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Die positive Bedeutung der Frankfurter Schule für die Überwindung der Krise unserer Zeit | APuZ 50/1981 | bpb.de

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APuZ 50/1981 Artikel 1 Die positive Bedeutung der Frankfurter Schule für die Überwindung der Krise unserer Zeit Der Beitrag der Kritischen Theorie zur Auslösung der Krise unserer Zeit Eine Antwort auf Horst Heimann Vernunft -Wissenschaft -Praxis Zur Kritik der „Kritischen Theorie"

Die positive Bedeutung der Frankfurter Schule für die Überwindung der Krise unserer Zeit

Hugo Staudinger

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Zusammenfassung

Um die Kritische Theorie ist es stiller geworden. Zumeist werden die Vertreter der Frankfurter Schule pauschal mit dem Etikett „Neomarxismus" versehen; sie sind damit eingeordnet und abgestempelt. Nur in der sogenannten emanzipatorischen Pädagogik wirken sie weiterhin fort. Es fragt sich jedoch, ob der „Fall" damit erledigt ist, da die Probleme, die von den Vertretern der Frankfurter Schule aufgezeigt wurden, bis heute ungelöst sind. Unter der Oberfläche schwelen sie fort, und man weiß nicht, wo sie eines Tages erneut aufbrechen werden. In dieser Lage sollte man sich nicht darauf beschränken, entweder nur die negativen Auswirkungen der Frankfurter Schule zu registrieren oder sie umgekehrt zu Kronzeugen eines eigenen emanzipatorischen Programms-zu machen. Es gilt vielmehr, ihre positive Bedeutung im Rahmen des Versuchs, Theorien für die Überwindung der Krise der Gegenwart zu entwickeln, herauszustellen. Diese Bedeutung läßt sich in vier Grundthesen zusammenfassen: i 1. Die Frankfurter Denker erteilen der Eindimensionalität des wissenschaftlichen Positivismus eine klare und überzeugende Absage. 2. Die Frankfurter Denker weisen auf, daß die gegenwärtige Krise nur überwunden werden kann, wenn die Gesellschaft eine übergreifende Zielorientierung zurückgewinnt. 3; In der Auseinandersetzung mit Hegel und in Ablehnung einer marxistischen Kollektivierung treten die Frankfurter Denker für das Recht des Konkreten und Besonderen ein. 4. Indem sie die Aufklärung , zu Ende denken', öffnen die Frankfurter den Weg für neue Möglichkeiten unprogrammierten Denkens und ein neues Fragen nach Transzendenz. Dabei stimmen die verschiedenen Vertreter der Frankfurter Schule allerdings keineswegs in allem überein. In vielen Fragen vertreten sie höchst unterschiedliche Auffassungen. Daher sind auch für jede der vier angeführten Thesen jeweils bestimmte Denker repräsentativ. Ein hohes Maß an Übereinstimmung herrscht nur in der Analyse unserer gegenwärtigen fortgeschrittenen Industriegesellschaft. Versucht man eine vorläufige Gesamtbilanz zu ziehen, so läßt sich feststellen, daß schon die große Weigerung, die Herbert Marcuse proklamiert, anzeigt, daß eine rein positivistische, weltimmanente Lösung der gegenwärtigen Krise schlechthin nicht möglich ist. Die weiterführenden Überlegungen von Jürgen Habermas machen deutlich, daß es hierbei letztlich um die Frage einer Zielorientierung bzw. um die Fragen nach dem Sinn der Gesamtentwicklung und Gesamtgestaltung geht. Eine Antwort auf diese Frage vermag jedoch auch Habermas nicht zu geben. Er beschränkt sich vielmehr auf die Empfehlung neuer Verfahrenstechniken zur Zielorientierung. Theodor W. Adorno, von einem zutiefst moralischen Impuls getragen, erschließt eine weitere Dimension der Problematik, wenn er sich gegen die von Idealismus und Marxismus vertretene Auffassung wendet, daß das jeweils Besondere und Konkrete in einem dialektischen Prozeß dem Allgemeinen preisgegeben und dem Gang der Geschichte geopfert werden dürfe. Er fordert auf, auch dem Einzelnen und Besonderen sein eigenes Recht zu sichern. Max Horkheimer schließlich legt dar, daß es ohne Theismus weder moralische Politik noch Sinn gibt, so daß eine Wendung zu neuer Humanität auf atheistischer Grundlage unmöglich erscheint.

Inden sechziger Jahren wurden die Veröffentlichungen der sogenannten Frankfurter Schule allgemein beachtet und oft zitiert. Namen wie Horkheimer, Adorno, Marcuse und Habermas waren geradezu Kampfrufe in gei1 stigen und politischen Auseinandersetzungen.

Heute jedoch — nach dem Scheitern der großen Studentenrevolte und den Erfahrungen mit dem Linksterrorismus — vermeiden es viele Wissenschaftler, sich auf die als „neomarxistisch" etikettierten Frankfurter zu beziehen und die Grundgedanken der „Kritischen Theorie" aufzunehmen und weiterzudenken. So bleibt es linken Intellektuellengruppen überlassen, die Frankfurter in einer oft recht unbefangenen Weise als eigene Bestätigung zu vereinnahmen, während sich auf der anderen Seite viele Eltern, Erzieher und Philosophen gegen marxistische Indoktrinationen in heutigen Unterrichtsmaterialien und Lehrbüchern wehren, die sich ihrerseits teils zu Recht, teils zu Unrecht auf die Kritische Theorie berufen. Es kann der Eindruck entstehen, als sei die Auseinandersetzung um die Frankfurter Schule nur ein Teil der Gesamtproblematik des Neomarxismus.

Zu fragen ist jedoch, ob damit das Problem „erledigt" ist. Es sollte hellhörig machen, daß viele Initiativen und „Bewegungen" der Gegenwart in das gängige Schema unserer politikwissenschaftlichen Systematik schwer einzuordnen sind. Das gilt nicht nur für linke Studentenverbände und Schülergruppierungen, die zwar den real existierenden Sozialismus ablehnen, jedoch für einen künftigen besseren kämpfen, sondern auch für die große Palette der soge-nannten Grünen, Umweltschützer und Atom-gegner sowie für alle, die ein „alternatives Leben“ fordern und doch in Abhängigkeit von jener Gesellschaft bleiben, zu der sie dem Anspruch nach die Alternative repräsentieren. End es gilt schließlich auch für jenes weitverbreitete unterschwellige Lebensgefühl, das mit dem Stichwort . Nostalgiewelle'nur unzulänglich gekennzeichnet wird.

Zumindest erhebt sich die Frage, wie weit diese und andere zum Teil bedenklichen Erscheinungen der Gegenwart — etwa die Unzufriedenheit mit den „etablierten Parteien", die Staatsverdrossenheit weiter Teile der jungen Generation und die Unsicherheit in der Frage von Grundwerten und Grundrechten — darauf hinweisen, daß kritische Anfragen, die die Vertreter der Frankfurter Schule an die moderne „spätkapitalistische" Industriegesellschaft gestellt haben, bis heute unbeantwortet geblieben sind.

Eine Klärung ist um so notwendiger, als zwar die Kritische Theorie von vielen Menschen heute als eine im wesentlichen vergangene Erscheinung betrachtet wird, jedoch das von dieser Theorie kritisierte System trotz allen Unbehagens, das es bei vielen auslöst, faktisch ohne Alternative, ja ohne entscheidende Korrektur weiterbesteht. Und doch könnte gerade die Tatsache, daß man dieses System zwar in vieler Hinsicht für verbesserungsbedürftig hält, jedoch seine Grundstruktur einer kritischen Überlegung entzieht, in einem wichtigen Punkt die Analyse der Frankfurter unbeabsichtigt bestätigen.

Die nachfolgenden Überlegungen gelten nicht in erster Linie einer Aufarbeitung der bisherigen Auseinandersetzungen über die Kritische Theorie. Sie beschränken sich vielmehr im wesentlichen darauf, die weithin verkannte positive Bedeutung der Frankfurter Schule für die Überwindung der Krise der Gegenwart herauszustellen. Diese positive Bedeutung läßt sich in vier Grundthesen zusammenfassen: 1. Die Frankfurter Denker erteilen der Eindimensionalität des wissenschaftlichen Positivismus eine klare und überzeugende Absage. 2. Die Frankfurter Denker weisen auf, daß die gegenwärtige Krise nur überwunden werden kann, wenn die Gesellschaft eine übergreifende Zielorientierung zurückgewinnt. 3. In der Auseinandersetzung mit Hegel und in Ablehnung einer marxistischen Kollektivierung treten die Frankfurter Denker für das Recht des Konkreten und Besonderen ein. 4. Indem sie die Aufklärung zu Ende denken, öffnen die Frankfurter den Weg für neue Mög3 lichkeiten unprogrammierten Denkens und ein neues Fragen nach Transzendenz.

Allerdings stimmen die unter dem Begriff Frankfurter Schule zusammengefaßten Denker keineswegs in allem überein. Vielmehr vertreten sie in vielen Fragen höchst unterschiedliche Auffassungen! Und auch wo sie übereinstimmen, sind die Akzentuierungen zumeist anders gesetzt. Das gilt auch für die soeben angeführten Grundthesen. Wie die folgenden Ausführungen zeigen werden, sind für jede der Grundthesen bestimmte Vertreter der Frankfurter Schule repräsentativ. Gemeinsam ist nur die in der ersten These formulierte «Absage an die Eindimensionalität des wissenschaftlichen Positivismus. Sie muß daher als Grundlage und Voraussetzung aller weiteren Überlegungen betrachtet werden.

Zu These 1:

Die Frankfurter Denker erteilen der Eindimensionalität des wissenschaftlichen Positivismus eine klare und überzeugende Absage Daß der Begriff der Eindimensionalität als Kennzeichnung der wissenschaftlich-technisch gestalteten Welt üblich wurde, geht auf eine Schrift von Herbert Marcuse zurück. Die Originalausgabe erschien 1964 unter dem Titel „One-Dimensional Man. Studies in the Ideology of Advanced Industrial Society". Schon 1967 erschien diese Untersuchung in deutscher Sprache mit dem Titel „Der eindimensionale Mensch — Studien zur Ideologie der fortgeschrittenen Industriegesellschaft". Marcuse stellt hier die kritische Frage, ob die demokratischen Freiheitsforderungen, die am Anfang des modernen Europa standen, die inzwischen in den meisten Verfassungen zumindest der westlichen Industrienationen verankert sind und die bis heute in allgemeinen Deklamationen hoch gepriesen werden, tatsächlich die politisch-gesellschaftliche Wirklichkeit der Demokratie des 20. Jahrhunderts prägen. Marcuse weist auf zahlreiche Symptome hin, die ein Nein auf diese Frage bedeuten, und spricht von einer „demokratischen Unfreiheit", die in der fortgeschrittenen industriellen Zivilisation herrsche Diese Unfreiheit muß nach seiner Überzeugung in Zusammenhang gesehen werden mit dem technischen Fortschritt. Diese Grundthese wird von Marcuse allerdings nicht systematisch entwickelt und wis-senschaftlich abgesichert, sondern anhand verschiedener Symptome unter immer neuen Gesichtspunkten vorgetragen. In vieler Hinsicht haben die Darlegungen den Charakter kritischer Meditationen, die ihre Überzeugungskraft mehr durch den Mitvollzug als durch eine Nachprüfbarkeit im üblichen Sinne gewinnen. Auch die sprachliche Fassung bereitet Schwierigkeiten, sofern man nicht nur einzelne Passagen und Sätze, sondern den Gedankengang insgesamt zu erfassen sucht Diese Schwierigkeiten sollten allerdings nicht zu dem Trugschluß verleiten, daß den Darlegungen Marcuses die innere Stimmigkeit und Überzeugungskraft fehle. Sie wird um so deutlicher, je mehr man Marcuses Überlegungen auf dem Hintergründe der tatsächlichen, unbestreitbaren Entwicklung der „fortgeschrittenen Industriegesellschaft" sieht. Dieser Hintergrund kann in folgenden Kennzeichnungen zusammengefaßt werden:

Die fortgeschrittene Industriegesellschaft ist durch eine wissenschaftlich-technische Gestaltung gekennzeichnet. Diese Konzeption schließt eine Reihe von Vorentscheidungen ein, die im Laufe der Wissenschaftsgeschichte getroffen und vom Allgemeinbewußtsein akzeptiert worden sind. Die vielleicht wichtigste dieser Vorentscheidungen liegt in einer Grundüberzeugung, die in früheren Zeiten in dem Satz zusammengefaßt wurde, daß „Gott die Welt nach Maß und Zahl geordnet" habe, d. h. in der Überzeugung, daß Mathematik der Schlüssel zum Verständnis der Wirklichkeit sei

Wie problematisch diese Vorentscheidung ist, wußte bereits Plato. Er orientierte zwar seine Ideenlehre an der Mathematik und suchte noch im hohen Alter die Ideen mit Zahlen und Zahlenverhältnissen gleichzusetzen, erklärte jedoch unmißverständlich, daß man über die Geltung der Mathematik in der realen Welt wissenschaftlich nichts Sicheres sagen könne

Tatsächlich tritt die Differenz zwischen Mathematik und Realität überall in Erscheinung, wo reale Dinge mathematisch beschrieben werden. So hat man wiederholt darauf hingewiesen, daß zwar alle rein mathematischen Kreise mit dem gleichen Radius absolut gleich sind, daß jedoch kein einziger realer Kreis den geometrischen Bedingungen eines Kreises voll entspricht und daß kein einziger realer Kreis mit einem anderen realen Kreis völlig gleich ist. Die angewandte Mathematik, die reale Dinge mißt und zählt, ignoriert jedoch diesen Grundtatbestand und geht so voran, als ob es auch in der Realität Gleichheit gäbe. So wird z. B. im herkömmlichen Rechenunterricht betont, daß man nur Gleiches zu Gleichem hinzuzählen dürfe. Diese Anweisung verbietet es z. B., Äpfel und Glaskugeln zusammenzuzählen, läßt es jedoch unproblematisch erscheinen, vier Äpfel unter zwei Kinder zu verteilen und dergleichen mehr. Die überspielte Problematik solchen Vorgehens wird freilich deutlich, wenn einmal tatsächlich vier Äpfel unter zwei Kinder verteilt werden. Denn dann zeigt sich, daß reale Äpfel keineswegs gleich sind, daß vielmehr ein Apfel größer oder „schöner" ist als ein anderer.

Das damit angesprochene Problem ist grundsätzlicher Art, denn die Realität kennt grundsätzlich keine gleichen Dinge. Weder zwei Menschen, noch zwei Tiere, noch zwei Pflanzen, noch zwei Steine, ja nicht einmal zwei Atome sind in jeder Hinsicht absolut gleich. Die Mathematik muß daher von der vollen Realität absehen und arbeitet mit abstrakten Begriffen bzw. idealen Gegenständen. Der Apfel des Rechenunterrichts der Grundschule ist dementsprechend eher ein Apfel aus der Ideenwelt Platos als ein Apfel aus einem irdischen Garten.

Jede mathematische Erfassung der Wirklichkeit bedeutet somit ein Absehen von der Einmaligkeit und Besonderheit der realen Gegenstände und eine Quantifizierung der Wirklichkeit. Diese Quantifizierung setzt Quantifizierbarkeit voraus. Daher haben die nach mathematischen Prinzipien arbeitenden Wissenschaften die Tendenz, alle qualitativen Kennzeichen der vorgefundenen Wirklichkeit auszuschalten bzw. sie in quantitative „umzuwandeln". So werden z. B. die verschiedenen Farben als Licht je einer bestimmten Wellenlänge und die Töne als Schallwellen wissenschaftlich exakt erfaßt. Eine solche mathematische Erfassung ist in vielen Fällen aufschlußreich. Die so gewonnenen Erkenntnisse schließen jedoch zugleich ein Verkennen der Wirklichkeit ein; sie können nur unter Bedingungen gewonnen werden, die mit einem Absehen von der vollen Wirklichkeit gleichbedeutend sind

Dazu kommt als weitere Problematik, daß die modernen Wissenschaften jeweils nach konstanten Beziehungen zwischen den Erschei-nungen suchen, die in der Form von Funktionsgleichungen mathematisch 'ausgedrückt werden können. Sie setzen dabei voraus, daß sich die Veränderungen in der Wirklichkeit gesetzmäßig vollziehen bzw. daß sich die Wirklichkeit unter gleichen Bedingungen stets gleich verhält und daß sie als ein Geflecht von Ursachen und Wirkungen angemessen beschrieben werden kann. Auch diese Voraussetzung entspricht genaugenommen nicht der Realität

Auch diese Differenz ist dem Menschen grundsätzlich bekannt. Insbesondere weiß der moderne Naturwissenschaftler, daß es in vielen Bereichen unberechenbares Verhalten gibt und daß die absolute Gültigkeit der klassischen Naturgesetze nur vorgetäuscht wird, während es sich tatsächlich lediglich um eine statistische Wahrscheinlichkeit handelt, die allerdings so groß ist, daß Abweichungen faktisch nicht zu erwarten sind

Im Allgemeinbewußtsein besteht jedoch zwischen dem wissenschaftlich-technischen „Weltbild" und der realen Welt keine Differenz. Dieses falsche Bewußtsein wird ständig verstärkt, da die wissenschaftlich-technische Berechnung und Beherrschung der Welt eine Umgestaltung bedeutet, die die Welt gewissermaßen im nachhinein so macht, wie sie im Interesse einer mathematischen Berechenbarkeit und Beherrschbarkeit wünschenswert erscheint

Die wissenschaftlich-technische Weltgestaltung kann als ein grandioser Versuch betrachtet werden, alle Vorgänge in den verschiedensten Bereichen der Wirklichkeit berechenbar zu machen und sie lebensdienlich zum Nutzen des Menschen einzusetzen. Dieses Bestreben ist auch nach der grundsätzlichen „Überwindung" des klassischen naturwissenschaftlichen Weltbildes wirksam geblieben und sichert eine beachtenswerte Kontinuität zwischen der Epoche der klassischen Naturwissenschaften und der heutigen modernen Welt.

Hieraus entsteht die paradoxe Situation des heutigen Menschen. Er weiß zwar grundsätzlich, daß die klassischen Naturwissenschaften und ihr Weltbild nur ein Grenz-bzw. Sonderfall sind. Faktisch jedoch begegnet ihm nur dieser auf Gesetzmäßigkeit und Quantität fixierte Grenz-und Sonderfall. Denn die auf Weltbeherrschung ausgerichtete wissenschaftlich-technische Intelligenz ist bestrebt, Freiheit und Individualität nicht wirksam werden zu lassen, sondern zielt ebenso wie die Bemühungen der klassischen Naturwissenschaften darauf ab, alle Vorgänge zuverlässig zu berechnen. Sie konzentriert ihre Bemühungen darauf, spontanes Geschehen, das sich der Berechnung entzieht, nicht zum Zuge kommen zu lassen und die Besonderheit bzw. Einmaligkeit der vorgefundenen Gegebenheiten durch eine künstliche Normierung abzubauen.

Es kennzeichnet diese Tendenz, daß Freiheit und Spontaneität auch in der heutigen wissenschaftlichen Konzeption nicht als positive Kräfte erscheinen, sondern als „Unschärfe", als „Fehlertoleranz" oder auch als „Unsicherheit", die es erforderlich machen, entsprechende Sicherheitsfaktoren in die Berechnungen einzubringen. Derartige Begriffe zeigen deutlich, daß man, und zwar durchaus mit Erfolg, bestrebt ist, Freiheit bzw. Spontaneität zu eliminieren und dadurch eine Berechenbarkeit zu gewährleisten, die genauso zuverlässig ist, als ob die Wirklichkeit selbst durch absolut gültige Naturgesetze beherrscht würde

Zu den Maßnahmen, die eine Berechenbarkeit erleichtern und eine künstliche Zuverlässigkeit schaffen, gehört nicht zuletzt die in den verschiedensten Bereichen wirksame Tendenz zur Normierung. Da eine mathematische Erfassung von Erscheinungen Meßbarkeit und Gleichheit voraussetzt und da die vorgefundene Wirklichkeit diese Bedingungen nicht erfüllt, gestaltet der moderne Mensch die vorgefundene Wirklichkeit durch Normierung so um, daß sie schließlich doch funktional berechenbar und zuverlässig wird.

So entsteht mit den Fortschritten der Wissenschaften und der zu ihnen gehörenden Techniken eine von der natürlichen Welt unterschiedene, genormte und berechenbare Welt. Diese Normierung beginnt bereits beim Material und findet in den Tausenden von Industrienormen ihren besonderen Ausdruck. In den letzten Jahrzehnten hat diese Normierung die landwirtschaftliche Produktion ebenfalls voll erfaßt; auch Pflanzen und Tiere werden systematisch auf bestimmte genormte Eigenschaften hin gezüchtet und in Güteklassen eingeordnet. So entsteht eine Welt, in der alles genormt und exakt berechenbar ist. Diese künstliche Welt ist vom Standpunkt der Wissen-schäftenaus die vollkommenere Welt, da in ihr die „Naturgesetze" und die übrigen mathematisch formulierten wissenschaftlich-technischen Feststellungen zuverlässiger als in der natürlichen Welt gelten

Es entspricht der Konsequenz des wissenschaftlich-technischen Systems, daß auch der Mensch selbst zum Objekt von Planungen, Verbesserungen und Normierungen wird. Auch er wird in Datenverarbeitungsanlagen und genormten Formblättern erfaßt und ist, wie es Helmut Schelsky pointiert formuliert hat, „als soziales und seelisches Wesen eine technisch-wissenschaftliche Aufgabe der Produktion geworden" Mittel-und langfristige Planungen von Regierungen und übernationalen Organisationen müssen zwangsläufig auch den Menschen einbeziehen, und sie werden empfindlich gestört, wenn das Verhalten des Menschen den Planungen nicht entspricht Das aber bedeutet, daß zumindest vom Standpunkt zuverlässiger Planung her freie Entscheidungen des Menschen, die nicht plan-konform sind, nach Möglichkeit verhindert werden müssen.

Hält man sich diese Struktur unserer Welt vor Augen, so wird verständlich, daß Herbert Marcuse davon spricht, daß die moderne Gesellschaft in Ost und West „aus inneren Gründen totalitär wird" Er spricht von einem falschen Bewußtsein, das der falschen Ordnung der wissenschaftlich-technisch gestalteten Welt entspricht, in der nicht nur die Produktion, sondern auch jeder Unfall, jede Geburt und jeder Todesfall in das Bruttosozialprodukt eingehen und alles mit allem verrechenbar ist und im Zusammenhang steht. Um diesen, unseren Zustand zu charakterisieren, formuliert Marcuse: „Wir leben und sterben rational und produktiv. Wir wissen, daß Zerstörung der Preis des Fortschritts ist wie der Tod der Preis des Lebens, daß Versagen und Mühe die Vorbedingung für Genuß und Freude sind, daß die Geschäfte weitergehen müssen und die Alternativen utopisch sind."

Obgleich Marcuse die Grundstruktur der wissenschaftlich-technischen Welt in vieler Hinsicht zutreffend beschreibt, erfaßt er ihre Systemkonsequenz nur unzureichend Daher gerät er in eine merkwürdige innere Spannung: Einerseits legt er dar, wie wenig die wissenschaftlich-technische Weltgestaltung tatsächlich Humanität fördert, andererseits jedoch versichert er, daß sie auf Humanität abziele. Er proklamiert somit einen inneren Widerspruch zwischen Zielrichtung und Folge technisch-rationaler Weltgestaltung und stellt fest: „Der Apparat vereitelt jedoch seinen eigenen Zweck, sofern es sein Zweck ist, ein humanes Dasein auf der Basis einer humanisierten Natur herbeizuführen." Zur Erklärung dieser inneren Widersprüchlichkeit bemüht Marcuse die Dynamik der Dialektik in der geschichtlichen Entwicklung: „Seit Anbeginn ist das Negative im Positiven enthalten, das Inhumane in der Humanisierung, Versklavung in der Befreiung.“

Infolge der Verkennung des inneren Zusammenhangs zwischen wissenschaftlicher Rationalität und gesellschaftlicher Inhumanität hält Marcuse trotz aller Kritik an den Illusionen einer überholten Fortschrittsgläubigkeit fest und verbindet seine weithin zutreffende kritische Beschreibung der modernen Gesellschaft mit der von Marx bzw. Lenin übernommenen unkritischen Hoffnung, daß ein zentralisierter Produktionsapparat „im Hinblick auf die Befriedigung der notwendigen Bedürfnisse organisiert und dirigiert werden" könne, in einer Weise, in der „eine derartige Kontrolle ... individuelle Autonomie nicht verhindern, sondern ermöglichen“ würde Er nimmt an, „die technologischen Prozesse der Mechanisierung und Standardisierung könnten individuelle Energie für ein noch unbekanntes Reich der Freiheit jenseits der Notwendigkeit freigeben“ Die Herbeiführung einer solchen humanen modernen Welt betrachtet er als Aufgabe der Politik

Da die Hoffnungen und Erwartungen Marcuses jedoch der Konsequenz seiner eigenen Analysen letztlich widersprechen, vermag er keinen Entwurf einer künftigen Gesellschaft oder auch nur ein positives politisches Programm vorzulegen. Statt dessen fordert er schließlich eine Negation der bestehenden Gesellschaft „als die reine Form -der Nega tion“ Diese reine Negation wird für ihn zum ausschließlichen Programm. Es ist ein Programm ohne positiv formulierbaren Inhalt.

Unmißverständlich bekennt Marcuse: . Aller Inhalt scheint auf die eine abstrakte Forderung nach dem Ende der Herrschaft reduziert..."

Allerdings weiß Marcuse, daß die reine Negation als eine „absolute Weigerung" um so unvernünftiger erscheinen muß, als „das bestehende System seine Produktivität entwickelt und die Last des Lebens erleichtert“ Marcuse leugnet also nicht, daß das von ihm kritisch beschriebene System auch seine positive Bedeutung für die Gestaltung des menschlichen Lebens hat und daher rein rational nicht widerlegt, sondern nur durch eine Willensentscheidung abgelehnt werden kann. Marcuse ist zu dieser Entscheidung gegen das so „vernünftige“ System moderner Weltgestaltung entschlossen und zitiert als sein eigenes Bekenntnis Maurice Blanchot: „Was wir ablehnen, ist keineswegs ohne Wert und ohne Bedeutung; deshalb eben ist Weigerung notwendig. Es gibt eine Vernunft, die wir nicht mehr akzeptieren, es gibt eine Erscheinung, von Weisheit, die uns in Schrecken versetzt, es gibt ein Angebot, sich zu einigen und zu arrangieren, auf das wir nicht hören. Ein Bruch ist vollzogen. Wir sind zu einer klaren Entscheidung gedrängt, die jede Komplizenschaft ablehnt.“

Da Marcuse keine Chance sieht, eine Mehrheit für seine Große Weigerung zu gewinnen, erteilt er der Volkssouveränität eine klare Absage Hoffnung setzt er auf nicht integrierte Minderheiten: „Sie existieren außerhalb des demokratischen Prozesses; ihr Leben bedarf am unmittelbarsten und realsten der Abschaffung unerträglicher Verhältnisse und Institutionen. Damit ist ihre Opposition revolutionär...“

Marcuse schließt seine Gedanken mit der pathetischen Feststellung: „Die kritische Theorie der Gesellschaft besitzt keine Begriffe, die die Kluft zwischen dem Gegenwärtigen und seiner Zukunft überbrücken können; indem sie nichts verspricht und keinen Erfolg zeigt, bleibt sie negativ. Damit will sie jenen die Treue halten, die ohne Hoffnung ihr Leben der Großen Weigerung hingegeben haben und hingeben." Hält man sich diese Sätze Marcuses vor Augen, so versteht man, daß sich in den sechziger Jahren gerade die nicht nur demonstrierenden, sondern auch randalierenden Studenten-gruppen auf ihn beriefen. Denn sie waren es, die selbst ohne positive Zielsetzung zum Kampf gegen das herrschende „Unterdrükkungssystem" antraten. Das Scheitern dieser Bewegung bedeutete zugleich den geistigen Untergang Herbert Marcuses. Mit einer reinen Negation und einer Großen Weigerung läßt sich offensichtlich Zukunft nicht gestalten. Die gesamte geschichtliche Erfahrung der Menschheit zeigt, daß reine Anarchisten und Chaoten, selbst wenn sie aus subjektiv edler Gesinnung handelten, niemals etwas Gutes im Sinne ihrer Zielsetzung erreicht haben. Entweder gingen sie ohne geschichtliche Wirkung unter oder aber ihr Wirken kam letzten Endes anderen zugute, denen es gelang, die Erschütterung der tradierten Ordnung für ihre eigenen Ziele auszunützen. Hierin liegt auch die Tragik aller „idealistischen“ Linksradikalen, die einen Sozialismus mit menschlichem Antlitz erstreben, deren Wirken jedoch faktisch zumeist den Vertretern jenes realen Sozialismus zugute kommt, dessen Antlitz durchaus nicht durch Humanität gekennzeichnet ist

Durch solche Feststellungen wird freilich nicht bestritten, daß Herbert Marcuse zusammen mit anderen Vertretern der Frankfurter Schule das Verdienst zukommt, auf grundlegende Fehlentwicklungen der modernen Gesellschaft und auf die ihr zugrunde liegenden Fragwürdigkeiten der Konzeption des neuzeitlichen Denkens hingewiesen zu haben. Insofern behält Johannes Hollenbach Recht, der sich bereits im April 1968, also zur Zeit der großen Studentenrevolte, in dem von ihm begründeten ibw-Journal dagegen wehrte, Marcuse einfach als Urheber linksextremer Gewalttätigkeiten abzustempeln, indem er auf dessen systemübergreifende geistige Bedeutung hinwies: „Seine Kritik trifft das technologische Denksystem als Ganzes, ganz gleich, welche politische Ausprägung es in Ost oder West findet. Seine Kritik trifft die verhängnisvollen Folgen des positivistisch und behavioristisch verkürzten Denkens und Sprechens, das sich darin als fortschrittlich gibt, daß es gegenüber jeder Wertordnung . neutral'zu sein behauptet und gerade dadurch einer schleichenden Versklavung der Individuen die Wege bereitet. Nur ist diese Versklavung gegenüber der früheren nicht mehr so handgreiflich, weil sie als Fortschritt der . Wissenschaft'und als . notwendige Folge der Technisierung'hingenommen werden muß."

Zu These 2:

Die Frankfurter Denker weisen auf, daß die gegenwärtige Krise nur überwunden werden kann, wenn die Gesellschaft eine übergreifende Zielorientierung zurückgewinnt Zur Rechtfertigung dieser These muß insbesondere auf die entsprechenden Schriften von Jürgen Habermas hingewiesen werden. In der grundsätzlichen Analyse der Situation stimmt er weitgehend mit Herbert Marcuse überein. Dennoch setzt er die Akzente in vieler Hinsicht anders. Er macht darauf aufmerksam, daß es in früheren Zeiten eine Theorie gegeben hat, die geistig umfassender war als das moderne Denken. Diese alte Theorie war dadurch gekennzeichnet, daß sie die Welt als Einheit sah, so daß in der kosmischen Ordnung zugleich der „Prototyp für die Ordnung der Menschenwelt" erkannt werden konnte Habermas unterstreicht, daß diese Theorie, die als Kosmologie von einem idealen Zusammenhang der Welt ausging, imstande war, zugleich „Orientierung des Handelns" zu sein Er verweist damit auf die alte mythische Rechtfertigung von Herrschaft und ebenso auf die philosophische Tradition des Abendlandes, derzufolge das seinsgerechte Handeln als das richtige Handeln gilt und die seinsgerechte Gestaltung sozialer Ordnung als die jeweils angemessene Ordnung erscheint. Er betont, daß die mythischen, religiösen und metaphysischen Weltbilder der Vergangenheit eine Antwort gaben „auf die zentralen Menschheitsprobleme des Zusammenlebens und der individuellen Lebensgeschichte", da sie „Gerechtigkeit und Freiheit, Gewalt und Unterdrückung, Glück und Befriedigung, Elend und Tod" zum Thema hatten

Von dieser alten Theorie, die in der Lage war, Herrschaft zu legitimieren und eine Zielorientierung für die Politik zu gewährleisten, unterscheidet Habermas die heute herrschende Rationalität, die auf eine technische Verfügung abzielt und dementsprechend einem Handeln zugeordnet werden muß, das jeweils Herr-. schäft „über Natur oder Gesellschaft impliziert" Habermas erkennt, daß infolge dieser Implikation eine Rationalisierung von Lebensverhältnissen jeweils zugleich eine Errichtung von Herrschaft bedeutet, die jedoch dem einzelnen nicht als politische Herrschaft erscheint und entgegentritt, sondern als eine notwendige und vernünftige Ordnung der Lebensverhältnisse. In diesem Sinne stellt er fest: „Die technische Vernunft eines gesellschaftlichen Systems zweckrationalen Handelns gibt ihren politischen Inhalt nicht preis."

Diese Feststellung gilt nach der Überzeugung von Habermas insbesondere, „soweit die Staatstätigkeit auf Stabilität und Wachstum des Wirtschaftssystems gerichtet ist“ Er macht darauf aufmerksam, daß die Politik dann „einen eigentümlich negativen Charakter“ annimmt Sie ist mit der Beseitigung von Störungen — man denke etwa an Energie-engpässe, Inflation, Export-oder Importüberschüsse, Arbeitslosigkeit oder auch Arbeitskräftemangel — beschäftigt. Die Maßnahmen, die in solchen Situationen politisch „notwendig" sind, scheinen dann einer reinen Sachgerechtigkeit zu entspringen. Wissenschaftliche Berater und Gutachter übernehmen indirekt die Rolle einer politischen Entscheidungsinstanz. Habermas kennzeichnet das politisch Bedenkliche dieser Situation: Die Politik ist primär mit Fragen beschäftigt, die einer demokratischen Willensbildung unzugänglich sind, da sie eine Sachkenntnis voraussetzen, die der Durchschnittswähler naturgemäß nicht haben kann, und da sich für den Sachkundigen die beste Lösung mit einer systemkonsequenten Zwangsläufigkeit ergibt. Die wissenschaftlich-technische Gestaltung der Welt hat somit ein Stadium erreicht, in welchem eine „technokratisierte Verwaltung der industriellen Gesellschaft ... jede demokratische Willensbildung gegenstandslos" macht

Als Kronzeugen für diesen Vorgang zitiert Habermas Helmut Schelsky, der in einer seiner Untersuchungen versichert, daß „an die Stelle eines politischen Volkswillens ... die Sachgerechtigkeit" tritt, „die der Mensch als Wissenschaft und Arbeit selbst produziert"

Habermas beklagt, daß sich das gegenwärtige allgemeine Bewußtsein offensichtlich damit abfindet, daß sich die Politik mehr oder weniger darauf beschränkt, den Gang der technokratisch reglementierten Gesellschaftsmaschine einigermaßen ungestört zu sichern Er macht sich jedoch kaum Gedanken darüber, daß in der pluralistischen Gesellschaft, in der religiöse und philosophische Grundüberzeugungen weithin aus dem politischen in den privaten Raum abgedrängt sind, mit einer gewissen Zwangsläufigkeit das optimale Funktionieren der Gesellschaftsorganisation selbst zum einzigen von allen Gruppen der Gesellschaft anerkannten Ziel wird Ohne sich mit der Problematik des Pluralismus und der Privatisierung weltanschaulicher Überzeugungen auseinanderzusetzen, nennt Habermas den „herrschaftsfreien Dialog“ als eine Möglichkeit, eine neue Zielorientierung zu gewinnen die zugleich die Frage nach dem Sinn des technokratischen Funktionierens einbezieht und sich nicht damit zufrieden gibt, daß die gesamte Gesellschaftsmaschine letzten Endes in einem sinnlosen Leerlauf dahinklappert.

Der herrschaftsfreie Dialog ist für Habermas die Form politischer Willensbildung, die den 'gegenwärtigen kritischen Zustand überwinden und eine neue übergreifende Zielorientierung ermöglichen soll. Allerdings weiß auch Habermas, daß in der konkreten Wirklichkeit ein herrschaftsfreier Dialog nur selten zustande kommt, und bemüht sich, in einem eigenen Kapitel die verschiedenen Bestimmungen einer idealen Sprechsituation herauszuarbeiten Denn nur in einer solchen Situation kann ein wahrer Konsens zustande kommen, der politisch tragfähig ist. Habermas ist sich dessen bewußt, daß eine solche Sprechsituation nicht nur eine formale Chancengleichheit während des Gesprächs voraussetzt, sondern auch von der gesamten Lebenssituation der Sprechenden mitgeprägt wird. Er muß zugestehen, daß eine solche wirklich herrschaftsfreie Dialogsituation in der Realität faktisch nie gegeben ist. Zugleich weist er jedoch darauf hin, daß wir im Vollzug des Sprechens je-weils „kontrafaktisch so tun, als sei die ideale Sprechsituation... nicht bloß fiktiv, sondern wirklich" vorhanden Mit diesem an sich richtigen Hinweis löst er jedoch das Problem nicht, da eine kontrafaktische Unterstellung die faktische Situation nicht grundlegend verändert. Habermas gesteht zudem zu, daß eine Änderung letzten Endes „nur durch eine höhere Reflexionsstufe, ein in der Emanzipation fortschreitendes Bewußtsein handelnder Menschen" erreicht werden könne. Der von Habermas geforderte herrschaftsfreie Dialog zur Zielorientierung der Gesellschaft setzt somit die Unterstellung utopischer Verhältnisse und die Schaffung „höher" entwickelter Menschen voraus

Aber auch abgesehen vom utopischen Charakter der Habermas'schen Forderung fragt es sich, ob eine Verfahrenstechnik wie der herrschaftsfreie Dialog allein ausreicht, die gegenwärtigen Probleme zu lösen. Eine negative Antwort auf diese Frage wird nahegelegt, wenn man nach den Impulsen fragt, die von Habermas tatsächlich ausgegangen sind. Dabei handelt es sich vor allem um den Versuch einer „Demokratisierung" in möglichst allen Bereichen der Gesellschaft. Schon allein die Tatsache, daß die Demokratisierungstendenz fast ausschließlich im Hochschulwesen zu tatsächlichen Veränderungen der Organisation geführt hat, sollte hellhörig machen. Im übrigen hat sich hier gezeigt, daß bei konsequenter Durchführung zumeist Gremien geschaffen wurden, die einen so hohen Grad an Aufwand, insbesondere an Zeit, für die Meinungsund Willensbildung erforderten, daß sie tatsächlich wenig praktikabel waren. Endergebnis war in vielen Fällen nicht der von Habermas erhoffte herrschaftsfreie Dialog und schließliche Konsens, sondern eine von Pressionen, Kampfabstimmungen und taktischen Kompromissen geprägte endlose Diskussion um die Zusammensetzung von Gremien, um Geschäftsordnungen und Verfahrenstechniken, um Personalfragen und allgemeine Grundsätze. Ein grundlegender Wandel zum Besseren im Sinne der Grundforderung von Habermas hat sich nirgends feststellen lassen:

Zu einem Konsens über neue Zielorientierungen unserer heutigen Gesellschaft ist es auch nicht annähernd gekommen. Einziges Ergebnis sind gewisse formale Verbesserungen innerhalb der Herrschafts-und Gesellschaftsstruktur, wobei man sich nicht einmal in der positiven Einschätzung dieser Veränderungen völlig einig ist.

Insgesamt konnte die Etablierung von Habermas als Direktor am Max-Planck-Institut zur Erforschung der Lebensbedingungen in der wissenschaftlich-technischen Welt — bzw. neuerdings für Sozialwissenschaften — geradezu als exemplarisch dafür betrachtet werden, daß sich seine Vorschläge ohne allzu große Schwierigkeiten und ohne grundlegende Änderung der bisherigen Entwicklungstendenzen in das herrschende Wissenschaftssystem und seine Institutionen einbeziehen lassen. Bezeichnenderweise bedeuten die meisten späteren Veröffentlichungen von Habermas keine grundsätzliche und grundlegende Kritik an dem herrschenden Wissenschaftssystem. Sie halten sich vielmehr durchaus im Rahmen der allgemeinen wissenschaftstheoretischen Diskussion.

Diese Feststellungen dürfen freilich nicht dazu verführen, die Untersuchungen von Habermas gewissermaßen zu den Akten zu legen und so weiter zu arbeiten, als sei nichts geschehen. So wenig Habermas die von ihm gekennzeichneten Grundprobleme zu lösen vermag, so bleibt es doch sein Verdienst, auf die Frage der Zielorientierung unserer Gesellschaft hingewiesen und deutlich gemacht zu haben, daß ein reines Funktionieren einer technokratisch organisierten Mechanerie nicht nur ein absurdes Spektakel darstellt, sondern letzten Endes die Menschen der Sinnlosigkeit und Orientierungslosigkeit preisgibt. Zu These 3:

In der Auseinandersetzung mit Hegel und in Ablehnung einer marxistischen Kollektivierung treten die Frankfurter Denker für das Recht des Konkreten und Besonderen ein Diese These erhält ihre Berechtigung vor allem aus den Überlegungen Theodor W. Adornos. Dessen Hauptwerk, die Negative Dialektik, ist in ihrem Grundanliegen bisher kaum aufgearbeitet worden. Tatsächlich ist sie schwer lesbar, da sie nicht nur eine ungewohnte sprachliche Gestaltung aufweist, sondern durch eine Begrifflichkeit gekennzeichnet ist, die sich jeweils nur aus der besonderen Bezogenheit der jeweiligen Begriffe auf die philosophische Tradition und der Stellungnahme Adornos zu dieser Tradition erschließt.

Als Beispiel hierfür kann auf die programmatische Grundforderung Adornos hingewiesen werden, die bisherige „Richtung der Begrifflichkeit zu ändern, sie dem Nichtidentischen zuzukehren". Das sei „das Scharnier Negativer Dialektik" Solche Formulierungen klingen zunächst unverständlich. Im Kontext der Überlegungen Adornos bedeuten sie jedoch eine klare Aufforderung: Die Philosophie, die bisher durch Abstraktion gekennzeichnet wurde und in Allgemeinbegriffen dachte, soll ihre Richtung ändern und ihre Aufmerksamkeit statt dessen auf die konkrete Wirklichkeit in ihrer Einmaligkeit richten. Adorno weist mit Nachdruck darauf hin, daß die konkrete Wirklichkeit von einem abstrakten begrifflichen Denken nur unzureichend erfaßt wird. Jede konkrete Rose, jedes konkrete Pferd und insbesondere jeder konkrete Mensch hat eine Fülle von besonderen Kennzeichen und Eigentümlichkeiten, die in den Begriffen Rose, Pferd und Mensch nicht enthalten sind. Es besteht somit ein Unterschied zwischen dem jeweiligen Begriff und der konkreten Wirklichkeit, die mit diesem Begriff bezeichnet wird. Die Grundforderung Adornos, sich dem Nicht-identischen zuzuwenden, besagt dementsprechend, sich der konkreten Wirklichkeit gerade so zuzuwenden, daß ihre mit dem Begriff nicht faßbare bzw. mit dem Begriff nicht identische konkrete Eigenart und Fülle im Blickpunkt steht.

Bei diesen seinen Überlegungen wird Adorno zutiefst von einem moralischen Impuls beherrscht. Es ist der Schock über die Massen-vernichtungen, die von der Bürokratie des Dritten Reiches mit organisatorischer Perfektion in die Wege geleitet wurden. Es ist die furchtbare Erfahrung des Mordes „an Millionen durch Verwaltung", wobei „in den Lagern nicht mehr das Individium starb, sondern das Exemplar" Zur Verdeutlichung sei darauf hingewiesen, daß noch bei den Hinrichtungen während der Französischen Revolution der einzelne verdächtigt, verurteilt und hingerichtet wurde daß jedoch in den Vernichtungslagern Kolonnen von Menschen, die allenfalls mit Nummern erfaßt waren, in die Todesbaracken marschierten und dort, in den Gaskammern zusammengepfercht, zu Tode gebracht wurden, ohne daß die Frage nach persönlicher Schuld auch nur gestellt wurde. Für die Organisatoren dieser Vernichtungsmechanerie war der einzelne nur noch ein Exemplar einer „Parasitenrasse", deren Ausrottung „mit möglichst wenig Personal" und „ohne unnütze Quälerei" organisiert wurde

Angesichts der Toten von Auschwitz wehrt sich Adorno entschieden dagegen, den einzelnen Menschen ohne eigenes Recht dem großen Gang bzw.dem allgemeinen Fortschreiten der Geschichte unterzuordnen. Er erkennt die Brutalität Hegels, der sich einst als Anwalt einer höheren Weltvernunft aufgespielt und erklärt hatte: „Dabei, daß einzelne Individuen gekränkt worden sind, kann die Vernunft nicht stehen bleiben; besondere Zwecke verlieren sich in dem Allgemeinen." Er spürt, daß es Zynismus wäre, wenn man in Hinblick auf Auschwitz unter Berufung auf Hegel versicherte: „Wir wissen, daß diese Dinge geschehen sind, und da sie geschehen sind, haben sie einen Sinn", und hinzufügte: „Wo nicht, so müssen wir ihnen einen geben" Es ist somit letzten Endes die Erfahrung der Geschichte, oder genauer gesagt: die Solidarität mit ihren Opfern, die nach der Überzeugung Adornos unausweichlich nötigt, die bisherige Metaphysik radikal in Frage zu stellen und sich dem von ihr vernachlässigten je konkreten Besonderen zuzuwenden. Es geht Adorno um Gerechtigkeit für „das von den Begriffen Unterdrückte, Mißachtete und Weggeworfene"

Dieses sein Programm einer neuen zeitgerechten Philosophie faßt Adorno zusammen, indem er versichert: „Philosophie hat, nach dem geschichtlichen Stande, ihr wahres Interesse dort, wo Hegel, einig mit der Tradition, sein Desinteressement bekundet: beim Begrifflosen, Einzelnen und Besonderen; bei dem, was seit Plato als vergänglich und unerheblich abgefertigt wurde und worauf Hegel das Etikett der faulen Existenz klebte. Ihr [längst überfälliges] Thema wären die von ihr [bislang] als kontingent zur quantit ngligeable degradierten Qualitäten.“

Trotz seiner radikalen Kritik an der überlieferten Philosophie bleibt Adorno allerdings der von Aristoteles grundgelegten Begrifflichkeit der Tradition verhaftet. Hierin liegt auch der tiefere Grund, weshalb Adorno selbst sich auch in seiner Negativen Dialektik, in der er sich in vieler Hinsicht vom Marxismus distanziert, weiterhin als „Materialisten" bezeichnet Dieses Selbstverständnis ergibt sich für ihn aus einer begrifflichen Systemkonsequenz, da er für das je Besondere und Konkrete eintritt. Denn Aristoteles hatte einst zwischen Form und Stoff unterschieden und am Beispiel eines Standbildes erklärt, daß die Form der allgemeinen Idee des Künstlers zugehöre und entspreche, während die nicht mit dieser Idee vorgegebenen Besonderheiten des Standbildes durch Zufälligkeiten des Materials hervorgerufen würden. Gemäß dieser Auffassung des Aristoteles versucht Adorno darzulegen, daß sich das je konkrete Besondere „als materiell oder als untrennbar fusioniert mit Materiellem" erweise Allerdings ist es ihm bei dieser Zuordnung offensichtlich selbst nicht ganz wohl. Sein Unbehagen dokumentiert sich darin, daß er einerseits die Fixierung des Besonderen auf das Materielle in einer längeren gequälten Argumentation abzustützen sucht, daß er jedoch andererseits geradezu entschuldigend erklärt, daß der Materialismus „nicht Dogma" sei Diese Feststellung wendet er auch ins Positive, indem er seinen Materialismus definiert als „Inbegriff der Kritik am Idealismus und an der Realität, für welche der Idealismus optiert, indem er sie verzerrt"

Schon hieraus geht hervor, daß der Materialismus, wie er in der Negativen Dialektik in Erscheinung tritt, nicht mit dem von Marx identisch ist. Es ist daher nicht unproblematisch, Adornos Überlegungen pauschal und undifferenziert mit dem Etikett „Neomarxismus" zu versehen, wie das weithin üblich geworden ist. Adorno selbst macht gelegentlich die Differenz zwischen seinen Auffassungen und denen von Marx deutlich. Dies gilt insbesondere für seine Ablehnung der Überbautheorie. Zwar betont Adorno im Einklang mit Marx gegenüber Hegel zunächst: „Dialektik ist in den Sachen", fügt jedoch sogleich Marx korrigierend hinzu, daß es diese Dialektik „in den Sachen" nicht gäbe „ohne das Bewußtsein, das sie reflektiert". Zur Begründung dieser ergänzenden Korrektur stellt er fest: „In einer schlechthin einen, unterschiedslosen totalen Materie wäre keine Dialektik.“ Die Überbautheorie — so erklärt Adorno — würde letzten Endes darauf hinauslaufen, daß das Denken abbild-haften Charakter bekomme; jedoch „abbildhaftes Denken wäre reflexionslos" Adorno ist freilich davon überzeugt, daß die zur Macht gelangten marxistischen Materialisten gerade deshalb an der Überbautheorie festhalten. Denn Reflexionslosigkeit liege in ihrem Interesse. Eine Eigenständigkeit der Kritik würde sie dagegen in Frage‘stellen. Adorno bezeichnet es als eine der wichtigsten Aufgaben seiner kritischen Theorie, dem etablierten Marxismus entgegenzuarbeiten, der „zum Rückfall in die Barbarei" geworden sei

Die Grundintention Adornos wird wohl am deutlichsten, wo er sich zum Problem der „Versöhnung" äußert. Adorno stellt den sich stets wiederholenden Dreischritt der Dialektik: These — Antithese — Synthese = neue These — Antithese — Synthese = neue These usw.

in Frage. Er betont, daß eine Dialektik, die ohne positive Bewertung des Konkreten und Besonderen in immer neuen Synthesen die jeweiligen Antithesen in sich absorbiert, letzten Endes nicht Versöhnung bewirken und bedeuten könne: „Gerade das unersättliche Identitätsprinzip verewigt den Antagonismus vermöge der Unterdrückung des Widersprechenden." Er wehrt sich gegen die Auffassung von Hegel und Marx, daß alles, was als These und Antithese in späteren Synthesen eingeht, seine Bedeutung allenfalls darin habe, daß es zum Fortgang des Ganzen beiträgt. Statt dessen will er ihm ein eigenes Recht sichern. Schonungslos wirft er der Hegelschen und Marxschen Konzeption der Dialektik vor, daß sie die Versöhnung, die sie erreichen möchte, letzten Endes selbst hintertreibe. Der dialektiB sehe Prozeß, der sich alles einverleibt, erweise sich als unduldsam, da er alles zur Identifizierung in „höheren" Synthesen zwingt und nichts in seiner eigenen Andersartigkeit beläßt Adorno formuliert in der ihm eigenen Fassung: „Was nichts toleriert, das nicht wie es selber wäre, hintertreibt die Versöhnung, als welche es sich verkennt."

Adorno seinerseits will als Versöhnung nur einen Zustand gelten lassen, in dem das Fremde nicht „mit philosophischem Imperialismus“ vereinnahmt wird, sondern „in der gewährten Nähe das Ferne und Verschiedene bleibt, jenseits des Heterogenen wie des Eigenen" Versöhnung bedeutet für ihn Anerkennung des jeweils Konkreten als berechtigt und als zugehörig zum eigenen Glück. Dieser Grundgedanke, daß das Konkrete und Besondere nicht absorbiert werden dürfe, sondern bewahrt werden und bleiben solle, wird von Adorno in aller Konsequenz zu Ende gedacht. Daher trifft sich schließlich der für das Recht des Konkreten, Einzelnen und Besonderen engagierte „Materialismus" Adornos für manchen vielleicht überraschend, jedoch durchaus konsequent mit einer Verheißung der Offenbarung: „Seine Sehnsucht wäre die Auferstehung des Fleisches."

Zu These 4:

Indem sie die Aufklärung zu Ende denken, öffnen die Frankfurter den Weg für neue Möglichkeiten unprogrammierten Denkens und ein neues Fragen nach Transzendenz Die Forderung Adornos, sich dem Konkreten und Besonderen zuzuwenden und „dessen qualitativen Momenten" gerecht zu werden, bedeutet zugleich eine Absage an das „Ideal" eines perfekten Systems wissenschaftlicher Welterklärung. Denn diese Welterklärung beruht ja gerade darauf, alle Erscheinungen der Wirklichkeit aus allgemein gültigen Formeln und Gesetzmäßigkeiten zu erklären bzw. sie mathematisch zu berechnen. Es ist kennzeichnend für die Strukturverwandtschaft des wissenschaftlichen Systems mit der idealistischen Metaphysik, daß auch im wissenschaftlich-technischen System, gewollt oder ungewollt, der Vorrang des Allgemeinen vor dem Besonderen proklamiert wird. Wie bei der Erläuterung der ersten These ausgeführt wurde erscheinen unter dem Gesichtspunkt technischer Verarbeitung besondere Eigenarten der konkreten Wirklichkeit als Unzulänglichkeiten, die durch Normierungen beseitigt werden, und Unberechenbarkeiten des Verhaltens fallen unter Stichworte wie Fehlertoleranzen, die jeweils durch Sicherheitsfaktoren eliminiert werden.

Adornos Forderung, sich dem Konkreten und Besonderen zuzuwenden, ist somit eine Absage an jede Konzeption von Philosophie und Wissenschaft, die der Illusion Vorschub leistet, daß sie in ihren Definitionen und Formeln die Wirklichkeit angemessen erfassen könne. Damit geht Aufklärung über ihr traditionelles Selbstverständnis hinaus, sie bedeutet nicht nur Verzicht auf eine Erklärung der Wirklichkeit durch mythische und geoffenbarte Deutungen, sondern auch Verzicht auf eine unangenehme Überschätzung der menschlichen Vernunft. Aufklärung wird, wie Adorno formuliert, zur „Einsicht in den Trug des zum Absoluten sich stilisierenden Subjekts" In aller Schärfe formuliert Adorno diese Einsicht in dem zusammenfassenden Satz: „Die metakritische Wendung gegen eine prima philosophia ist zugleich die gegen die Endlichkeit einer Philosophie, die über Unendlichkeit schwadroniert und sie nicht achtet. Erkenntnis hat keinen ihrer Gegenstände ganz inne. Sie soll nicht das Phantasma des Ganzen bereiten." Durch diese Forderungen Adornos werden Philosophie und Wissenschaft auch von der „totalen Herrschaft von Methode" befreit. Sie gewinnen eine neue Freiheit, sich der Wirklichkeit zuzuwenden. Damit kommt, wie Adorno besonders hervorhebt, in der Philosophie auch das korrektive „Moment des Spiels, das die Tradition ihrer Verwissenschaftlichung ihr austreiben möchte", erneut zum Recht Selbstverständlich weiß Adorno, daß damit das Ideal einer formal absolut stringenten Beweisführung aufgekündigt und eine Komponente des Wagnisses in die Philosophie eingebracht wird. Adorno bekennt sich jedoch zu der Notwendigkeit dieses Wagnisses und erteilt eine Absage an den „obstinaten Drang, lieber über die Richtigkeit von Irrelevantem zu wachen, als über Relevantes, mit der Gefahr des Irrtums, nachzudenken"

Daß sich der heutige Intellektuelle um wissenschaftliche Erklärungen für alle Vorgänge der Wirklichkeit bemüht, dagegen den Menschen in seiner gesamten Existenz treffende metaphysische Fragen kaum konsequent stellt, führt Adorno auf einen Horror zurück, den die Menschen verdrängen, da er ihnen ansonsten „den Atem verschlüge" Adorno seinerseits weicht diesen Fragen nicht aus. Das zeigt sich deutlich bei seinen Überlegungen zum Tod. Er stellt sich der ungeschminkten Realität des Todes und glaubt in der Art und Weise, wie sich insbesondere der Alterstod im Zerfall des Menschen vorbereitet, einen Hinweis darauf zu erblicken, daß er den ganzen Menschen und nicht nur seinen Leib trifft. Das Nachlassen der geistigen Fähigkeiten vor dem Tod legt nach Adornos Überzeugung den Schluß nahe, daß der Tod den ganzen Menschen radikal zerstört.

Dies ist jedoch nur die eine Seite des Gesamt-problems. Andererseits ist, wie Adorno ebenso entschieden erklärt, „der Gedanke, der Tod sei das schlechthin Letzte, unausdenkbar" Wenn der Tod unwiderruflich das letzte Wort hätte, dann würde er zu jenem Absoluten, das die Philosophie als absolutes Sein positiv zu fassen suchte. Es bliebe schlechthin nichts. Auch jeder Gedanke würde ins Leere gedacht, keiner ließe sich mit Wahrheit sagen und denken: Denn auch die letzte Spur von allem, was je gedacht wurde, „verschlänge der absolute Tod" Gegen diesen absoluten Tod spricht nach der Überzeugung Adornos nicht zuletzt die Erfahrung des Lebens selbst. Er versichert, es „könnte nichts als wahrhaft Lebendiges erfahren werden, was nicht auch dem Leben Transzendentes verhieße; darüber führt keine Anstrengung des Begriffs hinaus"

So bleiben bei Adorno die Erfahrung der ungeschminkten Realität des Todes und die Erfahrung des eine Transzendenz verheißenden Lebens in einer inneren Spannung zueinander stehen, die er für nicht auflösbar hält. Er erklärt, daß der Gedanke des absoluten Todes dem Denken kaum weniger widerstreitet als der Gedanke an Unsterblichkeit. Lapidar erklärt er einige Seiten später: „Nichtgläubigkeit wäre so abgeschmackt wie Seinsgläubigkeit."

Indem Adorno das Dilemma zwischen Todes-erfahrung und Hoffnung unerschrocken auszuhalten sucht, kommt er in den letzten Abschnitten seiner Untersuchung immer wieder auf Transzendenz und Theologie zu sprechen.

Eindeutig nimmt er Stellung gegen eine rein geistige Vorstellung von Transzendenz und bezeichnet den Gedanken einer vom Leib unabhängig bleibenden Existenz der Seele, wie er seit Plato von idealistischen Denkern vertreten wird, als „die ideologische Unwahrheit in der Konzeption von Transzendenz" Demgegenüber versichert er: „Hoffnung aber heftet sich ... an den verklärten Leib. Metaphysik will davon nichts hören, nicht mit Materiellem sich gemein machen ... Die christliche Dogmatik, welche die Erweckung der Seele mit der Auferstehung des Fleisches zusammen-dachte, war metaphysisch folgerechter, wenn man will: aufgeklärter als die spekulative Metaphysik."

Die zunächst im Hinblick auf den Menschen getroffene Feststellung, daß ein rein geistig-seelisches Weiterbestehen nach dem Tode eine ideologische Unwahrheit in der Konzeption von Transzendenz sei, bzw.seine kritische Skepsis gegenüber der Vorstellung rein geistigem Daseins hat auch auf die Gottesfrage ihre Rückwirkungen. Er wendet sich gegen die „Hypostasis eines unkörperlichen und gleichwohl individuierten Geistes" und versichert, individuelles Bewußtsein sei „ein Stück raum-zeitlicher Welt" und daher losgelöst von der Körperwelt nicht vorstellbar Dabei macht er allerdings eine Einschränkung, indem er in diesen Satz die Formel „nach menschlichem Vermögen" einfügt. Damit läßt er die Frage nach Gott letzten Endes offen. Denn auch die christliche Theologie, mit er er sich hier ins Gespräch begibt, behauptet ja keineswegs, daß Gott dem menschlichen Vorstellungsvermögen faßbar sei.

Wie Adorno so öffnet auch Horkheimer neue Möglichkeiten unprogrammierten Denkens und stellt erneut die Frage nach Transzendenz. Im Gegensatz zu Adorno begnügt er sich freilich zumeist damit, die Konsequenzen der Vorprogrammierung der gegenwärtig herrschenden Vernunft aufzureißen und vorsorglich klarzulegen, welche Folgen zwangsläufig jeder radikale Verzicht auf Theologie für das menschliche Bewußtsein bedeutet.

Als Ursache des gegenwärtigen Dilemmas kennzeichnet Horkheimer ebenso wie die anderen Vertreter der Frankfurter Schule die Programmierung der Vernunft und die damit verbundene Verengung des geistigen Horizonts. Er schreibt: „Die moderne Wissenschaft, wie die Positivisten sie verstehen, bezieht sich wesentlich auf Aussagen über Tatsachen und setzt deshalb die Verdinglichung des Lebens im Allgemeinen und der Wahrnehmung im Besonderen voraus." In aller Schärfe weist er auf die verhängnisvolle Vorprogrammierung der modernen Wissenschaftlichkeit hin, die eine Folge ihrer methodologischen Konzeption sei: „Die durch quantitative Methoden ermittelten sogenannten Tatsachen, welche die Positivisten als die einzig wissenschaftlichen zu betrachten pflegen, sind oft Oberflächenphänomene, die die zugrunde liegende Realität mehr verdunkeln als enthüllen."

Für Horkheimer handelt es sich dabei nicht um die Frage einer richtigen oder falschen Anwendung von Wissenschaften, aber auch nicht um die Frage einer zusätzlichen Zielorientierung, sondern um ein tieferliegendes Problem der Gesamtkonzeption des modernen wissenschaftlichen Denkens. In aller Schärfe weist er darauf hin, daß dieses Problem nicht durch eine systemkonsequente Weiterentwicklung der Wissenschaften selbst gelöst werden kann: „Nach den Positivisten brauchen wir nur genügend Vertrauen zur Wissenschaft. Natürlich verkennen sie nicht die zerstörerischen Praktiken, zu denen die Wissenschaft herhalten muß; aber sie behaupten, daß ein solcher Gebrauch die Wissenschaft pervertiert. Ist dem wirklich so? Der objektive Fortschritt der Wissenschaft und ihre Anwendung, die Technik, rechtfertigen die geläufige Vorstellung nicht, daß die Wissenschaft nur dann zerstörerisch ist, wenn sie pervertiert wird, und notwendig konstruktiv, wenn sie angemessen verstanden wird. Fraglos könnte von der Wissenschaft ein besserer Gebrauch gemacht werden. Es ist jedoch keineswegs ausgemacht, daß der Weg, die guten Möglichkeiten der Wissenschaft zu verwirklichen, überhaupt auf ihrer gegenwärtigen Bahn liegt." Dementsprechend ist die wichtigste Aufgabe einer Besinnung die kritische Überprüfung der gängigen Vernunft selbst. Als Emanzipation betrachtet Horkheimer in der gegenwärtigen Situation eine „Denunziation dessen, was gegenwärtig Vernunft heißt". Hierin bestehe vorerst „der größte Dienst, den die Vernunft leisten kann" In diesem Zusammenhang wirft Max Horkheimer den Kirchen vor, den notwendigen und ihrem Auftrag gemäßen Dienst einer radikalen Kritik an der wissenschaftlichen Vernunft zu verweigern und sich statt dessen opportunistisch in einer eigenen Weise dem System anzupassen.

Nach der Überzeugung Horkheimers mindert eine solche Anpassung an die herrschende Rationalität die Chance, die Geschlossenheit des wissenschaftlich-technischen Systems zu sprengen. Nur ein in die verkürzte Rationalität nicht integrierbarer Glaube könnte eine neue Offenheit schaffen. Ohne einen solchen Glauben verliert jede Wahrheit ihren absoluten Anspruch. Unmißverständlich erklärt Horkheimer: „Wahrheit als emphatische, menschlichen Irrtum überdauernde, läßt...

von Theismus sich nicht schlechthin trennen.

Sonst gilt der Positivismus, mit dem die neueste Theologie bei allem Widerspruch verbunden ist. Nach ihm heißt Wahrheit Funktionieren von Berechnungen, Gedanken sind Organe, Bewußtsein wird jeweils soweit überflüssig, wie die zweckmäßigen Verhaltensweisen, die durch es vermittelt waren, im Kollektiv sich einschleifen. Einen unbedingten Sinn zu retten ohne Gott, ist eitel... Ohne Berufung auf ein Göttliches verliert die gute Handlung, die Rettung des ungerecht Verfolgten ihre Glorie, es sei denn, sie entspräche dem Interesse eines Kollektivs diesseits und jenseits der Landesgrenzen." Der sich fortschrittlich gebärdenden Theologie wirft Horkheimer vor, sie klammere „das Dogma ein, ohne dessen Geltung ihre Rede nichtig ist", und er fügt unmißverständlich hinzu: „Zugleich mit Gott stirbt auch die ewige Wahrheit."

Der Verzicht auf eine Berufung auf die ewige Wahrheit zugunsten einer zweckrationalen Gestaltung im Sinne der instrumentellen Vernunft bedeutet nach der Überzeugung Horkheimers zugleich einen Verzicht auf eine moralische Politik. Er betont: „Politik, die, sei es höchst unreflektiert, Theologie nicht in sich bewahrt, bleibt, wie geschickt sie sein mag, letzten Endes Geschäft... Vom Standpunkt des Positivismus aus gesehen läßt sich keine moralische Politik ableiten. Rein wissenschaftlich betrachtet ist der Haß bei aller sozial. funktionellen Differenz nicht schlechter als die Liebe. Es gibt keine logisch zwingende Begründung dafür, warum ich nicht hassen soll, wenn ich mir dadurch im gesellschaftlichen Leben keine Nachteile zuziehe ... Der Positivismus findet keine die Menschen transzendierende Instanz, die zwischen Hilfsbereit-schäft und Profitgier, Güte und Grausamkeit, Habgier und Selbsthingabe unterschiede. Auch die Logik bleibt stumm, sie erkennt der moralischen Gesinnung keinen Vorrang zu. Alle Versuche, die Moral anstatt durch den Hinblick auf ein Jenseits auf irdische Klugheit zu begründen ..., beruhen auf harmonistischen Illusionen. Alles, was mit Moral zusammenhängt, geht letzten Endes auf Theologie zurück."

Tatsächlich zeigen die Erfahrungen, daß atheistische Weltanschauungen Liebe und Haß in gleicher Weise einsetzen, um ihre politischen Ziele zu erreichen Und auch hierin erfolgt eine Anpassung fortschrittlicher Theologen an das moderne Denken. Da sie ihre Bemühungen primär auf die Verbesserung irdischer Zustände und auf die Schaffung des Himmels auf Erden konzentrieren, wird auch für sie der kämpferische Haß gegen alle, die der von ihnen erstrebten Gerechtigkeit entgegenstehen, zu einem notwendigen Mittel zur Erreichung ihrer gesellschaftspolitischen Ziele. Im Gegensatz dazu hält es Horkheimer für notwendig, entschieden daran festzuhalten, „daß die Welt Erscheinung ist, daß sie nicht die absolute Wahrheit, das Letzte" ist Nur eine solche Theologie könne als eine echte Alternative zur wissenschaftlich-technischen Vernunft wirksam werden. Allein der Gottesbegriff verbürge, „daß es noch andere Maßstäbe gebe als diejenigen, welche Natur und Gesellschaft in ihrer Wirksamkeit zum Ausdruck bringen"

Wie Horkheimer gegenüber möglichen Mißverständnissen ausdrücklich betont, bedeuten diese seine Hinweise nicht, „daß der Versuch, eine vernünftigere, daß heißt gerechtere Gesellschaft zu schaffen, negiert wird" Horkheimer ist sich jedoch der Problematik aller Versuche bewußt, auf Erden eine absolute, d. h. auch soziale Gerechtigkeit im Sinne des modernen Gleichheitsideals zu erzwingen. Er weiß, daß dieses gewalttätige Streben nach absoluter Gerechtigkeit in der Gesellschaft mit dem „Niedergang der Religion fast synchron verläuft" „Indem die Ideen der Auferstehung von den Toten, des Jüngsten Gerichts, des ewigen Lebens als dogmatische Setzung negiert werden, wird das Bedürfnis des Menschen nach unendlicher Seligkeit ganz offenbar und tritt zu den schlechten irdischen Verhältnissen in Gegensatz." Wenn die diesseitige Wirklichkeit die einzige und letzte Wirklichkeit ist, dann muß das Bedürfnis nach unendlicher Seligkeit in dieser Welt abgegolten und eine absolute Gerechtigkeit in der Gesellschaft hergestellt werden. Das jedoch wird, wie Horkheimer in aller Nüchternheit erkennt, mit der Freiheit bezahlt und führt faktich zu Unterdrückungssystemen, deren Ungerechtigkeit und Gewalttätigkeit im Endeffekt in vielen Fällen die Ungerechtigkeit der zuvor herrschenden Zustände bei weitem übersteigt. Entgegen allen unredlichen oder unüberlegten Harmonisierungsversuchen spricht Horkheimer in einem Interview klar aus: „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, das ist eine wundervolle Parole. Aber wenn Sie die Gleichheit erhalten wollen, dann müssen Sie die Freiheit einschränken, und wenn Sie den Menschen die Freiheit lassen, dann kann es keine Gleichheit geben."

Wie Horkheimer klar erkennt, drängt das Streben nach Gleichheit im Sinne sozialer Gerechtigkeit zusammen mit der Konsequenz der wissenschaftlich-technischen Weltgestaltung selbst zu einer immer stärkeren Einschränkung der Freiheit. Daher stellt er die klare Prognose: „Ich glaube, daß die Menschen dann in dieser verwalteten Welt ihre Kräfte werden nicht frei entfalten können, sondern sie werden sich an rationalistische Regeln anpassen, und sie werden diesen Regeln schließlich instinktiv gehorchen. Die Menschen dieser zukünftigen Welt werden automatisch handeln. Bei rotem Licht stehen, bei grünem marschieren. Sie werden den Zeichen gehorchen. Die Individualität wird eine immer geringere Rolle spielen ... ich meine ... heute schon sagen zu können, daß die immanente Logik der gegenwärtigen historischen Entwicklung, soweit sie durch Katastrophen nicht unterbrochen wird, auf eine Aufhebung des freien Willens hinweist."

Diese Feststellungen Horkheimers haben eine unübersehbare innere Konsequenz: Die modernen Wissenschaften fragen ausschließlich nach Quantitäten und nach funktionalen gesetzmäßigen Zusammenhängen. In ihrer Inter-pretation der Welt herrscht das Gesetz einer Kausalität, die für freies Wirken keinen Raum läßt. Diese Wissenschaften werden dann zum Gestaltungsprinzip der modernen Industrie-welt mit ihren Planungsstäben, Befehls-und Verwaltungszentralen. In ihr erscheint alles Unvorhersehbare und Unberechenbare als Störfaktor, so daß die Vollendung dieser modernen Welt „eine Aufhebung des freien Willens" einschließt. Nur so läßt sich eine perfekte Planung und Organisation der Gesellschaft erreichen. Angesichts dieser immanenten Logik der gegenwärtigen historischen Entwicklung scheint Horkheimer zuweilen völlig zu resignieren: „Man kann einen solchen Prozeß nicht rückgängig machen. Man kann nur versuchen, etwas von dem überlieferten zu bewahren, indem man die Wandlungen auch in ihrer Negativität sichtbar macht."

Demgegenüber habe ich in meinen Gesprächen mit Horkheimer die Hoffnung geäußert, daß durch eine wissenschaftstheoretische Aufarbeitung der Gesamtsituation auch eine neue Offenheit zu Gott gewonnen werden könne, die dem Menschen als Person ein Eigengewicht gegenüber den funktionalen Gestaltungsprinzipien der modernen Gesellschaft gäbe. Es ist ein Gebot der Redlichkeit zuzugestehen, daß Horkheimer diese Hoffnungen nicht teilte, sondern noch in seinem letzten Brief schrieb: „Leider können wir nicht erwarten, daß unsere theoretischen Aktivitäten die gesellschaftliche Tendenz des Rückgangs von Philosophie und Theologie verändern werden." Es ist allerdings ebenso ein Gebot der Redlichkeit hinzuzufügen, daß Horkheimer offensichtlich das Gespräch mit mir nicht zuletzt deshalb suchte, weil er in diesem seinem Pessimismus widerlegt werden wollte. Wenn er mehrfach spontan erklärte: Jeh wollte, Sie hätten recht!", dann war das, soweit ich es aus der Gesamtsituation heraus zu beurteilen vermag, weder versteckte Ablehnung noch Beharren in der Resignation, sondern eine geheime Hoffnung. Ob sich diese geheime Hoffnung Horkheimers erfüllt, läßt sich nicht vorhersagen. Es wird nicht zuletzt von den weiteren Schicksalen der Theologie abhängen. Bei unseren Gesprächen wußten Horkheimer und ich uns darin einig, daß die Frage nach der Zukunft der Menschheit und die Frage nach der Zukunft der Religion aufs engste verbunden sind. Es herrschte allerdings auch Einmü-tigkeit darüber, daß die Frage nach der Zukunft der Religion nicht von der Frage nach der Wahrheit der Religion getrennt werden könne. Der Gedanke Voltaires, daß man Gott, wenn es ihn nicht gäbe, erfinden müsse, um auf diese Weise die Menschen tugendhafter und die Gesellschaft besser zu machen, lag uns beiden völlig fern. Wir waren davon überzeugt, daß eine nur um ihrer funktionalen Bedeutung willen anerkannte Religion wehrlos der Gefahr preisgegeben ist, selbst als Stabilisierungselement in ein technokratisches Gesamtsystem eingebaut zu werden. Das bedeutet, daß die Zukunft der Menschheit letzten Endes davon abhängen wird, ob „die Sehnsucht nach dem ganz Anderen", von der Horkheimer gesprochen hat, eine Sehnsucht ist, die ins Leere geht, oder eine Sehnsucht, in der die menschliche Person auf ein letztes personales Gegenüber und „Du" trifft. Diese Frage muß im Rahmen des hier behandelten Themas offen bleiben. Daß es gute Argumente für eine positive Beantwortung gibt, habe ich an anderer Stelle dargelegt

Abschließend kann jedoch festgestellt werden: Man hat die kritischen Bemühungen der Frankfurter Schule zu Recht als zweite Aufklärung bezeichnet. Tatsächlich ist in der Frankfurter Schule die Aufklärung samt der ihr verbundenen Konzeption der Wissenschaften kritisch zu Ende gedacht, zum Bewußstsein ihrer Grenzen gebracht und dadurch im Doppelsinn des Wortes „aufgehoben" worden. Durch diese Befreiung des Denkens aus der selbst geschaffenen rationalistischen Programmierung wurde die Inhumanität des Idealismus und des Positivismus entlarvt. Zugleich wurde eine neue Offenheit gewonnen, in der eine Konvergenz zwischen metakritischem Denken und Theologie grundsätzlich möglich ist, sofern sich die Theologie ihrerseits weder als Interpretin eines — womöglich zu entmythologisierenden — Mythos noch als Sonderform einer idealistischen oder auch — so paradox das klingen mag — marxistischen Metaphysik mißversteht, sondern sich an dem ihr eigenen Auftrag orientiert.

Schon die Große Weigerung Herbert Marcuses dokumentiert, daß die Dinge weltimmanent schlechthin so wenig aufgehen, daß sich keine glaubwürdige positive Parole zur Lösung des Dilemmas der Gegenwart ausgeben läßt. Habermas macht zudem deutlich, daß es hierbei letztlich um die Frage einer Zielorientierung bzw. um die Frage nach dem Sinn der Gesamtentwicklung und Gesamtgestaltung geht. Adorno unterstreicht, daß es unerträglich wäre, diesen Sinn nur als Sinn für „das Allgemeine" zu suchen, daß es vielmehr nötig ist, auch dem Einzelnen und Besonderen sein Recht unaufhebbar zu sichern. Max Horkheimer schließlich legt dar, daß es ohne Theismus weder moralische Politik noch Sinn gibt.

Dementsprechend besteht die bleibende Bedeutung der Frankfurter Schule nicht in dem umstrittenen Beitrag, den sie zu einer Reihe von Einzelfragen im Sinne einer Weiterführung neomarxistischen Denkens geleistet hat, sondern primär darin, daß sie die Aufklärung zu Ende gedacht und zugleich eine neue Offenheit für künftiges Denken gewonnen hat. Die Folgezeit muß entscheiden, ob und wie diese Möglichkeiten genutzt werden.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Herbert Marcuse, Der eindimensionale Mensch, Neuwied 1967, S. 21.

  2. Vgl. Staudinger/Behler, Chance und Risiko der Gegenwart, Paderborn 1976, insbes. S. 233 ff.

  3. Vgl. ebd., S. 29.

  4. Vgl. ebd., insbes. S. 57 f. und S. 234 f.

  5. Vgl. ebd., insbes. S. 301 ff.

  6. Hier kann sowohl an die Mikrophysik wie auch an den Bereich des Lebendigen gedacht werden.

  7. Vgl. Staudinger/Behler, a. a. O., insbes. S. 306.

  8. Vgl. Staudinger, Die Glaubwürdigkeit Gottes in unserer modernen Welt, ibw-Sonderdruck z. H. 12/78, insbes. S. 18 ff.

  9. Vgl. ebd.

  10. Vgl. ebd., S. 19.

  11. H. Schelsky, Einsamkeit und Freiheit, rde 171/172, S. 218.

  12. Marcuse, a. a. O., S. 160.

  13. Ebd.

  14. Vgl. hierzu im einzelnen H. Staudinger, Das bleibende Vermächtnis der Frankfurter Schule, ibwJournal, Sonderbeilage August 1980, S. 7f.

  15. Marcuse, a. a. O., S. 160.

  16. Ebd.

  17. ) Ebd., S.

  18. ) Ebd

  19. Ebd., S. 182.

  20. Ebd., S. 266.

  21. Ebd.

  22. Ebd.

  23. Ebd. Die Übersetzung ins Deutsche wurde neu vorgenommen, um dem Elan des französischen Textes gerecht zu werden.

  24. Ebd., S. 267.

  25. Ebd.

  26. Ebd., S. 268.

  27. Vgl. hierzu auch Staudinger/Schlüter, Wer ist der Mensch? — Entwurf einer offenen und imperativen Anthropologie, Stuttgart 1981, S. 299f.

  28. J. Hollenbach, ibw-Journal April 1968.

  29. Jürgen Habermas, Technik und Wissenschaft als „Ideologie“, Edition Suhrkamp 287, S. 152f.

  30. Ebd.

  31. Ebd., S. 68.

  32. Ebd„ S. 49. M

  33. Ebd.

  34. Ebd., S. 77.

  35. Ebd.

  36. Ebd., S. 128.

  37. Ebd., S. 128f.

  38. In diesem Zusammenhang sei auch auf die Ambivalenz der sogenannten Entideologisierung der demokratischen Parteien hingewiesen.

  39. Vgl. H. Staudinger, Der Atheismus als politisches Problem, ibw-Journal vom 15. August 1978, S. 21 ff.

  40. Habermas, a. a. O., S. 119.

  41. Habermas/Luhmann, Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie, Frankfurt 1971, S. 136 bisl 41.

  42. Habermas, a. a. O., S. 140.

  43. Paradoxerweise können diese utopischen Verhältnisse und diese anderen Menschen offensichtlich nur durch rigorose Zwangsmaßnahmen geschaffen werden. Ebenso wie die marxistische Utopie der herrschaftsfreien Gesellschaft in einem Durchgangsstadium der Diktatur und Reglementierung stecken geblieben ist, droht, sofern er praktisch angestrebt wird, der herrschaftsfreie Dialog in einer Durchgangsphase absoluter Reglementierung durch „Demokratisierung" stecken zu bleiben.

  44. Theodor W. Adorno, Negative Dialektik, stw 113,

  45. Ebd„ S. 355.

  46. Dies gilt selbst für die Phase der Revolution, in der der „Schrecken" bewußt als Mittel der Politik eingesetzt wurde. Auch die Massen, die die Gefängnisse stürmten und die Gefangenen niedermachten, gingen davon aus, daß es sich um Menschen handle, die persönlich zumindest verdächtig seien.

  47. Vgl. Staudinger/Horkheimer, Humanität und Religion, Würzburg 1974, insbes. S. 56 f.

  48. Vgl. hierzu G. W. Fr. Hegel, Sämtliche Werke, hrsg. v. J. Hoffmeister, Hamburg 1952, Bd. XVIII A, Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte, Philos. Bibliothek Bd. 171a, S. 26— 49.

  49. Vgl. G. W. Fr. Hegel, a. a. O., Band XII, Grundlinien des Rechts, Philos. Bibliothek Band 124 a, §§ 341— 353, S. 288 f.

  50. Adorno, a. a. O., S. 21.

  51. Ebd. S. 19f.

  52. Selbstverständlich wird damit nicht bestritten, daß Adorno sich auch im Hinblick auf seinen „Neomarxismus“ als Materialisten betrachtet. Es gibt vorerst keine Untersuchung, die unter Berücksichtigung aller einschlägigen Stellen den Begriff des Materialismus bei Adorno überzeugend geklärt hätte. Selbstverständlich lassen sich bestimmte Zitate finden, die solange Eindeutigkeit schaffen, wie man sie ohne Rücksicht auf entgegenstehende Äußerungen als „Beleg“ anführt. Die in dieser Untersuchung vorgenommene Interpretation erhebt daher bewußt nicht den Anspruch, das Gesamtwerk Adornos zu interpretieren, sondern beschränkt sich auf die Negative Dialektik.

  53. Adorno, a. a. O., S. 193.

  54. Ebd., S. 197.

  55. Ebd. »

  56. Ebd., S. 205.

  57. Ebd., S. 206.

  58. Ebd., S. 205.

  59. Ebd., S. 146.

  60. Ebd.

  61. Ebd., S. 192.

  62. Ebd., S. 207.

  63. Vgl. oben, insbes. S. 6.

  64. Adorno, a. a. O., S. 187.

  65. Ebd., S. 25.

  66. Ebd., S. 25f.

  67. Ebd., S. 172.

  68. Ebd., S. 388.

  69. Ebd., S. 364.

  70. Ebd.

  71. Ebd., S. 368.

  72. Ebd., S. 372.

  73. Ebd., S. 392f.

  74. Ebd., S. 393.

  75. Ebd.

  76. Max Horkheimer, Zur Kritik der instrumentelen Vernunft, Frankfurt 1967, S. 83 f.

  77. Ebd., S. 84.

  78. Ebd., S. 63.

  79. Ebd., S. 174.

  80. Ebd., S. 227.

  81. Ebd.

  82. Max Horkheimer, Die Sehnsucht nach dem ganz Anderen, Furche-Stundenbücher, Band 97, S. 60 f.; dazu Horkheimer, Zur Kritik der instrumentellen Vernunft, S. 228.

  83. Vgl. hierzu H. Staudinger, Der Atheismus als politisches Problem — Ein Beitrag zur Klärung der gegenwärtigen Situation, ibw-Journal vom 15. August

  84. Max Horkheimer, Sehnsucht, a. a. O., S. 61.

  85. Ebd., S. 67.

  86. Ebd., S. 76.

  87. Ebd., S. 77.

  88. Ebd.

  89. Ebd., S. 86.

  90. Ebd., S. 84— 86 passim.

  91. Ebd., S. 86.

  92. Staudinger/Horkheimer, Humanität und Religion, Würzburg 1974, S. 83.

  93. Vgl. dazu H. Staudinger, Die Glaubwürdigkeit Gottes in unserer modernen Welt, ibw-Sonderdruck zu Heft 12/1978.

Weitere Inhalte

Hugo Staudinger, Dr. phil., geb. 5. Juli 1921; Historiker und Wissenschaftstheoretiker; Professor an der Gesamthochschule Paderborn; Leiter des Instituts für wissenschaftstheoretische Grundlagenforschung, der Forschungsstelle des Deutschen Institutes für Bildung und Wissen. Neuere Veröffentlichungen u. a.: Chance und Risiko der Gegenwart — Eine kritische Analyse der wissenschaftlich-technischen Welt (mit W. Behler), Paderborn 19772; Wer ist der Mensch — Entwurf einer offenen und imperativen Anthropologie (mit J. Schlüter), Stuttgart 1981.