Der erstarrte Koloß Wirtschaftspolitik und Wirtschaftsreformpolitik der UdSSR in der Ära Breshnew
Hans-Hermann Höhmann
/ 21 Minuten zu lesen
Link kopieren
Zusammenfassung
Die sowjetische Wirtschaft von heute ist in zunehmendem Maße durch Erstarrung und Stagnation gekennzeichnet. Die forcierte Industrialisierungspolitik der Vergangenheit hat zwar einen gewaltigen Produktionsapparat geschaffen und die UdSSR an die zweite Stelle unter den Weltwirtschaftsmächten gebracht. Heute jedoch stößt die Wirtschaftsentwicklung auf immer enger werdende Wachstumsgrenzen. Diese wären nur mit entschiedenen Reformmaßnahmen, durch ein Aufbrechen der bürokratischen Verkrustung und eine umfassende Revitalisierung der Gesellschaft zu überwinden. Aussichtsreiche Schritte in diese Richtung sind aber auch nach dem XXVI. Parteitag der KPdSU nicht in Sicht. So dürften auch in absehbarer Zukunft strukturpolitische Unbeweglichkeit und administrativ-bürokratische Schwerfälligkeit bei gleichzeitigem Verfall der ideologisch-ökonomischen Moral und blühendem „Neben-Kapitalismus" (second economy) das Erscheinungsbild der sowjetischen Wirtschaft bestimmen.
Schwierige Lage am Beginn der achtziger Jahre
Am i. Januar 1981 hat das 11. Planjahrfünft der sowjetischen Wirtschaftsgeschichte begonnen. Es ist zugleich das 4. Planjahrfünft der Ära Breshnew, dessen Amtsantritt als Chef der KPdSU in die Vorbereitungsphase des 8. Fünfjahresplanes (1966— 1970) fiel. Zwar ist der neue Fünfjahresplan für die Periode bis 1985 noch nicht formell beschlossen, doch lassen die im Dezember vergangenen Jahres veröffentlichten wirtschaftlichen Orientierungsdaten, die sogenannten Grundrichtungen des Planes, sowie die Beschlüsse des XXVI. Parteitags vom Frühjahr 1981 erkennen, in welche Richtung und mit welchem Tempo sich die Wirtschaft der UdSSR in der ersten Hälfte der achtziger Jahre entwickeln soll Es ist allerdings nicht unwahrscheinlich, daß die ursprünglichen Planabsichten bald revidiert werden müssen: zu ungünstig verläuft die Entwicklung der sowjetischen Wirtschaft bereits in der Startphase des Plans Zweifellos fällt die Ausarbeitung des neuen Fünfjahresplanes in eine krisenhafte Periode der sowjetischen Wirtschaft.'Im abgelaufenen 10. Planjahrfünft von 1976 bis 1980 hat sich das wirtschaftliche Wachstum der UdSSR auf jahresdurchschnittlich 2, 5— 3 Prozent verlangsamt. Vor allem die
Jahre 1979 und 1980 brachten eine ausgeprägte Rezession, die sich im laufenden Jahr fortsetzt.
Der durchschnittliche Stand der Erfüllung des 10. Fünfjahresplans lag in den meisten Wirtschaftsbereichen nur knapp über 90 Prozent. Deutliche Rückstände gegenüber den Planzielen zeigte nicht zuletzt die Produktion wichtiger industrieller Schlüsselprodukte wie Erdöl, Stahl und Mineraldünger.
In Anbetracht der knapper werdenden Reserven an Arbeitskräften, Kapital und Rohstoffen wiegen die vielschichtigen Produktivitätsund Effizienzprobleme der sowjetischen Wirtschaft allerdings noch schwerer als Wachstumsverlangsamung und Nichterfüllung der Produktionspläne. War es die Grundkonzeption des Planes gewesen, unter dem von Breshnew selbst ausgegebenen Motto vom „Fünfjahresplan der Effizienz und Qualität" zu einem in erster Linie produktivitätsgestützten Wachstum überzugehen, so kann aufgrund der Stagnation bei der Produktivitätsentwicklung geschlossen werden: der 10. Fünfjahresplan ist in eben dieser Grundkonzeption gescheitert.
Von Chruschtschow zu Breshnew: Auf der Suche nach Gleichgewicht und Effizienz
Dies bedeutet aber zugleich, daß sich die wirtschaftspolitischen Leitideen der Ära Breshnew insgesamt als nicht tragfähig erwiesen ha-ben. Die zahlreichen Probleme der sowjetischen Wirtschaft, die bereits beim Amtsantritt Breshnews bestanden und die ihren Teil zum Sturz seines Vorgängers beigetragen hatten, ließen sich mit ihnen nicht nachhaltig lösen. Worin bestanden diese Leitideen? Was ist aus ihnen geworden? Welche Schwierigkeiten kennzeichnen die Lage der sowjetischen Wirtschaft von heute? Welche Perspektiven sind für die zweite Industriemacht der Erde für die achtziger Jahre erkennbar?
Die nach dem Sturz Chruschtschows zunächst von Breshnew und Kossygin gemeinsam, später mehr vom Generalsekretär der Partei allein bestimmte Wirtschaftspolitik der späten sechziger und der siebziger Jahre ließ — mit unterschiedlichen Akzentuierungen in einzelnen Phasen — folgende Schwerpunkte erkennen: mehr strukturelles Gleichgewicht in der Wirtschaft durch eine partielle Neufestlegung der Ziele der wirtschaftlichen Entwicklung, zunehmende außenwirtschaftliche Öffnung vor allem gegenüber den westlichen Industrie-ländern (Übergang von der Importsubstitution zum exportorientierten Wachstum) und nachhaltige Effizienz-und Qualitätsorientierung durch eine breitangelegte, wenn auch begrenzte Reform des aus den frühen dreißiger Jahren stammenden administrativen Planungssystems. Im Prinzip war keiner dieser Ansätze neu, alle gingen auf die Ära Chruschtschow zurück, waren in dieser allerdings aufgrund der inkonsistenten Zick-Zack-Politik ihres Urhebers vielfach nicht zum Tragen gekommen. Die neue sowjetische Führung um Breshnew und Kossygin gab von Anfang an wiederholt die Einsicht zu erkennen, daß die nach dem Wachstumstief der frühen sechziger Jahre angestrebte erneute Beschleunigung der Wirtschaftsentwicklung zweierlei erfordere: eine Überwindung der im Industrialisierungsprozeß entstandenen strukturellen Verzerrungen und eine Steigerung der Effizienz des Produktionsprozesses durch eine Reform des traditionellen zentral-administrativen Planungssystems. Dabei wurde von vornherein kein Zweifel daran gelassen, daß Wirtschaftsreform unter den ökonomischen, gesellschaftlichen und politischen Bedingungen des sowjetischen Kommunismus nur Reform innerhalb des sozialistischen Wirtschaftssystems, nicht aber Systemtransformation bedeuten konnte. Die entscheidenden Stationen für die neue Weichenstellung der sowjetischen Wirtschaftspolitik nach Chruschtschows Sturz waren: die Plenartagung des Zentralkomitees der KPdSU vom März 1965 (Märzplenum), die Plenartagung des ZK vom September 1965 und der XXIII. Parteitag der KPdSU vom April 1966. Das Märzplenum leitete eine Neuorientierung der sowjetischen Agrarpolitik ein; das Septemberplenum beschloß Maßnahmen zur Reform des industriellen Planungssystems, die später auch auf andere Wirtschaftszweige übertragen wurden. Die Neukonzipierung der Ent-Wicklungsproportionen der Wirtschaft schließlich schlug sich in dem vom XXIII. Parteitag beschlossenen 8. Fünfjahresplan nieder. Weitere wichtige Etappen waren: der 9. Fünfjahresplan mit seinem (allerdings weitgehend gescheiterten) Programm der Konsumförderung, der 10. Fünfjahresplan (Konzentration auf Effizienz und Qualität, offizielle Aufgabe des traditionellen Konzepts binnenmarkt-orientierter Industrialisierung sowie Plenartagungen des Zentralkomitees der KPdSU vom März 1973 und Juli 1979 mit Beschlüssen zur weiteren Entwicklung des sowjetischen Planungssystems.
Die im folgenden versuchte Bilanz sowjetischer Wirtschaftspolitik in der Ära Breshnew konzentriert sich auf fünf Schwerpunkte, die das ganze Spektrum der ökonomischen Entwicklung seit Mitte der sechziger Jahre zwar bei weitem nicht erfassen, in denen sich aber wohl die wesentlichen Probleme anschaulich spiegeln: die Ziele und Ergebnisse der Agrarpolitik, die Bemühungen um die Verwirklichung neuer Wachstumsproportionen (insbesondere um die stärkere Förderung des Konsums), die Problematik der hartnäckigen Extensivität des Wirtschaftsprozesses, die Entwicklung der Außenwirtschaft (vor allem der Ost-West-Beziehungen) sowie Ausmaß und Grenzen der Wirtschaftsreformpolitik.
Ergebnisse und Probleme der Agrarpolitik
Das Märzplenum von 1965 gilt als der Beginn einer neuen agrarpolitischen Orientierung, durch die die sowjetische Landwirtschaft endgültig aus der tributären Funktion entlassen werden sollte, die sie in der Industrialisie-B rungs-und Kollektivierungspolitik Stalins wahrzunehmen hatte. Breshnew kündigte eine Reihe von Reformmaßnahmen an, die — ohne den institutioneilen Rahmen der sowjetischen Landwirtschaft wesentlich zu verändern — in breiter Streuung auf eine Beseitigung der bestehenden Agrarmisere hinwirken sollten und sich auf die Formel bringen lassen: Verbesserung der „material-technischen Basis“ der Landwirtschaft und intensivere Ausnutzung der Produktionsfaktoren durch ein verbessertes System materieller Anreize. Hierzu wurde erstens beschlossen, der Landwirtschaft zukünftig absolut und prozentual mehr Investitionsmittel zur Verfügung zu stellen als in der Vergangenheit. Dieser verstärkten Kapitalzufuhr an die Landwirtschaft entsprach zweitens eine Reihe von Maßnahmen, die in die finanzielle Struktur der landwirtschaftlichen Betriebe eingriffen, um durch eine Umgestaltung des Ablieferungsmodus sowie der Preis-und Kostenverhältnisse die Voraussetzung für eine rentable Erzeugung und hierdurch einen wirksamen materiellen Anreiz für die ökonomisch zweckvollere Ausnutzung der Produktionsfaktoren zu schaffen.
Seit 1965 hat sich der Anteil der Landwirtschaft an den in die Volkswirtschaft insgesamt fließenden Investitionen beträchtlich erhöht. Der Anteil der Investitionen „für die Entwicklung der Landwirtschaft" wuchs von unter 20 % zu Beginn der Ära Breshnew auf 27 % im Jahre 1975 an und ist seitdem auf dieser Höhe geblieben. Folge der starken Erhöhung der vom Staat bezahlten landwirtschaftlichen Aufkauf-preise bei weitgehend stabilen Verkaufspreisen für Lebensmittel im staatlichen und genossenschaftlichen Einzelhandel war ein beträchtliches Anwachsen von Subventionszahlungen an die sowjetische Landwirtschaft (ca. 20 Mrd. Rubel bei Produkten der Viehwirtschaft). Professor Alec Nove, Glasgow, einer der besten Kenner der sowjetischen Wirtschaft, faßt zusammen: „Zieht man die Subventionen in Betracht, die hohen Investitionsausgaben, den Anteil des Staates an den Kosten Wachsenden für Drainage, Bewässerung und andere Boden-Verbesserungsmaßnahmen, die staatlichen Ausgaben seit 1966 für die Sozialversicherung der Bauern, dann könnte man be-haupten, die Landwirtschaft sei für den Rest der Wirtschaft jetzt eher ein Mühlstein als eine Milchkuh."
In einer Bilanz der sowjetischen Agrarpolitik in der Ära Breshnew stehen Erfolge und Mißerfolge nebeneinander. Das Gesamtniveau der Erzeugung pflanzlicher und tierischer Produkte ist teils beträchtlich gestiegen, doch wurden die Pläne in der Regel deutlich verfehlt, und vor allem im abgelaufenen 10. Planjahrfünft kam es zu hartnäckigen Versorgungsstörungen, insbesondere bei Fleischprodukten. Es ist trotz der umfangreichen Investitionen und der erheblichen Subventionen noch nicht gelungen, die sowjetische Landwirtschaft aus einer Wachstumsbremse in ein Wachstumsreservoir zu verwandeln. Die immer noch äußerst labile Ertragslage, die auch den 11. Fünfjahresplan mit einem hohen Risiko belastet, ist auf das Zusammenwirken einer ganzen Reihe von Faktoren zurückzuführen. Unter diesen sind von besonderer Bedeutung: ungünstige klimatische und geographische Bedingungen; immer noch unzureichende Ausstattung der Landwirtschaft mit Maschinen, Transportmitteln, Einrichtungen zum Trocknen und Lagern von Getreide, mit Be-und Entwässerungsanlagen, Düngemitteln und Saatgut sowie mangelhafte Wartung des Maschinenparks und Schwierigkeiten bei der Beschaffung von Ersatzteilen; unzureichend entwickelte technische und soziale Infrastruktur; ein schematisches Planungs-und Lenkungssystem; überdimensionierte, schwer zu bewirtschaftende Betriebe (die durchschnittliche Anbaufläche beträgt in Kolchosen mehr als 3000 ha und in Sowchosen mehr als 6000 ha); schließlich ein ländliches Einkommensniveau, das immer noch deutlich unter dem der Stadt liegt, so daß der materielle Anreiz zu angestrengter Tätigkeit im sozialistischen Sektor der sowjetischen Landwirtschaft gering ist, die Versuchung, im privaten Hofland zu arbeiten, dagegen groß und eine starke Tendenz zum Abwandern in die Städte gerade bei den jüngeren und fachlich qualifizierten Arbeitskräften besteht.
Die traditionelle sowjetische Industrialisierungspolitik war auf der Entstehungsseite des Sozialprodukts schwerindustriell ausgerichtet und auf der Verwendungsseite akkumulationsorientiert gewesen. Beides wurde mit dem zentral-administrativen Planungssystem durchgesetzt und ermöglichte den raschen Strukturwandel des Landes vom Agrar-zum Industriestaat. Dieser Strukturwandel setzte mit dem 1. Fünfjahresplan im Jahre 1928 forciert ein und führte auch zu einem im internationalen Vergleich äußerst raschen Wachstum der Wirtschaft, das allerdings nicht gleichmäßig verlief. Die sowjetische Statistik weist für die Zeit von 1928 bis 1940 jahresdurchschnittliche Wachstumsraten des Nationaleinkommens von fast 15 % aus. Fast genau so hohe Wachstumsraten wurden im Durchschnitt der Jahre von 1946 bis 1950, der Wiederaufbauperiode nach dem Zweiten Weltkrieg, erreicht. Bereits in den fünfziger Jahren zeigten sich jedoch Wachstumsabschwächungen, die sich gegen Ende des Jahrzehnts und dann vor allem zu Beginn der sechziger Jahre verstärkt fortsetzten. Getragen wurde das rasche Wachstum der Produktion sowie der Wandel der sektoralen und regionalen Wirtschaftsstruktur in erster Linie von einem massiven Einsatz der Produktionsfaktoren Arbeit, Kapital und Boden. Die Landwirtschaft stellte in umfassender Weise Arbeitskräfte zur Verfügung. Ihr Anteil an der Beschäftigung fiel in einem im internationalen Vergleich beispiellosen Tempo von 71% im Jahre 1928 auf 34% imJahre 1964 Die rasche Kapitalbildung spiegelt sich in folgenden Angaben: Der Anteil der privaten Konsumtion am sowjetischen Bruttosozialprodukt ging von «• 65% im Jahre 1928 auf 46, 5% im letzten Jahr der Ära Chruschtschow zurück. Die Investitionsquote lag in der ganzen Industrialisie-rungsperiode vor dem Zweiten Weltkrieg bei 25% und stieg bis 1964 auf ca. 30% an. Die geWählte Industrialisierungsstrategie eines ungleichgewichtigen Wachstums (Industrie vor Landwirtschaft, Schwer-vor Leichtindustrie, Akkumulation vor Konsum), die der raschen wirtschaftlichen Entwicklung („Einholen und Überholen" der westlichen Industrieländer) und dem Aufbau einer starken Rüstungsmacht dienen sollte, wurde auch mit einer politökonomischen Konzeption begründet: der — zu Unrecht — auf Marx zurückgeführten These, im Entwicklungsprozeß jeder Volkswirtschaft habe die Produktionsabteilung I (Produktionsmittelerzeugung) schneller zu wachsen als die Produktionsabteilung II (Konsumgüterproduktion). Die auf diese Weise entstandene Wirtschaftsstruktur geriet immer mehr in einen Widerspruch zu den Entwicklungsbedingungen einer reifer und komplexer werdenden Wirtschaft.
Die sowjetische Führung unter Breshnew und Kossygin strebte folgerichtig nach Chruschtschows Sturz nach ausgewogeneren Proportionen der wirtschaftlichen Entwicklung. Zunächst sollte — wie schon erwähnt — die traditionelle Diskrepanz im Wachstumsverhältnis von Landwirtschaft und Industrie überwunden werden. Sodann sollten auch innerhalb der Industrie ein ausgewogeneres Wachstum und eine strukturelle Modernisierung (Förderung von Chemie und modernem Maschinenbau) erreicht werden. Zwar betonten auch alle nachfolgenden Fünfjahrespläne die Bedeutung der Schwerindustrie, und der 8. und der 10. Fünfjahresplan folgten dem traditionellen „Gesetz des vorrangigen Wachstums der Produktion von Produktionsmitteln“, doch sollte sich der Wachstumsvorrang der Gruppe A (Produktionsmittelerzeugung in der sowjetischen Industrie) gegenüber früher jeweils in bedeutendem Maße verringern.
Im 9. und wiederum (allerdings stark abgeschwächt) im 11. Fünfjahresplan wurde sogar ein im Vergleich zur Produktionsmittelerzeugung rascheres Wachstum der Konsumgüter-produktion vorgesehen. Es gehört zu den gravierendsten Fehlschlägen der sowjetischen Wirtschaftspolitik in der Ära Breshnew, daß sich die angestrebte stärkere Konsumorientierung der Wirtschaft nicht durchsetzen ließ. Zwar hat sich ohne Zweifel der Lebensstandard der sowjetischen Bevölkerung gegenüber den zurückliegenden Planjahrfünften erhöht.
Die Arbeitseinkommen sind gestiegen, wobei die unteren Einkommen überproportional angehoben wurden. Auch wurden die Sozialleistungen gesteigert, und die Versorgung mit Wohnraum hat sich gebessert. Dennoch sind die Erwartungen der Verbraucher in vielerlei Hinsicht nicht erfüllt worden. Dies gilt sowohl für das 9. als auch für das 10. Planjahrfünft, in dem die Entwicklung des sowjetischen Lebensstandards regelrecht stagnierte. Während die sowjetische Industrie nach dem Plan im Jahre 1975 fast 50% Konsumgüter mehr herstellen sollte als 1970, wurden de facto nur gut 37 % mehr erzeugt. Für das Jahrfünft von 1976 bis 1980 liegen die entsprechenden Werte bei 32% (Soll) und 21 % (Ist). Hauptursachen für das zu langsame Wachstum der Konsumgütererzeugung waren durch schlechte Ernten bedingte Ausfälle von agrarischen Rohstoffen, unzureichende Produktivitätsentwicklung und zu langsames Wachstum der Produktionskapazitäten. Hinzu kam, daß die produzierten Güter nach Qualität und Sortiment den Kauf-wünschen der Verbraucher oft nicht entsprachen.
Dabei sind zufriedene Konsumenten für das sowjetische System von geradezu staatserhal tender Bedeutung. Die Ereignisse in Poler sind ein anschauliches Beispiel, in welchen Maße unzufriedene Konsumenten Stabilität, je Bestand kommunistischer Herrschaft in Frage stellen. Die häufigen Klagen über die unzurei chende Arbeitsdisziplin in der UdSSR zeigen wiederum die wirtschaftlichen Folgen unzureichender Versorgung: Die Arbeitsmotivation ist schwach. Dabei käme es auf eine gute Arbeitsmotivation gerade heute dringend an Die Formel früherer Industrialisierungsperioden: weniger Konsum = mehr Kapitalbildung = mehr Wachstum, ist ja aufgrund des technologischen und gesellschaftlichen Wandels kaum mehr praktizierbar. Sie müßte durch das Motto ersetzt werden: mehr Konsum = mehi Motivation = mehr Wachstum. Aus dieser Gründen (wie auch aus Gründen der Sicherung politischer Stabilität) überrascht es nicht wenn die sowjetischen Planer mit dem 11. Fünfjahresplan einen neuen Versuch unternehmen, der Entwicklung des Lebensstandards der Bevölkerung einen höheren Stellenwert im Wachstumsprozeß einzuräumen als bisher.
Die hartnäckige Extensivität
Bis in die sechziger, ja in die siebziger Jahre hinein konnte der Wachstumsprozeß der sowjetischen Wirtschaft ein stark extensiver sein, der sich vor allem auf den Mehreinsatz von Arbeitskräften, Kapitalgütern und anderen Produktionsmitteln aller Art stützte. Zwar wurde immer wieder der Übergang zu einer intensiven, produktivitätsorientierten Entwicklung gefordert und in entsprechenden Planzielen verankert. In diesem Sinne sind alle Fünfjahrespläne der Ära Breshnew „Fünfjahrespläne der Effizienz und Qualität" gewesen. Durchsetzen konnte sich die angestrebte Intensivierung bzw. Produktivitätsorientierung bisher nicht. Stets blieb die Produktivitätsentwicklung klar hinter den Planansätzen zurück. Allerdings gelang es immer wieder, die unzureichende Steigerung der Produktivität wenigstens zum Teil durch einen Mehreinsatz von Kapital und Arbeitskräften aufzufangen. Sonst wäre die sowjetische Wirtschaft schon längst in eine Phase noch stärker abgeschwächten Wirtschaftswachstums hineingeB raten. An der Wende zu den achtziger Jahrer sind die Reserven an extensiven Ressourcen jedoch in starkem Maße erschöpft. Jetzt käme es wirklich auf einen Durchbruch zu mehr Effi zienz und Qualität an. Bisher zeigt sich abei daß das sowjetische Wirtschaftssystem zu ei nem solchen Durchbruch nicht fähig ist.
Das System vom politischen Zentrum aus ge führter, wenn auch keineswegs im Detail zen tralistischer administrativer Planwirtschaft er wies und erweist sich wohl in der Lage, Struk turwandel im Sinne von sektoraler und regio naler Umschichtung der Produktion zu bewi ken. In diesem Sinne wurde die Industrialisie rung der dreißiger Jahre durchgeführt und ur ter Chruschtschow etwa die Neulandaktio sowie in der Ära Breshnew die Erschließun von Roh-und Brennstoffressourcen in Sib rien. Auch moderne Wirtschaftszweige W Chemie und Maschinenbau entwickeln sic zügig. Dieser Wandel bleibt aber ein „Struktu wandel an der Oberfläche". Was nicht geling ist eine kontinuierliche Intensivierung, M dernisierung und Qualitätssteigerung. Was fehlt, ist die Tiefendimension des Struktur-wandels, die in der Lage wäre, die traditionelle Mobilisierung von außen" mit einer permanenten „Intensivierung von innen" zu verbinden. Gehen wir einigen Aspekten der Extensivität nach und zeigen wir ihren Zusammenhang mit der Arbeitsweise des sowjetischen Planungssystems auf:
Starke Beanspruchung von Produktionsmitteln allerArt sowie von Arbeitskräften in den sowjetischen Betrieben:
Das Erfolgskriterium der sowjetischen Betriebe ist die Planerfüllung. Gesichtspunkte kostensparender Produktion spielen demgegenüber eine geringere Rolle. In Anbetracht hoher Plananforderungeri von oben („Plandruck-Wirtschaft", „pressure economy"), der Möglichkeit, daß die Pläne weiter heraufgesetzt werden, und des Risikos, daß die für die Planerfüllung notwendigen Lieferungen von anderen Betrieben ausbleiben, versuchen die Betriebe möglichst viele Produktionsmittel und Arbeitskräfte zu horten. Dieses Hortungsverhalten vergrößert die allgemeine Knappheit und hat neue Hortungen zur Folge. Resultat ist ein unrationeller, zu extensiver Einsatz aller Produktionsfaktoren.
Großer Anteil von Zwischenprodukten an der Gesamtproduktion:
Die skizzierten unbescheidenen Wünsche der Betriebe bei der Materialversorgung („InputHunger"), der noch nicht völlig überwundene Grundsatz vom Vorrang der Produktionsabtei-ung I (Produktionsmittel aller Art) gegenüber der Abteilung II (Konsumgüter) und das Interesse der vielen Industrieministerien, Produktionsvereinigungen und Betriebe, ihre Produk-
zur Sicherung von Prämienzahlungen und tion Karriereaussichten „vom erreichten Stand aus" weiter wachsen zu lassen, führen dazu, daß den für Investitionen sowie privaten und öf-
entlichen Staatsverbrauch zur Verfügung ste-henden Endprodukten zu wenig Gewicht beigemessen wird. Der hohe Anteil von Zwi-Schenprodukten (der amerikanische Wirt------)
Schaftswissenschaftler Lloyd Reynolds hat sehr anschaulich von „input-input economy" gesprochen) ist ein weiterer Aspekt der Extensivität.
Schlechte Qualität der Produkte:
Da mengenmäßige Aspekte bei der Planerfüllung vorherrschen, weil im wesentlichen nur die Produktionsmenge für die Planer kontrollierbar ist und (wegen der großen Knappheit an allen Gütern und der damit verbundenen Möglichkeit, auch schlechte Qualität abzusetzen) keine ausreichende Qualitätskontrolle durch die Abnehmer stattfindet, muß die Qualität der Erzeugung leiden. Schlechte Qualität der Produkte wie auch fehlende Möglichkeiten, Mängel durch einen entsprechenden Reparatur-Service rasch beheben lassen zu können, sind ebenfalls eine Wurzel der Extensivität (und natürlich auch eine permanente Ursache erheblicher Mißstimmung der Konsumenten).
Inadäquate Sortimente:
Die Tendenz der Betriebe, das Produktionssortiment der jeweils gewählten Plankennziffer anzupassen, auf eine Planung der Produktion nach dem Gewicht etwa mit der Erzeugung besonders schwerer Produkte zu reagieren („Tonnenideologie"), die Planung der Stoffproduktion in laufenden Metern mit einem Schmaler-werden der Tuche, die Planung der betrieblichen Produktion nach dem Gesamtwert einschließlich der Wertschöpfung der Vorproduzenten („Bruttoproduktion") mit der Verwendung möglichst vieler und teurer Vorprodukte zu beantworten (eine weitere Ursache der „input-input economy"), steht ebenfalls der angestrebten Intensivierung der Wirtschaftsprozesse im Wege.
Zu geringer technischer Fortschritt:
Einer der wichtigsten Gründe für das skizzierte Fehlen der „Tiefendimension des Strukturwandels" ist der gebremste technische Fortschritt in der UdSSR (und anderen Ländern mit ähnlichem Wirtschaftssystem). Gewiß fehlt es nicht an technischen Spitzenleistungen in Schwerpunktbereichen, auf die Forschungs-, Entwicklungs-und Kontrollaktivitäten planmäßig konzentriert werden. Doch in den großen Bereichen der sowjetischen Wirt-schäft, die geringere Priorität haben, wegen der allgemeinen Komplexitätssteigerung aber trotzdem immer wichtiger werden, fehlt es vor allem am Interesse der Betriebe an einer raschen Adaption technischer Neuerungen. Die Betriebe, die ihre jährliche Planerfüllung nicht durch risikoreiche technische Neuerungen gefährden wollen, schrecken davor zurück „wie der Teufel vor dem Weihwasser" (L. I. Breshnew). Gebremster technischer Fortschritt bedeutet aber weniger Produktivitätsfortschritt und damit wiederum hartnäckige Extensivität.
Es ist wohl deutlich geworden, daß diese Extensivität in starkem Maße auf die Wirkungsweise des administrativen Planungssystems zurückzuführen ist. Dazu kommen der anhaltende Druck, der durch anspruchsvolle Plan von oben auf die Wirtschaft ausgeübt wir; und die zunehmende Komplexitätssteigerun der Wirtschaft, die Planung und Plankontroll laufend erschwert. Die sowjetische Wirt schaftspolitik hat auf die chronischen Dys funktionen des Planungssystems mit anhal tenden Reformmaßnahmen reagiert (s.der übernächsten Abschnitt). Sie hat aber aud versucht, durch wachsende wirtschaftliche Zu sammenarbeit mit RGW-Ländern, vor allen aber auch mit westlichen Industriestaater binnenwirtschaftliche Versorgungsengpäss zu überwinden und der technologisch starre: eigenen Wirtschaft stimulierende Leistungs impulse zu vermitteln. Diese Versuche solle: im nächsten Abschnitt skizziert werden.
Von der Importsubstitution zum exportorientierten Wachstum
Schon in den späten sechziger Jahren setzte eine spürbare außenwirtschaftliche Öffnung der UdSSR gegenüber den westlichen Industrieländern ein. Diese Politik stärkeren weltwirtschaftlichen Engagements wurde zu Beginn der siebziger Jahre verstärkt fortgesetzt. Dabei nahmen insbesondere die Importe aus den OECD-Ländern boomartig zu. Kurzfristige wirtschaftliche Notwendigkeiten (die traditionelle „Feuerwehrfunktion" des Außenhandels etwa im Bereich der Getreideversorgung) und Gesichtspunkte einer längerfristigen Neuorientierung (Einordnen in die internationale wirtschaftliche Arbeitsteilung,'exportorientiertes Wachstum statt Importsubstitution) wirkten zusammen. Charakteristisch für die sowjetischen Importe aus den westlichen Ländern waren und sind einmal umfangreiche Getreideimporte. Kennzeichnend sind aber auch Bemühungen, gemeinsam mit westlichen Firmen die Rohstoff-und Energieressourcen in den östlichen Landesteilen zu erschließen (etwa und vor allem bei Erdgas), sowie das Bemühen, modernes technisches know how in Form von Maschinen und Ausrüstungen nach Möglichkeit auf dem Kompensationswege von westlichen Partnern zu beziehen. Die Kombination von moderner Technik mit Maschinen und Ausrüstungen, die Träger dieser modernen Technik sind, und weiter die Zusammenfassung von Maschinen-und Ausrüstungsimporten zu möglichst'produktionsbereitei Großprojekten war und ist dabei ein typische Zug sowjetischer Importpolitik.
Nach der raschen Steigerung der Außenhan delsumsätze mit westlichen Industrieländeri in den frühen siebziger Jahren verkündet Breshnew auf dem XXV. Parteitag (1976) aucl offiziell die Aufgabe des traditionellen Kon zept einer binnenmarktorientierten Indu strialisierung Der Außenhandel sei zu ei nem „wichtigen Zweig der Volkswirtschaft geworden, die Ausnutzung der internationa len Arbeitsteilung sei „eine Besonderheit ur serer Zeit". Allerdings verhinderten zunel mende Zahlungsbilanzprobleme (wachsend Verschuldung gegenüber westlichen Ind strieländern) eine weitere Fortsetzun de stürmischen Importentwicklung.
Die Entwicklung von 1976 bis 1980 brachte i Bereich der Außenwirtschaft dann eine spu bare Konsolidierung: Auf der positiven Sei einer Bilanz des 10. Planjahrfünfts steht vor lern die Verbesserung der terms of trade im S wjetischen Außenhandel. Die Sowjetunk konnte als wichtiger Produzent und Exporte von Energie-und anderen Rohstoffen di Nutzen aus den erheblichen Preissteigeru gen für solche Produkte auf den Weltmärkt ziehen Anders als zu Beginn des 10. Plan-Jahrfünfts hat sie gegenwärtig keine nennenswerten Zahlungsbilanzprobleme gegenüber dem Westen. Die Konsolidierung der Außenwirtschaftsentwicklung ist allerdings auch auf die Mitte der siebziger Jahre eingeleitete, inzwischen aber wieder gelockerte, Politik der Importrestriktion zurückzuführen. Insgesamt wird der Beitrag außenwirtschaftlicher Beziehungen zum Wirtschaftswachstum der UdSSR von westlichen Fachleuten auf wenige Zehntelprozentpunkte geschätzt. Dies zeigt den alles in allem begrenzten Effekt der Ost-West-Wirtschaftskooperation. Dennoch bleibt die sowjetische Wirtschaftspolitik an Zusammenarbeit mit dem Westen interessiert, denn bei dem abnehmenden Wachstumsspielraum der Wirtschaft muß die sowjetische Wirtschaftspolitik in einer mosaikartigen Strategie in vielen Bereichen auf die Suche nach zusätzlichen Wachstumsmöglichkeiten gehen, auch wenn deren Effekt im Einzelfall begrenzt ist.
Reformpolitik in der Ära Breshnew
Die sowjetische Führung hat in den letzten eineinhalb Jahrzehnten versucht, die Leistungsfähigkeit des sowjetischen Wirtschaftssystems durch zahlreiche Reformmaßnahmen zu erhöhen. Von besonderer Bedeutung war dabei zunächst die Wirtschaftsreform von 1965, hinter der das Modell einer modernisierten, aufgelockerten administrativen Planwirtschaft stand und die sowohl (administrativ) zentralisierende (Rückkehr zur ministeriellen Leitungsstruktur) als auch (ökonomisch) dezentralisierende Tendenzen (begrenzter Ausbau betrieblicher Entscheidungen) aufwies Die Reform entwickelte sich, wie ein sowjetischer Kritiker formulierte, „mehr in die Breite als in die Tife" und war generell beurteilt kein Erfolg. Die Funktionslogik der administrativen Planwirtschaft und die anhaltende „pressure economy" transformierten das „Neue System" in eine Variante der alten direktiven Planwirtschaft.
Die sowjetische Führung reagierte auf die fortgesetzten Effizienz-, Konsistenz-und Wachstumsprobleme der Wirtschaft, indem sie die Reform von 1965 in einen anhaltenden und breit angelegten — wenn auch wiederum nicht in die Tiefe gehenden — Prozeß von „Reformen der Reform" verwandelte. Der Begriff Reform“ selbst verschwand aus Diskussion und Dokumenten; in den siebziger Jahren war statt dessen von der „Vervollkommnung” oder „Verbesserung" des Wirtschaftsmechanismus die Rede. Die Maßnahmen der siebziger Jahre konzentrierten sich wiederum auf die drei Ebenen, die bereits von der Reform von 1965 erfaßt worden waren: die organisatorische Struktur von Planung und Verwaltung, die Planungsmethoden im überbetrieblichen Bereich und die mikroökonomische Steuerung (Leitung und Prämierung der Betriebe). Von besonderer Bedeutung war die Bildung von Industrie-und Produktionsvereinigungen (Betriebszusammenschlüssen, „sozialistischen Konzernen") zur Förderung von Konzentration und Spezialisierung, Erleichterung zentraler Planung, effizienteren Nutzung lokaler Ressourcen, Förderung des technischen Fortschritts. Insgesamt standen die Reformmaßnahmen der siebziger Jahre im Zeichen einer zentralisierenden Tendenz. Beispiele: Konzentration der Verwaltung, Zusammenlegung von Betrieben, erneute Auffächerung der betrieblichen Plankennziffern.
Auch die breitgestreute, aber bruchstückhafte Reformpolitik der siebziger Jahre hatte nicht den gewünschten Erfolg. Vor allem reichte sie nicht dazu aus, den angestrebten Übergang zu intensiver Wirtschaftsentwicklung, zu mehr „Effizienz und Qualität", zu vollziehen. Im Gegenteil: Wie bereits erwähnt, brachte gerade das 10. Planjahrfünft (1976— 1980) für die meisten Effizienzkennziffern besonders ungünstige Resultate.
Der Ablauf des 10. Planjahrfünfts zeigte zudem, daß die Steuerung der Wirtschaft nach einem stabilen, fünfjährigen Plankonzept weitgehend mißlang und daß auch die zum Gegensteuern gegen kurzfristige Wirtschaftsschwierigkeiten eingesetzten Jahrespläne ihre Aufgabe nur schlecht erfüllten.
Insgesamt vermittelt die sowjetische Wirtschaft am Beginn des 11. Planjahrfünfts den Eindruck eines schwerfälligen Apparates, der nicht nur mit erheblichen Effizienzmängeln behaftet, sondern in seiner Entwicklungsrichtung auch schwer steuerbar ist. Mit einer ausgeprägten Erstarrung in traditionellen Strukturen und bürokratischer Organisation verbindet sich ein zunehmender „Neben-Kapitalismus" (second economy). Diese vielfältigen — teils legalen, vielfach aber auch illegalen — Privataktivitäten wirken zwar vielfach als „Schmiermittel der Planwirtschaft“. Ihr Zusammenwirken mit dem offiziellen Wirtschaftssystem ist aber in keiner Weise optimal und führt immer wieder auch zur Vergrößerung bestehender Schwierigkeiten (etwa bei der Versorgung mit Materialien, die für private Zwecke „abgezweigt" wurden).
Es verwundert daher nicht, daß in den vergangenen Jahren neue Reformmaßnahmen eingeleitet wurden, um Effizienzorientierung und Steuerbarkeit der Wirtschaft zu verbessern. Von Bedeutung ist hier besonders die Reform vom Juli'1979, die in der sowjetischen Presse an Ausmaß und Bedeutung mit der Reform von 1965 verglichen wird
Doch auch die Reform von 1979 war ganz eindeutig eine „Reform innerhalb des Systems". Der Primat direktiver Planung im Rahmen der mikroökonomischen Steuerung (Leitung der Betriebe) wurde nicht zugunsten des Primats horizontaler Steuerung durch Verträge und Leitung der Betriebe hauptsächlich durch ökonomische Parameter aufgegeben. Das Prinzip der Planerfüllung blieb als betriebliches Erfolgskriterium weiter in Kraft. Die Entscheidung über Wachstum und Verwendung de Nationaleinkommens sollte auch zukünfti auf zentraler Ebene fallen, orientiert an Gütei bilanzen, und kein Ergebnis preisgesteuerte Marktprozesse sein.
Die Halbheit der Reform veranlaßte die sowje tische Führung bereits bald nach ihrer Be kanntgabe, nach neuen Reformmaßnahmen z suchen. So kündigte Breshnew wiederhol neue Verwaltungsreformen an. Alle Verlaut barungen der Führung bis hin zu denen au dem XXVI. Parteitag lassen jedoch darau schließen, daß zumindest auf mittlere Sich der Reformkurs der sowjetischen Wirtschaf weiterhin am Leitbild einer aufgelockerter modernisierten administrativen Planwirt schäft orientiert bleiben soll.
Eine Alternative zu dem zwar permanenter aber begrenzten Prozeß der „Reformen inner halb des Systems" ist auf absehbare Zeit nich in Sicht. Weiterreichende, marktsozialistiscl orientierte Reformen stoßen im sowjetischer Fall offensichtlich auf noch engere Grenzei als in den kleineren sozialistischen Länden Osteuropas. Zu diesen Grenzen gehören: da wirtschaftliche Risiko einer weiterreichendei Reform; die immer noch zu leistenden Ent Wicklungsaufgaben im Osten der UdSSR; de anhaltende Druck auf alle Ressourcen von de Kapitalbildungs-, Konsum-und Rüstungsseit her („pressure economy"); die diffizilen Zusam menhänge zwischen Reform und regionale Wirtschaftsentwicklung (und damit Reforn und Nationalitätenproblem); die Herrschafts interessen von Partei-und Staatsführung; di Absicht, „polnische Infektionen" unter alle Umständen zu vermeiden; die Widerstand der von weiterreichenden Reformen in Mach Prestige und Einkommen besonders betrofle nen sozialen Gruppen und last not least di immer noch nicht überwundenen ideolog sehen Reformgrenzen.
Welche Wirtschaftspolitik in den achtziger Jahren?
Die aufgezeigten wirtschaftsstrukturellen Probleme der UdSSR, die Erstarrungstendenzen des bürokratischen Wirtschaftssystems, der strukturelle Konservativismus sowjetischer Politik und der begrenzte konzeptionelle H rizont der überalterten Führung lassen aufür die achtziger Jahre — zumindest auf a sehbare Zeit — keine neue Weichenstellul in der Wirtschafts-und der Wirtschaftsr formpolitik erwarten. Zu erwarten ist V mehr die Fortsetzung einer mosaikartigen Strategie des Durchwurstelns", die sich aus folgenden Elementen zusammensetzt:
Im Bereich der Wirtschaftsreformpolitik: Fortsetzung der bisherigen, am Leitbild einer aufgelockerten, rationalisierten administrativen Planwirtschaft orientierten Reformpolitik. Das bedeutet, daß nach wie vor nur begrenzte Reformen innerhalb der Verwaltungsstruktur (Neugliederung, Vereinigungsbildung), der Planungsmethodik (mathematische Modelle und Verfahren, EDV) und der Betriebsplanung (Änderungen im System der Plan-und Erfolgskennziffern) vorgenommen werden, daß aber eine tiefgreifende Reform auf absehbare Zeit nicht zu erwarten ist.
Zur Ergänzung des öffentlich-planwirtschaftlichen Sektors der sowjetischen Wirtschaft dürfte die individuelle Wirtschaftstätigkeit in Landwirtschaft und Handwerk zukünftig eine größere Rolle spielen. Hierfür bestätigte die sowjetische Verfassung von 1977 die rechtliche Grundlage, und Breshnew forderte die Schaffung eines für privatwirtschaftliche Tätigkeit in der Landwirtschaft günstigen „gesellschaftlichen Klimas". Es ist jedoch kaum damit zu rechnen, daß der Umfang privater Wirtschaftstätigkeit innerhalb und außerhalb der Landwirtschaft umfassend erweitert wird. Dies stößt nicht nur auf die erörterten ideologischen Barrieren, sondern auch auf ökonomisch-organisatorische und einkommenspolitische Grenzen. Denn der Ausbau der Privat-Wirtschaft in größerem Maßstab hätte sowohl Konsequenzen für den Einsatz der Arbeitskräfte und für die Einkommensentwicklung als auch Auswirkungen auf die Versorgung mit Produktionsmitteln. Dies könnte die Schwierigkeiten im planwirtschaftlichen System vergrößern und zu einem weiteren Auftrieb der „second economy" führen.
Im Bereich der Wirtschaftspolitik: Fortsetzung der Bemühungen um Verbesserung der Arbeitsmotivation mit materiellen und moralischen „Stimuli"; weiterer Ausbau der wirtschaftlichen Zusammenarbeit mit westlichen Industrieländern; Bemühungen um eine Begrenzung des Rüstungswachstums. Die beiden letztgenannten Elemente können allerdings nur in dem Maße zum Tragen kommen, das die außenpolitische Lage gestattet.
Es bleibt abzuwarten, ob diese auf mittlere Sicht zu erwartende mosaikartige Strategie des Durchwurstelns auch längerfristig die Antwort der sowjetischen Führung auf wirtschaftliche Wachstums-und Effizienzschwächen bleibt. Sollten Schwierigkeiten sich die vergrößern, würde auch der Reformdruck weiter zunehmen. Dann könnte auch die Frage einer grundsätzlichen Alternative wieder aktuell werden. Allerdings wäre eine weitreichende Reform an bestimmte politische, soziale und wirtschaftliche Voraussetzungen gebunden, die nicht leicht zu schaffen sind.
Es wäre eine längere Vorbereitungszeit erforderlich, in der ein konsistentes Reformprogramm ausgearbeitet und die institutionell-organisatorischen, psychologisch-motivationalen sowie wirtschaftsstrukturellen Voraussetzungen (Annäherung an „prämarktwirtschaftliche Strukturen') geschaffen würden. Dies erfordert sowohl einen konzeptionellen Wandel von Herrschaft als auch eine — zumindest zeitweilige — Suspendierung sowjetischer Politik von angespannten Wachstumszielen innerhalb und permanenter machtpolitischer Präsenz außerhalb der UdSSR.
Hans-Hermann Höhmann, Dr. rer. pol., geb. 1933 in Kassel, Wissenschaftlicher Oberrat im Bundesinstitut für ostwissenschaftliche und internationale Studien, Köln; Lehrbeauftragter an der Universität Köln. Neuere Veröffentlichungen: Sowjetische Politik heute. Probleme und Alternativen, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 40/78 (zus. mit Heinz Brahm und Christian Meier); Partizipation und Wirtschaftsplanung in Osteuropa und in der Volksrepublik China, Stuttgart 1980 (Co-Autor u. Hrsg.); The East European Economics in the Sevanties, Sevenoak, Kent 1981 (Co-Autor und Mithrsg.).
Helfen Sie mit, unser Angebot zu verbessern!
Ihre Meinung zählt: Wie nutzen und beurteilen Sie die Angebote der bpb? Das Marktforschungsinstitut Info GmbH führt im Auftrag der bpb eine Umfrage zur Qualität unserer Produkte durch – natürlich vollkommen anonym (Befragungsdauer ca. 20-25 Minuten).