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Wandel der Arbeits-und Lebensbedingungen in der Sowjetunion 1955-1980 | APuZ 7/1983 | bpb.de

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APuZ 7/1983 Bilanz der „Breschnew-Ära" Wandel der Arbeits-und Lebensbedingungen in der Sowjetunion 1955-1980 Zur Beurteilung von Planungsreformen in der Sowjetunion Bildungssysteme in Osteuropa — Reform oder Krise?

Wandel der Arbeits-und Lebensbedingungen in der Sowjetunion 1955-1980

Maria Elisabeth Ruban

/ 28 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Industrialisierung und staatliche Planwirtschaft haben in der Sowjetunion einen Prozeß fortschreitender Wandlungen im Alltagsleben und in den Arbeitsbedingungen ausgelöst. Primäre und augenfällige Veränderungen sind die Verlagerungen in der Bevölkerungsund Beschäftigungsstruktur. Wie in allen sich industrialisierenden Ländern verlassen immer mehr Menschen ihren ländlichen Wohnsitz und siedeln sich in Städten an; Großfamilien lösen sich auf, Geburtenraten und Bevölkerungswachstum gehen zurück. Die Berufsstruktur spiegelt diesen Wandlungsprozeß wider: Der Anteil der Beschäftigten in der Landwirtschaft sinkt, Industrie, Bauwirtschaft und Dienstleistungsberufe expandieren. Beeindruckend sind die Erfolge der staatlichen Bildungspolitik. In kurzer Zeit gelang es der UdSSR, aus einem mehrheitlich analphabetischen Volk eine Gesellschaft mit hohem Bildungsstand zu machen. Ähnlich groß waren die Fortschritte in der Gesundheitspolitik. Soweit es vergleichbare Kennziffern gibt (Ärzte, Krankenhausbetten, durchschnittliche Lebenserwartung), hat die Sowjetunion den großen Abstand aufgeholt, der sie in den zwanziger Jahren von den anderen Industrienationen trennte. Demgegenüber fallen die Erfolge bei der Hebung des individuellen Lebensstandards zurück. Zwar hat die Wohlstandspolitik die Lebenslage breiter Bevölkerungsschichten unverkennbar verbessert, aber noch immer liegen die durchschnittlichen Geldeinkommen der privaten Haushalte (in Kaufkraft umgerechnet), der Pro-Kopf-Verbrauch an Nahrungsmitteln und industriellen Konsumgütern sowie insbesondere die Versorgung mit Wohnraum unter dem westeuropäischen Standard. Bei diesem Rückstand gewinnt vor allem die qualitative Komponente an Bedeutung.

Ende 1982 wurde das von der Stiftung Volkswagen-werk geförderte Projekt „ Wandel der Arbeits-und Lebenshedingungen in der Sowjetunion 1955 bis 1980 — Planziele und Ergebnisse im Spiegelbild sozialer Indikatoren“, Autoren: Maria Elisabeth Ruban, Eduard Gloeckner, Maria Lodahl, Angela Scherzinger, mit einem Beitrag von Klaus von Beyme abgeschlossen. Die Untersuchung wurde im Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung Berlin durchgeführt. Die vorstehenden Ausführungen geden einige Ergebnisse dieser Arbeit wieder.

I. Industrialisierung und Wirtschaftsreformen — auslösende Faktoren des sozialen Wandels

Abbildung 1

Die Jahre 1929 und 1930 markieren in der sowjetischen Geschichte eine Wende, deren Folgen für das Land und seine Bewohner ebenso umwälzend waren wie die der Revolution von 1917. Stalin selbst bezeichnete diese Wende, nämlich den Übergang zur zentralen staatlichen Planwirtschaft, verbunden mit forcierter Industrialisierung und Zwangskollektivierung der Landwirtschaft, als eine „Revolution von oben"; die damals eingeschlagene Grundrichtung ist bis heute im Kern — trotz zahlreicher Reformmaßnahmen — beibehalten worden. Die Wirtschaftspolitik Stalins und seiner Nachfolger hat in den gut 50 Jahren ihrer Verwirklichung nicht nur das Gesicht des Landes verändert und seine Bedeutung in der Welt außerordentlich verstärkt, sondern auch tiefgreifende soziale Wandlungen hervorgerufen, die in allen Lebens-und Arbeitsbereichen zu erkennen sind.

Anteil der Hochschulabsolventen an ihrem jeweiligen Altersjahrgang in v. H.

Viele dieser Wandlungen sind typische Begleiterscheinungen eines Modernisierungsprozesses, wie ihn fast alle europäischen und außereuropäischen Länder auf ihrem Wege von der Agrar-zur Industriegesellschaft durchgemacht haben. Aber es hat auch eigenständige Entwicklungen gegeben, Veränderungen, die in anderen Ländern nicht oder nicht in gleicher Art und Intensität eingetreten sind. Einige dieser Abweichungen mögen auf den besonderen historisch-geographischen Gegebenheiten der UdSSR beruhen, andere aus der Ideologie oder den Eigenheiten einer sozialistischen Planwirtschaft resultieren. Ohnehin haben die Veränderungen in den einzelnen Lebens-und Arbeitsbereichen, in der Bevölkerungs-und Wirtschaftsstruktur ganz unterschiedliche Gewichte, unterschiedlich im Ausmaß und im Ursprung des Wandels. INHALT I. Industrialisierung und Wirtschaftsreformen — auslösende Faktoren des sozialen Wandels II. Sozialdemographische Indikatoren 1. Bevölkerungsbewegung 2. Familienstrukturen 3. Binnenwanderung und Siedlungsformen

Durchschnittliche Lebenserwartung der sowjetischen Bevölkerung — in Jahren —

III. Versorgung und Verbrauch 1. Nahrungsmittel 2. Industrielle Konsumgüter 3. Wohnungswirtschaft IV. Veränderungen in der Arbeitswelt 1. Beschäftigungsquote 2. Arbeitszeit und Urlaub 3. Wirtschaftsbereiche, Berufe, Positionen

4. Veränderte Arbeitseinstellung?

V. Allgemeine und berufliche Bildung VI. Gesundheitswesen und soziale Sicherung

VII. Zusammenfassung und Ausblick Sie sind für die Nachkriegsepoche, insbesondere für die letzten 25 Jahre, deutlicher nachzuweisen als für das vorangegangene Viertel-jahrhundert, das weitgehend durch den Krieg und die Kriegsfolgen geprägt ist, wodurch die natürliche Entwicklung verzerrt und unterbrochen wurde. Das gilt insbesondere für die demographischen Bewegungen.

II. Sozialdemographische Indikatoren

Abbildung 2

1. Bevölkerungsbewegung Mit rund 270 Millionen Einwohnern ist die UdSSR das drittgrößte Land der Erde — nach China und Indien und vor den USA. In dieser Rangfolge hat es seit Jahrzehnten keine Änderung gegeben, aber innerhalb der Sowjetunion hat die Wachstumsdynamik bemerkenswert nachgelassen, wodurch sich Altersaufbau, Geschlechterproportion und Nationalitätenstruktur ständig verschieben. Den größten Bevölkerungszuwachs in der Nachkriegszeit erreichte die Sowjetunion mit 1, 8 v. H. im Jahresdurchschnitt in der Zeit von 1955 bis 1959. Danach verringerte sich das Wachstumstempo merklich, konnte sich aber im letzten Jahrzehnt bei 0, 9 v. H., der Hälfte der früheren Zuwachsrate, stabilisieren.

Jährlicher Zuwachs der Bevölkerung in v. H (Fünfjahresdurchschnitte) 1955— 1959 = 1, 8 1960— 1964 = 1, 6 1965— 1969 = 1, 1 1970— 1974 = 0, 9 1975— 1979 = 0, 9

Die Wachstumsveränderungen sind in der Sowjetunion fast ausschließlich das Ergebnis natürlicher Bevölkerungsbewegungen: Geburten und Sterbefälle.

Zuwanderung aus dem Ausland und Auswanderung in andere Staaten halten sich in so engen Grenzen, daß sie hier vernachlässigt werden können.

In der Geburten-und Sterbehäufigkeit folgt die UdSSR einem Muster, das praktisch für alle entwickelten Länder im Verlauf des Industrialisierungsprozesses gilt. Es ist gekennzeichnet durch sinkende Geburten und Rückgang der Sterblichkeit (wegen verbesserter Lebensbedingungen und der Fortschritte in Medizin und Hygiene). Mit der dadurch verlängerten durchschnittlichen Lebenserwartung steigt naturgemäß auch der Anteil der älteren Bevölkerung an der Gesamtbevölkerung, wodurch die Sterberate von einem bestimmten Zeitpunkt an wieder zunimmt. Die Entwicklung in der Sowjetunion seit 1928, dem letzten Jahr vor der großen Industrialisierungswelle, bestätigt diese aus vielen anderen Ländern bekannte Tendenz.

Der Durchschnitt aller europäischen Länder (Ost und West) liegt nach den letzten verfügbaren Daten bei 15 Geburten und 10 Todesfällen auf 1 000 Einwohner, was einen natürlichen Zuwachs von 5 je 1 000 ergibt. Diese Werte haben etwa die gleiche Größenordnung, die 1980 für die slawisch besiedelten Gebiete der Sowjetunion (die RSFSR, Ukraine und Weißrußland) ausgewiesen wurden.

Die zentralrussischen Gebiete zeigen also in der Bevölkerungsbewegung eine Dynamik, die dem europäischen Durchschnitt entspricht, andere Teile der Union weichen dagegen stark von diesen Werten ab. Ordnet man die Unionsrepubliken nach der Größe ihres Bevölkerungswachstums, so stehen die mittelasiatischen Republiken an der Spitze, die baltischen Länder am Ende der Skala. Die extremen Positionen werden von Tadiikistan und Lettland eingenommen: die tadiikische Bevölkerung wächst jährlich um 29 je 1 000 Einwohner, während die lettische mit einer Zunahme von 1 auf 1 000 Einwohner nahezu auf dem Stand des „Nullwachstums" angelangt ist.

Die innersowjetischen Differenzierungen haben steigende Tendenz; ihre Auswirkungen auf Bevölkerungsstruktur und Arbeitskräfte-potential werden in Zukunft noch größer sein als bisher. Schon jetzt ist eine merkliche Verschiebung der beiden größten Volks-und Sprachgruppen zu erkennen, wie aus den Ergebnissen der letzten drei Volkszählungen von 1959, 1970 und 1979 hervorgeht: Die insgesamt nachlassende Geburtenfreudigkeit der sowjetischen Bevölkerung führte zusammen mit der gestiegenen Lebenserwartung zu erheblichen Veränderungen im Altersaufbau. Allerdings werden Daten zur Altersstruktur der Bevölkerung in der Sowjetunion nicht fortlaufend und meist nur für größere Altersgruppen veröffentlicht Nach den letzten verfügbaren Daten (für 1975) ist die Entwicklung seit 1959 vor allem durch den gegenläufigen Trend bei den jüngsten und ältesten Jahrgängen gekennzeichnet: Der Anteil der unter Zehnjährigen, der 1959 ebenso wie 1939 bei 22 bis 23 v. H. lag, ist seitdem auf 16 v. H. abgesunken. Die mehr als Sechzigjährigen dagegen, 1939 mit 7 v. H., 1959 mit 9v. H. an der Gesamtbevölkerung beteiligt, erreichten 1975 bereits einen Anteil von über 13 v. H. Der Anteil der älteren Bevölkerung wird — nach Prognosen sowjetischer Demo-graphen — in Zukunft noch erheblich zunehmen, wodurch sich auch die Altersstruktur der Sowjetunion immer mehr der der übrigen Industrieländer annähert.

In der Verteilung auf Männer und Frauen machen sich in den Jahrgängen über 50 noch immer die Kriegsfolgen bemerkbar. Der Überschuß an Frauen baut sich allerdings langsam durch das Nachwachsen junger, im Geschlechterverhältnis relativ ausgeglichener Jahrgänge ab. Der Anteil der Frauen an der Gesamtbevölkerung lag 1980 bei 53, 5 v. H. gegenüber 56 v. H. im Jahre 1951. 2. Familienstrukturen Abgesehen von dem Sonderfall Mittelasien, wo bis heute noch große Familien das Bild bestimmen, hat sich in der Sowjetunion ein Familientyp herausgebildet, wie er auch in westlichen Industrieländern vorherrscht: Es ist die Zwei-Generationen-Familie, bestehend aus einem Elternpaar mit (immer weniger) Kindern, wobei die Städte, die europäischen Landesteile und die Schichten mit höherer Bildung und beruflicher Qualifikation bei der Geburtenbeschränkung vorangehen. In den Großstädten dominiert bereits die Familie mit einem Kind. Die früher vor allem auf dem Land weitverbreitete Lebensform der Großfamilie, bei der mehrere Generationen und eine zahlreiche Kinderschar unter einem Dach zusammenlebten, verschwindet mehr und mehr. Dabei ist die Auflösung der Großfamilie nicht nur eine Folge der niedrigen Geburtenzahlen, sie wurde vor allem dadurch herbeigeführt, daß Jahr für Jahr Jugendliche und junge Erwachsene vom Land abwandern, um in der Stadt einen besseren Arbeits-oder Ausbildungsplatz zu finden, während ihre Eltern auf dem Lande Zurückbleiben. Hinzu kommt eine veränderte Einstellung bei jungen Leuten, die heute in der Regel nicht mehr bereit sind, die alteingefahrenen Lebensgewohnheiten der Eltern und Großeltern fortzusetzen, sondern eigene Vorstellungen des Zusammenlebens verwirklichen wollen. In diesem Bestreben wurden sie insofern vom Staat unterstützt, als dieser für den wirtschaftlichen Aufbau des Landes einen ständigen Zustrom junger Arbeitskräfte suchte, die auch zum Ortswechsel und zur Trennung von der älteren Generation bereit waren.

In die Arbeitsmarktpolitik waren von Anfang an Männer und Frauen einbezogen, wobei der Anteil der Frauen an den Arbeitskräften ständig gestiegen ist. Heute gehen praktisch alle Frauen im arbeitsfähigen Alter — auch die Mütter kleiner Kinder — entweder einer Berufsarbeit nach oder sie befinden sich in einem Ausbildungsverhältnis. (Mutterschutzgesetze regeln die Befreiung der Frauen von der Arbeit bei Schwangerschaft und Geburt. Seit kurzem besteht auch die Möglichkeit, sich für ein halbes oder ganzes „Babyjahr" bei teilweiser Bezahlung freistellen zu lassen.)

Die Eingliederung der Frauen in den Wirtschaftsprozeß hat deren Stellung im öffentlichen und privaten Leben in mannigfacher Weise beeinflußt, wobei die Auswirkungen sowohl positive wie negative Aspekte zeigen.

Als positiv ist die subjektive Bewertung der Berufsarbeit durch die Frauen selbst einzustufen, die bei wiederholten Umfragen ihre Berufstätigkeit mit großer Mehrheit bejahten und sie auch bei ausreichendem Einkommen des Mannes nicht aufgeben wollten. Als Gründe dafür nannten die befragten Frauen neben dem Gewinn einer, wenn auch begrenzten ökonomischen Unabhängigkeit vom Mann die Erweiterung der menschlichen Kontakte durch das tägliche Zusammensein mit Kollegen und die Tatsache, daß sie als Berufstätige bei Mann und Kindern mehr Autorität hätten, als sie bei ausschließlicher Hausarbeit gewännen.

Unter den negativen Folgen ist an erster Stelle die körperliche und nervliche Überforderung der Frauen zu nennen, die ihnen durch ihre Doppel-oder Dreifachbeanspruchung (Beruf, Haushalt, Kinder) zugemutet wird. Umstritten ist die Frage, ob auch die hohe Scheidungsrate der Sowjetunion eine Folge der weiblichen Berufstätigkeit ist. Zumindest mittelbar dürfte hier ein Zusammenhang bestehen, insofern als die ökonomische Selbständigkeit der Frauen — bei enttäuschendem Verlauf der Ehe — leichter zur Scheidung motiviert, als dies bei vollständiger materieller Abhängigkeit vom Mann der Fall wäre. Tatsache bleibt, daß die Scheidungshäufigkeit wächst: 1950 kamen auf jeweils 100 Eheschließungen drei Ehescheidungen, 1980 bereits 34. Zu dieser Entwicklung hat freilich auch die Erleichterung der Scheidungsverfahren (durch Gesetz von 1965) beigetragen, sowie das Schwinden der moralischen und gesellschaftlichen Vorbehalte gegenüber der Ehescheidung — eine Erscheinung, die in der Sowjetunion ebenso wie in westlichen Ländern mit fortschreitender Säkularisierung des öffentlichen Lebens zu beobachten ist. Scheidungsbegehren werden zunehmend von Frauen eingebracht: in der UdSSR gegenwärtig zu 60 v. H. 3. Binnenwanderung und Siedlungsformen Der Aufbau der Volkswirtschaft durch die Erschließung von Energie-und Rohstoffvorkommen, durch die Erweiterung der Produktionsstätten und die Schaffung großer Industrie-komplexe, durch die Ausdehnung der landwirtschaftlichen Anbaufläche (Urbarmachung von „Neuland und Brache") sowie durch die Verwirklichung großer Infrastrukturaufgaben (Bau der „Baikal-Amur-Magsitrale") haben zu deutlich sichtbaren Veränderungen der Siedlungsstruktur geführt. Unter diesen ist als erste die bereits erwähnte Wanderung von den Dörfern in die Städte zu nennen, wodurch sich die städtische Wohnbevölkerung absolut und relativ ständig vermehrte: Bei Ausbruch der Revolution lebte weniger als ein Fünftel der Bevölkerung in den Städten (29 Millionen), um 1940 bereits ein Drittel (63 Millionen) und heute fast zwei Drittel (170 Millionen). Ebenso wie in anderen Ländern wächst auch in der UdSSR die Stadtbevölkerung weit mehr durch Zuwanderung als durch natürlichen Geburtenüberschuß. Typisch für die sowjetische Art der Urbanisierung ist die eindeutige Bevorzugung der großen und über

III. Versorgung und Verbrauch

Regionale Verteilung der sowjetischen Bevölkerung auf Europa/Äsien Quelle: SociologiCeskie issledovanija Nr. 3/1980,

Wohlstandssteigerung und eine „immer bessere Befriedigung der Verbraucherwünsche" werden eindringlich als vorrangige Ziele des Wirtschaftens und „Hauptaufgabe" der staatli-großen Städte: Es sind die Millionenstädte und Metropolen, die immer größere Teile der Stadtbevölkerung anziehen, während die Klein-und Mittelstädte an Bedeutung verlieren. Die Bevorzugung der städtischen (insbesondere der großstädtischen) Lebensform wird von sowjetischen Soziologen verschiedenen Faktoren zugeschrieben: der größeren Auswahl an Arbeitsplätzen, dem vielfältigen Angebot an Ausbildungs-und Studieneinrichtungen, dem reichen Spektrum an Freizeit-und Unterhaltungsmöglichkeiten sowie den besseren Chancen für eine Familiengründung, überwiegend Tatsachen, die vor allem Jugendliche und junge Erwachsene interessieren, die die große Mehrheit der Zuwanderer stellen.

Die Land-Stadt-Migration ist eine Erscheinung, die mehr oder weniger alle Unionsrepubliken betrifft. Sie wird begleitet von einem regionalen Wanderungsstrom, der von Westen nach Osten verläuft, über die stetige Verlagerung der Wohnbevölkerung allein in den letzten vier Jahrzehnten von Europa nach Asien geben die folgenden Verhältnis-zahlen Aufschluß.

An der Bevölkerungsverdichtung im asiatischen Teil der Union sind freilich zwei Faktoren ursächlich beteiligt, die sich gegenseitig verstärken: das schnellere Bevölkerungswachstum der mittelasiatischen Nationen und die gezielte Wanderungs-und Siedlungspolitik der sowjetischen Regierung, die die West-Ost-Verlagerung bewußt fördert, um die wirtschaftliche Erschließung der (besonders rohstoffreichen) östlichen Gebiete zu beschleunigen. chen Planung beschworen. Das war nicht immer so. Unter Stalin hatte die Wirtschaftspolitik fast ausschließlich im Dienste des Aufbaus der Schwerindustrie gestanden, während die verbrauchsnahen Zweige Landwirtschaft und Konsumgüterindustrie vernachlässigt wurden und die Versorgung der Bevölkerung um das Niveau des Existenzminimums schwankte. Aber schon die unmittelbaren Nachfolger Stalins, Malenkow und Chruschtschow, erhoben die Steigerung des Lebensstandards zu einer gleichberechtigten Aufgabe neben dem weiteren schwerindustriellen Aufbau. Breschnew schließlich erkannte die Befriedigung der Konsumentenwünsche nicht nur als legitimes Ziel der staatlichen Wirtschaftspolitik, sondern — unter dem Eindruck der immer knapper werdenden Arbeitskräfte — als notwendiges Mittel zur Steigerung der Arbeitsproduktivität, die ihrerseits eine wesentliche Voraussetzung zum weiteren Wachstum der Wirtschaft und des Volkswohlstandes ist. Allerdings haben sowohl Chruschtschow als auch Breschnew die Fähigkeit ihres Wirtschaftsapparates zur Lösung dieser „Hauptaufgabe" überschätzt. Das beweisen die Versorgungsmängel, die die sowjetische Bevölkerung gerade in den letzten Jahren wieder in verstärktem Maße hinnehmen mußte. Fortschritte und Mißerfolge waren aber bei der Versorgung mit einzelnen Waren und Leistungen unterschiedlich groß, können deshalb nur im einzelnen beurteilt werden. 1. Nahrungsmittel Quantitativ kann das Ernährungsproblem in der Sowjetunion bereits seit einer ganzen Reihe von Jahren als gelöst gelten, denn schon seit den sechziger Jahren werden täglich mehr als 3 000 Kalorien im Durchschnitt je Einwohner verbraucht. Nicht gelöst ist da-gegen das qualitative Problem: Die Ernährungsstruktur der Bevölkerung entspricht nicht den vom ernährungswissenschaftlichen Institut der UdSSR aufgestellten Verbrauchs-normen, die sich an physiologischen Gegebenheiten orientieren und eine optimale Zusammensetzung der täglichen Diät nach eiweiß-, fett-und kohlehydrathaltigen Produkten vorsehen. Die folgende Tabelle stellt die Normen dem tatsächlichen Verbrauch in ausgewählten Jahren bis zum gegenwärtigen Stand gegenüber.

Das Zahlenwerk läßt vor allem drei Tendenzen deutlich hervortreten:

1. Im Beobachtungszeitraum hat sich die Verbrauchsstruktur deutlich gebessert: Es ist ein wachsender Konsum von ernährungsphysiologisch wertvollen Nahrungsmitteln wie Fleisch, Milch, Eiern, Obst und Gemüse zu verzeichnen bei gleichzeitig abnehmendem Verbrauch von Kartoffeln und Getreideerzeugnissen.

2. Die Fortschritte waren besonders ermutigend in den Jahren 1965 bis 1975. Seitdem ist eine weitgehende Stagnation, mindestens ein sehr abgeschwächtes Wachstum zu registrieren.

3. Die gegenwärtig erreichten Werte liegen noch sehr erheblich unter den Normen, die ihrerseits etwa dem Verbrauchsschema westlicher Industrienationen entsprechen, aber auch von der DDR und der CSSR annähernd erreicht werden.

Zahlen für 1981 und 1982 liegen noch nicht vor, jedoch kann als sicher gelten, daß sich die Versorgungslage in diesen beiden Jahren eher verschlechtert als gebessert hat, da die Ernteergebnisse in nunmehr vier aufeinander folgenden Jahren unter dem langjährigen Durchschnitt und weit unter den Planzielen zurückblieben. Ursache des Mangels ist die geringe Produktivität der sowjetischen Landwirtschaft und die begrenzte Importbereitschaft für Nahrungsmittel. Festzuhalten bleibt, daß durch Eigenproduktion und Import von Getreide, Fleisch und anderen landwirtschaftlichen Erzeugnissen der Kalorienbedarf der Bevölkerung mengenmäßig gesichert ist und daß keinerlei echte Not-oder gar Hungersituation besteht. Bei ausreichender Versorgung mit Brot und Kartoffeln bleibt aber das Angebot an Veredelungserzeugnissen sowie an Obst und Gemüse mangelhaft; örtlich verschwinden diese Waren oft für längere Zeit ganz aus den staatlichen Läden, weil Unzulänglichkeiten des Verteilungs-und Transportsystems die Versorgungsprobleme noch verschärfen. 2. Industrielle Konsumgüter Am sichtbarsten lassen sich Fortschritte bei der Steigerung des individuellen Lebensstandards in der Versorgung mit Industriegütern, insbesondere mit dauerhaften Konsumgütern nachweisen. Kühlschränke und Waschmaschinen, in den sechziger Jahren nur in wenigen, privilegierten Haushalten vorhanden, gehören heute zur Standardausstattung sowjetischer Familien. Das Ziel ist eine 100prozentige Versorgung aller Haushalte mit den in folgenden Aufstellung genannten Gütern. der Im Bereich „Kleidung und Schuhe", der zweit-wichtigsten Ausgabenposition der privaten Haushalte (nach den Nahrungsmitteln), ist es der einheimischen Industrie bisher nicht gelungen, das Angebot in Sortiment und Qualität besser der Nachfrage anzupassen. Bei gesättigtem Grundbedarf an Bekleidungsgütern aller Art sind die Verbraucher wählerisch geworden. So bilden sich wachsende Bestände an Ladenhütern, die wegen schlechter Qualität oder altmodischer Gestaltung keine Abnehmer finden, während die Nachfrage nach modisch ansprechender, gut verarbeiteter Ware unverändert hoch ist. Aus diesem Mißverhältnis erklärt sich das starke Interesse, das sowjetische Verbraucher ausländischen Erzeugnissen entgegenbringen. Importwaren aus westlichen Ländern, aber auch aus der DDR, CSSR oder Ungarn wird allgemein der Vorzug gegenüber einheimischen Produkten gegeben. 3. Wohnungswirtschaft Im Wunschkatalog sowjetischer Familien steht die Verfügung über eine „abgeschlossene Wohnung mit allem Komfort" an oberster Stelle, wobei unter Komfort Bad, Kanalisation und Zentralheizung zu verstehen ist. Die Realisierung dieses Wunsches ist allerdings sehr problematisch. Zwar werden seit 1958 Jahr für Jahr mehr als 2 Millionen Wohneinheiten fertiggestellt — wobei die Durchschnittsgröße je Neubauwohnung von 40 qm 1958 auf 52 qm 1980 gestiegen ist —, aber Nachholbedarf und Abrißquote (baufälliger Altbauten) sind so groß, daß der tatsächliche Zugang weit unter dem Bedarf liegt. Entwicklung und gegenwärtiger Stand des Wohnungswesens sind durch folgende Tendenzen gekennzeichnet: — Die verfügbare Wohnfläche je städtischen Einwohner (für das Land liegen keine Zahlen vor) hat sich in den letzten 30 Jahren fast verdoppelt. Einer Pro-Kopf-Quote von 7 qm Nutzfläche 1950 steht eine Quote von 13, 2 qm 1980 gegenüber.

I — Zugleich mit der Zunahme der Wohnfläche veränderte sich auch die Wohnungsstruktur: Die früher vorherrschende Form der Kommunalwohnung (bei der mehrere Familien in einer Wohnung leben, Bad und Küche gemeinsam benutzen) verliert an Bedeutung. In den fünfziger Jahren hatten nur etwa 30 v. H. aller Familien eine eigene abgeschlossene Wohnung, heute sind es 70 bis 80 v. H.der Familien, die separat wohnen können. — Das Fernziel: Eine abgeschlossene Wohnung für jede Familie mit 15— 20 qm Wohnfläche je Familienmitglied dürfte bei Fortsetzung des gegenwärtigen Bautempos schwerlich vor Ende des Jahrhunderts zu erreichen sein. Der Wohnungsbau wird überwiegend mit Mitteln des Staatshaushalt finanziert, ebenfalls ein großer der laufenden Unterhaltskosten. Die Wohnungsmiete richtet sich nach der Zahl der Quadratmeter, unabhängig von Lage und Ausstattung der Wohnung. Sie ist seit 1928 nicht erhöht worden und so geringfügig, daß sie das Familieneinkommen der privaten Haushalte einschließlich der Nebenkosten nur mit durchschnittlich 4 v. H. belastet. Daß die Wohnung trotz ihrer Billigkeit als so kostbares Gut angesehen wird, erklärt sich aus der sehr großen Schwierigkeit, bei der Vergabe der Wohnungen berücksichtigt zu werden. Wartelisten werden sowohl bei städtischen Behörden als auch bei größeren Betrieben geführt. Facharbeiter in volkswirtschaftlich wichtigen Betrieben oder Personen in privilegierter Stellung können schon nach wenigen Jahren in den Genuß einer eigenen Wohnung kommen. Für die große Masse der Arbeiter und Angestellten kann die Wartezeit durchaus acht oder auch zehn Jahre betragen. Rund 20 v. H.des jährlich neu entstehenden Wohnraums werden aus privaten Mitteln finanziert, meist mit Hilfe staatlicher oder genossenschaftlicher Kredite. Ein kleinerer Teil der privaten Wohnbauten sind städtische Eigentumswohnungen, von weitaus größerer Bedeutung ist der Bau von Eigenheimen in Dörfern und Landgebieten. Eigentümer dieser meist sehr primitiven Holz-oder Steinhäuser ohne jeden städtischen Komfort sind fast ausschließlich Kolchosbauern, die diese Wohnungsform vorziehen, nicht zuletzt wegen des zu jedem Kolchosbauernhaus gehörenden Gartenlandes, das zu einem beträchtlichen Teil die Ernährungsgrundlage der Familie sichert. Grundsätzlich ist das Wohnen im eigenen Haus kein Merkmal für höheres Einkommen, es ist ein Bestandteil der ländlichen, vor allem der bäuerlichen Lebensweise.

IV. Veränderungen in der Arbeitswelt

Quellen: Statistische Jahrbücher.

1. Beschäftigungsquote Die Sowjetunion ist ein Land mit extrem hoher Beschäftigungsquote. Nahezu alle erwachsenen Männer und Frauen gehen einer Erwerbsarbeit nach oder befinden sich in der Ausbildung. Die Arbeitslosigkeit — noch in den zwangziger Jahren ein ernstes Problem der sowjetischen Regierung — gilt seit Ende 1930 als endgültig überwunden. Ihr Problem sieht die gegenwärtige sowjetische Wirtschaftsführung vielmehr in der zunehmenden Verknappung der Arbeitskräfte — ein Ergebnis der verlängerten durchschnittlichen Schul-und Ausbildungszeit, des verringerten Zuwachses jugendlicher Nachwuchskräfte sowie der verkürzten Arbeitszeit bei verlängertem Urlaub. 2. Arbeitszeit und Urlaub Die gegenwärtig gültige Arbeitszeit für erwachsene Industriearbeiter von 40, 6 Stunden pro Woche geht auf einen Erlaß vom September 1959 zurück, der in den sechziger Jahren nach und nach in allen Industriezweigen durchgesetzt wurde. Ihm folgte ebenfalls stufenweise der Übergang zur Fünf-Tage-Woche, so daß sich das Arbeitsjahr auf 253 Tage reduzierte. Die wöchentliche Arbeitszeit für alle Arbeiter und Angestellten liegt gegenwärtig (unter Berücksichtigung der verkürzten Arbeitszeiten für Schwerarbeiter, Lehrer, Ärzte u. a.) bei 39, 4 Stunden. Zugleich mit dem Rückgang der Arbeitszeit haben sich die bezahlten Urlaubstage (gegenüber der Zeit vor 1958) deutlich erhöht. Der Mindesturlaub stieg von 12 auf 15 Arbeitstage, die durchschnittliche Urlaubsdauer für alle Beschäftigten von 18, 5 auf 21, 6 Arbeitstage.

Mit ihrer Arbeitszeit-und Urlaubsregelung liegt die Sowjetunion auf einem Niveau, das sich durchaus mit dem einzelner westlicher Industrieländer messen kann. Die Erfolge der Arbeitspolitik auf diesem Gebiet sind deutlich nachweisbar, aber auch ihre Grenzen: Der Übergang zur 30— 35-Stunden-Woche war den sowjetischen Arbeitern bereits auf dem XXL Parteitag 1959 versprochen worden. Seine Verwirklichung war für die Jahre 1964 bis 1968 vorgesehen, scheiterte aber an den ökonomischen Gegebenheiten, genauer gesagt, an dem zu geringen Wachstum der Arbeitsproduktivität, das eine weitere Reduzierung der Arbeitszeit bisher nicht zuließ. 3. Wirtschaftsbereiche, Berufe, Positionen Mit der Zunahme der Beschäftigtenzahl ging eine laufende Veränderung der Arbeitskräftestruktur einher — ein Prozeß, der noch nicht abgeschlossen ist. Die langfristige Beobachtung der wichtigsten Wirtschaftsbereiche nach der Zahl ihrer Beschäftigten läßt die charakteristischen Veränderungen einer sich industrialisierenden Gesellschaft deutlich erkennen.

Herausragende Veränderungen sind der Rückgang der landwirtschaftlich Tätigen von fast der Hälfte 1950 auf gut ein Fünftel 1979 und die starke Zunahme der Beschäftigten im Kultur-und Bildungswesen, Gesundheitsund Sozialwesen, deren Anteil an den Gesamtbeschäftigten sich gegenüber 1950 verdoppelte, gegenüber 1913 sogar auf das 17fache stieg.

Die eigentlich dynamischen Veränderungen in der Beschäftigtenstruktur finden wegen der fortschreitenden Spezialisierung und Diversifizierung der Berufsbildung innerhalb der Bereiche statt. Nach sowjetischen Angaben entstehen in jedem Jahr rund 500 neue Spezialberufe. Zwar scheiden auch regelmäßig Berufe aus, aber deren Zahl ist wesentlich kleiner als die der neu entstehenden.

In der sowjetischen Arbeitsstatistik sind alle, die einer außerhäuslichen Erwerbsarbeit nachgehen, „Beschäftigte in der Volkswirtschaft“. Unter diesen stellen . Arbeiter und Angestellte", also alle, die in staatlichen Betrieben oder Organisationen arbeiten und Lohn oder Gehalt beziehen, die stärkste Gruppe. Ihr Anteil an den in der Volkswirtschaft Beschäftigten hat sich — nach den letzten drei Zensuserhebungen — wie folgt vergrößert:

Die restlichen knapp 20 vH der Erwerbstätigen sind in erster Linie Kolchosbauern (das sind genossenschaftlich organisierte Bauern), Angehörige handwerklicher Produktionsgenossenschaften und freischaffende Künstler. Während die Arbeiter ein relativ klares Berufsbild und einen eindeutigen sozialen Status haben (trotz großer Unterschiede im Einkommen), setzen sich die Angestellten aus sehr heterogenen Gruppen zusammen. Die wichtigste Untergruppe sind die „Spezialisten", im wesentlichen Hoch-und Fachschulabsolventen, sowie alle diejenigen, die sich — ohne Studium — durch hervorragende Leistungen für eine gehobene Tätigkeit qualifiziert haben.

Der Begriff „Spezialisten" ist allerdings sehr weit gefaßt. Zu ihnen gehört der Atomphysiker ebenso wie der Hilfslaborant. So nimmt es nicht wunder, daß sich auch unter den Spezialisten bestimmte Gruppen herausheben, insbesondere Angestellte in leitender Position, wie etwa Betriebsdirektoren oder Chefärzte, die in der Berufsstatistik als „Leiter" ausgewiesen werden.

Schwer abzugrenzen ist die durch sozialen Status, Bildung und Beruf gekennzeichnete Schicht der „Intelligenz", eine Schicht, die ein hohes gesellschaftliches Ansehen genießt, deren Ansichten und Lebensgewohnheiten prägende Bedeutung für die übrige Bevölkerung haben. Zur „Intelligenz" rechnen sich in der Sowjetunion alle aktiv und schöpferisch Tätigen der Bereiche Wissenschaft, Kunst und Kultur, bei weiterer Auslegung auch Ärzte, Lehrer, Juristen, mehr oder weniger alle Hochschulabsolventen, die ihrer Ausbildung gemäß eingesetzt sind, und solche Personen, die sich durch ihre Tätigkeit, z. B. als Schriftsteller, für die Zugehörigkeit zu dieser Gruppe qualifiziert haben. Eine Untergruppe der Intelligenz ist die „Technische Intelligenz" (Ingenieure, Naturwissenschaftler), die vor allem im Wirtschaftsleben eine entscheidende Rolle spielt. Eine statistische Kategorie ist die Intelligenz nicht. So gibt es auch keine amtlichen Daten über den Umfang dieses Personenkreises. Westliche Schätzungen liegen weit auseinander. Sie reichen von knapp einer Million bis zu 12 Millionen, je nach dem, ob nur die dominierende geistige Elite und die oberste Führungsschicht oder praktisch alle akademisch Gebildeten der Intelligenz zugerechnet werden. 4. Veränderte Arbeitseinstellung?

Im Jahre 1956 wurde die unter Stalin eingeführte Bindung der Arbeitskräfte an den eigenen Betrieb aufgehoben. Seitdem darf jeder Beschäftigte seinen Arbeitsplatz frei wählen; er kann ihn auch ohne Angabe von Gründen wieder kündigen und sich einen neuen suchen. Von diesem Recht wird lebhaft Gebrauch gemacht. Die jährliche Fluktuationsrate liegt im Bereich der Industrie — mit geringen Schwankungen — bei 20 vH, d. h. durchschnittlich jeder fünfte Industriearbeiter wechselt Jahr für Jahr seinen Arbeitsplatz. Wie erklärt sich diese, im internationalen Maßstab außerordentlich hohe Fluktuationsneigung sowjetischer Arbeiter und wie ist sie zu bewerten? Diese Fragen sind nicht eindeutig zu beantworten; positive und negative Aspekte greifen ineinander über. Ohne Zweifel spielt die Lage am Arbeitsmarkt mit ihrem ständigen Überangebot an Arbeitsplätzen eine wichtige Rolle (auch in westlichen Ländern ist eine starke Neigung zum Arbeitsplatzwechsel regelmäßige Begleiterscheinung aufsteigender Konjunktur), auch braucht eine moderne Industriegesellschaft ein gewisses Maß an beruflicher Mobilität, ohne die eine optimale Allokation der Arbeitskräfte unmöglich ist. In der Sowjetunion ist dieses Maß allerdings weit überschritten. Die negativen Folgen der allzu hektischen Fluktuationsbereitschaft werden als alarmierend angesehen: einmal wegen der Reibungsverluste, die mit dem Weggang eines erfahrenen Arbeiters und der Einarbeitung seines Nachfolgers verbunden sind und sich — wegen des Massen-phänomens der Berufswechsler — in der Volkswirtschaft zu Schäden in Milliardenhöhe addieren, zum anderen, weil die verbreitete Neigung zum Betriebs-oder Arbeitsplatzwechsel auf eine erhebliche Unzufriedenheit mit den gegebenen Arbeitsbedingungen schließen läßt.

Jedenfalls war es die als übermäßig betrachtete Fluktuationsrate, die die sowjetischen Wirtschaftsleiter dazu bewog, den Erkenntnissen der Arbeits-und Industriesoziologie Beachtung zu schenken und damit einen Wissenschaftszweig zu rehabilitieren, der, wie die gesamte Soziologie, jahrzehntelang in der Sowjetunion verfemt und als „bourgeoise Pseudowissenschaft" abgetan worden war. Seit der Wende, die sich in den sechziger Jahren vollzog, gelang es der Soziologie in erstaunlich kurzer Zeit, ihre Position im Kreis der angewandten Wissenschaften auszubauen und zu festigen.

Die Zahl der in der Sowjetunion zugelassenen soziologischen Forschungsinstitute wird heute nur noch von der der USA übertroffen. Meinungsumfragen und „Feldstudien" gerade zu Problemen der Arbeitswelt sind an der Tagesordnung. Dennoch ist der Erkenntniswert dieser Untersuchungen einstweilen begrenzt: Die Zeit der Wiederzulassung soziologischer Untersuchungen — sie umfassen die letzten zehn oder zwanzig Jahre — ist kurz, und es liegen so gut wie keine repräsentativen Umfrageergebnisse für die gesamte Union vor. Im Gegenteil: Der Probandenkreis ist in der Regel sehr eng; er umfaßt z. B. Arbeiter eines bestimmten Betriebes, Einwohner einer kleinen geographischen Region oder Personen, die sich in gleicher Lebenssituation befinden, wie etwa der Abschlußjahrgang einer Schule. Gefragt wird in solchen arbeits-oder berufsbezogenen Untersuchungen bei Schülern nach Berufs-und Ausbildungswünschen sowie nach ihren Vorstellungen über die Praxis der Arbeitswelt, bei Arbeitern nach ihrer Zufriedenheit mit den Bedingungen am Arbeitsplatz und nach dem Grad der Übereinstimmung zwischen Erwartung und Wirklichkeit, bei Berufswechslern interessiert vor allem, was in erster Linie den Entschluß zur Kündigung auslöste. Auch Fragen nach dem Umgangston unter den Kollegen oder zwischen Vorgesetzten und Untergebenen sind immer häufiger Gegenstand von Umfragen, weil sie das „Betriebsklima" und damit den Arbeitsfrieden beeinflussen — lauter Faktoren, denen heute eine entscheidende Wirkung auf die Arbeitsproduktivität zuerkannt wird.

Nicht alle Umfrageergebnisse werden veröffentlicht; es liegen aber zu einer Fülle von Fragen eindeutige Antworten vor, die einen Einblick in die vorherrschende Arbeitsmotivation gestatten und die die Ursachen für Zufriedenheit oder Unzufriedenheit mit der gegebenen Arbeitssituation erklären. Einen dominierenden Platz in der Skala der Zufriedenheitsfaktoren nimmt das Lohnmotiv ein, wobei nicht nur die absolute Höhe des Lohnes Maßstab der Arbeitszufriedenheit ist, sondern ebenso die als gerecht und angemessen empfundene Einstufung innerhalb der Lohnskala des Betriebes. Eine Reihe sowjetischer Soziologen zeigte sich — jedenfalls in der Vergangenheit — bemüht, die Bedeutung des Lohnmotivs für die Arbeitszufriedenheit möglichst zu ignorieren, zumindest „herunterzuspielen" — ein Versuch, der heute von den führenden Vertretern der Arbeitssoziologie als heuchlerisch und irreführend abgelehnt wird. Das gleiche gilt von anderen materiellen Arbeitsmotiven, bei denen die Arbeitsleistungen nicht nur mit Geld, sondern zusätzlich mit naturalen Vergünstigungen belohnt werden, z. B. durch Vergabe einer Wohnung, Verschickung in ein betriebseigenes Erholungsheim, Bereitstellung von Kindergartenplätzen u. a. m. Solche naturalen Zusatzleistungen, die wegen ihrer Knappheit außerordentlich begehrt sind, können naturgemäß große Kombinate, vor allem solche in volkswirtschaftlich wichtigen Branchen, viel eher anbieten als kleine Betriebe oder Werkstätten von nur örtlicher Bedeutung, was die starke Attraktivität der Großbetriebe auf fluktuierende Arbeitskräfte verständlich macht.

Die Bedeutung des Lohnmotivs und der anderen materiellen Faktoren unterscheidet sich freilich sehr in den einzelnen Berufsgruppen und sozialen Klassen. Grundsätzlich ist festzustellen, daß mit steigendem Bildungsstand und beruflicher Qualifikation die nicht-materiellen Werte der Arbeit stärker betont werden. Von einem bestimmten sozialen Niveau an erhöhen sich die Erwartungen der Berufstätigen an einer „interessanten" Arbeit, einer Tätigkeit, die ihrer Ausbildung entspricht und die ein gewisses Maß an Eigenbestimmung zuläßt. Frauen und weiterarbeitende Rentner — nach den Gründen für ihre Berufstätigkeit gefragt — erwähnen nicht selten die Befriedigung, die sie durch das tägliche Gespräch und das bloße Zusammensein mit Arbeitskollegen empfinden — ein Motiv, das den Wunsch (oder die Notwendigkeit), zum Haushaltseinkommen beizutragen, zumindest unterstützt und verstärkt.

Dieser Aspekt der Arbeitsmotivation kann sich naturgemäß nur dann positiv auswirken, wenn die Beschäftigten ein angenehmes „Betriebsklima" vorfinden, andernfalls kann es zum auslösenden Faktor der Kündigung werden, wie die Aussagen zahlreicher Arbeitsplatzwechsler bestätigen. Führungsstile und Formen der kollegialen Zusammenarbeit sind deshalb seit einige Zeit Gegenstand betriebs-psychologischer Forschungen, deren Relevanz für die Praxis nicht bestritten wird.

Die zu Beginn dieses Abschnitts angedeutete Frage nach der Existenz einer veränderten Arbeitseinstellung kann schwerlich bejaht werden, wenn man den Ergebnissen der weit gestreuten Umfragen Glauben schenkt Die sowjetischen Werktätigen sehen in der Arbeit nicht „das erste Lebensbedürfnis" (wie Marx für die zukünftige, im Sozialismus lebende Gesellschaft erwartet hatte), sondern noch immer vor allem ein Mittel zur Sicherung ihres Lebensunterhalts. Darüber hinaus beurteilen sie den immateriellen Wert ihrer Arbeit nach dem Grad der subjektiven Befriedigung, die sie an ihrer Tätigkeit empfinden, und an der Harmonie der menschlichen Umgebung. Volkswirtschaftliche oder gesellschaftspolitische Aspekte immaterieller Arbeitsmotive spielen dagegen nur untergeordneten Rollen.

V. Allgemeine und berufliche Bildung

Bestand an dauerhaften Konsumgütern je 100 Haushalte Quelle: Statistisches Jahrbuch der UdSSR 1980.

Die entscheidende Leistung im Bildungswesen — nämlich die Umwandlung eines zu 60 vH analphabetischen Volkes in eine Gesellschaft von Lernenden und Studierenden — erbrachte die Sowjetunion in den ersten Jahrzehnten nach der Revolution, wobei der Übergang zur Fünfjahrplanung 1929/30 und der Beginn der forcierten Industrialisierung dem Bildungsschub zusätzliche Impulse verlieh. Die weitere Entwicklung des Bildungssystems unter Chruschtschow und Breschnew ist allerdings mehr als eine reine Fortschreibung des vorher Erreichten, denn neben der nochmaligen Expansion der Schüler-und Lehrerzahlen, der Verlängerung der Schulpflicht an den allgemeinbildenden Schulen und der Diversifizierung des Lehrangebots an verschiedenen Einrichtungen berufsbildender Schulen, Fach-und Hochschulen fallen in diese Zeit auch Schulreformen und Lehrplanänderungen. Zu nennen wäre hier vor allem der Versuch, die Schüler schon während der Schulzeit mit der Praxis des Arbeitslebens bekanntzumachen durch Einführung des polytechnischen Unterrichts, verbunden mit praktischen Übungen in Betrieben, oder die Schaffung von Eliteschulen für Hochbegabte auf speziellen Gebieten. Seit 1975 ist die Zehn-Klassen-Schule (deren Abschluß die formale Hochschulreife beinhaltet) obligatorisch für alle Schüler. In Zukunft werden also nahezu alle Schulabgänger . Abiturienten" sein, deren tatsächliche Zulassung zum Hoch-oder Fachschulstudium allerdings von dem Ergebnis einer speziellen Aufnahmeprüfung abhängt, deren Anforderung sich wiederum am volkswirtschaftlichen Bedarf qualifizierter Berufsanfänger der verschiedenen Fachrichtungen orientiert Die zahlenmäßige Stärke der Universitätsabgänger (die in der Regel ihr Studium mit 22 oder 23 Jahren abschließen) an ihrer Altersklasse ist bis 1970 ständig gestiegen, geht aber seitdem wieder leicht zurück:

Ein kompliziertes Ausleseverfahren bestimmt Jahr für Jahr, welche Bewerber um einen Studienplatz angenommen werden (die Zahl der Bewerber übersteigt die der freien Plätze regelmäßig um ein Vielfaches). Hauptkriterium der Zulassung ist die im Prüfungsverfahren nachgewiesene Leistung, daneben werden auch soziale Merkmale berücksichtigt, etwa wenn demobilisierte Armeeangehörige oder Bewerber mit längerer, fachbezogener Arbeitserfahrung bevorzugt werden.

Bemerkenswert scheint die ungleiche Verteilung der Chancen auf die einzelnen Schichten der Bevölkerung. Trotz gezielter Förderungsmaßnahmen, mit denen z. B. Arbeiter-und Bauernkinder in speziellen Vorbereitungsklassen an weiterführende Bildungswege herangeführt werden sollen, bleiben die Kinder dieser Schicht in den Hochschulen erheblich unterrepräsentiert. Jedenfalls belegen sowjetische Untersuchungen aus dem Jahre 1976, daß Söhne und Töchter aus Kreisen der Intelligenz und der Angestelltenschaft eine drei-bis viermal größere Chance haben, zur Hochschule zugelassen zu werden, als Kinder aus Arbeiterfamilien. Noch ungünstiger sind die Aussichten der Bauernkinder, die Aufnahmeprüfung zur Hochschule zu bestehen. Offenbar bringen die Kinder aus akademisch gebildeten Elternhäusern einen großen Vorsprung z. B. an sprachlichem Ausdrucksvermögen und geistiger Schulung mit, den die Kinder aus bildungsferneren Schichten trotz aller Förderungsmaßnahmen nur schwer aufholen können. Es scheint also, daß die heute bestimmende Schicht der Angestellten und Akademiker, von denen viele selbst noch Kinder oder Enkel von Arbeitern oder Bauern sind, ihren nunmehr errungenen sozialen Status an ihre Kinder weiterzugeben vermag, so daß sich der Nachwuchs dieser führenden Schicht jetzt weitgehend aus sich selbst rekrutiert.

VI. Gesundheitswesen und soziale Sicherung

Beschäftigte nach Wirtschaftszweigen — in v. H. aller Beschäftigten —

Eine der ersten Verlautbarungen, die die junge Sowjetmacht schon wenige Tage nach der Revolution verbreitete, war die — später häufig wiederholte — Grundsatzerklärung, daß es selbstverständliche Pflicht des sozialistischen Staates sei, die materielle Existenz seiner Bürger im Alter wie auch in allen anderen Fällen der Erwerbsunfähigkeit sicherzustellen. Hatte diese Erklärung anfangs wegen der Armut und der chaotischen Wirtschaftslage des Landes nur programmatischen Charakter, so entschloß sich die Regierung doch schon bald angesichts der Fülle sozialer Verpflichtungen bei weiterhin äußerst knappen Mitteln klare Prioritäten bei der Lösung der sozialen Probleme zu setzen. Die beiden Hauptrisiken der Bürger, nämlich (vorübergehende) Erwerbsunfähigkeit wegen Krankheit, Unfall oder Schwangerschaft und (dauernde) Erwerbsunfähigkeit wegen hohen Alters, erhielten in der Rangskala der Sozialpolitik ganz unterschiedliche Stellenwerte. Einen hohen und effizienten Schutz gegen die Folgen zeitweiliger Arbeits-und Erwerbsunfähigkeit aus gesundheitlichen Gründen gab es schon in den frühen zwanziger Jahren. Dagegen wurde die soziale Sicherung bei dauernder Arbeitsunfähigkeit im Alter bis zur Wende in der Rentenpolitik nach 1956 fast völlig vernachlässigt. Die hohe Priorität der Kranken-fürsorge sowie des Schutzes für Mutter und Kind fand ihren Ausdruck in dem zügigen Aufbau eines staatlichen Gesundheitsdienstes, dessen Einrichtungen allen Bürgern unentgeltlich zur Verfügung stehen. Bemerkenswert war dabei vor allem das Tempo und die Konsequenz, mit der dieses Vorhaben durchgezogen wurde, so daß die Sowjetunion den großen quantitativen Rückstand, den sie z. B. bei der Zahl der Ärzte und Krankenhaus-betten gegenüber westlichen Ländern hatte, rasch aufholen konnte.

Soweit sich die Ergebnisse gesundheitspolitischer Maßnahmen statistisch nachweisen las-sen, etwa bei der Entwicklung der allgemeinen und spezifischen Sterblichkeit oder bei der Verbreitung bestimmter Krankheiten, zeigen die sowjetischen Daten eine den anderen europäischen Ländern vergleichbare Entwicklung an: Während die meisten Infektionskrankheiten stark eingedämmt, teilweise ausgerottet werden konnten, nahm die Verbreitung der sogenannten Zivilisationskrankheiten (Krebs, Diabetes, Herz-und Kreislauferkrankungen) zu. In eindrucksvoller Weisestieg — bis 1972 — die durchschnittliche Lebenserwartung, wie die nachfolgenden Zahlen belegen:

Die neueste Entwicklung — seit den siebziger Jahren — scheint auf eine Stagnation (bei den Frauen) und einen leichten Rückgang der Lebenserwartung bei den Männern hinauszulaufen, wie aus Verlautbarungen in der sowjetischen Fachpresse zu entnehmen ist — eine Entwicklung, die mit Sorge beobachtet und deren Ursache in der Zunahme „schädlicher Gewohnheiten“ vermutet wird. Diese Beobachtung dürfte das Bemühen der Gesundheitsbehörden um einen Ausbau der Vorsorgemaßnahmen noch verstärken, die ohnehin im sowjetischen Gesundheitswesen eine bedeutende Rolle spielen. Die vorbeugende Medizin erstreckt sich dabei von systematischer Gesundheitserziehung großer Bevölkerungsgruppen (Schulkinder, Betriebsbelegschaften) über Reihenuntersuchungen und Massenimpfungen bis zur laufenden Nachsorge von Rekonvaleszenten, um Rückfälle zu verhüten. Zu der intensiven Sorge des Staates um die gesundheitliche Betreuung der Bevölkerung steht die zögernde und halbherzige Fürsorge für die Alten in auffälligem Gegensatz. Praktisch hat es in den ersten 40 Jahren der Sowjetregierung so gut wie keine Altersversorgung gegeben. Bis weit in die fünfziger Jahre hinein war der Bezug einer staatlichen Altersrente das Privileg eines kleinen Kreises von Berechtigten geblieben (meist Angehörige der „Intelligenz“, politische oder wirtschaftliche Führungskräfte). Die große Masse der Arbeiter, Angestellten und Bauern war im Alter auf die Hilfe ihrer Verwandten angewiesen. Erst mit Inkrafttreten der Rentengesetze von 1956 bzw. 1964 setzte eine breit angelegte Versorgung für alle Männer und Frauen ein, die das rentenfähige Alter (Frauen 55 Jahre, Männer 60 Jahre) erreicht hatten und eine bestimmte Zahl von Arbeitsjahren nachweisen konnten. Gegenwärtig bezieht zwar die große Mehrheit der im renten-fähigen Alter stehenden Bevölkerung eine Rente, aber Akzente der Diskriminierung der nicht mehr Arbeitsfähigen sind noch erhalten. Sie dokumentieren sich in der niedrigen absoluten Höhe der Altersrente, vor allem der Mindestrente, die unter dem Existenzminimum liegt, und in der starren Form der Berechnung, die keine dynamische Entwicklung kennt, wodurch die Altrentner erheblich schlechter gestellt sind als die jüngeren Rentnergenerationen. Beabsichtigt ist zwar eine selektive Anhebung der „ältesten" (daher besonders niedrigen) Renten, nicht aber die Einführung einer Rentendynamik. Die Alters-rentner werden also auch in Zukunft nicht oder nur sehr zögernd am gesamtwirtschaftlichen Fortschritt und am Wachstum des Lebensstandards der Beschäftigten teilhaben. Es bleibt — wenn auch in milderer Form — die unterschiedliche soziale Förderung der Altersklassen, wobei die arbeitsfähige Bevölkerung und die ins Arbeitsalter hereinwachsende Generation wesentlich mehr Beachtung und Hilfe erfährt als die aus dem Arbeitsleben ausgeschiedene.

VII. Zusammenfassung und Ausblick

Arbeiter und Angestellte in vH aller Erwerbstätigen

Die Sowjetunion ist ein Land, das sich im Übergang vom Agrar-zum Agrar-Industriestaat befindet Auf diesem Weg ist sie in den Jahren zwischen 1955 und 1980 ein großes Stück vorangekommen. Das belegt eine Vielzahl von Daten und Fakten, insbesondere — das rasche Wachstum der abhängig Beschäftigten, also der Arbeiter und Angestellten, — die spezifischen Verlagerungen innerhalb der Berufsstruktur, — die zunehmende Urbanisierung infolge des anhaltenden Migrationsprozesses vom Land in die Stadt

Industrialisierung und Urbanisierung brachten eine Reihe weiterer Veränderungen mit sich, die vor allem in den Bevölkerungs-und Familienstrukturen sichtbar wurden: abnehmende Geburtenrate und verringertes Bevölkerungswachstum, begleitet von einem fortschreitenden Auflösungsprozeß der Großfamilie, die sich in kleinere Einheiten (Kernfamilien) aufspaltete.

Die genannten Veränderungen — sie sind als Beispiele gewählt und nicht vollständig — finden ihre Parallelen in nahezu allen Industrieländern, unabhängig vom jeweiligen Wirtschaftssystem. Der zeitliche Abstand, der die sowjetische Entwicklung im Vergleich zum Westen kennzeichnet, folgt aus dem historisch späteren Beginn der Industrialisierung in der UdSSR.

Dem stehen Entwicklungen gegenüber, in denen die Sowjetunion bei ihrem Prozeß der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Modernisierung dem Westen voranging oder eigene Wege wählte. So führte sie als erstes Land der Welt schon im Oktober 1917 — mehrere Jahre vor den westeuropäischen Industrieländern — den achtstündigen Arbeitstag ein und erfüllte damit eine der Grundforderungen der internationalen Arbeiterbewegung. Das geschah zweifellos nicht aus ökonomischen, sondern aus ideologischen Gründen, ebenso wie die frühzeitige Eingliederung der Frauen in die Arbeitswelt, die inzwischen fast vollständig verwirklicht ist. Auch diese Beispiele — Arbeitszeitverkürzungen und Frauenerwerbstätigkeit — haben ihre Parallelen in westlichen Systemen, nur daß hier die Sowjetunion eben nicht Nachzügler, sondern Vorreiter war.

Ein zeitlicher und zugleich systembedingter Aspekt kennzeichnet die unterschiedliche Förderung individueller und öffentlicher Lebensbedürfnisse in den verschiedenen Phasen der sowjetischen Geschichte, wofür sich als Beispiele die Entwicklung des Bildungs-und Gesundheitswesens einerseits, die der Konsumgüterversorgung andererseits anbieten. Bei einer jahrzehntelangen Vernachlässigung des privaten Konsums bis an die Grenze des Erträglichen (und vielfach darunter) scheute der sowjetische Staat keine Kosten, um (bereits im Vorindustrialisierungsstadium) ein öffentliches Versorgungsnetz aufzubauen, das jedem Staatsbürger unentgeltlich wenigstens elementare Bildung und gesundheitliche Betreuung gewährte.

In diesem Bereich — der Verteilung des Sozialprodukts auf öffentlichen und privaten Verbrauch — ist der Gegensatz zu marktwirtschaftlich-kapitalistischen Systemen unverkennbar, die in ihrer wirtschaftlichen Aufbauphase generell der Befriedigung privater Verbraucherwünsche den Vorrang gaben, während die Förderung des öffentlichen Wohlstands erst in einem späteren Stadium einsetzte. Die unterschiedliche Bewertung kollektiver und privater Bedürfnisse hat sich — wenn auch in abgeschwächter Form — bis in die Gegenwart erhalten.

Der Versuch, die in der Sowjetunion registrierten Wandlungen in den Arbeits-und Lebensbedingungen insgesamt und im internationalen Vergleich zu bewerten, kann nur zu sehr differenzierten, ambivalenten, teils widersprüchlichen Urteilen kommen. Es stehen entwicklungs-und systembedingte Veränderungen nebeneinander, begleitet von solchen, die aus spezifischen historisch-geographischen Bedingungen der UdSSR resultieren. Einige von ihnen wurden bewußt herbeigeführt, andere haben sich spontan vollzogen, teils im Einklang mit, teils im Widerspruch zu den Zielen der politischen Führung oder der Planungszentrale.

Soweit die Veränderungen sich von westlichen Modellen deutlich abheben, ist in jedem Fall das Zeitmotiv zu beachten: Auch system-bedingte Abweichungen verlieren im Zeitablauf ihre Schärfe, weil beide Seiten bestrebt sind, Entwicklungsdefizite aufzuholen.

Fussnoten

Weitere Inhalte

Maria Elisabeth Ruban, Dr. rer. pol., Dipl. -Volkswirtin; Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung Berlin, Abteilung DDR und östliche Industrieländer. Arbeitsgebiete: Landwirtschaft, Lebensstandard und Sozialpolitik in der Sowjetunion.