicken. Und es besteht stets die Gefahr, daß Entscheidungen, die eigentlich im Ministerrat fallen müssen, auf den Europäischen Rat abgeschoben werden. Dem muß gegengesteuert werden. Dennoch gilt, daß die Einbeziehung der obersten (Weisungs-) Instanz ins System überfällig war; eine formale, positivistische Betrachtungsweise war nicht länger ausreichend. Die oberste Regierungsverantwortung innen-wie außenpolitischer Art war zwangsläufig in Europa von dem Moment an zu mobilisieren, da über die Erfüllung von im Vertrag schon definierten Aufträgen hinaus die Gemeinschaft neue, inhaltlich nicht schon beschriebene Aufgaben übernahm. Politsoziologisch bindet der Europäische Rat durch die Regelmäßigkeit dreimaliger Beratungen im Jahr die „Chefs" organisch in den gemeinschaftlichen Entscheidungs-und vor allem Entwicklungsprozeß ein. Die Wahrnehmung dieser Funktionen steht und fällt nach Aussage aller Beteiligten mit dem geschmeidigen Charakter von Vorbereitung und Ablauf der Beratungen. Jede Formalisierung muß wie ein Prokrustesbett wirken.
Dabei lassen sich sicherlich die Regierungschefs nicht in ein Arbeits-oder Aktionsprogramm für die nächsten Jahre einbinden, wie es den „Drei Weisen" etwa vorschwebt; dies könnte eigentlich nur kontraproduktiv wirken. Engagement würde getötet und tödliche Routine müßte sich ausbreiten. Weder Verhandlungen über eine Gemeinschaftsverfassung noch auch nur umfassendere programmatische Grundsatzbeschlüsse scheinen angesichts der vorhandenen politischen Meinungsunterschiede über Sinn, Zweck, Verfahren und Stufen der Integrationspolitik auf absehbare Zeit möglich oder angebracht. Zwangsläufig müßten sie nur vom unmittelbar Machbaren und Entscheidungsbedürftigen, an dem in Europa Überfluß herrscht, ablenken. Wenn es richtig ist, daß „der tastende Versuch mit einer Vielzahl von Strategien und Konzepten die Eigenart des Prozesses der europäischen Einigung ausmacht" dann kommt in dieser Abkehr von Ideologie und Rigorismus auch methodisch der Schmelztiegel-Charakter Europas vortrefflich zum Ausdruck. Damit erweist sich eben doch Europa als kräftige und vor allem vielgestaltige Realität und nicht als eine blutleere Phrase. Letztlich entscheidend ist in Europa der Erfolg, und der ist nur an einem Mehr an Integration zu messen. „Die Wahl der Schritte, ihre Definition und deren zeitliche Aufeinanderfolge ist eine Frage der Opportunität. Es gibt darin nichts Prinzipielles außer der Forderung, daß die Richtung auf immer mehr Einheit eingehalten wird. Wir nennen das die pragmatische Methode der europäischen Politik." Diese Aussage Walter Hallsteins bringt so manches ins rechte Lot. Aus all dem folgt, daß wenig von der modischen Aufgeregtheit von Politik-Kritikern zu halten ist, die von angeblicher europäischer Unregierbarkeit oder dem Verfall der Institutionen reden, auch wenn man sich damit auf verdächtige Tuchfühlung mit europäischen Gesundbetern oder Technokraten begibt. Doch sollte man sich bemühen, den Satz „alles verstehen ist alles verzeihen" nicht überzustrapazieren, denn „der Rekurs auf die Krise ist ein Schlüsselwort zur Stabilisierung der politischen Macht"
Die aufgezeigten Entwicklungsnotwendigkeiten des Rates der Europäischen Gemeinschaft eher für die achtziger Jahre werden kaum befriedigen: weder vermitteln sie einen „grand design" und inspirieren somit wenigstens die Vorstellungskraft oder auch nur vorgestrige Rechtgläubigkeit, noch haben sie sich — weit schlimmer — bislang als realisierbar erwiesen, eben weil sie politisch nicht aufgegriffen und umgesetzt werden. Dies mag nicht zuletzt aus der falschen Antinomie eines Zurück zu den vertraglich institutionellen Quellen und eines reinen Anpassertums herrühren. Dies wirkt beängstigend, ja gespenstisch, flößt diese politische Orientierungslosigkeit doch kein Vertrauen ein. So sehr Effizienzsteigerungen und funktionale Betrachtungsweise im Vordergrund vieler Vorschläge und Überlegungen stehen, so legt sich auf die vorgetragenen wie auf vergleichbare Vorschläge eines vermeintlich technokratischen Ansatzes gleichsam der Mehltau des europäischen Immobilismus. Wir haben es hier mit einem Paradoxon zu tun: Der große institutionelle Reformeifer, der wenig zeitgemäß ist (und sicherlich bleibt), läßt sich nicht auf die kleinen Anpassungen und Modifizierungen umleiten, die ein „piecemeal approach" im Sinne Karl Poppers nun einmal auszeichnet Aber nur von der Summe der kleinen Schritte ist eben zur Zeit die einzig absehbare Bewegung, die wenigstens in die richtige Richtung weist, zu erwarten. Und wir dürfen keinen Defaitismus der Art akzeptieren, daß entweder aus lauter Kleingläubigkeit oder aber in Erwartung großer Lösungen letztlich nicht einmal die heute möglichen kleinen Schritte unternommen werden. Blinder Idealismus ist genau so gefährlich wie blanker Pragmatismus. Die heute schon schweren Zeiten in Europa, die nur noch schwerer werden können, fordern Europas Handlungsfähigkeit heraus. Zwischen Status quo und grand design muß die Revitalisierung des Ministerrates daher gelingen.
Ulrich Weinstock, Dr. rer. pol., geb. 1935 in Frankfurt a. M.; 1962 und von 1965 bis 1969 in der EWG-Kommission in den Kabinetten von Präsident Hallstein und Wilhelm Haferkamp; 1969 bis 1973 Referent für Fragen der europäischen Wirtschaftsintegration im Bundeskanzleramt; seit 1973 im Generalsekretariat des Rates der Europäischen Gemeinschaft, gegenwärtig als Generaldirektor zuständig für die Generaldirektion Verwaltung und Haushalt, Operationeller Bereich und Übersetzung. Veröffentlichungen: Das Problem der Kondratieff-Zyklen, Berlin—München 1964; Regionale Wirtschaftspolitik in Frankreich, Hamburg 1968; Hrsg., Neun für Europa — Die EWG als Motor der Integration, Köln—Düsseldorf 1973 2; zus. mit Hans Scheuer, Administrative Strukturen der Europäischen Gemeinschaft. Ein Programm zur Revitalisierung der Brüsseler Bürokratie, Bonn 1977.