Bürgerinitiativen in der politischen Willensbildung
Martin Müller
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Zusammenfassung
Bürgerinitiativen sind spätestens seit Anfang der siebziger Jahre eine neue und politisch relevante Aktionsform von aktiven Bürgern zur Beteiligung am politischen Willensbildungsprozeß. Quantitativ erreicht die Summe der Mitglieder in Bürgerinitiativen wahrscheinlich die Gesamtmitgliederzahl der Ende 1982 im Bundestag vertretenen Parteien. Da die Zahl der Parteimitglieder in den siebziger Jahren ebenfalls erheblich zugenommen hat, kann eine allgemeine Zunahme der Beteiligung an politischen Organisationen festgestellt werden. Die Tätigkeit von Bürgerinitiativen, die meist aus konkreten Anlässen entstehen, zielt auf bestimmte, deutlich begrenzte politische Fragestellungen, selbst dann, wenn sie über die kommunale Ebene hinausgehen. Da die inhaltliche Integration der von Bürgerinitiativen erhobenen Forderungen in umfassende politische Programme nicht geleistet wird, ergeben sich im Verhältnis zu den übrigen Akteuren im politischen Willensbildungsprozeß zahlreiche Konflikte. Andererseits bewirkt die intime Detailkenntnis, die viele Bürgerinitiativen einbringen können, eine vertiefte Erörterung der Probleme und damit einen höheren Informationsstand, der die Chance einer höheren Rationalität der Entscheidung enthält Bürgerinitiativen stehen — im Unterschied z. B. zu Parteien und Verbänden — außerhalb der verfaßten Staatlichkeit; der Zugang zum politischen Willensbildungsprozeß ist insofern mit zahlreichen institutionellen Hindernissen versehen. Dies macht die Entwicklung einer detaillierten Strategie zur Durchsetzung des Anliegens der Bürgerinitiative erforderlich, ein erfahrungsgemäß besonders schwieriges Unterfangen. Die Erfolgsaussichten des Engagements von Bürgerinitiativen müssen daher solange skeptisch beurteilt werden, wie das Regierungssystem sich nicht ihnen gegenüber weiter öffnet. Insofern werden wichtige Fragen der Reform des repräsentativen Regierungssystems aufgeworfen.
I. Bürgerinitiativen als politische Akteure Auch wenn es sie bereits in Teilen der Bundesrepublik einige Jahre früher gab in das allgemeine Bewußtsein als eine offenkundig neue Organisationsform zur politischen Beteiligung des Bürgers traten die Bürgerinitiativen erst Anfang der siebziger Jahre Als spektakulärer Start der neuerdings zunehmend als „Bewegung" apostrophierten Form des Bürgerengagements gilt die im Juni 1969 gegen die Fahrpreiserhöhungen bei den öffentlichen Personennahverkehrsmitteln in Hannover durchgeführte „Rote-Punkt-Aktion" die zu zahlreichen Nachahmungen in anderen Großstädten führte. Kennzeichnend für die Ereignisse war, daß sich unmittelbar betroffene Bürger spontan zusammenschlossen, um teilweise mit unkonventionellen Methoden der politischen Auseinandersetzung eine kommunalpolitische Entscheidung — in diesem Falle — zu verhindern, die zwar legal zustande gekommen war, deren Legitimität jedoch in Frage gestellt wurde In ähnlicher Form organisierten sich in den Folgejahren nahezu überall Bürgergruppen, um gegen konkrete Planungen vorzugehen oder subjektiv empfundene Mängelzustände durch Selbsthilfeaktionen und durch Forderungen nach entsprechenden Entscheidungen der zuständigen Entscheidungsträger abzuhelfen. Kennzeichnend war immer der konkrete Problembezug dieser Bürgeraktionen, die daher vor allem zu Auseinandersetzungen mit kommunalen Entscheidungsträgern, in Fällen mit überörtlicher Bedeutung, die in die Entscheidungskompetenz von Bezirks-oder Länderregierungen fielen, zu Konflikten mit diesen führten Bürgerinitiativen können daher in einer ersten Deutung „als spontan ins Leben gerufene, von einer mehr oder weniger losen Organisation getragene Gruppierungen von (Staats-) Bürgern" bezeichnet werden, „die aus einem konkreten Anlaß oder im Zeichen einer allgemeinen Zielsetzung zu Selbsthilfe-aktionen schreiten und ... Einfluß auf die politische Willensbildung zu gewinnen suchen" Aus dieser Sicht sind Bürgerinitiati-ven deutlich sachlich, zeitlich, räumlich und sozial begrenzt
Angesichts des spontanen, dynamischen und situationsbezogenen Charakters der Arbeit von Bürgerinitiativen ist allerdings eine „gültige, alle Spielarten von Bürgerinitiativaktivitäten gleichermaßen erfassende und berücksichtigende Definition“ weder sinnvoll noch möglich Vorsicht bei allzu einengenden Definitionen ist auch deswegen geboten, weil die bisher bekannten empirischen Befunde über Bürgerinitiativen keinesfalls eine auch nur einigermaßen abgesicherte Beurteilung des Phänomens erlauben. Insofern ist die Einführung weiterer Definitionsmerkmale — so etwa die Aussage, Bürgerinitiativen beabsichtigen „komplex gestufte Prozesse politisch-administrativer Entscheidungsfindung an aktivierte gesellschaftliche Gruppen basisdemokratisch zurückzubinden" > oder die Feststellung, sie bewegten sich „außerhalb der traditionellen Institutionen und Beteiligungsformen der repräsentativen Parteiendemokratie" — im gegenwärtigen Forschungsstand mehr als problematisch. Es erscheint sinnvoller zu sein, sich mit einer relativ unbestimmten, damit aber zugleich auch für weitere empirische Erkenntnisse offenen Arbeitsdefinition dem Phänomen der Bürgerinitiativen zu nähern, als mit einer möglichst präzisen und damit eingrenzenden Definition in Gefahr zu geraten, das Untersuchungsobjekt zu vergewaltigen. Bernd Guggenberger ist daher zuzustimmen, wenn er für eine Definition plädiert, die hinreichend allgemeine und zugleich empirisch gehaltvolle Aussagen aufnehmen kann und die demzufolge möglichst viele der bis heute von den verschiedenen Ansätzen herausgestellten Definitionsmerkmale kritisch analysieren sollte
II. Die Bürgerinitiative als ein neues Element in der politischen Willensbildung
Bürgerinitiativen agieren, sieht man einmal von dem Fall einer reinen Selbsthilfegruppe ab vor allem mit der Absicht, Einfluß auf den politischen Willensbildungsprozeß in ihrem Sinne zu nehmen; für sie kommt es darauf an, bestimmte staatliche Maßnahmen zu initiieren, zu verhindern oder inhaltlich zu verändern. In einer strikt repräsentativen par-lamentarischen Demokratie, die selbst auf der kommunalen Ebene nur in einigen Bundesländern die plebiszitären Elemente von Bürgerbegehren und Bürgerentscheid kennt stellen sich hier entscheidende Probleme der praktischen politischen Arbeit bei der Durchsetzung alternativer Zielvorstellungen Auch wenn berücksichtigt werden muß, daß in den letzten Jahren die Mitwirkung der Bürger insbesondere im kommunalpolitischen Willensbildungsprozeß durch eine Reihe von neuen Bestimmungen in Bundes-und Landesgesetzen und in den Gemeinde-ordnungen sowie durch eine bürgerfreundliche Praxis verbessert wurde, kann nicht übersehen werden, daß außer den privatrechtlich oder öffentlich-rechtlich organisierten Medien vor allem die Parteien, die Verbände und die öffentliche Verwaltung wegen ihrer rechtlich abgesicherten Mitwirkungsbefugnisse die einflußreichsten Akteure im politischen Willensbildungsprozeß sind. Dies gilt auch für den kommunalpolitischen Willens-bildungsprozeß > auf dessen Beeinflussung die Aktivitäten von Bürgerinitiativen in der überwiegenden Zahl der Fälle zielt.
Parteien, Verbände und öffentliche Verwaltung, die den Willensbildungsprozeß nahezu monopolisieren, entwickeln die verständliche Tendenz, ihren Besitzstand zu wahren und Bürgerinitiativen als lästige Mitspieler in dem aus anderen Gründen bereits als schwierig genug empfundenen „politischen Geschäft“ zu betrachten. Es ist daher nicht überraschend, daß sie Strategien zu entwickeln suchen, um den Bürgerinitiativen einen Einfluß auf den politischen Willensbildungsprozeß zu verwehren Ein solches Bemühen ist jedoch grundsätzlich zum Scheitern verurteilt, weil die rechtliche Ausformung des politischen Systems der Bundesrepublik und die sonstigen realen Handlungsbedingungen insbesondere in der Gemeinde neuen Akteuren die Beteiligung an der politischen Willensbildung eröffnen.
Hinzu kommt, daß die Partizipationsforschung überzeugend herausgearbeitet hat und insbesondere die politischen Parteien, aber auch die öffentliche Verwaltung vielfach eingesehen haben, daß Mängel des politischen Prozesses und ihre negativen Auswirkungen auf die Rationalität und Legitimität der politischen Entscheidungen nur durch eine stärkere Beteiligung des Bürgers und der Bürgerinitiativen aufgefangen werden können. Insofern ist eine Ausweitung der politischen Beteiligung wünschenswert und auch schrittweise realisiert worden; sie ist allerdings keine Erfolgsgarantie für das Anliegen von Bürgerinitiativen. Denn jenseits aller abstrakten Beteiligungsmöglichkeiten wird der Handlungsspielraum einer Bürgerinitiative vor allem von den je konkreten Bedingungen bestimmt. Nicht selten scheitern Bürgerinitiativen bereits in der Frühphase ihrer Arbeit, weil sie die für ihr Anliegen relevanten Strukturen und Akteure des politischen Wil-lensbildungsprozesses „vor Ort” falsch ein-schätzen. Die Erarbeitung einer die politi-sehen Handlungsbedingungen im vollen Um-fange berücksichtigende Strategie ist daher eine entscheidende Bedingung für den Erfolg einer Bürgerinitiative
III. Die Bürgerinitiativen als Akteure im politischen Willensbildungsprozeß — Ziele, Methoden und Ergebnisse
Abbildung 2
Tabelle 2: Ergebnisse der Arbeit von Bürgerinitiativen
Tabelle 2: Ergebnisse der Arbeit von Bürgerinitiativen
Die von den Sozialwissenschaften bisher über die Bürgerinitiativen erarbeiteten empirischen Befunde sind zahlenmäßig gering, lückenhaft und untereinander, da mit unterschiedlichen Fragestellungen und Methoden erhoben, kaum vergleichbar und wenig repräsentativ
Dies liegt zum einen an dem noch jugendlichen Alter des Phänomens, zum anderen „am Untersuchungsgegenstand selbst, da die Erscheinungsformen, Aktionsfelder und Arbeitsweisen von Bürgerinitiativen so unterschiedlich sind, daß es häufig schwierig ist, sie von anderen Organisationsformen zu unterscheiden und ohne perspektivische Verkürzung hinreichend zu analysieren”
Trotz dieser Einschränkungen, die zur Vorsicht vor weitreichenden Schlußfolgerungen mahnen, erlauben die bisher bekannten empirischen Befunde einige begründete Aussagen über den Einfluß von Bürgerinitiativen im politischen Willensbildungsprozeß 1. Bürgerinitiativen — eine Massenbewegung? Bedeutsam für die Einschätzung des auf den politischen Willensbildungsprozeß ausgeübten Einflusses ist der quantitative Umfang des Phänomens. Denn für die politischen Parteien ist es unter dem Gesichtspunkt der Stimmen-maximierung nicht gleichgültig, ob mit den Bürgerinitiativen eine Massenbewegung an ihnen vorbei entstehen kann oder bereits entstanden ist. Seitdem die insbesondere aus Umweltschutzbürgerinitiativen entstandene Partei „Die Grünen" in vielen Landes-und Kommunalparlamenten vertreten ist, kann eine dauerhafte Veränderung des Parteiensystems nicht mehr ausgeschlossen werden. Bei Abschätzung des zahlenmäßigen Umfanges der Bürgerinitiativen sind wir jedoch mehr auf Vermutungen als auf handfeste Daten verwiesen. So wird die Zahl der in der Bundesrepublik arbeitenden Bürgerinitiativen in den verschiedenen Untersuchungen mit bis zu 50 000 angegeben. Die Zahl ihrer Mitglieder läßt sich noch unsicherer abschätzen. Man nimmt vielfach an, daß sie an die Mitgliederzahl der Bundesparteien, die Ende 1980 zwei Millionen betragen haben dürfte heranreichen könnte Dabei ist allerdings zu berücksichtigen, daß viele Bürgerinitiativen aufgrund ihrer lockeren Organisationsform eine feste Mitgliedschaft mit gewissen Rechtspflichten wie z. B. Beitragszahlung nicht kennen und daher die Abgrenzung der Anhänger und Sympathisanten von den Mitgliedern kaum möglich ist. Zusammenfassend* ist wohl die Beurteilung gerechtfertigt, daß die Bürgerinitiativen neue Formen der politischen Mitwirkung anbieten, die einen bestimmten und zahlenmäßig gewichtigen Teil der Bürger zusätzlich zu aktivieren vermochten. Daran hat jedoch die Attraktivität anderer Formen der politischen Mitwirkung, z. B. in politischen Parteien, offenkundig nicht gelitten, da auch diese Form der politischen Beteiligung quantitativ seit 1970 deutlich zugenommen hat Insofern sind die siebziger Jahre durch eine allgemeine Zunahme politischer Beteiligung gekennzeichnet. 2. Entstehungsanlaß und Ziele von Bürgerinitiativen Entstehungsanlaß zahlreicher Bürgerinitiativen sind, darüber sind sich alle Autoren einig, konkrete Gegebenheiten der unmittelbaren Umwelt, die von Bürgern als Mißstand empfunden werden und auf die sie als Betroffene meist spontan mit der Gründung einer Bürgerinitiative reagieren Eine längere Vorbereitungsphase zur Gründung einer Bürgerinitiative ist jedoch in einigen Fällen dann festzustellen, wenn die Zielsetzung langfristiger ist Der konkrete Problembezug der Gründung wird an den Themenbereichen deutlich, in denen sich Bürgerinitiativen engagieren. Zu ihnen gehören vor allem Wohnungsfragen, das Bildungswesen, der Umweltschutz, die Bauleit-, Verkehrs-und Industrie-planung, das Gesundheitswesen und Planungen im Zusammenhang mit der Gebietsreform — Themen, die in ihrer konkreten Zuspitzung meist ein Engagement im kommunalpolitischen Willensbildungsprozeß nahelegen. Von einer ausschließlich lokalen Orientierung der Bürgerinitiativen kann jedoch nicht gesprochen werden, vielmehr ist in den letz-ten Jahren ein Wandel in der Orientierung von Bürgerinitiativen zu beobachten, die in immer stärkerem Maße ihre Aktivitäten auch auf der regionalen, landes-und bundespolitischen Ebene entwickeln Daher wird die von Rolf-Peter Lange 1972 getroffene Feststellung, der Grad der Kooperation mit anderen Bürgerinitiativen sei gering, durch spätere Daten eindeutig widerlegt Die enge Kooperation einer großen Zahl von Bürgerinitiativen in den „Alternativen Listen" für die Landtags-und Kommunalwahlen in Hamburg und Berlin und ihre Mitarbeit bei der Gründung der Ökologie-Partei „Die Grünen" haben den Trend zu einer stärker abgestimmten Vorgehensweise erneut bestätigt.
Wie beim Entstehungsanlaß, so sind auch bei der Struktur der Zielsetzung deutliche Unterschiede von Fall zu Fall festzustellen. Auch wenn die Gründungsmitglieder von Bürgerinitiativen meist spontan auf einen konkreten Anlaß reagieren, bedeutet dies nicht, daß sie in jedem Fall Widerstand zumeist gegen auf Veränderungen zielendes Handeln der öffentlichen Verwaltung leisten oder bloßen Protest artikulieren, ohne Alternativen anbieten zu können. Die Formulierung von der „Protestbewegung" kennzeichnet allenfalls einen potentiellen Aspekt des Handelns von Bürgerinitiativen. Reaktiv sind Bürgerinitiativen nur in dem Sinne, „als sie mit ihren Aktionen in der Regel auf Defizite ... reagieren. In ihrer Zielsetzung sind sie keinesfalls nur reaktiv" Vielmehr kann aufgrund der verschiedenen empirischen Erhebungen festgestellt werden, daß nur ein Teil der Bürgerinitiativen ein konkretes Vorhaben, meist der öffentlichen Verwaltung, schlicht verhindern will. Ein erheblicher Teil — Prozentzahlen, die sich in den verschiedenen Untersuchungen finden, sind angesichts der methodischen Unzulänglichkeiten nur begrenzt aussagekräftig — der Bürgerinitiativen will bestimmte Vor-Die mit einem Fragezeichen versehenen Zahlen sind in den Untersuchungen nicht enthalten, sondern können nur aus ihnen erschlossen werden. haben durchsetzen. Darüber hinaus sind auch die Bürgerinitiativen zu beachten, die mit ihren Aktionen ein bestimmtes Vorhaben anderer Akteure des politischen Willensbildungsprozesses nicht grundsätzlich verhindern, sondern in ihrem Sinne konzeptionell zu verändern suchen 3. Adressaten und Methoden von Bürgerinitiativen Für Bürgerinitiativen, die mit Aussicht auf Erfolg Einfluß auf die politische Willensbildung nehmen wollen, ist, wie bereits bemerkt, die Erarbeitung einer die politischen Handlungsbediugungen voll berücksichtigenden Strategie, die die politischen Entscheidungsträger erreicht, eine unverzichtbare Vorbedingung. Adressaten und Methoden müssen unter Berücksichtigung der eigenen personellen und materiellen Ressourcen so ausgewählt wer-den, daß die eigenen politischen Absichten unmittelbar oder durch das Gewinnen Verbündeter gefördert werden. So selbstverständlich diese Feststellung auch sein mag, in der praktisch-politischen Arbeit beginnen hier bereits ernste Schwierigkeiten, denn jenseits aller formalen Zuständigkeiten ist für eine Bürgerinitiative häufig nicht ohne weiteres zu erkennen, welche Akteure die angestrebte Entscheidung maßgeblich vorbereiten und tatsächlich treffen werden und demzufolge von ihr anzusprechen sind. Angesichts der Überlagerung des formellen Entscheidungssystems, dessen Zuständigkeiten und Verfahrensregeln meist kompliziert genug und für einen Außenstehenden wie eine Bürgerinitiative bereits kaum zu übersehen sind, durch ein informelles Einfluß-und Mitwirkungsgefüge ist die Suche nach dem richtigen Adressaten und die Auswahl geeigneter Methoden, mit denen das Entscheidungsverhalten der Adressaten beeinflußt werden kann, eine äußerst komplexe Aufgabe Diese Komplexität ist von den meisten Bürgerinitiativen nicht in einem Anlauf zu bewältigen; „eine gewissermaßen generalstabsmäßige Gesamtplanung“ ist kaum zu erwarten und nur selten empirisch nachweisbar * Darüber hinaus begünstigen die Anlässe, aus denen Bürgerinitiativen meist spontan und ohne längere Vorbereitungsphase entstehen, aktionistisch-demonstrative Methoden, mit denen sich Bürgerinitiativen eher diffus an „die" Öffentlichkeit und „die" Politiker als gezielt an bestimmte, faktisch kompetente Entscheidungsträger wenden. Insgesamt kann daher von den meisten Bürgerinitiativen kein umfassendes und in sich schlüssiges Handlungskonzept erwartet werden, sondern meist eine Reihe mehr oder minder spontaner Aktionen, die sich an eine unbestimmte, in jedem Fall jedoch größere Zahl von Personen richten. Aus ihnen werden im weiteren Verlauf eher nach dem Verfahren von Versuch und Irrtum als in einer systematischen Vorgehensweise diejenigen Adressaten herausgefunden, die das Anliegen der Bürgerinitiativen zu fördern geeignet scheinen.
Empirische Untersuchungen lassen daher eine bunte Vielfalt von Adressaten und Methoden erkennen, wenn auch bestimmte Regelmäßigkeiten immer wieder feststellbar sind. So ist der Versuch, die Medien für sich zu gewinnen, um das eigene Anliegen in die breite Öffentlichkeit zu bringen, für die meisten Bürgerinitiativen naheliegend. Insbesondere in der Anfangsphase werden die personellen und materiellen Ressourcen einer Bürgerinitiative nicht ausreichen, um die Öffentlichkeit ausschließlich mit eigenen Mitteln wie Flugblättern, Informationsständen, Unterschriftensammlungen, Leserbriefaktionen, Kundgebungen und Demonstrationen zu informieren und Unterstützung zu mobilisieren. Daher dienen insbesondere auch unkonventionelle Methoden der politischen Auseinandersetzung der Dramatisierung des eigenen Anliegens, um über die Presseberichterstattung öffentliche Aufmerksamkeit zu erregen und politischen Druck auf die Entscheidungsträger auszuüben, damit jene „Atmosphäre ebenso routinierter wie unreflektierter Selbstverständlichkeit", in deren
Schutz die bisherigen Entscheidungsprozesse abliefen, nachhaltig gestört wird Erfolg bei der Durchsetzung ihrer Ziele haben Bürgerinitiativen in der Regel nur dann, wenn es ihnen durch welche Methoden auch immer gelingt, öffentliche Aufmerksamkeit für ihr Anliegen zu gewinnen und über eine längere Zeit hin Gegenstand positiver Berichterstattung durch die Medien zu werden Dabei kann davon ausgegangen werden, daß die Bereitschaft der für die Arbeit von Bürgerinitiativen besonders wichtigen lokalen Presse über diese zu berichten relativ groß ist:
„— Denn es gibt eine Konjunktur für Bürgerinitiativen und alle damit zusammenhängenden Fragen wie Bürgerbeteiligung usw.;
— die Aktionen der Bürgerinitiativen besitzen meist einen hohen Neuigkeitswert;
— die Berichterstattung über Bürgerinitiativen hat für den Leser einen großen Identifikationswert, weil er die dort geschilderten Probleme kennt und beurteilen kann;
— da die Lokalredakteure außerdem mangels eigener Fachkenntnisse häufig dazu neigen, der offiziellen Verwaltungsberichterstattung kommentarlos zu folgen, nutzen sie die ihnen von den Bürgerinitiativen gebotene Chance, auch einmal die andere Seite zu Wort kommen zu lassen, um ihre Lesernähe zu demonstrieren"
Wenden Bürgerinitiativen allerdings unkonventionelle Methoden in der politischen Auseinandersetzung an, erreichen sie eine für sie positive Berichterstattung nur, wenn diese zu den politischen Zielen der Bürgerinitiativen in einem angemessenen Verhältnis stehen Darüber hinaus wird die Verhältnismäßigkeit der Mittel in der Regel nur dann durch die Öffentlichkeit angenommen, wenn die kritische Sachargumentation nicht durch die Anwendung unkonventioneller Methoden ersetzt wird, sondern diese „lediglich den Charakter einer Warnung oder Mahnung" besitzen Insbesondere die Anwendung von Gewalt gegen Personen und Sachen läßt die Behauptung des Ausnahmecharakters einer Maßnahme, nach deren Einsatz man wieder zur Sachdiskussion zurückkehren könne, we-nig glaubwürdig erscheinen. Die „subjektive Wahrheitsgewißheit“ politischer Gewalttäter beendet im allgemeinen den Dialog und läßt zugleich die öffentliche Unterstützung für ihr Anliegen schwinden.
Neben den Medien ist die öffentliche Verwaltung bevorzugter Adressat von politischen Aktionen der Bürgerinitiativen. Dies ist einerseits verwunderlich, weil im repräsentativ verfaßten parlamentarischen System, das wir mit einigen Modifizierungen auch auf der kommunalen Ebene vorfinden die Vertretungskörperschaft das zuständige Entscheidungsorgan ist, insbesondere dann, wenn das von der Bürgerinitiative vertretene Anliegen, wie dies meist der Fall ist, finanzielle Aufwendungen aus dem öffentlichen Haushalt notwendig macht Andererseits drückt sich in diesem Verhalten das im Vergleich zur kommunalen Vertretungskörperschaft positivere Image der Verwaltung und insbesondere ihres Leiters, des Bürgermeisters, aus, denen fachliche Kompetenz und sachbezogene Interessenvertretung offenkundig eher zugetraut werden als den im Parlament vertretenen, oft undurchschaubar taktierenden oder untereinander zerstrittenen Parteien Welche Gründe dabei auch immer eine Rolle spielen mögen, Tatsache bleibt, daß die öffentliche Verwaltung ein bevorzugter Adressat von Bürgerinitiativen ist, wenn auch im beiderseitigen Verhältnis alle Abstufungen von Konflikt und Kooperation möglich sind und dieses Verhältnis im Zeitablauf erheblichen Veränderungen unterworfen sein kann
Neben den für die politische Arbeit den Bürgerinitiativen üblicherweise zur Verfügung stehenden Methoden sind im Verhältnis zur Verwaltung institutioneile Rahmenbedingungen von Bedeutung, die von der Verwaltung meist in Zusammenarbeit mit der Vertretungskörperschaft geschaffen wurden, um die Bürgerbeteiligung bei bestimmten Plan-verfahren zu verbessern Unter solchen Bedingungen ist zwar die Anwendung unkonventioneller Methoden in der politischen Auseinandersetzung seitens der Bürgerinitiativen nicht völlig ausgeschlossen, dennoch kann die mit der Schaffung solcher institutioneller Rahmenbedingungen intendierte, wenn auch „begrenzt antagonistische" Kooperation dauerhaft nur zustande kommen, wenn die Methoden sachargumentativer Auseinandersetzung überwiegen. Insofern wird die Einbindung von Bürgerinitiativen in „das System" ihre Alternativen für die politische Aktion vermindern. Nach aller Erfahrung werden sie dazu nur bereit sein, wenn der Verlust an politischer Aktion durch die Chance effektiver Mitbestimmung wettgemacht wird. Der Versuch, über institutionalisierte Beteiligung ohne effektive Mitwirkung Bürgerinitiativen zu pazifizieren, ist daher in der Regel zum Scheitern verurteilt
Gegenüber den Kontakten der Bürgerinitiativen zur Verwaltung nehmen sich diejenigen zu den der Vertretungskörperschaft angehörenden Parteien im allgemeinen bescheidener aus. Die Einstellung des überwiegenden Teils der Bevölkerung, kommunale Angelegenheiten als nicht-politische „Fragen" einzuschätzen, und ihre zugleich stark unterentwickelte Konfliktorientierung in der Politik, die mit einem ausgeprägten Harmoniebedürfnis einhergeht einerseits sowie die für den Bürger kaum noch nachvollziehbare Polarisierung der parteipolitischen Argumentation und die demzufolge insbesondere im Vergleich zur Verwaltung als begrenzt angesehene Sachkompetenz der Parteien andererseits sind — neben dem aus mehreren Quellen gespeisten, die deutsche politische Kultur kennzeichnende Antiparteienaffekt — wohl die wichtigsten Faktoren für die verbreitete Skepsis der Bürger gegenüber der parteilich orientieren Politik
Die empirisch feststellbare Zurückhaltung von Bürgerinitiativen, Parteien vorzugsweise als Adressaten ihrer Anliegen auszuwählen, ist von daher verständlich, auf der anderen Seite bietet die Konkurrenz zwischen den Parteien für Bürgerinitiativen die Chance, ihr Anliegen zum Gegenstand der parteipolitischen Auseinandersetzung zu machen und insofern Unterstützung zu gewinnen Es ist daher auch nicht überraschend, daß ein erheblicher Teil der Bürgerinitiativen kooperative Beziehungen zu den Parlamentsparteien, vor allem zu F. D. P. und SPD, in geringerem Umfang zu CDU/CSU unterhält die in Einzelfällen zu auch finanzieller Unterstützung führen können; Mitarbeit von Parteimitgliedern in Bürgerinitiativen ist sowieso an der Tagesordnung. So sehr eine solche Unterstützung das Anliegen einer Bürgerinitiative insbesondere dann zu fördern geeignet ist, wenn die zuständige Verwaltung sich abweisend verhalten hat und die öffentliche Mobilisierung nicht ausreicht, diese umzustimmen, so sehr fürchten Bürgerinitiativen zugleich, von bestimmten Parteien „vereinnahmt" zu werden und ihre parteipolitische Unabhängigkeit zu verlieren. Auch kommt die Schwierigkeit hinzu, sich mit meist mehreren Parteien gleichzeitig auseinandersetzen zu müssen, was den internen Koordinationsbedarf erheblich erhöht, ohne daß der Ertrag angesichts der oft dynamischen und nur selten transparenten Meinungsbildungsprozesse der Parteien vorhersehbar ist.
Der Verlust der parteipolitischen Unabhängigkeit ist jedoch gravierender; er wird bei den meist vorhandenen unterschiedlichen parteipolitischen Präferenzen unter den Mitgliedern und Anhängern einer Bürgerinitiative zu Spannungen führen und die Zusammenarbeit beeinträchtigen. Außerdem kann sich insbesondere bei nur längerfristig zu realisierendenden Zielsetzungen die einseitige Festlegung der Bürgerinitiativen auf bestimmte Parteien nachteilig auswirken, wenn die ursprüngliche Unterstützung z. B. aufgrund veränderter Mehrheitsverhältnisse nicht mehr ausreicht oder aufgrund inhaltlicher Differenzen in Frage gestellt ist. Insofern bleibt das Verhältnis der Bürgerinitiativen zu den politischen Parteien notwendigerweise ambivalent
Vereinigungen sind für Bürgerinitiativen zumindest dann von Interesse, wenn sie den Vereinszweck nicht bereits mit der internen Tätigkeit ihrer Mitglieder erfüllen, sondern wenigstens punktuell und zeitweise diesen durch Einflußnahme auf die politische Willensbildung zu erreichen suchen. Dies ist nicht nur bei den Verbänden der Fall, deren hauptsächliche Funktion darin besteht, bestimmte Interessen in den politischen Willensbildungsprozeß permanent einzubringen, sondern auch bei den zahlreichen Vereinen, die das soziale Leben einer Gemeinde maßgeblich beeinflussen Insofern bieten sich Verbände und Vereine, auch wenn sie deutliche Unterschiede zu Bürgerinitiativen aufweisen als Adressaten für das Anliegen von Bürgerinitiativen an. Daher kann es nicht überraschen, daß empirische Untersuchungen immer wieder auf teils kooperative, teil konfliktäre Beziehungen von Bürgerinitiativen zu bestimmten Vereinigungen, vor allem zu Kirchen, Gewerkschaften und Wirtschaftsverbänden stoßen.
Ähnlich wie zu den Parteien besteht auch hier ein strukturell bedingtes Konkurrenzver-hältnis, denn die meisten Verbände und Vereine erweisen sich im Rahmen eines begrenzten Gebietes möglicher Interessenvertretung als recht statische Gebilde was zur Folge hat, daß nur bestimmte Interessen kontinuierlich vertreten werden. Die Spontaneität und Flexibilität von Bürgerinitiativen stellt diese eingefahrene Interessenvertretung tendenziell in Frage und greift unter Umständen Themen auf, die bisher vernachlässigt wurden, obwohl sie grundsätzlich gewissermaßen in die „Zuständigkeit" bestimmter Vereinigungen fallen Insofern kann eine Bürgerinitiative schnell in die Rolle einer lästigen Konkurrentin von Verbänden und Vereinen geraten, so daß Konflikte vorprogrammiert sind. 4. Erfolge und Mißerfolge von Bürgerinitiativen Bürgerinitiativen können als neue Form der politischen Beteiligung des Bürgers angesehen werden. Sie haben es in den letzten Jahren verstanden, erhebliche Teile der Bevölkerung politisch zu aktivieren. Deren Einsatz wird nur dann nicht in politische Frustration und allgemeine Ablehnung des politischen Systems der Bundesrepublik umschlagen, wenn er nicht umsonst gewesen ist. Daher ist das Ergebnis des politischen Engagements in und über Bürgerinitiativen von grundsätzlicher Bedeutung für die Einstellung der Bürger zum politischen System und zur Politik überhaupt. Die über die Ergebnisse der Arbeit von Bürgerinitiativen vorliegenden empirischen Untersuchungen sind bereits aufgrund der Datenbasis eher dürftig und lassen weitreichende Schlußfolgerungen nicht zu. Darüber hinaus bestehen ungelöste theoretische Probleme. Meist wird in den Untersuchungen nach dem Erfolg der Bürgerinitiative gefragt und dieser mit dem Grad der Zielerreichung definiert Abgesehen von dem Problem, daß sich das Ziel einer Bürgerinitiative im Laufe ihrer Arbeit verändern kann, gerade weil sie „erfolgreich" oder „nicht erfolgreich" war müßte erst einmal festgestellt werden, welche Zielvorstellung die einzelne Bürgerinitiative tatsächlich verfolgt hat. Erklärte und tatsächlich verfolgte Ziele können sich erheblich unterscheiden, so daß außer den Satzungsbestimmungen und den Äußerungen führender Repräsentanten einer Bürgerinitiative z. B. auch deren Mitteleinsatz zur Untersuchung herangezogen werden müßte ’ Befragungen von Mitgliedern von Bürgerinitiativen als „subjektive" Methode und Auswertung von Presseberichten als „objektive" Methode um den Grad der Zielerreichung festzustellen, sind daher gleichermaßen problematisch. Als zusätzlicher Einwand kommt hinzu, daß mit dieser Untersuchungsweise ein Kausalzusammenhang unterstellt wird, der nicht bestehen muß. So gehen die bisherigen Untersuchungen einerseits davon aus, daß der Erfolg der Bürgerinitiativen bei der Durchsetzung ihrer Ziele daran zu messen ist, „inwieweit es den Bürgerinitiativen gelingt, ihre Forderungen in Entscheidungen der zuständigen Entscheidungsträger umzusetzen" nehmen jedoch durch die genannten Erhebungsmethoden andererseits unbegründet an, daß die Entscheidung der Entscheidungsträger, die mit der Forderung der Bürgerinitiative teilweise oder vollständig deckungsgleich ist, auf deren Engagement ursächlich zurückzuführen ist. Eine solche Annahme bedarf jedoch des Nachweises, der nur durch die Analyse des Entscheidungsprozesses auch im Bereich der Entscheidungsträger zu erbringen ist. Da in den bisher vorliegenden fünf Untersuchungen zur Erfolgsbilanz der Bürgerinitiativen solche Analysen fehlen und die übrigen theoretischen und methodischen Probleme ungelöst sind, können ihre Ergebnisse wenig mehr als illustrativen Charakter beanspruchen. Aus diesen Daten zu schlußfolgern, die Bürgerinitiativen hätten in den letzten Jahren gelernt, entweder ihre Interessen besser zu vertreten oder doch zumindest so zu formulieren, daß sie realistischerweise erwarten können, sie durchzusetzen, erscheint ebenso spekulativ wie die Annahme, die Lern-und Anpassungsfähigkeit der Verwaltung habe sich erhöht
Für diese Thesen hat zwar die Analyse des politischen Willensbildungsprozesses genügend Anhaltspunkte ergeben, sie müßten außerdem durch die These von einer gestiegenen Lern-und Anpassungsfähigkeit der politischen Parteien ergänzt werden belegen lassen sie sich durch die genannten Daten jedoch kaum. Insofern müßte erst in weiteren Untersuchungen dargetan werden, daß die Aktionsmöglichkeiten von Bürgerinitiativen im politischen Willensbildungsprozeß ausreichen, um eigene Ziele wenigstens teilweise durchzusetzen. Nur dann wäre auch sichergestellt, daß die Mehrheit in Bürgerinitiativen nicht nur die Illusion von politischer Beteiligung vermittelt.
IV. Zusammenfassung Die Analyse der vorliegenden und im Hinblick auf die Konsequenzen für die politische Willensbildung ausgewerteten empirischen Untersuchungen über Bürgerinitiativen kann in folgende Thesen zusammengefaßt werden: 1. Bürgerinitiativen bieten seit den siebziger Jahren eine zusätzliche Form der politischen Beteiligung der Bürger im parlamentarischen Regierungssystem der Bundesrepublik Deutschland. Diese Form hat sich entgegen mancher Behauptungen zwar in Konkurrenz, nicht jedoch auf Kosten der politischen Parteien entwickelt Die Parteien, bis Anfang der siebziger Jahre neben den Vereinigungen die einzige Form der politischen Selbstorganisation der Aktivbürgerschaft, erlebten, wie die wachsenden Mitgliederzahlen zeigen, einen steigenden Zuspruch, der zu der — gerade auch zumindest von einem erheblichen Teil der Bürgerinitiativen formulierten — Kritik an dem „etablierten“ Parteiensystem in einem merkwürdigen Spannungsverhältnis steht. In jedem Fall ist der Prozeß der politischen Willensbildung durch das zunehmende Engagement der politischen Parteien und das zusätzliche Engagement der Bürgerinitiativen komplexer und konfliktreicher geworden. Insbesondere in der Kommunalpolitik führte dies zu einer Politisierung vieler Probleme, die früher als sogenannte „Sachfragen" faktisch in den Entscheidungsbereich der öffentlichen Verwaltung fielen. 2. Die Teilnahme von Bürgern am politischen Willensbildungsprozeß in der Form von Bürgerinitiativen bedeutet — im Gegensatz zu dem Engagement von politischen Parteien — die Konzentration auf einen begrenzten Ausschnitt der politischen Probleme. Ohne den Bürgerinitiativen allgemein unterstellen zu wollen, sie stellten nur „Ein-Punkt-Aktionen" dar, ist doch unübersehbar, daß sie bereits vom Anspruch her nur einen Teilbereich von Politik „beackern". Insofern sind Bürgerinitiativen auch ein Versuch arbeitsteiliger Problembewältigung, wie sie im übrigen auch innerhalb von politischen Parteien stattfindet Trotz empirisch festgestellter Kooperation untereinander und mit anderen Akteuren des politischen Willensbildungsprozesses stehen Bürgerinitiativen wegen ihrer organisatorischen Selbständigkeit jedoch im besonderen Maße vor dem Problem, wie die arbeitsteilig entstandenen Problemlösungen aufeinander abgestimmt und in übergeordnete, letztlich auf die Gesamtgesellschaft bezogene Programme integriert werden. Parteien bringen dafür, da sie die Frage als Binnenproblem behandeln, die besseren Voraussetzungen mit, obwohl auch sie dem Anspruch, umfassend angelegte und in sich stimmige Programme zu entwickeln, nur begrenzt gerecht werden. Trotz dieser Einschränkung ist ihre Effizienz bei der Integration von Teilprogrammen größer als die von insofern strukturell unterlegenen Bürgerinitiativen. Von daher ist verständlich, daß ein großer Teil der Konflikte zwischen Parteien und Bürgerinitiativen aus der unterschiedlichen Fähigkeit herrührt, übergreifenden Problemstellungen gerecht zu werden. Andererseits ergibt sich aus der ausgeprägteren Arbeitsteiligkeit der politischen Tätigkeit der Bürgerinitiativen ihre oftmals nicht nur die Parteivertreter überraschende Sachkompetenz in Einzelfragen. Insofern ist das Verhältnis von Parteien und Bürgerinitiativen nicht nur strukturell von Konflikt bestimmt, sondern beinhaltet auch die Chance zu einem Dialog, in dem der Informationsstand verbessert und die Interessenlage verdeutlicht werden kann.
3. Trotz unübersehbarer struktureller Veränderungen im repräsentativen Regierungssystem der Bundesrepublik auf den Ebenen von Bund, Ländern und Gemeinden kann nicht von einer institutionalisierten Einbindung der Bürgerinitiativen in das politische System gesprochen werden, wie dies insbesondere für Parteien und Verbände gilt. Nicht nur ihrem Selbstverständnis nach, sondern auch faktisch befinden sich Bürgerinitiativen außerhalb der verfaßten Staatlichkeit und stehen bei ihrem Bemühen, den in vieler Hinsicht abgeschwächten politischen Willensbildungsprozeß in ihrem Sinne zu beeinflussen, vor erheblichen Hindernissen. Der diffuse Rundum-Aktivismus vieler Bürgerinitiativen insbesondere zu Beginn ihrer Tätigkeit kennzeichnet ihre Hilfslosigkeit bei der Entwicklung und Anwendung einer Strategie zur Durchsetzung ihres Anliegens. Dabei entsteht die Gefahr, daß trotz eines großen personellen und materiellen Aufwandes das ungeteilte Engagement einer Bürgerinitiative in Erfolglosigkeit endet und dadurch Frustrationen bei ihren Mitgliedern ausgelöst werden, die sich in einer allgemeinen Ablehnung „des Systems“ äußern. Schon um solche Entwicklungen zu vermeiden, ist eine weitere Öffnung des politischen Systems gegenüber der in Bürgerinitiativen organisierten Aktivbürgerschaft notwendig; dies gilt neben institutionellen Reformen vor allem für das Verhalten der Parteien. Allerdings sollte nicht übersehen werden, daß mit jeder Öffnung sich das bereits beschriebene Problem verschärft, daß sektorale Problemansichten im politischen Willensbildungsprozeß präsentiert werden, ohne daß übergreifende Programme wenigstens von Seiten der Bürgerinitiativen angeboten werden können.
4. Angesichts der geschilderten Rahmenbedingungen für das Handeln von Bürgerinitiativen muß die Erfolgsbilanz ihrer Tätigkeit generell eher skeptisch beurteilt werden. Aufgrund der wenig aussagekräftigen empiriB sehen Daten ist dies zwar nur eine Vermutung, jedoch lassen weder die Restriktionen, die das politische System für das Handeln von Bürgerinitiativen setzt, noch ihr sektorales Problemverständnis und ihre begrenzten Ressourcen einen anderen Schluß zu. Der Beteiligung von Bürgern am politischen Willensbildungsprozeß über Bürgerinitiativen sind demzufolge enge Grenzen gesetzt Die Frage stellt sich, warum dennoch diese Beteiligungsform für eine große Zahl von Bürgern offenkundig attraktiv ist. Hier kann, ohne daß eine nähere Untersuchung möglich ist, nur vermutet werden, daß die Konzentration auf eine, vielfach durch persönliche Betroffenheit gekennzeichnete, begrenzte Problemstellung und die darin liegende Reduktion der politischen Komplexität ebenso eine Rolle spielen wie der in der deutschen politischen Kultur traditionelle Anti-Parteien-Affekt Die Revitalisierung basisdemokratischer Vorstellungen, die unübersehbar mit dem Entstehen von Bürgerinitiativen verbunden ist, stellt dazu nur die Kehrseite der Medaille dar. Ob allerdings die einfachen Strukturen basisdemokratischer Organisation ausreichen, um die Komplexität politischer Problemstellungen in einer modernen Industriegesellschaft in rationale Entscheidungen zu transformieren, darf bezweifelt werden
Martin Müller, Dipl. Pol., Oberstleutnant a. D., geb. 1937; Eintritt in die Bundeswehr 1958, Verwendung als Zugführer und Kompaniechef; seit 1969 Generalstabsausbildung sowie Studium der Politikwissenschaft, anschließend Verwendung im Stabsdienst und als Dozent; seit 1978 Vorsitzender der CDU-Fraktion in der Bezirksversammlung Hamburg-Altona und seit 1982 Mitglied der Hamburger Bürgerschaft. Veröffentlichungen: Fraktionswechsel im Parteienstaat, Opladen 1974, sowie Aufsätze zu Fragen des Regierungssystems der Bundesrepublik Deutschland und zur Sicherheitspolitik.