Neutralität und Blockfreiheit in Europa. Sicherheitsund Verteidigungspolitik im Vergleich
Annemarie Große-Jütte /Rüdiger Jütte
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Zusammenfassung
In den gegenwärtigen sicherheitspolitischen Kontroversen nehmen Vorstellungen neutraler Politik als Alternative zu der zunehmend kritischer bewerteten Sicherheitspolitik des westlichen Bündnisses großen Raum ein. Ziele und Inhalte vorgeschlagener „Neutraler Alternativen" und ihre „Gegen-Kritik" als gefährlicher „Neutralismus" verzerren jedoch oft die empirische Substanz neutraler Politik. Gegen diesen Hintergrund wird die Sicherheits-und Verteidigungspolitik der neutralen und blockfreien Staaten (Schweiz, Österreich, Schweden, Finnland und Jugoslawien) vergleichend in ihrer Konzeption und praktischen Umsetzung betrachtet. Unterschiedliche historisch-politische Entstehungszusammenhänge und rechtliche Grundlagen haben zu verschiedenartiger konzeptioneller Bestimmung der Verteidigungsfunktion geführt, obwohl alle Staaten den Grundsatz der bewaffneten Verteidigung ihres neutralen/blockfreien Status vertreten. Der Vergleich der verteidigungspolitischen Profile der fünf Staaten auf der Grundlage von elf relevanten Merkmalen (Verhältnis Außen-/Verteidigungspolitik; Definition der Verteidigungspolitik; Streitkräfteorganisation; Formen des Verteidigungskampfes/Verteidigungsdoktrin; Technisierungsgrad der Streitkräfte; Höhe der Verteidigungsaufwendungen nach Anteil am BSP und per capita; Umfang eigener Rüstungsproduktion und Bedeutung des Rüstungsexports, Bruttosozialprodukt und Technologiebilanz) weist erhebliche Differenzierungen in der verteidigungspolitischen Praxis auf. Dabei zeigt sich weiter, daß Unterschiede nicht das Ergebnis abweichender Konzeptionen neutraler/blockfreier Politik sind; gerade Staaten mit ähnlichen neutralitätspolitischen Konzeptionen (Schweiz/Österreich; Schweden/Finnland) weichen in ihrer verteidigungspolitischen Praxis erheblich voneinander ab. Für sie sind mehr als neutralitätspolitische Maximen ökonomische und technologische Randbedingungen ausschlaggebend. Vor dem Hintergrund der Feststellung, daß es kein einheitliches und kopierfähiges Muster neutraler Sicherheits-und Verteidigungspolitik gibt, werden abschließend einige Folgerungen für die sicherheitspolitische Diskussion in der Bundesrepublik Deutschland umrissen.
„Neutrale Alternative(n)" und „Neutralismus“ sind die beiden Pole, zwischen denen in der Bundesrepublik wie auch in anderen Staaten seit geraumer Zeit sicherheitspolitische Kontroversen ausgetragen werden. Ausgangspunkt der Diskussion, die in ihren Weiterungen Grundsatzfragen der außenpolitischen Orientierung berührt, bildet die Kritik an den negativen politischen, ökonomischen und sozialen Folgen des Rüstungswettlaufs, dessen Ursachen als Konsequenz sicherheitspolitischer Konzeptionen gesehen werden, die in die Zwänge der andauernden, neuerlich sich sogar wieder verschärfenden Konfrontation der beiden Blöcke in Ost und West eingebettet sind. Im Kreuzfeuer der Kritik steht nicht zuletzt die Sicherheitspolitik des westlichen Bündnisses. Ihr wird nicht nur vorgehalten, an überholten Konzeptionen festzuhalten, sondern darüber hinaus noch vorgeworfen, in der Praxis die Reste der Entspannungspolitik aufs Spiel zu setzen. Solche Befürchtungen werden durch die politische Handhabung des „Nachrüstungsbeschlusses" genährt und von widersprüchlichen Akzenten in neuen sicherheitspolitischen Maximen und rüstungstechnischen Ambitionen der Reagan-Administration vertieft. In ihren praktischen Konsequenzen erscheint die sicherheits-und verteidigungspolitische Doktrin nicht mehr als Garant, daß in einem möglichen Verteidigungsfall die schütz-und verteidigungswerten Güter und Werte angesichts der exponierten Lage der Bundesrepublik verteidigt werden können: die Wahrscheinlichkeit erscheint eher größer, daß bei einem Versagen der Abschreckung ihre Verteidigung faktisch unmöglich ist und sie vollständiger Vernichtung ausgeliefert sind.
Ein Element dieses Unbehagens ist das Nachdenken über sicherheitspolitische Alternativ-konzeptionen; die Skala der Vorschläge reicht dabei von der allgemeinen Formel einer stärkeren Betonung deutscher Interessen bei der Bestimmung der Politik des westlichen Bündnisses über die Forderung nach »neutralen Alternativen" bis hin zu Überlegungen über ein Disengagement, eine militärische Ausdünnung bestimmter geographischer Bereiche, atomwaffenfreie Zonen usw. Von den Verfechtern der etablierten sicherheitspolitischen Positionen werden derartige Überlegungen summarisch als politisch unbedachter, abenteuerlicher und bedrohlicher „Neutralismus" abgetan und verworfen.
Hier sollen keine weiteren Spielarten der kontroversen Spekulationen über einen neutralen Status der Bundesrepublik entwickelt oder Vor-und Nachteile von Vorstellungen eines Disengagements, atomwaffenfreier Zonen u. a., die damit in Zusammenhang gebracht werden, diskutiert werden. Die folgenden Überlegungen gehen vielmehr von der Feststellung aus, daß die Vielzahl und Spannweite der Fragen und Probleme, die in dieser Diskussion mit dem Begriff der Neutralität verbunden werden, dessen Gehalt — auch bei einer weitgefaßten Auslegung — Überfrachten. Die undifferenzierte Etikettierung der verschiedensten sicherheitspolitischen Konzepte als neutrale Alternativen verzerrt nicht allein deren eigene Bedeutung, sondern auch Formen, Inhalte und Folgen einer an neutralen Grundsätzen orientierten Politik, insbesondere daraus abgeleitete Bezüge für die Bundesrepublik. Ebenso verzerrend und unsachgemäß ist die pauschale Abqualifizierung allen kritischen sicherheitspolitischen Denkens als „Neutralismus", sofern es von den herrschenden Doktrinen abweicht. Darin wird eine Voreingenommenheit gegenüber Neutralität sichtbar, die bereits in den außen-und sicherheitspolitischen Diskussionen in den fünfziger Jahren zu Tage getreten war. Auf diesem Hintergrund wird die erkennbare Praxis neutraler Politik in Europa betrachtet, jedoch nicht in einer umfassenden und grundsätzlichen Form, sondern unter Beschränkung auf Problemkreise, die in der Kritik der bündnispolitischen Integration der Bundesrepublik und bei den Annahmen über „neutrale Alternativen“ in den Vordergrund gestellt werden. In der neutralitätspolitischen Diskussion erscheint Neutralität weniger als strikte rechtliche Kategorie, sondern in erster Linie als außenpolitische Orientierung ohne Bindung an eine der Allianzen und einer von den Blöcken unabhängigen Politik. Ungeachtet aller notwendigen Differenzierungen zwischen Neutralität und Blockfreiheit, wird es deshalb das blockfreie Jugoslawien in die Betrachtung mit einbezogen.
I. Merkmale von Neutralität und Blockfreiheit
Diskussionen über Neutralität vermitteln oft den Eindruck, als gäbe es ein einheitliches Modell neutraler Politik. Bis zu einem gewissen Grade mag dies im Kontrast zu den beiden europäischen Blocksystemen zutreffen. Die Einheitlichkeit schwindet jedoch, wenn die Gruppe der neutralen Staaten „von innen“ betrachtet wird. In dieser Perspektive zeigt die vergleichende Betrachtung ein sehr viel differenzierteres Bild. Die Breite des Spektrums unterschiedlicher Ausprägungen neutraler und blockfreier Politik ist nicht zuletzt auch bedeutsam für alle Erörterungen, inwieweit Grundsätze neutraler und blockfreier Politik Vorbilder für andere Staaten abgeben und auf sie übertragen werden können.
In der Neutralitätsdiskussion geht es in erster Linie nicht um den klassischen Fall der („einfachen") Neutralität als dem völkerrechtlichen Institut, das Rechte und Pflichten von Staaten umschreibt, die sich in einem konkreten Kriegsfall zwischen dritten Staaten und begrenzt auf die Dauer des Krieges als „neutral“ erklären. Im Mittelpunkt stehen vielmehr die Voraussetzungen und Formen des neutralen Verhaltens bereits in Zeiten des Friedens. Auf dieses Problem bezogen bedingen die unterschiedlichen historisch-politischen Entstehungszusammenhänge, in denen jedes der Länder seine neutrale/blockfreie Position begründete, charakteristische Besonderheiten in ihrem jeweiligen nationalen Selbstverständnis und den Definitionen des „nationalen Interesses", die sich in besonderen Merkmalen des Stils und spezifischen Themen ihrer Außenpolitik sowie im Verhältnis der einzelnen außenpolitischen Problemfelder widerspiegeln
Die Schweiz und Schweden haben eine lange, teilweise bis über das 19. Jahrhundert zurückreichende Tradition ihrer Neutralität. Die Unterschiede im formalen Charakter und der völkerrechtlichen Verbindlichkeit haben allerdings wichtige konzeptionelle und praktische Konsequenzen. Finnland, Jugoslawien und Österreich begründeten ihre neutrale/blockfreie Position demgegenüber erst nach dem Zweiten Weltkrieg, wobei die internationale Konstellation des Ost-West-Konflikts auf die Definition ihrer Stellung entscheidenden Einfluß hatte. Auch hier sind die formalen und völkerrechtlichen Grundlagen unterschiedlich. Österreich übernahm 1955 das „Schweizer Modell“ der völkerrechtlich begründeten „dauernden Neutralität". Finnlands neutraler Status hat wie der Schwedens keine vergleichbare rechtliche Begründung, sondern folgt weitgehend aus der Praxis seiner Außenpolitik. Die blockfreie Position Jugoslawiens bildet schließlich einen Fall mit weiteren Besonderheiten. Hinzuweisen ist in diesem Zusammenhang allerdings darauf, daß auch Schweden Inhalt und Stil seiner Außenpolitik als Blockfreiheit bezeichnet Diese Konzeption ist jedoch nur als Maxime der Außenpolitik in Friedenszeiten bestimmt, während (und hier endet die Vergleichsmöglichkeit mit Jugoslawien) die schwedische Neutralitätspolitik im Kriegsfall (wie auch bei den anderen drei Staaten) sich auf die Einhaltung der Regeln der völkerrechtlich definierten (einfachen) Neutralität richtet Für die Situation der Konfrontation der beiden Blöcke, wie sie sich nach dem Zweiten Weltkrieg entwickelte, gilt für alle neutralen/blockfreien Staaten bis heute, daß sie sich aus den Konflikten zwischen den beiden Großmächten heraushalten wollen. Die Motive sind dabei durchaus unterschiedlich und an spezifische nationale Interessen gebunden. Aus ihrer Lage an den Nahtstellen der beiden Bündnissysteme ergibt sich jedoch für alle das gemeinsame Interesse, ihre Außenpolitik zur Absicherung ihrer Stellung in den Dienst einer „Brückenfunktion" zu stellen, die den ost-westlichen Gegensatz zwar nicht aufheben kann, aber doch Ansätze der Moderation und Verständigung unterstützen, zumindest in prozeduralen Fragen erleichtern soll. Dieser von allen neutralen und blockfreien Staaten postulierten friedenspolitischen Funktion sind gleichwohl enge Grenzen gesetzt Im Zeichen der intensiven Konfrontation zwi-sehen Ost und West war Neutralität als einzelstaatliche Politik und als Systemelement bedeutungslos geworden und in die Defensive gedrängt. Das Verharren im internationalen Abseits wurde von manchen Seiten sogar als amoralisch bezeichnet. Dies änderte sich erst wieder mit dem Vordringen von Entspannungstendenzen, die den neutralen/blockfreien Staaten einen größeren Aktionsradius eröffneten. Den vorläufigen Höhepunkt bildeten ihre Aktivitäten in den verschiedenen Phasen der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa. Hier konnten sie nicht nur ihre gemeinsamen, insbesondere sicherheitspolitischen Interessen darstellen, sondern als „Gruppe" der N(eutralen) + N(ichtgebundenen) -Staaten eigene Gruppen-initiativen und Vermittlungsaktivitäten entfalten, die in einer Reihe von Fragen Gegensätze zwischen West und Ost teilweise zu überbrücken vermochten Die Entwicklung des KSZE-Prozesses bis zur gegenwärtigen Nachfolge-Konferenz in Madrid verdeutlicht allerdings eine Grundvoraussetzung für die Politik neutraler Staaten. Neutrale Politik, die über die defensive Sicherung der eigenen Position hinausgehen soll, hängt entscheidend von der Existenz eines machtpolitischen Gleichgewichts zwischen den Blöcken ab. In Zeiten erhöhten Konflikts wird Neutralität als Systemelement in den Hintergrund gedrängt. Neutrale Staaten haben deshalb ein genuines Interesse an der Verminderung von Konflikten sowie auch (strukturell) am Ausgleich von Machtdifferenzen. Von daher erklärt sich ihr Interesse an allen politischen Schritten, die entspannungsfördernd sind; sie bieten den Neutralen ein Umfeld, in dem sie eigene Aktivitäten und Initiativen entfalten können, die ihre Position im System stärken
Der neutrale Status oder die erklärte Praxis einer neutralen/blockfreien Politik befreit zwar von innen-und außenpolitischen Zwängen und Verpflichtungen, die eine Einbindung in die Blocksysteme mit sich bringt. Die geographische Lage der Neutralen bedeutet aber auch eine besondere sicherheitspolitische Schwachstelle, die durch die Vorteile außenpolitischer Ungebundenheit nicht vollends aufgewogen werden kann. In keinem der Staaten — mit bestimmten Einschränkungen für Jugoslawien — wird der Möglichkeit große Wahrscheinlichkeit beigemessen, daß er das Ziel eines direkten Angriffs werden könnte. Die Lage an den Nahtstellen der Blöcke gibt den Neutralen die Funktion „sicherheitspolitischer Puffer", welche — aus der Sicht der Blocksysteme — im System des europäischen Gleichgewichts relative Konstanten darstellen, die sowohl in der Gesamt-struktur als auch in regionalen Zusammenhängen Bedeutung haben. Für den Fall einer militärischen Auseinandersetzung zwischen Ost und West erscheint es aber nicht unter allen Umständen gesichert, daß ihre Unabhängigkeit unangetastet bleibt. Der nicht auszuschließende Fall einer Verletzung der neutralen/blockfreien Position eines oder mehrerer Staaten in einem sich ausweitenden Konflikt in Ost und West beruht auf der Annahme, daß eine oder beide Seiten den militärischen Vorteil einer Nichtbeachtung der Unabhängigkeit höher einschätzen könnte(n) als die damit verbundenen politischen Kosten Alle neutralen/blockfreien Staaten definieren ihre Position deshalb gleichermaßen als „bewaffnete" Neutralität bzw. Blockfreiheit. Die Ähnlichkeiten ihrer sicherheitspolitischen Situation stellen die Neutralen/Blockfreien auch vor ähnliche verteidigungspolitische Probleme. Die Unterschiede in der neutralen/blockfreien Tradition, die Notwendigkeit, verteidigungspolitische und rüstungstechnische Erfordernisse mit den ökonomischen Möglichkeiten zu vereinbaren und dabei zugleich Konflikte mit konkurrierenden Grundsätzen neutraler/blockfreier Politik zu vermeiden, haben allerdings auch zu unterschiedlichen Lösungen geführt
II. Sicherheits-und Verteidigungspolitik als Element neutraler/blockfreier Politik
Abbildung 2
Tabelle 1: Verteidigungsausgaben, Bruttosozialprodukt, Technologiebilanz, Rüstungsproduktion und -export neutraler/blockfreier Staaten
Tabelle 1: Verteidigungsausgaben, Bruttosozialprodukt, Technologiebilanz, Rüstungsproduktion und -export neutraler/blockfreier Staaten
1. Die einzelnen Staaten Bei der Umsetzung der Verteidigungsaufgabe in eine konkrete Verteidigungspolitik und -konzeption sehen sich alle neutralen/blockfreien Staaten gleichermaßen dem Problem gegenüber, daß sie sich in einem Angriffsfall nach allen traditionellen Kriterien militärischer Stärke in einer Situation der Unterlegenheit befinden. schon aus ökonomischen der Gründen ist die Aufstellung und Unterhalt von Streitkräften ausgeschlossen, die nach Umfang, rüstungstechnologischem Standard und militärischen Organisationsstrukturen mit denen möglicher Angreifer konkurrieren könnten. Zudem ergeben sich aus dem Problem der rüstungstechnischen Unabhängigkeit (realistischer eigentlich einer möglichst weitgehenden Verringerung der Abhängigkeit) angesichts des technologischen Standes, der im Wettlauf der Rüstungsentwicklung zwischen den Blöcken auch bei konventionellen Rüstungen ständig anspruchsvoller wird, immer wieder ernste Probleme beim Aufbau oder bei der Anpassung eigener rüstungstechnischer Produktionskapazitäten. Dies gilt um so mehr, als militärische Sicherheitsvorkehrungen nicht nur auf den Fall nur zufälliger/begrenzter Neutralitätsverletzungen beschränkt sind. Alle Staaten definieren in ihrer Verteidigungskonzeption mit dem Gedanken der „Abhaltung" zwar ein Konzept, das sich nach Umfang und Intensität von umfassenden Abschreckungskonzeptionen abhebt. Typisch dafür ist die Doktrin des „hohen Eintrittspreises", die von der begrenzten Verletzung des neutralen Raumes abhalten soll. Die zweite Variante „hohen des Aufenthaltspreises" ist darüber hinaus aber auf den umfassenderen Fall einer Besetzung — teilweise oder ganz, jedenfalls aber für einen längeren Zeitraum — ausgerichtet. Die Glaubwürdigkeit der Verteidigung ist dann aber an die Präsenz ausreichender Verteidigungsfähigkeit gegen räumlich und zeitlich umfassendere Angriffe gebunden, so daß praktisch die zweite Variante den Maßstab für das Ausmaß der Verteidigungsanstrengungen abgibt. Dies zeigt sich auch daran, daß in allen Staaten zivile Bereiche und Funktionen mehr oder minder in Konzeptionen der „umfassenden Verteidigung" einbezogen sind.
In der Schweiz und in Österreich wird die Aufgabe der Landesverteidigung als eine völkerrechtlich aufgegebene Rechtspflicht betrachtet, die sich aus dem Status der dauernden Neutralität ergibt. Sie beinhaltet insbesondere die Verpflichtung, „Streitkräfte und eine genügende Rüstung aufrechtzuerhalten, um die Neutralität gegen Übergriffe zu schützen und die Benützung des neutralen Staats-gebiets durch Kriegführende zu verhindern" Dauernde Neutralität bedeutet, daß ein Staat bereits im Frieden den Willen bekundet, an sich keinen künftigen Krieg zwischen dritten Staaten zu beteiligen. Zusätzlich zu den „primären" Pflichten der einfachen Neutralität im Kriegsfall ist die dauernde Neutralität mit sogenannten „sekundären“ Pflichten verbunden. Danach hat ein dauernd neutraler Staat bereits im Frieden alles zu tun, um in einem Kriegsfall seine „einfachen" Neutralitätspflichten auch erfüllen zu können, wozu auch gehört, alles zu unterlassen, was dies verhindern oder erschweren könnte. Die völkerrechtliche Ausprägung dieser „sekundären“ Pflichten ist in ihrer heutigen Form maßgeblich durch die Schweiz beeinflußt worden Sie lassen sich zusammenfassen als Aggressionsverbot, als Bündnisverbot, als Verbot, anderen Staaten Stützpunkte einzuräumen, und schließlich als Rüstungspflicht Das Bündnis-und Stützpunktverbot bezieht sich auf die Pflicht eines neutralen Staates zwischen kriegführenden Parteien Unparteilichkeit zu wahren; die Rüstungspflicht bezieht sich auf die Verpflichtung des neutralen Staates im Kriegsfall neutralitätswidrige Übergriffe der kriegführenden Parteien zu verhindern oder ihnen wirksam begegnen zu können, erforderlichenfalls auch die Neutralität gegen einen direkten Angriff zu verteidigen. Diese „Vorwirkungen" werden in der völkerrechtlichen Doktrin der dauernden Neutralität damit begründet, daß erst durch ihre Erfüllung die Neutralität eines Staates Glaubwürdigkeit erlangt: Die Erfüllung der sekundären Pflichten mache die dauernde Neutralität eines Staates zu einer berechenbaren Größe, indem bereits im Frieden die Fähigkeit zur Neutralität im Kriege unter Beweis gestellt wird.Die rechtliche Qualität der Vorwirkungen ist nicht nur in bezug auf einzelne Pflichten, sondern auch generell nicht unumstritten bildet aber für die beiden im rechtlichen Sinne dauernd neutralen Staaten Schweiz und Österreich den zentralen Bezugspunkt für die Definition der praktischen Formen ihrer Neutralitätspolitik. Von besonderer Bedeutung ist angesichts weitreichender Implikationen das Rüstungsgebot, denn es definiert einerseits die dauernde Neutralität als „bewaffnete Neutralität" und begründet (zumindest theoretisch) andererseits eine größere Glaubwürdigkeit der dauernd Neutralen im Vergleich zu Staaten, die eine rechtlich nicht verankerte Neutralitätspolitik bereits in Friedenszeiten verfolgen. Angesichts dieser Differenzierung ist hier festzuhalten, daß der Grundsatz des bewaffneten Schutzes des neutralen/blockfreien Status von allen Staaten vertreten wird. Die unterschiedliche Begründung der bewaffneten Verteidigung hat allerdings erhebliche Auswirkungen auf das Verhältnis zwischen sicherheitspolitischen Aspekten und allgemeinen politischen Gesichtspunkten in der Gestaltung der gesamten Außenpolitik, worauf noch zurückzukommen ist.
Trotz möglicher Einwände gegen die gewohnheitsrechtliche Konstruktion einer solchen Rüstungspflicht des dauernd neutralen Staates, die sie zumindest relativieren, bleibt hier nur festzustellen, daß eine solche Pflicht in der offiziellen Konzeption reklamiert wird. Dieser Zusammenhang ist deshalb bemerkenswert, weil er in beiden Staaten dazu geführt hat, das gesamte Spektrum von Einzelfragen der Verteidigungs-und Rüstungsplanung unter neutralitätsrechtlichen Gesichtspunkten zu erörtern, so daß auch Detailentscheidungen im Bereich verteidigungspolitischer Zweckmäßigkeit durch vorgebliche neutralitätsrechtliche Imperative gerechtfertigt werden Die Methode, verteidigungsund rüstungspolitische Entscheidungen als „Deduktion" aus völkerrechtlich aufgegebenen Verpflichtungen abzuleiten, führt im Effekt dazu, den Spielraum des „freien Ermessens", der in der offiziellen Konzeption der Neutralitätspolitik ausdrücklich genannt ist, in der Praxis der verteidigungspolitischen Diskussion einzuengen. Mit der Transformation militärischer Sicherheitsvorkehrungen in völkerrechtlich aufgegebene Rechtspflichten werden verteidigungspolitische Entscheidungen in weiten Bereichen von der politischen Begründung — und zwar sowohl innenpolitisch als auch außenpolitisch — befreit. Initiativen oder Diskussionen, die auf eine restriktive Verteidigungspolitik abzielen, laufen a priori Gefahr, als bewußte oder unbewußte Versuche zur Unterminierung einer effektiven Neutralitätsschutzpolitik eingeschätzt oder gar angeprangert zu werden Andererseits hat jede expansive Verteidigungspolitik das Neutralitätsargument für sich.
In der Schweiz erscheint die Priorität des Schutzes der Neutralität durch militärische Sicherheitsvorkehrungen nicht (mehr kontrovers, während die österreichische Diskussion angesichts der „jüngeren" Neutralitätstradition des Landes die verteidigungspolitischen Implikationen der dauernden Neutralität intensiv zum Gegenstand politischer Kontroversen erhob. Ihr Inhalt ist auch unter allgemeinen Gesichtspunkten instruktiv für den Zusammenhang von Neutralitätstheorie und verteidigungspolitischer Sachdiskussion und wird deshalb etwas genauer nachgezeichnet. Mit der im Moskauer Memorandum gegebe-nen Absichtserklärung Österreichs, „immerwährend eine Neutralität der Art zu üben, wie sie in der Schweiz gehandhabt wird wird nicht allein der für die Schweiz typische völkerrechtliche Begründungszusammenhang zwischen dauernder Neutralität und Verteidigung übernommen, sondern auch die schweizerische Praxis als „Referenzpunkt". Zwar bleiben grundsätzliche Erörterungen über den erforderlichen Umfang der Landesverteidigung in der Aufbauphase nach 1955 zunächst noch im Hintergrund. Nach deren Abschluß kommt es dann allerdings — zwischen 1970 und 1975 — zu einer umfassenden Diskussion, die im parlamentarischen Rahmen und in der Öffentlichkeit mit erheblicher Schärfe unter Bezug auf neutralitätsrechtliche und -politische Argumente ausgetragen wird Zwischen Regierung (SPÖ) und Opposition (ÖVP) entzündet sich die Diskussion an der Grundsatzfrage, ob einer „guten Außenpolitik" oder einer „effektiven Landesverteidigung" Vorrang zukommt. Während die Regierung die „gute Außenpolitik" in den Vordergrund stellt, weist die Opposition eine Wahlmöglichkeit überhaupt zurück, weil dies — wie unterstellt wird — auf eine Vernachlässigung der Landesverteidigung hinauslaufe, womit die Pflicht des neutralen Staates zur Entwicklung effektiver Verteidigungsmaßnahmen unterlaufen werde Die Diskussion erstreckt sich bis zur These der „unbewaffneten Neutralität", die einerseits im Zusammenhang von Möglichkeiten der „sozialen Verteidigung" theoretisch erörtert wird andererseits auch den Gegenstand eines Vorschlags für ein Volksbegehren mit dem Ziel bildet, die Abschaffung des Bundesheeres zu be-schließen Alle Varianten einer unbewaffneten Neutralität werden mit rechtlichen Argumenten als unvereinbar mit den völkerrechtlichen Erfordernissen der dauernden Neutralität zurückgewiesen, weil damit der Begriff der dauernden Neutralität deformiert werde Die Kontroverse findet auf der konzeptionellen Ebene einen formellen Abschluß durch eine verfassungsrechtliche Novellierung, mit der der Verfassungsauftrag, die immerwährende Neutralität „mit allen [Österreich] zu Gebote stehenden Mitteln aufrechtzuerhalten und zu verteidigen", durch das Bekenntnis zu einer „umfassenden Landesverteidigung" konkretisiert wird, als deren Aufgabe die Aufrechterhaltung und Verteidigung der immerwährenden Neutralität bestimmt wird
Das grundsätzliche Spannungsverhältnis zwischen der „außenpolitischen" und der „verteidigungspolitischen" Orientierung ist damit aber noch nicht aufgehoben. In der gleichzeitig erfolgten Entschließung des Nationalrats über eine „Verteidigungsdoktrin''wird das Kriterium der „zu Gebote stehenden Mittel“ durch die Formel interpretiert, daß das österreichische Volk für die (umfassende) Landesverteidigung „unter Bedachtnahme auf seine Möglichkeiten den erforderlichen Beitrag (leistet) Darin drückt sich ein Kompromiß zwischen den Positionen aus, die in einer vorhergehenden Diskussion über das angemessene Ausmaß von Verteidigungslasten zu Tage traten. Für sie ist charakteristisch, daß der Dissens, der schon die Grundsatzkontroverse bestimmte, auf der operationalen Ebene fortgeführt wird Auf der einen Seite wird — in der Tendenz restriktiv — das Ausmaß notwendiger Verteidigungsanstrengungen mit solchen Formeln wie „alle zur Verfügung stehenden Mittel“, „alle zumutbaren Mittel" (wozu auf den Schweizer Standard verwiesen wird) oder „nach Treu und Glauben zumutbare Mittel" (unter Verweis auf einen internationalen [Mindest-Standard des finanziellen Aufwandes vergleichbarer Staaten) definiert. Auf der anderen Seite werden — von Vertretern einer expansiven Interpretation der neutralitätsrechtlich begründeten Verteidigungspflichten und ihrer Verwirklichung — solche Versuche als „Pervertierung" des Gebots des Neutralitätsschutzes bezeichnet und ihnen die These entgegengesetzt, „zumutbar (ist) das, was in Hinblick auf den denkbaren Bedrohungsfall... zu seiner Begegnung erforderlich ist"
Mit dieser Formel wird das Ausmaß der Verteidigungsanstrengungen so an das Verhalten und die Stärke möglicher Gegner gekoppelt, daß die kontinuierliche quantitative und qualitative Anpassung an deren rüstungstechnologische Entwicklung, soweit sie für eine Bedrohung nur denkbar relevant sein könnte, zur Maxime erhoben wird. Die Fortsetzung dieses Gedankenganges bildet die Übertragung in den Bereich der Rüstungsproduktion des (dauernd) neutralen Staates, der eine „zumutbare“ Industriebasis entwickeln müsse, um die „Neutralitätsschutzphase" zu bewältigen Die Entwicklung der Rüstungsproduktion durch ausreichende technische und personelle Mittel, um eine möglichst weitgehende rüstungspolitische Unabhängigkeit zu gewährleisten, wird bereits früh als „infrastrukturelles Problem" erörtert und auch unter dem Aspekt erforderlich werdender Rüstungsexporttätigkeit betrachtet, die sich neutralitätspolitisch für die allgemeine Außenpolitik als kritischer Bereich darstellt. Ein bestimmtes Maß an Rüstungsexport erscheint unabdingbar, damit die rüstungstechnische Abhängigkeit vom Ausland niedrig gehalten werden kann. Zu einem Zeitpunkt, als sich die Frage praktisch für Österreich noch nicht stellte, wird die Opportunität von Rüstungsexporten auch unter neutralitätspolitischen Gesichtspunkten bejaht, wozu auch schweizerische Auffassungen antizipativ herangezogen werden
Die neutralitätsrechtliche „Vorgabe" verteidigungspolitischer Pflichten fehlt in den Fällen Schwedens, Finnlands und Jugoslawiens. Die Verbindung von sicherheits-und verteidigungspolitischen Positionen mit den außen-politischen Maximen neutraler/blockfreier Politik geschieht hier ausschließlich nach pragmatischen Erwägungen. Schweden und Finnland werden allerdings trotz fehlender formeller Neutralitätsverpflichtung wegen ihrer auf Dauer angelegten Neutralitätspolitik als de facto dauernd neutrale Staaten betrachtet Schwedens Neutralität hat ähnlich lange Traditionen wie die der Schweiz. Beide Länder trafen 1815 in Zusammenhang mit dem Wiener Kongreß neutralitätspolitische Grundsatzentscheidungen, die sie allerdings in unterschiedliche Richtungen führten. Während die Schweiz ihre Neutralität als dauernde Neutralität formalisierte, lehnte Schweden ausdrücklich jegliche völkerrechtliche Formalisierung ab und erklärte allein seine Absicht, solange wie möglich eine Politik der Neutralität zu verfolgen Das Prinzip einer starken Verteidigungsbereitschaft ist seither stets als Voraussetzung glaubwürdiger Neutralität im Kriegsfall Grundsatz der schwedischen Außen-und Sicherheitspolitik gewesen, ohne daß die Notwendigkeit jemals anders'als pragmatisch begründet worden wäre So zeigen sich auch im Ausmaß der Verteidigungsanstrengungen sowohl vor als auch nach 1945 nicht unwesentliche Schwankungen Die Ausrichtung der schwedischen Neutralität wird nach 1945 in Hinblick auf die manifester werdende Spaltung zwischen den beiden Blöcken neu bestimmt, indem Schweden seine Entschlossenheit erklärt, sich unter keinen Umständen in irgendwelche internationalen Gruppierungen oder Blockformatio-nen hineinziehen zu lassen Es beschreibt seine Position selbst als „Blockfreiheit in Friedenszeiten mit dem Ziel der Neutralität im Krieg" Verteidigungsanstrengungen sind ein Teil der Neutralitätspolitik: „Die Verteidigung muß nach Stärke und Gliederung so aufgebaut sein, daß sie keine Schwächen aufweist, die einen möglichen Aggressor verleiten könnten, die Ernsthaftigkeit unserer politischen Absichtserklärungen zu bezweifeln" Es gibt keine ausdrückliche Festlegung, die entweder militärischen Sicherheitsvorkehrungen oder spezifischen Formen des außenpolitischen Verhaltens a priori Vorrang einräumte. Langfristige Einschränkungen im Verteidigungsprogramm, die Anfang der siebziger Jahre aufgrund positiver Einschätzungen der Entwicklung der internationalen Lage vorgenommen wurden, unterstreichen allerdings das Prinzip der Unabhängigkeit Außen-und verteidigungspolitische Maximen sind unmittelbar Ausdruck der beanspruchten außenpolitischen Ungebundenheit und Handlungsfreiheit, ohne die „Vermittlung“ eines internationale Verbindlichkeit fordernden Rechtsverhältnisses. So begründete 1964 der damalige Außenminister den Verzicht auf eine Formalisierung der Neutralität erneut ausdrücklich damit, daß sie keine Vorteile bringe, denn die alleinige Grundlage der allgemeinen Anerkennung des schwedischen Verhaltens könne nur die politische Substanz seiner Außenpolitik sein
Im Falle Finnlands findet sich ein erster Hinweis auf die Absicht, eine Neutralitätspolitik zu betreiben und Neutralität zu bewahren, bereits in der Präambel des finnisch-sowjetischen Vertrages über Freundschaft, Zusammenarbeit und Beistand von 1948, in der der finnische Wunsch ausgedrückt ist, „außerhalb der Konflikte der Großmächte zu bleiben“ Diese Position wird mit Beginn der sechziger Jahre auch in offiziellen Stellungnahmen deutlich formuliert: „Wir streben danach, Finnland in Zeiten des Friedens aus den Streitigkeiten der Großmächte herauszuhalten und im Falle einer bewaffneten Auseinandersetzung zwischen ihnen Finnlands Neutralität aufrechtzuerhalten" Der finnisch-sowjetische Vertrag war und ist noch immer Anlaß, Qualität und Spielraum der finnischen Neutralität zumindest potentiell in Zweifel zu ziehen. Demgegenüber ist allerdings festzuhalten, daß die darin festgelegten Verteidigungspflichten sich voll im Rahmen der Pflichten eines neutralen Staates gegenüber kriegführenden Parteien bewegen und daß die Feststellung des Falles, der Finnland auf der Grundlage des Vertrages zu Konsultationen verpflichtet (insbesondere in Hinblick auf einen vorgesehenen sowjetischen Beistand oder ein gemeinsames finnisch-sowjetisches Handeln), von einer vorhergehenden Verständigung abhängig ist. Dabei hat Finnland in der Vergangenheit verschiedentlich klargestellt, daß die finnische Entscheidungsfreiheit, ob eine bestimmte Situation Konsultationen beider Länder erfordert, nicht eingeschränkt ist, was von der Sowjetunion auch akzeptiert wurde Ein sowjetischer Kommentar spricht denn auch davon, daß der finnisch-sowjetische Vertrag ein Instrument ist, das. die Neutralität garantiert, und keineswegs ein Beistandsvertrag im eigentlichen Sinne des Wortes Die finnische Neutralitätspolitik wird zudem noch dadurch untermauert, daß sich das Land — allerdings ohne formelle Verbindlichkeit nach außen — darauf festgelegt hat, bestimmte Regeln des V. Haager Abkommens im Kriegsfall anzuwenden. Die Pflicht zur Verteidigung zu Lande, zur See und in der Luft ist zwar vertragsrechtlich in spezifischer Weise bestimmt, doch nur allgemein mit der Formel, daß „alle verfügbaren Kräfte einzusetzen sind". In der Konzeption der finnischen Neutralitätspolitik spielt jedoch die Frage, ob einem der beiden Elemente Verteidigungspolitik oder Außenpolitik a priori Vorrang zukommt, keine dominierende Rolle. Die Praxis der finnischen Neutralitätspolitik hat sich gegen vorherrschende internationale Tendenzen wesentlich daran orientiert, durch eine aktive Außenpolitik Vertrauen zu schaffen und dadurch die finnische Position nach allen Seiten hin zu festigen. Demgegenüber tritt die militärisch bestimmte . Abschreckungskomponente" in den Hintergrund, ohne daß aber das Prinzip bewaffneter Neutralität dadurch in Frage gestellt wäre In diesem Verhältnis von Außenpolitik und Verteidigung spiegeln sich weniger konzeptionelle Grundfragen, sondern in erster Linie die materiellen Möglichkeiten des Landes wider.
Im spezifischen Falle Jugoslawiens ist der Zusammenhang zwischen außenpolitischen Grundsätzen und sicherheits-/verteidigungspolitischer Konzeption am wenigsten ausgeprägt. Bei der jugoslawischen Blockfreiheit ist zweckmäßigerweise zwischen dem Status der Blockfreiheitund der Politik der Blockfreiheit zu unterscheiden. Der blockfreie Status verbindet sich mit der im Konflikt mit der Sowjetunion getroffenen Entscheidung Jugosla-Wiens,seine politische Entwicklung keinen Einflußnahmen durch die Supermächte auszusetzen, und deshalb jegliche Bindung und Abhängigkeit zu meiden, die seine Unabhängigkeit und Souveränität einschränken könnten. Dies bedeutet in der damals (1948) gegebenen Konstellation, allen formellen Bindungen an die Allianzen und politischen Zusammenschlüsse der beiden Blocksysteme im Ost-West-Verhältnis fern zu bleiben
Anders als Neutralität ist Blockfreiheit in keiner Weise völkerrechtlich begründet — und so auch nicht mit spezifischen völkerrechtlichen Rechten und Pflichten verbunden Jugoslawien hat seine Unabhängigkeit in dem latent stets — und verschiedentlich auch offen zu Tage getreten — konfliktreichen Verhältnis mit der Sowjetunion immer bedroht gesehen Die Politik der Blockfreiheit stellt den Versuch Jugoslawiens dar, angesichts der auf dem europäischen Feld gegebenen Grenzen seines außenpolitischen Handelns seine Auffassungen zur „Demokratisierung der internationalen Beziehungen“ über Europa hinaus zu „internationalisieren". Die jugoslawischen Initiativen bildeten seit Anfang der sechziger Jahre einen der Ausgangspunkte der Blockfreien Bewegung Aus der Füh-rungsrolle und dem Einfluß Jugoslawiens innerhalb der Bewegung leitete sich eine Reputation ab, die seinen unabhängigen Status zwischen den Blöcken in Europa mittelbar absicherte militärische Sicherheitsvorkehrungen gegen die Bedrohung und mögliche Angriffe seiner Unabhängigkeit aber nie ersetzen konnte Die blockfreie Position beinhaltet keinen international verbindlich anerkannten Status, aus dem eine (aktuelle oder potentielle) Schutzwirkung folgt, die der dauernden Neutralität vergleichbar wäre. Die bedeutet für Jugoslawien -Blockfreiheit in er ster Linie die außenpolitische Umsetzung und „Verlängerung" innenpolitischer Grundsätze, um den Freiraum für'eine bestimmte Form innergesellschaftlicher Entwicklung zu schaffen. Entsprechend ist sie selbst auch in dem Maße direkt bedroht, wie die politisch-gesellschaftliche Ordnung des Landes von außen in Frage gestellt wird. Die Verteidigungspolitik hat deshalb eine unmittelbarere und aktuellere Bedeutung und ist in ihrer Konzeption mehr durch die Grundsätze dieser Ordnung als durch Imperative allgemeinen außenpolitischen Verhaltens bestimmt 2. Neutrale/Blockfreie Verteidigungspolitik: Vergleiche Nachdem bisher die Unterschiede der formalen Bestimmung der Neutralität/Blockfreiheit und — in diesem Zusammenhang eingeordnet — der konzeptionellen Bestimmung ihres Schutzes und ihrer Verteidigung im Vordergrund standen, soll im Anschluß daran die Umsetzung in die verteidigungspolitische Praxis näher betrachtet werden. Figur 1 verzeichnet für jeden der fünf Staaten ein verteidigungspolitischesProfil, das elf Faktoren zusammenfaßt, die wichtige Größen für die Verteidigungspolitik der neutralen/blockfreien Staaten sind. Zwei politische Randbedingun-gen sind die bisher schon betrachtete Stellung der Außenpolitik^ 1) im Verhältnis zur Verteidigungspolitik sowie unter dem Aspekt eines mehr „aktiven" oder „restriktiven" internationalen Engagements und die Integration der Verteidigungspolitik (F 2) in die neutrale/blockfreie Konzeption. Die folgenden drei Merkmale charakterisieren die organisatorische Umsetzung der Verteidigungskonzeption/-doktrin und bilden den militärischen Kern des Profils: Das Merkmal der Streitkräfteorganisation (F 3) bezieht sich auf die Gliederung und personelle Struktur unter dem Gesichtspunkt, ob sie traditionellen Formen folgt oder mehr zu einer Zweiteilung mit Elementen einer Milizstruktur tendiert: das Merkmal Kampfformen (F 4) bezieht sich darauf, ob in der Verteidigungsdoktrin konventionelle militärische Techniken im Vordergrund stehen oder auch (eventuell sogar überwiegend) nicht-konventionelle Formen des Kampfes vertreten sind; das Merkmal Grad der Technisierung (F 5) bezieht sich auf den rüstungstechnologischen Standard. Der Umfang der Verteidigungsaufwendungen wird alternativ nach den Aufwendungen per capita (F 6) und nach dem Anteil am BSP (F 7) berücksichtigt. Der Anteil inländischer Rüstungsproduktion (F 8) an der Deckung des Rüstungsbedarfs und die relative Bedeutung als Rüstungsexportland (F 9) sind Indikatoren für die rüstungstechnische Eigenständigkeit.
Das Bruttosozialprodukt p. c. (F 10) und die Technologiebilanz (Fil) sind Indikatoren der allgemeinen wirtschaftlichen Entwicklung bzw. wirtschaftlich-technologischer Leistungsfähigkeit und beschreiben wesentliche ökonomische Randbedingungen.
Die einzelnen Staaten sind in bezug auf jeden Faktor in der Rangfolge geordnet, die sich aus der Ausprägung des jeweiligen Faktors für den Staat im Vergleich zu den anderen Staaten ergibt. Der Verlauf der einzelnen Profile zeigt die bestimmenden Charakteristika der verteidigungspolitischen Orientierung der einzelnen Staaten; in ihrer Gesamtheit weisen die Profile die Bandbreite und Differenzierungen neutraler/blockfreier Verteidigungspolitik in verschiedenen Bereichen auf. In der Interpretation sind besonders zwei Gesichtspunkte wesentlich: Entsprechungen in den Rangordnungen über alle oder zumindest mehrere Faktoren geben Hinweise auf Zusammenhänge zwischen einzelnen Faktoren. Profile, die in den Ausprägungen der einzelnen Faktoren beieinander liegen und zu anderen gemeinsam einen größeren Abstand aufweisen, deuten auf Gruppen von Staaten hin, die sich durch spezifische Orientierungen insgesamt oder in einzelnen Bereichen voneinander unterscheiden. Allerdings sagt die einfache Rangordnung über quantitative oder qualitative . Abstände“ noch nichts aus; dazu müssen ergänzend die Daten herangezogen werden, die für die Faktoren (F 6) bis (F 11) in Tabelle 1 zusammengestellt sind.
Die Interpretation der verteidigungspolitischen Profile und daraus sich ergebende Folgerungen lassen sich wie folgt zusammenfassen (vgl. Figur 2): Betrachten wir zunächst allein die neutralen Staaten, so zeigt sich im Bereich der verteidigungspolitischen Praxis (F 3—F 9) eine weitgehend konsistente Struktur, die sich in zwei Teilgruppen Schweden/Schweiz und Finnland/Osterreich gliedert.
Die Gruppe Schweden/Schweiz zeichnet sich durch vergleichsweise traditionelle Streitkräfteorganisation (mit Einschränkungen aufgrund des schweizerischen Milizsystems), konventionelle Kampfformen und hohen Technisierungsgrad sowie hohe Verteidigungsausgaben, einen hohen Anteil inländischer Rüstungsproduktion und eine erhebliche Rüstungsexporttätigkeit aus. Die zweite Gruppe Finnland/Österreich ist demgegen-über gekennzeichnet durch eine differenzierte Streitkräftegliederung (weniger ausgeprägt in Finnland) mit einer Teilung in reguläre Armee und einer nach dem Territorial-prinzip organisierten Milizarmee, im Falle Österreichs auch besonders ausgeprägt eine Verteidigungsdoktrin mit nicht-konventionellen Kampfformen, sowie einen vergleichsweise geringen Grad der Technisierung, niedrige Verteidigungsaufwendungen, geringe inländischer Rüstungsproduktion und Rüstungsexporttätigkeit.
Das Profil Jugoslawiens kompliziert dieses Bild in einigen Teilen. Im Bereich des militärischen Kerns chiebt sich das jugoslawische Profil in die Gruppe Österreich/Finnland. Dabei sind bestimmte Gemeinsamkeiten zwischen Österreich und Jugoslawien hinsichtlich der geteilten Organisation der Streitkräfte, der Kampfformen und der damit verfolgten Ziele festzustellen, wobei das jugoslawische System mit der Teilung in reguläre Armee und breitgefächerter Territorialverteidigung, sowie nicht-konventionellen Kampfformen bis hin zum Partisanenkampf am weitesten geht. Bei den Verteidigungsaufwendungen nimmt Jugoslawien eine Mittelposition (mit Ausgaben p. c} oder sogar eine Spitzenposition (bei Verteidigungsausgaben in Prozent des BSP) ein. Bei Rüstungsproduktion und -export liegt es auf dem dritten Rang, absolut aber in der Nähe der Schweiz. Figur 2 zeigt die Veränderung der zunächst eindeutigen „neutralen Gruppierungen" durch das Hinzutreten Jugoslawiens, wobei dessen „aufsteigende Position" deutlich hervortritt.
Die Differenzierungen, die sich in dieser Struktur zeigen, stehen allerdings in erheblicher Diskrepanz zu den rechtlich und/oder politisch begründeten verteidigungspolitischen Positionen und der Einordnung der Verteidigungspolitik in den Gesamtzusammenhang der Außenpolitik. Dazu ergeben sich mehrere widersprüchliche Beobachtungen. Bei Österreich und Schweden, die beide zumindest tendenziell dazu neigen, in einer „guten" bzw. „aktiven" Außenpolitik auch eine Sicherheitsfunktion zu sehen, wäre gleichermaßen eine gewisse Relativierung des Verteidigungsaspektes im Sinne einer „verteidigungspolitischen Moderation" zu erwarten. Dies ist jedoch gerade nicht der Fall. Beide Staaten stehen sich in dieser Hinsicht diametral gegenüber. Entsprechendes gilt für die Schweiz und Österreich, die mit der neutralitätsrechtlichen Begründung der Verteidigungspolitik eine fast identische Position einnehmen, in der Praxis der Verteidigungspolitik aber vollkommen auseinanderfallen. Ganz im Gegensatz zu der allgemeinen passiv-restriktiven außenpolitischen Grundorientierung der Schweiz findet sich in Österreich eine weitaus flexiblere außenpolitische Einstellung. Ein Anzeichen dafür sind Überlegungen, in welcher Form das Land seine neutrale Ungebundenheit in eine beispielgebende Position im Nord-Süd-Konflikt umsetzen und in eine entsprechende politische Rolle ausbauen könnte Bei aller konzeptionellen Unterschiedlichkeit im neutralen Status liegen Schweden und die Schweiz gleichviel sehr nahe beieinander, während die Schweiz und Jugoslawien eine ähnliche Stellung bei der Erfüllung des Imperativs rüstungstechnischer Eigenständigkeit einnehmen. Auffällig ist auch die Diskrepanz zwischen dem „starken" verteidigungspolitischen Profil Schwedens und der außenpolitischen Definition seiner bündnisfreien Politik als Voraussetzung einer Neutralität im Kriegsfall. Dies hat zu der Feststellung Anlaß gegeben, das Verhältnis beider Bereiche sei nicht ohne Schizophrenie; die Außen-und Verteidigungspolitik werde ihren jeweiligen Maximen entsprechend isoliert betrieben, es fehle jedoch an einer politischen Bestimmung ihres Zusammenhanges und entsprechender wechselseitiger Abstimmung
All dies bestätigt die Vermutung, daß die entscheidenden Bestimmungsgründe neutraler Sicherheitspolitik nicht in neutralitätspolitischen Konzeptionen zu suchen sind. Aus dem Vergleich der verteidigungspolitischen Profile ergibt sich eine durchgängig bessere Erklärung durch die ökonomischen Randbedingungen. Die allgemeine wirtschaftliche Leistungskraft steht nicht nur in einem engen Zusammenhang mit den Verteidigungsaufwendungen, sondern auch mit den Merkmalen des militärischen Kerns des verteidigungspolitischen Profils. Parallel dazu können Erklärungen für Orientierungen in der Verteidigungskonzeption und der Organisation der Streitkräfte auch in historisch-politischen Entwicklungen und Traditionen gesucht werden. Beide Möglichkeiten bewegen sich aber durchaus in eine gleiche Richtung. Die beiden unter historisch-politischen Gesichtspunkten traditionsreichsten Neutralen, Schweiz und Schweden, sind zugleich diejenigen, deren wirtschaftliche Leistungskraft quantitativ und qualitativ am höchsten entwickelt ist und die sich in ihrer Verteidigungskonzeption und -Organisation am nächsten stehen. Auch der Zusammenhang zwischen wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit und rüstungstechnischer Unabhängigkeit deutet allgemein auf die Wirksamkeit materiell gegebener Möglichkeiten und Grenzen, was durch die spezifische wirtschaftlich technologische Leistungsfähigkeit noch weiter unterstrichen wird. Angesichts dieser engen Beziehungen erscheint die Realität von Postulaten, die neutralitätspolitisch abgeleitet werden, recht gering.
Zusammenfassend ergeben sich zwei Folgerungen: Bei den neutralen/blockfreien Staaten tendieren diejenigen mit weniger restriktiven ökonomischen Randbedingungen dazu, traditionelle militärische Organisationsformen und Verteidigungsstrategien beizubehalten und unter Einsatz rüstungstechnologischer Fortschritte quantitativ auszubauen. Umgekehrt tendieren die Staaten mit geringerer ökonomischer Leistungskraft und entsprechend niedrigeren Aufwendungen für die Verteidigung dazu, in den militärischen Organisations-und Kampfformen von traditionellen Mustern abzuweichen und materielle Restriktionen als Ausgangspunkt für verteidigungspolitische Innovationen zu nehmen. Diesem Zusammenhang entspricht besonders die Entwicklung in Österreich, während ähnliche Denkansätze in Schweden sich nicht durchsetzen konnten.
III. Folgerungen
Abbildung 3
Figur 2: Alternative Gruppierungen neutraler/blockfreier Staaten nach verteidigungspolitischer Praxis
Figur 2: Alternative Gruppierungen neutraler/blockfreier Staaten nach verteidigungspolitischer Praxis
Das Bild neutraler/blockfreier Politik, das sich aus den vorhergehenden Beobachtungen ergibt, zeigt eine Vielfalt von Erscheinungsformen. Die Ergebnisse geben auf die Frage, ob Neutralität oder neutrale Politik eine politische Option darstellt, die insbesondere für die Bundesrepublik einer Integration in die westliche Allianz vorzuziehen ist, keine direkten oder endgültigen Antworten, doch lassen sich einige Hinweise ableiten, die für die aktuellen Diskussionen nicht unwichtig erscheinen und zumindest bei begrifflichen Klärungen und einigen Ausgangsfragen nicht übergangen werden sollten.
Im Gegeneinander der Argumente muß an erster Stelle festgehalten werden, daß es die neutrale sicherheitspolitische Alternative nicht gibt. Wann immer von einer Übertragbarkeit von Neutralität die Rede ist, muß hervorgehoben werden, daß neutrale Politik über einen allgemeinen Kernbestand hinaus ein äußerst differenziertes Spektrum von Erscheinungsformen aufweist. Jeder der neutralen/blockfreien Staaten ist in verschiedene und unterschiedliche Bezugsfelder gestellt, an der sich die Praxis der neutralen Politik orientiert. Im Bereich der Sicherheits-und Verteidigungspolitik definiert der Ost-West-Konflikt zwar die sicherheitspolitische Situtation der neutralen und blockfreien Staaten in ähnlichen Grundformen, und allgemeine Grundsätze neutraler/blockfreier Politik setzen einige Richtwerte, die allen gemeinsam sind. Spezifische Akzente werden dann aber nacheinander von der Tradition der neutralen/blockfreien Staaten und weiter durch Randbedingungen innenpolitischer (wirtschaftlicher) und außenpolitischer (Abhängigkeit auf rüstungstechnischem Gebiet, Rüstungsexport) Art gesetzt, die zu einer bemerkenswerten Bandbreite in der Praxis neutraler/blockfreier Politik führen.
Einige konkretere Folgerungen ergeben sich für etliche Gesichtspunkte, die im Mittelpunkt kontroverser Diskussion stehen. Neutrale Sicherheitspolitik ist nicht notwendigerweise ein Instrument, dessen Übernahme eine „billigere" Sicherheits-und Verteidigungspolitik nach sich zieht. Abgesehen davon, daß die Heterogenität der neutralen Praxis es verbietet, von einem „Modell" zu sprechen, ist kein einheitlicher neutraler Standard erkennbar, der unter Kostengesichtspunkten eine solche Annahme rechtfertigte. Gemessen an dem Anteil der Verteidigungsausgaben am BSP (Tabelle 1) zeigt sich innerhalb der Gruppe der neutralen/blockfreien Staaten eine erhebliche Spannweite, wobei anzumerken ist, daß sich die absolute Größe der Ausgaben seither verändert hat, die Anteilsrelationen aber fast identisch geblieben sind. Der Vergleich mit Verteidigungsaufwendungen von Staaten des westlichen Bündnisses zeigt, daß die Verteidigungsausgaben der Schweiz etwa denen Dänemarks entsprechen. Die Bundesrepublik, mit einem Anteil der Verteidigungsaufwendungen von 3, 5 Prozent steht auf einer Stufe mit Schweden (das unter den Neutralen die Spitzenstellung einnimmt). Von anderen Staaten des westlichen Bündnisses haben in Europa Belgien und Norwegen Verteidigungsausgaben in ähnlicher Größenordnung. Allein Österreich und Finnland haben niedrigere Aufwendungen als Staaten des westlichen Bündnisses (Ausnahme: Luxemburg) Wichtiger als dieser rein zahlenmäßige Vergleich ist die erkennbare Tendenz, daß auch bei den neutralen Staaten mit zunehmendem ökonomischen Potential in den rüstungstechnischen Grundlagen der Verteidigung Kräfte einer Rüstungsdynamik deutlich werden, die sich angesichts der ähnlichen sicherheitspolitischen Grundkonstellation aller Staaten der neutralen Gruppe nicht allein aus einem „Anpassungsdruck" an die Rüstungsdynamik zwischen den Blöcken erklären lassen. Innovative Ansätze in der Verteidigungskonzeption und -Strategie, die mit restriktivem Rüstungsverhalten einhergehen, erscheinen demgegenüber weniger durch neutralitätspolitische Erwägungen bestimmt, als durch geographische, ökonomische und technologische Randbedingungen. Ob solche Formen wie die in Österreich entwickelte Verteidigungskonzeption (Spannocchi), die in der Bundesrepublik von Afheldt mit dem Konzept von Technokommandos rezipiert wurde allgemein übertragbar sind, erscheint daher nicht in erster Linie als Problem neutraler Politik, wenn, wie sich gezeigt hat, ein genereller Zusammenhang zwischen neutraler Politik und bestimmten Formen der Verteidigung nicht anzutreffen ist. Ein anderes Problem betrifft die Verbindung von Neutralität mit anderen sicherheitspolitischen Konzeptionen wie Disengagement und atomwaffenfreien Zonen. Auch neutrale Staaten haben — zum Teil sogar mit der Frage, ob eine neutrale Verpflichtung dazu bestünde — Probleme der nuklearen Verteidigung eingehend behandelt. Neutrale Verteidigungspolitik und nukleare Bewaffnung sind nicht unvereinbar; die Entscheidungen gegen eine nukleare Verteidigung folgten denn auch Erwägungen der Zweckmäßigkeit Das Beispiel von Staaten des westlichen Bündnisses, Dänemark und Norwegen, macht deutlich, daß die Festlegung auf eine nicht-nukleare Verteidigung auch innerhalb des Bündnisses nicht ausgeschlossen ist
Gegenüber diesen Feststellungen ist es andererseits allerdings auch notwendig festzuhalten, daß die von Vertretern der etablierten sicherheitspolitischen Doktrin in ihrer „Gegenkritik“ stets pauschal vorgenommene Abqualifizierung neutraler Alternativen als „Neutralismus“ alles andere als sachgemäß ist Vollends irrig ist es, wenn nicht nur jede Kritik an den bestehenden sicherheitspolitischen Konzeptionen des Bündnisses als Neutralismus bezeichnet, sondern zugleich auch mit Pazifismus gleichgesetzt wird. Das tatsächlich existierende differenzierte Spektrum der sicherheitspolitischen Orientierungen der neutralen/blockfreien Staaten auf der Grundlage des Konzepts der bewaffneten Neutralität widerspricht dem.
Die Breite des Spektrums, mit dem neutrale Politik auftritt, entzieht sich der Konturierung zu einem kopierfähigen Modell. Die weithin anzutreffende empirische Irrelevanz in der Diskussion um und über Neutralität weist aber auch auf den Ansatzpunkt hin, von dem aus neutrale Politik diskussionswürdig ist und bleibt. Neutralität hat ihren politischen Ursprung in dem Bemühen, sich von internationalen Verwicklungen und Abhängigkeiten fern zu halten, die die Gefahr der Einbeziehung in gefährliche Konflikte und kriegerische Auseinandersetzungen beinhalten. Dieser grundlegende Aspekt neutraler Politik hat im Zusammenhang aktueller Kontroversen größere Bedeutung als viele tradierte Formen klassischer neutraler Politik. Sie sind heute bereits in der Praxis neutraler Politik durch vielschichtige außenpolitische und außenwirtschaftliche Verflechtungen wenn nicht aufgehoben, so doch relativiert und durch formale Konstruktionen mühsam überdeckt. Klassische neutrale Politik ist heute de facto im vollen theoretischen Umfang ihres Begriffes kaum noch möglich. Sie stellt sich demgegenüber vielmehr zunehmend als aktive und blockungebundeneAußenpolitik dar. Hier liegt der Berührungspunkt der Diskussion über (positiv) neutrale Politik oder (negativ) neutralistische Tendenzen mit der außenpolitischen Praxis der neutralen Staaten. Im Kern geht es um die Frage, inwieweit allianzgebundene Staaten in Teilbereichen in außenpolitischen Kategorien „denken" und außenpolitische Ziele verfolgen können, die nicht allein durch die Logik der Blocksysteme bestimmt, sondern blockübergreifend und in der Tendenz blocküberwindend orientiert sind.
Annemarie Große-Jütte, Dipl. rer. soc., geb. 1948; Studium der Sozialwissenschaft und Slavistik an der Ruhr-Universität Bochum; Studien-und Arbeitsaufenthalte in Osteuropa und Jugoslawien; 1973— 1980 Wissenschaftliche Referentin im Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg; seitdem freie wissenschaftliche Tätigkeit. Veröffentlichungen u. a.: From Hierarchial to Egalitarian International Decision Structures: Non-Aligned Policy in the United Nations System, in: R. Jütte/A. Große-Jütte (eds.), The Future of International Organization, London-New York 1981; (zusammen mit R. Jütte), Die außenpolitischen Beziehungen zwischen Jugoslawien und den USA 1968— 1978, in: K. D. Grothusen u. a. (Hrsg.), Jugoslawien am Ende der Ära Tito, Bd. 1, München-Wien 1983; zusammen mit R. Jütte (Hrsg.), Entspannung ohne Frieden. Versäumnisse europäischer Politik, Frankfurt/M. 1977; zusammen mit R. Jütte (eds.), Europe: From Detente to Peace?, Glasgow 1977; zusammen mit D. S. Lutz (Hrsg.), Neutralität — eine Alternative?, Baden-Baden 1982. Rüdiger Jütte, Dipl. -Pol., geb 1944; Studium der Politischen Wissenschaft und Rechtswissenschaft an der Freien Universität Berlin und der University of Pennsylvania/USA; Mitarbeit bei UNITAR/New York; 1972— 1980 Wissenschaftlicher Referent im Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg; Lehrtätigkeit am Inter-University-Center for Post-Graduate Studies, Dubrovnik; seit 1981 in der Internationalen Abteilung der Westdeutschen Rektorenkonferenz, Bonn. Veröffentlichungen u. a.: Conflict Structures and Modes of Conflict Management in the United Nations: From East-West to North-South Conflict und The UN in International Conflicts 1946— 1976: A Note on Relevance, Effectivity and Prospects, in: R. Jütte/A. Große-Jütte (eds.), The Future of International Organization, London-New York 1981; Abrüstung und Blockfreiheit, in: Internationale Entwicklung, 2/1981.
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