Trotz aller Enttäuschungen in Ost und West hat sich der KSZE-Prozeß bisher als einer der krisenstabilsten Faktoren der gesamteuropäischen Beziehungen erwiesen. Die KSZE war die erste gesamteuropäische Konferenz, auf der alle Staaten gleichberechtigt in einen Dialog über die Gestaltung der gemeinsamen Zukunft auf diesem Kontinent eintreten konnten. Dabei übernahmen die neutralen Staaten erfolgreich die Rolle, zwischen den Blöcken zu vermitteln. Im Laufe der vergangenen anderthalb Jahrzehnte entwickelte sich durch das System der aufeinander abgestimmten Expertenkonferenzen und Folgetreffen eine Eigendynamik der gesamteuropäischen Konferenzdiplomatie, die als »KSZE-Prozeß“ bezeichnet wird. Dieser ist von Anfang an durch eine thematische Breite seiner Verhandlungsgegenstände (KSZE-Körbe") gekennzeichnet. Die Verknüpfung der verschiedenen Themen durch „package deals" ist ein wesentliches Element für Verhandlungsfortschritte. Bei der Umsetzung der Menschenrechte wird es Fortschritte wahrscheinlich am ehesten geben, wenn ihre globale Gültigkeit nicht mehr infrage gestellt wird und jedes Land sich nach seinen Möglichkeiten bemüht, die Menschenrechte „vorbildhaft" zu verwirklichen. Die Vereinbarungen über militärische Vertrauensbildende Maßnahmen wurden eher schlecht als recht eingehalten. Die Bemühungen der Stockholmer KVAE um einen ausgefeilteren Maßnahmekatalog werden den Vertrauensbildungsprozeß kaum voranbringen. Es wäre von Nutzen, wenn sich die Staaten, die zu Maßnahmen bereit sind, die andere Staaten noch nicht mittragen können, auf dem Wege der verbindlichen Selbstverpflichtung dazu bereitfänden, diese Maßnahmen auch zu praktizieren. Im Bereich der wirtschaftlichen Beziehungen führten die KSZE-Beschlüsse nicht zu einer Ausweitung des Handels zwischen West und Ost, jedoch zu einer Verbesserung seiner Bedingungen. In den humanitären Beziehungen gibt es strukturelle Unterschiede zwischen den Möglichkeiten der westlichen und der östlichen Seite, die nicht primär durch eine Ausweitung und Präzisierung vorhandener Vereinbarungen gelöst werden können. Mindestens ebenso wichtig ist die gesellschaftliche Verankerung der Entspannungspolitik durch eine intensivierte Verständigungs-, Kontakt-und Kooperationsbereitschaft unterhalb der staatlichen Ebene.
I. Die Bedeutung des KSZE-Prozesses im Rahmen der Ost-West-Beziehungen
Am 1. August 1985 jährte sich zum zehnten Male der Tag, an dem in Helsinki die Staats-und Regierungschefs aller europäischen Länder (mit Ausnahme Albaniens) sowie Kanadas und der USA die Schlußakte der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) unterzeichneten. Am Jahrestag trafen die Außenminister dieser Staaten am gleichen Ort zu einer Konferenz zusammen, um den „Geist von Helsinki“ zu beschwören und die Wichtigkeit des KSZE-Prozesses erneut zu unterstreichen.
Die Frage, welche Bedeutung die KSZE und ihre Folgekonferenzen für die Regelung der Ost-West-Beziehungen haben, ist heute nicht weniger aktuell als vor zehn Jahren. 1985 wie 1975 ist die öffentliche Einschätzung der KSZE im Westen durch Skepsis und Desinteresse geprägt Allerdings haben sich einige Ursachen dieser zurückhaltenden bis mißtrauischen Beurteilung gewandelt. So warnte die konservative Kritik in den frühen siebziger Jahren vor allem deshalb vor der KSZE, weil sie darin ein propagandistisch-taktisches Instrumentarium der Sowjetunion zur Absicherung ihrer Vorherrschaft in Osteuropa erblickte, und ein Teil der linken Kritik sah die Gefahr einer . Unheiligen Allianz'heraufziehen, mit gesellschaftspolitische Reformen auf beiden Seiten blockiert werden könnten Solche Kritikpunkte sind mittlerweile nicht mehr zu vernehmen. Im Gegenteil: Manchen erscheint die Schlußakte der KSZE geradezu als ein Dokument, das innergesellschaftlichen Wandel (zumindest in Osteuropa) unmittelbar herausfordert Statt dessen gelten die Vorbehalte heute eher der zu geringen Verbindlichkeit der KSZE-Beschlüsse sowie der Zähigkeit, Mühsal und Komplexität eines für Normalbürger kaum überschaubaren diplomatischen Gerangels auf den Folgekonferenzen. So diffus das KSZE-Image ist, so schwierig ist es auch, die Frage nach der Bedeutung dieser Konferenz und ihrer Folgewirkungen im Rahmen der Ost-West-Beziehungen präzise zu beantworten. Dies liegt zweifellos an der Tatsache, daß es sich beim Ost-West-Konflikt um eine Vielzahl von Einzelkonflikten zwischen Gesellschaftsordnungen, Staaten und Staaten-gruppierungen sowie um Auseinandersetzungen auf diversen Ebenen — politischen, ideologischen, militärischen, wirtschaftlichen und kulturellen — handelt Die Frage nach der Relevanz der KSZE muß deshalb ebenfalls nach den verschiedenen Konfliktfeldern und Beziehungsebenen zwischen Ost und West differenziert werden. Einen Ansatzpunkt für eine derartige Aufschlüsselung bietet die KSZE selbst mit ihren vier Verhandlungs„Körben" über:
I. „Fragen der Sicherheit in Europa";
II. „Zusammenarbeit in den Bereichen der Wirtschaft, der Wissenschaft und der Technik sowie der Umwelt";
III. „Zusammenarbeit in humanitären und anderen Bereichen";
IV. „Folgen der Konferenz"
Zunächst sollen die wichtigsten institutionellen und prozeduralen Merkmale der KSZE skizziert werden. Ihre Analyse ermöglicht eine erste Antwort auf die Frage, welche Rolle die KSZE überhaupt als Regelungsinstrument der Ost-West-Beziehungen spielen kann. Darauf aufbauend wird dann versucht, die Wirkungsweise des KSZE-Prozesses seit den ersten Verhandlungen im Jahr 1972 zu umreißen. Dabei geht es weniger um eine historische Untersuchung der letzten anderthalb Jahrzehnte, sondern vielmehr um den Nachweis der mehr oder weniger offenen und verdeckten Funktionen der KSZE-Diplomatie 1. Die KSZE als Instrument blockübergreifender Konferenzdiplomatie Der „blockübergreifende Multilateralismus“, gekennzeichnet durch die gleichberechtigte Teilnahme von 35 souveränen westlichen, östlichen und neutralen bzw. nichtblockgebundenen Staaten einschließlich des Heiligen Stuhles und die Beschlußfassung nach dem Konsensprinzip, stellt ein innovatives Moment in der Entspannungspolitik dar. Im Gegensatz zu direkten Verhandlungen zwischen den Supermächten bzw.den Bündnisorganisationen bietet diese Interaktionsweise insbesondere den kleineren Staaten eine Mitwirkungsmöglichkeit, was natürlich nicht ausschließt, daß bei insgesamt verschlechterten Rahmenbedingungen auf der Ebene der Supermächte auch der Spielraum der Klein-und Mittelstaaten geringer wird. Insgesamt hat sich ihr Einfluß auf das Ost-West-Geschehen jedoch erhöht Gute Beispiele dafür sind die im Rahmen der Europäischen politischen Zusammenarbeit (EPZ) koordinierte KSZE-Politik der EG-Staaten und die Brückenfunktion der neutralen und nicht gebundenen (N + N-) Staaten, insbesondere in kritischen Phasen der Belgrader und Madrider Folge-konferenzen. Ein zweites der KSZE-Diplomatie Element ist ihr prozeßorientierter Charakter. Im Unterschied zu den traditionellen Formen multilateraler Ost-West-Verhandlungen dienen die Schlußdokumente nämlich nicht nur der Kodifizierung einer einmal erreichten Beschlußlage; sie sind zugleich der Ausgangspunkt für die nächste Konferenz Dieser Aspekt, der in Madrid ausdrücklich festgeschrieben wurde, bedeutet, daß der Wert des KSZE-Prozesses sich nur zu einem Teil an der Substanz der bisher produzierten Schlußdokumente ermessen läßt Ebenso bedeutsam sind die Spielregeln, die den Verhandlungsprozeß vorantreiben, und die Dynamik der periodischen Kommunikation über fast alle Bereiche der Ost-West-Beziehungen. 2. Die KSZE als Verhandlungsforum über Fragen der Sicherheit und der Ost-West-Kooperation Während in den ursprünglichen Vorschlägen aus den fünfziger und sechziger Jahren nur von einer Europäischen Sicherheitsk. onieTem die Rede war, einigten sich die Teilnehmer in den Vorbereitungsgesprächen auf eine Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit.
Diese Erweiterung signalisierte eine Ausdehnung des Themenkatalogs auf tendenziell alle Bereiche zwischenstaatlichen Verhaltens, was die Gliederungspunkte der Schlußakte deutlich illustrieren. Eine wesentliche Ursache hierfür ist die Möglichkeit, auf diese Weise die Interessen in verschiedenen Sachbereichen leichter ausgleichen zu können.
Der breite Themenbereich der KSZE war jedoch nicht nur taktisch bedingt, sondern entsprach auch substantiellen Veränderungen im Ost-West-Verhältnis. In den sechziger und zu Beginn der siebziger Jahre hatten sich nämlich der Wirtschaftsaustausch, die wissenschaftlich-technische Zusammenarbeit und die transnationalen Kontakte wesentlich verstärkt. Während gleichzeitig das Grundverhältnis unverändert antagonistisch blieb, erhöhte sich damit die Ambivalenz der westöstlichen Beziehungen.
In dieser Situation bot die KSZE Chance, die Konfliktfelder gemeinsam abzustecken und die Möglichkeiten für systemübergreifende Verhaltensregeln auszuloten. In manchen Fällen führte das zu relativ konkreten Übereinkommen, etwa bei der (bescheidenen) Verbesserung der Arbeitsbedingungen für Journalisten. In anderen sind bislang nur vage Absichtserklärungen zu erkennen, z. B. bei der Verbesserung und Regulierung der gesamteuropäischen Verkehrsinfrastruktur. In einer dritten Gruppe gelang es lediglich, die Thematik einer wünschenswerten Entwicklung festzuschreiben, wozu unter anderem der schweizerische „Entwurf für einen Vertrag über ein europäisches System der friedlichen Beilegung von Streitigkeiten“ gehört Immerhin: Der auf diesem Wege ausgebreitete Fächer an Verhaltensregeln, Absichtserklärungen und praktischen Empfehlungen umfaßt prinzipiell sämtliche nicht-militärischen und nicht-ideologischen Ost-West-Beziehungen.
Die im Vorfeld der KSZE im Zentrum des Interesses stehenden sicherheitsbezogenen Fragen wurden dagegen praktisch auf den Themenbereich „Vertrauensbildende Maßnahmen“ im Korb I reduziert Dies war eine der Voraussetzungen für den Erfolg der ersten KSZE-Runde, ermöglicht durch die parallele Eröffnung MBFR-Verhandlungen in der Wien.
In den folgenden Jahren blieb das Thema Sicherheit in diesem bescheidenen Rahmen weiterhin Gegenstand des KSZE-Prozesses, ja es erfuhr sogar mit dem Mandat des Madrider Nachfolgetreffens für die „Konferenz über Vertrauens-und Sicherheitsbildende Maßnahmen und Abrüstung in Europa“ (KVAE) eine Ausweitung, die sicher nicht ohne die Stagnation der MBFR-Verhandlungen erfolgt wäre. Die Besonderheit dieses Mandates liegt darin, daß die KVAE, die politisch weit höher angesiedelt ist als die Expertentreffen zu anderen Sachbereichen, und die deshalb leicht ein politisches Eigenleben hätte entwickeln können, fest in den KSZE-Prozeß eingebunden wurde. Die Benennung des 1986 in Wien beginnenden KSZE-Folgetreffens als Instanz zur Beurteilung des Erfolges der KVAE garantiert, daß auch weiterhin die Themen Sicherheit und Zusammenarbeit die beiden Säulen des KSZE-Prozesses bleiben. Damit bleibt auch künftig die Verknüpfung der verschiedenen Themen durch interessenausgleichende Kompromisse und „package deals“ als ein wesentliches Element für Verhandlungsfortschritte über nahezu die gesamte Spann-breite der Ost-West-Beziehungen erhalten. 3. Die KSZE als Konferenz über (Gesamt-) Europa Die Frage der regionalen Abgrenzung hat seit Beginn der Diskussion über die gesamteuropäische Konferenz eine erhebliche Rolle gespielt. Dabei waren in der Frühphase vor allem die Teilnahme der USA und Kanadas umstritten, weil die Sowjetunion ein Modell der kollektiven Sicherheit anzustreben schien, bei dem sie selbst die Funktion der Ordnungsmacht einnehmen würde. Die Befürchtungen einer Lockerung der atlantischen Beziehungen waren lange Zeit auch ein wichtiger Grund für die Zurückhaltung der westlichen Staaten gegenüber der KSZE.
In einer späteren Phase und während der Verhandlungen zur Vorbereitung der Schlußakte gab es zum einen Auseinandersetzungen um den Geltungsbereich Vertrauensbildender Maßnahmen, zum anderen um die Einbeziehung nicht-europäischer Mittelmeerländer in den KSZE-Prozeß. Beides spielte auch auf der Madrider Nachfolgekonferenz noch eine Rolle, wobei die Ausweitung des Geltungsbereiches in der Sowjetunion bis zum Ural um den Preis der Einbeziehung der an Europa angrenzenden Seegebiete und des angrenzenden Luftraumes durchgesetzt werden konnte.
Im Mittelpunkt der KSZE-Debatten von Belgrad und Madrid stand allerdings ein anderer Aspekt der Regionalität: die Frage der „Unteilbarkeit der Entspannung". Vor allem von den Vereinigten Staaten wurde dabei die Forderung vorgebracht, Entspannung und Kooperation müßten von der Sowjetunion auch weltweit praktiziert werden. Wenn diese nicht bereit sei, sich außerhalb Europas an die Schlußakte zu halten, müßte auch von westlicher Seite die Entspannungspolitik in Europa aufgegeben werden. Gegen diese Position, durch die die Madrider Konferenz beinahe zum Scheitern gebracht worden wäre, setzten sich diejenigen europäischen Staaten durch, die an der weltweiten Entspannung als Ziel festhalten, jedoch die relative Ruhe in Europa nicht wegen außereuropäischer Konflikte aufs Spiel setzen wollten und deshalb die These von der „Teilbarkeit der Spannungen“ vertraten
Dieser europäisch-amerikanische Dissens resultierte aus der — hier nicht behandelten — Krise der Entspannungspolitik insgesamt und verweist auf die Rahmenbedingungen für die Entfaltung der gesamteuropäischen Beziehungen, die durch das Verhältnis der beiden Bündnisvormächte gesetzt sind. 4. Zur Wirkungsweise der KSZE Der Ausgangspunkt des KSZE-Prozesses war eine Art Tauschgeschäft, das beiden Seiten als lohnend erschien: Das östliche Streben nach einer Anerkennung des Status quo und einer Stärkung der Wirtschaftskraft durch eine Ausweitung der Wirtschaftsbeziehungen mit kapitalistischen Staaten stand einem westlichen Bemühen um die Steuerung und Einbindung des sowjetischen Konfliktverhaltens sowie um größere Freizügigkeit für Menschen und Informationen gegenüber. Der Interessenausgleich wurde in der Schlußakte durch die Verknüpfung der drei thematischen Körbe formalisiert und durch den Konsens über die grundsätzliche, wenn auch nicht rechtliche Verbindlichkeit des insgesamt verabschiedeten Textes bekräftigt
Trotzdem war es nicht verwunderlich, daß nach der Verabschiedung der Schlußakte beide Seiten dazu neigten, einzelne Abschnitte in ihrer Bedeutung hervorzuheben. So betonte die Sowjetunion insbesondere die Prinzipien der staatlichen Souveränität, der Unverletzlichkeit der Grenzen und der Nicht-einmischung in die inneren Angelegenheiten (eine Bekräftigung, die sich allerdings im Rahmen der sogenannten Breschnew-Doktrin als außerordentlich ambivalent erweisen sollte), während die westliche Seite vor allem die Achtung der Menschenrechte und die Realisierung des Korbes III herausstellte.
Als ein wesentliches Gegengewicht gegen diese selektive Interpretation der Schlußakte hat sich bislang der bereits beschriebene prozeßorientierte Charakter der KSZE-Diplomatie erwiesen. Neue Beschlüsse konnten nämlich nur dort vereinbart werden, wo beide Seiten wiederum bereit waren, sich auf einen neuen Interessenausgleich und eine schrittweise Erarbeitung von neuen Kompromissen einzulassen (Stichwort: Modus vivendi). Ein Vergleich der Folgetreffen von Belgrad (1977/78) und Madrid (1980/83) als auch der diversen Expertentreffen macht das deutlich. Nur dort, wo diese Bereitschaft vorhanden war, ließen sich substantielle Schlußdokumente verabschieden.
Welche Konsequenzen ergeben sich aus diesen Erfahrungen für die Frage nach der Verbindlichkeit der KSZE-Beschlüsse bzw.der Wirksamkeit des KSZE-Prozesses? Aufgrund einer systematischen Analyse lassen sich zwei Wirkungsmechanismen unterscheiden: ein kurzfristiger und ein langfristiger.
Der kurzfristige beruht auf der Stabilität und dem Gewicht der erwähnten interessenausgleichenden Kompromisse und „package deals“. Je mehr Gewinn eine Seite aus solchen Vereinbarungen zieht, desto größer dürfte ihre Bereitschaft sein, auch „Nachteile" zu akzeptieren. Im Fall der osteuropäischen Staaten heißt das konkret: Die mit dem KSZE-Dokument geschaffenen Rechtfertigungschancen für die Entfaltung des einzelnen und Rechtfertigungszwänge für die staatliche Gewaltausübung dürften auf die Dauer nur wirksam (und weiter entwicklungsfähig) sein, wenn sie aus der Sicht der östlichen Partei-und Staatsführungen mit anderen Vorteilen für die sozialistischen Staaten verknüpft bleiben. Der langfristige Wirkungsmechanismus läßt sich stichwortartig mit der These von der „normativen Kraft des Faktischen" umschreiben: Der mit dem KSZE-Prozeß entwickelte Fächer an Verhaltensregeln, Absichtserklärungen und praktischen Empfehlungen für alle möglichen Beziehungsfelder schafft allmählich eine gesamteuropäische Kultur der Konfliktregulierung und Kooperationsförderung,der sich die Teilnehmerstaaten um so weniger entziehen können, je länger dieses Regelwerk in Kraft ist und je häufiger es tatsächlich für die Problemlösung im Ost-West-B Verhältnis herangezogen wird. Gegenwärtig ist von dieser langfristigen Wirkung zwar noch nicht besonders viel zu bemerken. Im-merhin halten jedoch bislang alle beteiligten Staaten an dem hohen Symbolwert der Schlußakte sowie des KSZE-Prozesses fest
II. Korb I: Menschenrechte
Abbildung 2
Chronik des KSZE-Prozesses
Quelle: Auswärtiges Amt (Hrsg.), Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa. Dokumentation zum KSZE-Prozeß, Stand Dezember 1984, Bonn 19846, S. 359- 365.
Chronik des KSZE-Prozesses
Quelle: Auswärtiges Amt (Hrsg.), Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa. Dokumentation zum KSZE-Prozeß, Stand Dezember 1984, Bonn 19846, S. 359- 365.
Eines der wichtigsten Ergebnisse der ersten KSZE-Verhandlungen war die Tatsache, daß in der Schlußakte auch innergesellschaftliche Verhältnisse als legitimer Gegenstand internationaler politischer Kontrolle anerkannt wurden. Neben etlichen Korb-III-Beschlüssen betrifft dies primär die im Prinzip VII des Dekalogs garantierte »Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten einschließlich der Gedanken-, Gewissens-, Religions-oder Überzeugungsfreiheit". Die Bedeutung dieses Prinzips liegt weniger in seinem materiellen Gehalt — hier sind die 1976 in Kraft getretenen UN-Pakete über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte sowie über bürgerliche und politische Rechte wesentlich präziser—, sondern vor allem darin, daß es gleichberechtigt neben den anderen Völkerrechtsprinzipien des Dekalogs aufgenommen wurde
Wegen der divergierenden Menschenrechts-auffassungen von Ost und West ist die Tatsache an sich erstaunlich. Sie wird jedoch insofern verständlich, als das Prinzip VII im Sinne liberaler wie marxistischer Konzeptionen interpretierbar ist. Daß es trotzdem zu erheblichen Konflikten über die Implementierung dieses Prinzips gekommen ist, hängt mit den von beiden Seiten nicht vorhergesehenen Auswirkungen auf aktive soziale und politische Gruppen in Osteuropa zusammen. Diese nutzten die KSZE-Vereinbarungen, um ihren Forderungen nach mehr politischen und bürgerlichen Rechten Nachdruck zu verleihen, wobei sie sich auf die offizielle Verbreitung der Schlußakte und den hohen Stellenwert stützen konnten, den die Konferenz in der außenpolitischen Berichterstattung der östlichen Massenmedien einnahm
Auch wenn die menschenrechtlichen Akzentsetzungen in all diesen Fällen sehr unterschiedlich sind, ist die Initial-Funktion der KSZE-Vereinbarungen ein gemeinsames Merkmal. Sie wirkten als externe Bekräftigung der zum großen Teil bereits innerstaatlich formell garantierten Verfassungsrechte. Ansprüche auf die materielle Geltung dieser individuellen Rechte wurden zusätzlich legitimiert Es entstand somit eine neue Art von „Konstitutionalisierungsprozeß". Eine wichtige Rolle spielten dabei die westlichen Massenmedien, die dafür sorgten, daß die Forderungen der östlichen Bürgerrechtsbewegungen eine weite Verbreitung fanden.
Eine andere Resonanzverstärkung sollte allerdings für den KSZE-Prozeß noch bedeutsamer werden: die Menschenrechtspolitik der USA seit 1977 unter den Administrationen Carter und Reagan Das zeigte sich am deutlichsten während der Belgrader KSZE-Folgekonferenz, als die Delegation der USA die Menschenrechtsverletzungen in Osteuropa in den Mittelpunkt ihrer KSZE-Bilanz stellte und eine Änderung dieser Praktiken zur entscheidenden Frage für den Erfolg der Konferenz erklärte Dahinter stand eine offensichtliche Neuinterpretation der Geschäftsgrundlage von Helsinki: Das Prinzip VII war nicht mehr Teil eines umfassenden Interessenausgleichs zwischen beiden Seiten mit dem unausgesprochenen Ziel, das Verhalten der sozialistischen Staaten gegenüber ihren Bürgern schrittweise westlichen Vorstellungen über bürgerliche und politische Grundfreiheiten anzupassen, sondern eine grundlegende und nicht mehr verhandelbare Verpflichtung für die aktuelle Menschenrechtsrealisierung. Die osteuropäischen Führungen reagierten auf diese Offensive mit dem Vorwurf, der Westen verstoße mit dieser „Einmischung" gegen die Prinzipien I („Souveräne Gleichheit, Achtung der der Souveränität innewohnenden Rechte") und VI („Nichteinmischung in innere Angelegenheiten") des Dekalogs. Im Innen-verhältnis hatten sie von Anfang an versucht, den oppositionellen Strömungen durch verschärfte Repression einerseits und eine freizügige Auswanderungspraxis sowie partielle Zugeständnisse andererseits zu begegnen. Nur in sporadischen Ansätzen unternahmen die sozialistischen Staaten im Hinblick auf die Menschenrechte eine Gegenoffensive. So prangerten sie zwar in Belgrad die „Berufsverbote" in der Bundesrepublik Deutschland an, verurteilten die ethnisch-rassischen Diskriminierungen in den USA und kritisierten die Arbeitslosigkeit in den westlichen Ländern. Eine konsequente Strategie zur Thematisierung der westlichen Defizite bei der Realisierung „wirtschaftlicher, sozialer und kultureller Grundrechte“ haben sie jedoch bis heute nicht entwickelt Angesichts ihrer bisherigen Selbstverteidigung mit dem „Nichteinmischungs" -Argument wäre dies auch eine heikle Gratwanderung geworden.
In der US-amerikanischen Ostpolitik bildet dieses Thema seitdem jedoch ein konstantes Argumentationsmuster — allerdings mit abnehmender Glaubwürdigkeit Denn in dem Maße, wie die universalistischen Ansprüche der Carterschen Menschenrechtspolitik mehr und mehr den außenpolitischen Interessen der USA in der Dritten Welt geopfert wurden, reduzierte sich der Menschenrechtsmaßstab zu einem Instrument primär antisowjetischer Rhetorik. Diese Einbuße an Glaubwürdigkeit dürfte eine Ursache dafür gewesen sein, daß die USA für ihre Menschenrechtspolitik während der Madrider Folgekonferenz weniger Resonanz bei ihren Verbündeten fanden als in Belgrad
Während damals die USA weitgehend die westliche Position bestimmten, spielten die westeuropäischen Staaten diesmal eine aktivere Rolle, um ihre pragmatischeren Vorstel. lungen gegenüber den USA durchzusetzen. Dies spiegelt sich auch in dem Schlußdokument von Madrid, in dem gemäß den westeuropäischen Vorstellungen in verschiedenen Bereichen wünschenswerte Verbesserungen bei den Menschenrechten festgeschrieben wurden (z. B. bei der Gewährleistung der Religionsfreiheit und der Freiheit zur gewerkschaftlichen Organisation).
Als einziges handfestes Ergebnis kam eine weitere Konferenz zustande, das Experten-treffen„betreffend die Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten", das mittlerweile, zwischen April und Juni 1985, in Ottawa stattgefunden hat Dieses Treffen demonstrierte allerdings nur noch einmal die extrem unterschiedlichen Positionen zwischen Ost und West, es zeigte aber auch verschiedene Akzentsetzungen innerhalb des westlichen Bündnisses. Daß es jedoch nicht einmal zu einem Abschluß ä la Belgrad kam, sondern sich die Konferenz ohne Schlußdokument auflöste, lag wohl in erster Linie an der fehlenden Verhandlungsmasse, einen für beide Seiten akzeptablen Kompromiß zustande zu bringen.
Welche Konsequenzen lassen sich aus diesen Erfahrungen für die künftige Menschenrechtspolitik im Rahmen des KSZE-Prozesses ziehen? Die beiden häufigsten Schlußfolgerungen, die in diesem Zusammenhang zu hören sind, lauten:
Die Entspannungspolitik im allgemeinen und der KSZE-Prozeß im besonderen waren notwendige Voraussetzungen für ein verstärktes Menschenrechtsbewußtsein und das Entstehen einer Bürgerrechtsbewegung in Osteuropa. Für die weitere Förderung der Menschenrechte in den sozialistischen Ländern ist deshalb die Stabilisierung des Entspannungsprozesses unverzichtbar.
Ohne massiven öffentlichen Druck und ohne das direkte Engagement westlicher Regierungen, Medien und Institutionen wären viele konkrete Verbesserungen der menschen-rechtlichen Situation in Osteuropa nicht zustande gekommen. Diesen Interventionen ist deshalb auch künftig ein hoher Stellenwert einzuräumen. Das Dilemma ist offensichtlich: Beide Schlußfolgerungen stehen in einem widersprüchlichen und komplementären Verhältnis zueinander. Allerdings läßt sich ihr Spannungsverhältnis untereinander relativieren, wenn man sich einen weiteren Sachverhalt vor Augen führt: die innergesellschaftlichen Voraussetzungen für die Verbesserung der Menschenrechtssituation in Osteuropa. Kaum zu bestreiten ist nämlich, daß substantielle Fortschritte in dieser Richtung nur durch innergesellschaftlicheReformen zu erreichen sind.
Und diese sind am ehesten dann zu erwarten, wenn die Erweiterung individueller Handlungs-und Freiheitsspielräume im Einklang steht mit dem Problemlösungsinteresse der Partei-und Staatsführungen. Ein Beispiel dafür ist Ungarn, wo die Einführung marktwirtschaftlicher Elemente in das ökonomische System einherging mit einem wachsenden, wenn auch begrenzten politischen und gesellschaftlichen Freiheitsspielraum der Bürger.
Solche substantiellen Veränderungen durch äußeren Druck auf die Führungen erzwingen zu wollen, wird eher zu kontraproduktiven Wirkungen führen. Dies gilt um so stärker, je demonstrativer die betreffenden Führungen auf die Anklagebank gesetzt werden und je spektakulärer sich die anklagenden westlichen Regierungen auf direkte Kontakte zu osteuropäischen Oppositionellen berufen. Diese Einschätzung schließt nicht aus, die Verbesserungen der Menschenrechtssituation zu einem regelmäßigen Thema der westöstlichen Kommunikation zu machen und sich in Einzelfällen auch diplomatisch zu engagieren. Auf längere Sicht dürfte die Menschenrechts-politik der westlichen Staaten dann am wirksamsten sein, wenn sie nicht primär in der Anprangerung östlicher Menschenrechtsverletzungen besteht, sondern der Realisierung einer glaubwürdigen Menschenrechtsstrategie in der westlichen Hemisphäre den Vorrang gibt Dazu gehören vor allem die Beiträge, die diese Länder zur Überwindung von Hunger und Elend in der Dritten Welt leisten können aber auch die Handlungsperspektiven, die sich für die Verbesserung der wirtschaftlichen und sozialen Grundrechtslage in ihren eigenen Ländern bieten. Eine solche Menschenrechtsstrategie mit „Vorbild" -Charakter könnte auch innerhalb des KSZE-Prozesses neue Felder für Kooperation und friedlichen Wettbewerb zwischen Ost und West eröffnen.
III. Korb I: Vertrauensbildende Maßnahmen
Abbildung 3
Chronik des KSZE-Prozesses
Quelle: Auswärtiges Amt (Hrsg.), Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa. Dokumentation zum KSZE-Prozeß, Stand Dezember 1984, Bonn 19846, S. 359- 365.
Chronik des KSZE-Prozesses
Quelle: Auswärtiges Amt (Hrsg.), Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa. Dokumentation zum KSZE-Prozeß, Stand Dezember 1984, Bonn 19846, S. 359- 365.
Die Teilnehmerstaaten haben in das erste Kapitel der Schlußakte, das Fragen der Sicherheit in Europa behandelt, das „Dokument über vertrauensbildende Maßnahmen und bestimmte Aspekte der Sicherheit und Abrüstung" gleich neben den Prinzipiendekalog gesetzt, um auf diese Weise ihre Leitvorstellung des „komplementären Charakters der politischen und militärischen Aspekte der Sicherheit“ sichtbar werden zu lassen und ihr Interesse zum Ausdruck zu bringen, den Prozeß der politischen Entspannung in Europa durch die „Förderung der Abrüstung zu ergänzen“
Zehn Jahre nach der Unterzeichnung der Schlußakte soll gefragt werden, in welchem Umfang die vereinbarten Vertrauensbildenden Maßnahmen (VBM) verwirklicht wurden und inwieweit sie überhaupt geeignet waren dazu beizutragen, „das Vertrauen zwischen den Teilnehmerstaaten zu stärken“, wie diese es sich in der Präambel zu diesem Kapitel vorgenommen hatten. Sodann soll mit Blick auf die seit 1984 in Stockholm tagende Konferenz über Vertrauens-und Sicherheitsbildende Maßnahmen und Abrüstung in Europa (KVAE) aufgezeigt werden, wie groß die Gefahr ist, daß strukturelle Fehler von Helsinki bei der Konzipierung weiterer vertrauensund sicherheitsbildender Maßnahmen wiederholt werden. Schließlich soll überlegt werden, auf welchem Wege besser dazu beigetragen werden könnte, in Europa ein Klima der Entspannung zu fördern, in dem Vertrauen gebildet werden und Sicherheit zunehmen kann. 1. Zur Einhaltung der Beschlüsse von Helsinki Bei den KSZE-Verhandlungen wurden aus einer Vielzahl denkbarer und erörterter Vertrauensbildender Maßnahmen fünf mit unterschiedlicher Verbindlichkeit in die Schlußakte aufgenommen:
— die vorherige Ankündigung größerer Manöver von Landstreitkräften;
— die vorherige Ankündigung anderer militärischer Manöver;
— der Austausch von Manöverbeobachtern; — die vorherige Ankündigung größerer Truppenbewegungen;
— der Austausch von Militärpersonal und der Besuch von Militärdelegationen. Lediglich für die Manöverankündigungen und den Austausch von Beobachtern sind Daten bekannt, die zeigen, in welchem Umfang sich die Teilnehmerstaaten an die Vereinbarungen von Helsinki gehalten haben. Die beiden anderen Maßnahmearten scheinen von keiner Seite in nennenswertem Umfang realisiert worden zu sein. In den ersten zehn Jahren nach der KSZE wurden etwa 100 Manöver angekündigt, wobei sich die drei europäischen Staatengruppen NATO, Warschauer Vertrags-Organisation (WVO) sowie neutrale und uichtgebundene Staaten jedoch unterschiedlich eng an die Vereinbarungen hielten Auf Seiten der NATO wurden alle größeren Manöver angekündigt. Die Staaten der WVO kündigten zwar auch die meisten ihrer größeren Manöver an, unterrichteten aber die anderen Teilnehmerstaaten manchmal nur unzureichend über Größe und Zweck der Übungen.
Ein entscheidendes Manko für die Bewertung, inwieweit die VBM-Vereinbarungen eingehalten wurden, besteht darin, daß wir nicht über den gesamten Zeitraum (1975— 1984) hinweg über Daten verfügen, aus denen ersichtlich werden könnte, ob es Differenzen zwischen der Zahl der angekündigten und der tatsächlich stattgefundenen Manöver gibt. Wenn von östlicher Seite im Durchschnitt weniger Manöver angemeldet wurden, dann kann dies sowohl mit Versäumnissen oder Verletzung der Vereinbarungen Zusammenhängen als auch damit, daß die Sowjetunion aufgrund der Regelung des Gültigkeitsbereiches (Ankündigung nur im Bereich von 250 km Entfernung von der Grenze zu einem anderen Teilnehmerstaat) gelegentlich auch Manöver weiter im Landesinneren durchgeführt hat, die sie dann nicht anzuzeigen brauchte. Auffällig ist aber, daß die westlichen Staaten eine große Zahl kleinerer Manöver angekündigt haben,, während ihre östlichen Nachbarn dies höchst selten taten. Deutlicher unterschieden sich die beiden Staatengruppen bei der Einladung von Manöverbeobachtern. Die NATO-Staaten haben zu den meisten größeren Manövern auch ausländische Beobachter eingeladen, die Staaten des Warschauer Vertrags anfangs ebenfalls, doch zeigte sich bei ihnen schon 1978 eine rückläufige Tendenz. Nach 1979 sprachen sie längere Zeit gar keine Einladung mehr aus
Dieses Verhalten dürfte im Zusammenhang mit der Verschlechterung des Ost-West-Klimas Ende 1979 (NATO-Doppelbeschluß, sowjetische Afghanistan-Intervention und Nicht-Ratifizierung von SALT) stehen. 1981/82 mag darüber hinaus die Entwicklung in und um Polen das Ausbleiben der Einladungen erklären Wenn es nun gerade im Vorfeld der Außenministerkonferenz zum 10. Jahrestag wieder zu einer sowjetischen Einladung gekommen ist, so signalisiert die UdSSR damit zwar, daß sie auch „militärtechnische" Maßnahmen einzuhalten bereit ist, zugleich macht sie deutlich, daß Verifizierungsmaßnahmen vor Ort für sie immer noch ein Politikum sind.
Die neutralen und nichtgebundenen Staaten hielten sich allem Anschein nach weitestgehend an die Vereinbarungen des Korbes I. Zu ihren größeren Manövern luden sie auch stets Beobachter aus anderen Ländern ein. Der Sachverhalt, daß sich die Warschauer Vertrags-Staaten eigentlich nur in den ersten vier Jahren bereit fanden, mehr in den Vertrauensbildungsprozeß zu investieren als die bloße Ankündigung größerer Manöver, muß eher bedenklich stimmen. Auch besteht ein Problem darin, daß sich der Prozeß nicht ausgeweitet hat und — von keiner Seite — Luft-oder Marineübungen oder reguläre Truppen-bewegungen angekündigt wurden. Daraus hatten die westlichen Staaten in der Madrider Implementierungsdebatte den Schluß gezogen, der am Ende des KSZE-Folgetreffens — nun aber von allen 35 Staaten unterzeichnet — auch den Unterhändlern der Stockholmer KVAE als Mandat mit auf den Weg gegeben wurde, nämlich nur noch Maßnahmen zu vereinbaren, die militärisch bedeutsam, politisch verbindlich und verifizierbar sind.
Eine solche Reaktion auf die unzulängliche Erfüllung der Erwartungen, die die Schlußakte von Helsinki geweckt hatte, ist verständlich. Aber führt das Mandat auch in eine Richtung, in der es gelingt, das Mißtrauen zwischen den europäischen Staaten zu mindern oder gar Vertrauen herzustellen und damit die Sicherheit zu erhöhen? Sind nicht vielleicht die Fehler, die vor zehn Jahren gemacht wurden, ganz andere, die durch das neue Mandat nicht behoben, sondern nahezu zwangsläufig wiederholt werden? Nach dem derzeitigen Stand der KVAE-Verhandlungen sind diese Fehler wieder zu erwarten
Gemäß vorherrschender westlicher Auffassung geht es bei den neu zu vereinbarenden Vertrauens-und Sicherheitsbildenden Maßnahmen (VSBM) darum, die Transparenz militärischer Handlungen wechselseitig zu erhöhen. Durch diese Maßnahmen sollen die Staaten einander glaubhaft zu verstehen geben, daß diese Handlungen nur der Selbstverteidigung, nicht aber der offensiven Bedrohung der Nachbarn dienen. Sofern dies gelingt, soll es nach dieser Denkschule möglich sein, die militärischen Bedrohungselemente selbst zu beseitigen und „somit Voraussetzungen für Rüstungsreduzierungen zu schaffen"
I Die östliche Seite stimmt — gemäß ihren Erklärungen — im Ziel der Rüstungsreduzierung mit dem Westen überein, möchte aber auf einem direkteren Weg dorthin gelangen und deshalb lieber restriktive als transparenz-fördernde Maßnahmen . verabschieden. Sie schlägt in diesem Zusammenhang immer wieder Maßnahmen vor, die sich einer Verifikation entziehen (z. B.der Verzicht auf den nuklearen Ersteinsatz oder allgemeine Gewaltverzichtsabkommen).
Wie schon oft im Rahmen des KSZE-Prozesses, wird den N + N-Staaten die Aufgabe zufallen, zwischen diesen Positionen zu vermitteln und einen Maßnahmenkatalog zu entwerfen, der einen Minimalkonsens erlaubt.
Wenn die Stockholmer Konferenz jedoch insgesamt nicht mehr zustandebrächte als die Erhöhung der Transparenz in einigen Bereichen, einige Restriktionen wie die Festlegung von Obergrenzen für die Mannschaftsstärke bei Manövern und eine wie auch immer geartete Gewaltverzichtserklärung, so würde dies an dem herrschenden Mißtrauen zwischen den hochgerüsteten Militärblöcken wenig ändern. Selbst wenn die neuen Regeln zehn Jahre oder länger strikt eingehalten würden, könnten sie von ihrer Entstehungsgeschichte und Struktur her nicht die Erwartungen erfüllen, die einmal mit dem Begriff der Vertrauensbildung in der Öffentlichkeit geweckt wurden und die durch die neue Bezeichnung der Vertrauens-und Sicherheitsbildung ja nicht aus der Welt geschaffen sind. Diese Erwartungen sind darauf gerichtet, daß im zwischenstaatlichen Verhältnis wenn schon nicht Vertrauen im landläufigen Sinne, so doch eine spürbare Verbesserung entsteht.
Wie dies mit anderen Methoden möglicherweise erreicht werden könnte, soll im folgenden Abschnitt dargestellt werden. 2. Zum Prozeßcharakter der Vertrauensbildung „Selbst die längste Reise beginnt mit einem einzigen Schritt“ — unter diesem Motto steht die deutsche Übersetzung der „Umfassenden Studie über Vertrauensbildende Maßnahmen", die auf Initiative und unter Vorsitz der Bundesrepublik Deutschland von einer Arbeitsgruppe der Vereinten Nationen erarbei11 tet und 1982 der 2. Sondergeneralversammlung über Abrüstung vorgelegt wurde
Der hier angesprochene erste Schritt ist deshalb schwierig, weil er ein Schritt ins Ungewisse ist. Um ihn überhaupt zu wagen, ist Vertrauen erforderlich, das dazu dient, Unsicherheitsmomente im Verhalten anderer und damit auch die eigene Unsicherheit zu überbrücken. Der Schritt des Vertrauenden wird somit zu einer wie auch immer „riskanten Vorleistung"
Vertrauen ist — wie es in der UN-Studie heißt — das „Ergebnis eines dynamischen Prozesses .., der auf Vergangenheitserfahrungen, Gegenwartsvorstellungen und Zukunftserwartungen beruht" Mit anderen Worten: Es ist eine „generalisierte Erwartungshaltung" dahin gehend, „daß man sich auf das Wort, die Äußerung, die Versprechen eines Menschen oder einer Gruppe verlassen kann"
Was sich für den zwischenmenschlichen Verkehr als durchaus praktikabel erwiesen hat, ist im Bereich der Politik, vor allem der Militärpolitik, wo es buchstäblich um Leben und Tod ganzer Völker gehen kann, problematisch. Sich lediglich auf Versprechungen einer fremden Regierung oder gar des potentiellen Gegners zu verlassen, erscheint als leichtgläubig, wenn nicht gar unverantwortlich leichtsinnig. Es war deshalb verständlich, daß sich die Delegationen der westlichen Länder bei dem Madrider KSZE-Folgetreffen weigerten, östliche Vorschläge, die im Deklaratorischen blieben, in den Kanon der Vertrauensbildenden Maßnahmen aufzunehmen, und statt dessen auf transparenzfördernde Maß. nahmen hinsteuerten.
Doch so wichtig diese sind, um gegebenenfalls ungerechtfertigtes Mißtrauen nicht entstehen zu lassen oder wieder abzubauen, so wenig ist durch sie allein schon Vertrauen aufzubauen. Im Gegenteil: Zuviel Wissen kann den Vertrauensbildungsprozeß sogar stören. Niklas Luhmann weist darauf hin, daß der Prozeß dann störanfällig wird, wenn die Beteiligten auch wüßten oder sich gegenseitig unterstellten, daß der Prozeß dem Aufbau von Vertrauen dienen solle, „denn dann wird die Frage nach dem Wozu, die Frage nach dem Motiv unabweisbar, die sehr leicht in Mißtrauen umschlagen kann“
Was Luhmann hier für den Aufbau persönlichen Vertrauens sicher zutreffend beschrieben hat, könnte für die Vertrauensbildung auf internationaler Ebene ein ähnliches Problem darstellen. Dort käme sogar erschwerend hinzu, daß sich die KSZE-Unterhändler von vornherein in voller Kenntnis der wechselseitigen Absicht zusammengesetzt hatten, um zu vereinbaren, was als VBM gelten solle. Wenn Luhmanns These von der Umkehrung des Vertrauensbildungseffektes zutrifft, und wenn man außerdem Vertrauen als Lernerfolg betrachtet, der erst durch eine Reihe positiver Erfahrungen zustande kommt, so ist der folgende Schluß naheliegend: Dann werden freiwillige und insbesondere einseitige Leistungen eines Teilnehmers eher dazu beitragen, das Vertrauen der anderen zu vermehren, als eine bloße Vertragserfüllung, die vor allem dann nicht positiv ausstrahlen kann, wenn sie unter den argwöhnischen Blicken des Vertragspartners oder vom Leistenden mit innerem Widerstreben vorgenommen wird.
Mit einer solchen Situation haben wir es aber bei den auf der Grundlage der Helsinki-Vereinbarung angekündigten Manövern und ausgesprochenen Einladungen zumindest bei solchen Staaten zu tun, für die Offenheit keine Selbstverständlichkeit ist Da diese Asymmetrie zwischen Ost und West jedoch erst in einem Beziehungsmuster größeren Vertrauens überwunden oder bedeutungslos werden kann, steht zu befürchten, daß ein noch weiter ausdifferenziertes System von Maßnahmen die wenig vertrauensvollen Beziehungen erst einmal fortschreibt Demgegenüber hatte die Studiengruppe der Vereinten Nationen sehr deutlich auf den Prozeßcharakter der Vertrauensbildung hingewiesen. „Nur durch Handlungen, nicht durch Versprechen“ ließen sich „positive Erfahrungen“ gewinnen, die wesentlichen Voraussetzungen für das Wachstum von Vertrauen. Es sei das Ergebnis eines „langen Entwicklungsprozesses", in dem es darauf ankomme, konkrete und nachprüfbare Maßnahmen vollständig und einheitlich anzuwenden und eine vertrauenswürdige Politik zu verfolgen. „Es ist daher entscheidend wichtig, daß dieser Prozeß in Gang gesetzt wird, auch wenn die Anfangsphase die in mancherlei Hinsicht heikelste und komplizierteste ist Das macht es erforderlich, daß die Staaten den Mut zu Initiativen finden."
Erst im weiteren Prozeßverlauf sollen nach Auffassung der Studiengruppe die einseitigen und freiwilligen Maßnahmen durch bindende Vereinbarungen ersetzt werden, um den Staaten die Gewähr zu geben, daß die Maßnahmen auch zu ausgewogenen und gleichwertigen Ergebnissen führen. 3. Mögliche Konsequenzen für Stockholm Die UN-Studie wurde nicht speziell für den Vertrauensbildungsprozeß in Europa verfaßt Dennoch können ihr wichtige Anregungen für die Stockholmer Konferenz entnommen werden.
Vier Kriterien waren den Unterhändlern auf den Weg nach Stockholm mitgegeben worden: Was immer sie dort beschließen würden, sollte militärisch bedeutsam, politisch verbindlich und verifizierbar sein und ganz Europa, das angrenzende Seegebiet und den angrenzenden Luftraum umfassen. Zwei der Kriterien, die militärische Bedeutsamkeit und Verifizierbarkeit, finden sich genauso in der UN-Studie. Die beiden anderen jedoch nicht Wäre es aber möglich, diese beiden flexibel zu handhaben, so könnte der Vertrauensbildungsprozeß entscheidend vorangetrieben werden.
Die Formel „politisch verbindlich" wird im allgemeinen so interpretiert, daß der Katalog, auf den sich die Teilnehmerstaaten letztlich einigen werden, für alle in der gleichen Weise verbindlich sein soll. Die vorgelegten Maßnahmenkataloge zeigen aber, wie unterschiedlich die Ausgangspositionen der europäischen Staatengruppen sind. Es wird deshalb für eine Reihe von Vorschlägen schwierig, wenn nicht gar unmöglich sein, für ihre Aufnahme in das Schlußdokument eine von allen Seiten auch inhaltlich getragene Kompromißformel zu finden. Zwar mögen einige dieser Maßnahmen noch auf dem Wege des „package deal“ konsenfähig gemacht werden können. Aber die Erfahrungen der ersten zehn Jahre des KSZE-Prozesses zeigen, daß diejenigen Staaten, die nur um Zugeständnisse in anderen Bereichen zu erlangen, bestimmten Punkten zugestimmt haben, diese Vereinbarungen bestenfalls widerwillig einhalten. Damit mag zwar immer noch in irgendeiner Weise die Transparenz vergrößert werden, der Vertrauensbildungsprozeß wird dadurch jedoch nicht gefördert Es gibt indessen zwei Alternativen zu diesem Verfahren. Zum einen könnte man auf Beschlüsse, bei denen abzusehen ist, daß sie zur Zeit nicht allseitig inhaltlich tragbar sind, verzichten und diese Maßnahmen zu einem späteren Zeitpunkt erneut in den Verhandlungsprozeß einbringen. In dieser Weise kam auch der relativ kurze Katalog von Helsinki zustande. Zum anderen könnte zweistufig vorgegangen werden. In das Schlußdokument selbst werden nur diejenigen Maßnahmenaufgenommen, über die ein tragfähiger Konsens herstellbar ist. Diese Maßnahmen sind für alle Teilnehmerstaaten politisch verbindlich. In einen Anhang oder in mehrere Anhänge zum Schlußdokument werden solche Maßnahmen aufgenommen, die einzelne oder mehrere Länder für geeignet halten, die sicherheitspolitischen Beziehungen in Europa zu verbessern und das Vertrauen zwischen den Teilnehmernstaaten zu vergrößern. Diese Anhänge werden von all denjenigen Ländern unterzeichnet, die bereit sind, diese Maßnahmen auch dann zu praktizieren, wenn nicht alle anderen Teilnehmerstaaten es ebenfalls tun. Durch die Unterschrift werden die Maßnahmen jedoch für die betroffenen Staaten politisch verbindlich, d. h., bei einer KSZE-Nachfolgekonferenz wird nicht nur allseitige Einhaltung des für alle verbindlichen Kataloges, sondern auch die Einhaltung der ein-oder mehrseitigen Erklärungen überprüft werden können. Der Vorzug dieses Verfahrens wäre einmal, daß bestimmte Maßnahmearten nicht für Jahre oder für immer auf der Strecke blieben und dadurch gar keine Erfahrungen mit ihrer vertrauensfördernden Wirkung gesammelt werden können. Zum zweiten hätten die einzelnen Staaten durch die Selbstbindung eine Gelegenheit, anderen Teilnehmernstaaten die Ernsthaftigkeit ihrer Vorschläge unter Beweis zu stellen. Zum dritten könnte von solchem „vorbildlichen Verhalten“ möglicherweise eine stärkere Ausstrahlung auf den Vertrauensbildungsprozeß ausgehen, als dies bei von allen unterzeichneten bloßen Formel-kompromissen zu erwarten ist Damit bestünde schließlich die Möglichkeit daß sich nach und nach weitere Staaten freiwillig dieser Maßnahme anschließen, so daß sie in einer späteren Phase des KVAE-oder KSZE-Prozesses auch in den für alle verbindlichen Maßnahmenkatalog aufgenommen werden könnte.
IV. Korb II: Die Ost-West-Wirtschaftsbeziehungen
1. Handel und Entspannung Auf dem Felde der Ost-West-Wirtschaftsbeziehungen ist die Art und Weise, wie Politik und Wirtschaft einander wechselseitig beeinflussen, nicht generell und eindeutig zu bestimmen Feststellen läßt sich, daß in den siebziger Jahren eine boomartige Aufwärtsentwicklung des Osthandels wie auch der Entspannungspolitik stattfand und gegen Ende der siebziger/Anfang der achtziger Jahre beide in eine „Rezession“ gerieten. Die Entwicklung seit dem Beginn der achtziger Jahre verdeutlicht aber auch, daß die wirtschaftliche Zusammenarbeit im Gesamtgeflecht der Ost-West-Beziehungen und damit bei der Bestimmung des politischen Kurses zwischen Kooperation und Konfrontation eher eine nachrangige Rolle spielt Trotzdem ging von den Wirtschaftsbeziehungen ein dämpfender Einfluß auf den Anstieg der Spannungen aus. Die innerwestlichen Auseinandersetzungen um den Einsatz von Wirtschaftssanktionen verdeutlichen, daß das Konfliktminderungsinteresse ökonomischer Gruppierungen nicht mehr zu übersehen ist und sich im Kalkül der westeuropäischen Regierungen etabliert hat Der Gesamtzu30) stand des Ost-West-Verhältnisses wird jedoch eindeutig von der Intensität der sicherheitspolitischen Konfliktdimension bestimmt Der Rückfall in eine Politik der Konfrontation hätte zu Beginn der achtziger Jahre zweifellos schwerwiegender ausfallen können, wenn wirtschaftlich nichts zu verlieren gewesen wäre. Die mit den Wirtschaftsbeziehungen gewachsenen ökonomischen Interessen gehören deshalb trotz des unbestrittenen Primats der Politik zu den mäßigenden und stabilisierenden Faktoren des Ost-West-Verhältnisses. Die wechselseitigen, allerdings nur partiellen ökonomischen Abhängigkeiten sind wahrscheinlich sogar das beständigste Element der Ost-West-Beziehungen. So wenig wie die einfache funktionalistische Annahme bestätigt werden kann, daß durch den Handel die politischen Gegensätze zwischen den Systemen überwunden und Konfliktpotentiale abgebaut werden können, so wenig kann geleugnet werden, daß wirtschaftliche Interessen für beide Seiten einen wichtigen Stellenwert haben (Weizen, Ostexporte, Technologieimporte) und damit einen Beitrag zur friedlicheren Gestaltung der intersystemaren Beziehungen leisten.
Der Einfluß des Entspannungsprozesses auf die Entwicklung der Wirtschaftsbeziehungen kann ebenfalls nur sehr vorsichtig bewertet werden. Feststellen läßt sich zumindest, daß es nach dem Abschluß der KSZE-Schlußakte zu keinem neuen Expansionsschub im Ost-West-Handel kam. Die handelspolitischen Chancen waren über-und die Auswirkungen beginnender weltwirtschaftlicher Probleme unterschätzt worden. Die in der KSZE geschaffenen Rahmenbedingungen konnten nur mühsam mit neuen wirtschaftlichen Aktivitä-B ten ausgefüllt werden. Die Möglichkeiten dafür hielten sich offensichtlich in engen Grenzen, denn die Entwicklung des Osthandels hatte in den sechziger Jahren auf einem Niveau begonnen, das durch den Kalten Krieg künstlich niedrig gehalten worden war. Bei den dann eingetretenen enormen Zuwachsraten handelte es sich offensichtlich nur um einen Nachholbedarf und nicht so sehr um eine echte Erweiterung der Wirtschaftskooperation: Der Handel entwickelte sich auf traditionelle Weise durch den Tausch komplementärer Güter; substitutive Austausch-prozesse spielten kaum eine Rolle.
Als dann der politische Entspannungsprozeß mit dem Abschluß der KSZE-Schlußakte seinen Höhepunkt erreichte, hatte das Wachstum des Handels bereits seinen Zenit überschritten. Die Kreditbelastung der RGW-Länder begann sich negativ auszuwirken. Gleichzeitig schrumpfte mit der anhaltenden Rezession die Aufnahmefähigkeit der westlichen Märkte. Diejenigen sozialistischen Länder, die sich verschuldet erfuhren meisten hatten, gegen Ende der siebziger/Anfang der achtziger Jahre die größten wirtschaftlichen Rückschläge. Sie hatten Nachfrageschwäche der und den zunehmenden protektionistischen in den westlichen Industrieländern nur wenige Chancen, ihre Schulden durch Exporterfolge abzutragen.
Zwar mag die Verschlechterung des politischen Klimas sich noch zusätzlich ausgewirkt haben — besonders in Einzelbereichen der wirtschaftlichen Interaktion (z. B. im Technologietransfer) —, sie kann aber nicht für den Gesamtzustand der Wirtschaftsbeziehungen im Ost-West-Verhältnis verantwortlich gemacht werden. 2. Die Bedeutung des Korbes II im KSZE-Prozeß Für die in den Körben I und III genannten Bereiche der Ost-West-Beziehungen ist die KSZE das einzige Forum, auf dem über anstehende Konflikte und offene Fragen verhandelt werden kann. Dies trifft für die in Korb II genannten Bereiche der Ost-West-Zusammenarbeit (Wirtschaft, Wissenschaft und Technik sowie Umwelt) nicht zu. Hier gibt es Bereits eine Organisation, die UN-Wirtschaftskommission für Europa (ECE), in der dieselben Staaten wie bei der KSZE vertreten sind und in der die meisten Fragen, auf die sich Korb II bezieht, ohnehin regelmäßig behandelt werden. Der Korb II enthält von daher also wenig Dramatisches, und sein Inhalt ist schon seit langem Bestandteil eines ständigen fachbezogenen Ost-West-Dialoges im Rahmen der ECE-Gremien
Gleichwohl nimmt der Korb II im KSZE-Prozeß einen wichtigen Raum ein. Die Wirtschaftsbeziehungen werden von den östlichen Staaten, aber auch von etlichen westlichen Ländern wie der Bundesrepublik, als bedeutendes Bindeglied im Gesamtzusammenhang der politischen Beziehungen zwischen Ost und West angesehen. Nicht zufällig enthält deshalb die Schlußakte einen besonders breit gefächerten Wirtschaftsteil.
Insgesamt agierten, beide Seiten auf den Folgekonferenzen hinsichtlich der Wirtschaftsfragen relativ zurückhaltend. Probleme im Währungs-und Kreditsektor oder im Bereich der Preisbildung wurden weitgehend ausgeklammert. Hierauf waren offensichtlich die Verhandlungen in Korb II auch gar nicht ausgerichtet Im wesentlichen ging es darum, Beschlüsse zu erreichen, die Absichtserklärungen und Empfehlungen für uni-und bilaterale Maßnahmen zur Verbesserung des kommerziell orientierten Informationsaustausches und zur Beseitigung von Handelsbeschränkungen darstellen. Die Bedeutung des Korbes II liegt deshalb darin, daß zum ersten Mal im gesamteuropäischen Kontext versucht wurde, Richtlinien für die Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Wirtschaft, der Wissenschaft und Technik sowie der Umwelt auszuarbeiten und zu veröffentlichen. Unabhängig davon, ob durch den Korb II Impulse für mehr Handel und Kooperation gegeben werden konnten, besteht sein Wert hauptsächlich in der „institutionellen Stabilisierung" der Ost-West-Wirtschaftsbeziehungen 3. Bescheidene Erfolge bei der Ost-West-Umweltpolitik Schon in der Schlußakte von Helsinki war der Schutz von Umwelt und Natur als eine „be-deutende Aufgabe“ dargestellt worden. Durch die vorbereitenden Arbeiten der ECE kam es dann im November 1979 zur Unterzeichnung einer europäischen Konvention über grenzüberschreitende Luftverschmutzung, die von Umweltverbänden völlig als unzureichend kritisiert wurde, allgemeinen jedoch im als „atmosphärische Verbesserung" im Bereich der blockübergreifenden Umweltpolitik gilt
Die ECE-Konvention kam zwar im Rahmen einer internationalen Organisation zustande, . die keine Richtlinienkompetenz gegenüber den beteiligten Staaten besitzt und auch über keinerlei Sanktionsmittel zur Durchsetzung des angestrebten Zieles der Begrenzung von Schadstoffemissionen verfügt. Bei den weiteren ECE-Umweltarbeiten in den Jahren 1983 und 1984 setzte sich jedoch wenigstens das Prinzip durch, daß die Unterzeichnerstaaten eine Selbstverpflichtung hinsichtlich der Drosselung des „Exports" von Luftschadstoffen eingehen. In diesem Sinne verpflichteten sich auch vor wenigen Wochen (9. Juli 1985)
21 der 34 ECE-Mitgliedsländer, darunter die Bundesrepublik, die DDR, die CSSR und die UdSSR, in einem in Helsinki unterzeichneten Protokoll zur ECE-Konvention von 1979, ihren Schwefelausstoß bis 1993 um 30% unter die Werte von 1980 zu senken. Darüber hinaus erklärten die Bundesrepublik, Frankreich und die nordischen Länder, daß sie über die Vereinbarungen des ECE-Protokolls hinausgehend bis 1993 eine 60%ige Reduktion der Schadstoffemissionen anstreben wollten.
Insgesamt können die Unterschriften des Helsinki-Protokolls als ein zwar bescheidener, aber dennoch nicht von der Hand zu weisender Erfolg der Ost-West-Zusammenarbeit in der Umweltpolitik bezeichnet werden. Dies wurde durch den Tatbestand erleichtert, daß in diesem Bereich eigentlich keine systembedingten Kontroversen zwischen Ost und West ausgetragen werden. 4. Perspektiven für Korb II Für die weitere Entwicklung des KSZE-Prozesses im Hinblick auf den Korb II dürfte es Ansätze bedeutsam sein, die im Bereich der Ost-West-Umweltpolitik fortzuführen und auch in bisher vernachlässigten Bereichen dem wie Energiesektor und dem Transportwesen gesamteuropäische Initiativen zu ergreifen. Bei der blockübergreifenden Umweltpolitik käme es darauf an, daß das Helsinki-Protokoll zur ECE-Kovention über die grenzüberschreitende Luftverschmutzung erweitert wird und vor allem auch die Autoabgase (die bisher lediglich als Schadstoffverursacher erwähnt sind) miteinbezogen werden.
Für die KSZE-Folge. konferenz in Wien 1986 könnte es aufgrund der bisherigen positiven Erfahrungen mit den ECE-Umweltkonferenzen ein wichtiges Ziel sein, eine multilaterale Erklärung für das Prinzip zur Selbstverpflichtung bei der Verringerung des Schadstoffexports zu Lande, zu Wasser und in der Luft in den Korb II aufzunehmen. Dabei könnte zusätzlich auf die Bedeutung einer gegenseitigen technischen und finanziellen Hilfe zur Lösung der blockübergreifenden Umweltprobleme hingewiesen werden.
Im Energiesektor besteht schon allein aufgrund des Rohstoffreichtums und des Kapital-mangels der Sowjetunion ein dauerhafter Anreiz für die Westeuropäer, weitere Großprojekte mit der UdSSR in Angriff zu nehmen. Die Sowjetunion hat auf der anderen Seite großes Interesse an westlicher Technologie und Know-how, um ihre Energiereserven unter den vorherrschenden schwierigen Umweltbedingungen zu erschließen und einen Teil davon als Devisenbringer in den Westen zu liefern. Es dürfte deshalb von beiderseitigem Vorteil sein, die zukünftige Ost-West-Zusammenarbeit auf dem Energiesektor im multilateralen Rahmen der KSZE auch unter Einbeziehung der USA zu erörtern und auf eine tragfähige Basis zu stellen.
Auf dem Gebiet des Transportwesens könnte eine gesamteuropäische Konferenz ebenfalls von Nutzen sein. Die Voraussetzungen hierfür sind zwar ungünstig, solange die sozialistischen Staaten die Unterzeichnung bestimmter Verkehrsvereinbarungen im Rahmen der ECE ablehneh. Im Transportbereich geht es nicht nur um die für beide Seiten wichtige Klärung von Problemen hinsichtlich der Verbesserung und des Ausbaus von Verkehrswegen zwischen Ost und West wie des Rhein-Main-Donaukanals und der in der Diskussion befindlichen Ostsee-Fährverbindung zwischen der UdSSR und der Bundesrepublik. Es geht auch um eine ganze Reihe vor allem westlicher Interessen. So stellt die geringe Repräsentanz westlicher Transporteure im östlichen Wirtschaftsraum nach wie vor ein Problem dar, und die Preispolitik sozialistischer Transport-gesellschaften auf westlichen Märkten hat gerade in den letzten Jahren Anlaß zu heftiger Kritik gegeben. Wenn innerhalb der EG bereits Vorschläge existieren, für den Zeitpunkt der Fertigstellung des Rhein-Main-Donauka-nals Instrumente zur Abwehr staatlich subventionierter Transportleistungen östlicher Binnenschiffer zur Verfügung zu stellen, so läßt sich der Sinn solcher Großprojekte bezweifeln. Offensichtlich bedarf es gesamteuropäischer Vereinbarungen über einen Verhaltenskodex hinsichtlich der ökonomischen Nutzung neuer Ost-West-Verkehrswege, wenn nicht weitere Konflikte vorprogrammiert werden sollen. Ein zentrales Anliegen der westeuropäischen Länder auf einer Ost-West-Verkehrskonferenz könnte darin bestehen, in Analogie zu den Erfahrungen bei der block-übergreifenden Umweltpolitik eine Erklärung zur Selbstverpflichtung zu ereichen, die die Beachtung der Marktverhältnisse im Transportsektor zum Gegenstand macht.
V. Korb III: Transnationale Kontakte und Kommunikation
1. Transnationale Kontakte und Kommunikation als Ost-West-Thema In den Ost-West-Beziehungen ist die Frage der transnationalen Kontakte und Kommunikation von Anfang an ein zentrales Thema gewesen. Die Teilung Europas nach dem Zweiten Weltkrieg äußerte sich zunächst und vor allem in einer historisch beispiellosen Durchtrennung zwischenmenschlicher und zwischengesellschaftlicher Beziehungen. Der «Eiserne Vorhang“ wurde neben dem Wettrüsten zu einem zentralen Symbol des Ost-West-Konflikts. Zwar gelang es im Laufe der Nachkriegsgeschichte, die Grenze zwischen beiden Systemen schrittweise durchlässiger zu machen, eine grundlegende Freizügigkeit für Informationen, Ideen und Meinungen kam jedoch bis heute nicht zustande. Immerhin gibt es mittlerweile einen erheblichen Tourismus in west-östlicher Richtung und eine Vielzahl zwischengesellschaftlicher Beziehungen aller Art, vom sporadischen Programmaustausch zwischen Fernsehanstalten über mehr oder weniger regelmäßige Berufs-und Expertentreffen der verschiedensten Couleur bis zu institutionalisierten Städtepartnerschaften. 2. Transnationale Kontakte und Kommunikation als KSZE-Thema Zu Beginn der KSZE-Verhandlungen waren die westlichen Staaten der Überzeugung, die Entspannungspolitik müsse ohne eine „größere Freizügigkeit für Menschen, Ideen und Informationen" ein Torso bleiben. Maßgeblich waren dafür vor allem zwei Überlegungen — Die Einschätzung, daß erst mit derartigen Fortschritten die Entspannungspolitik innenpolitisch auf eine breitere Basis gestellt werden könne;
— die Erwartung, daß auf die Dauer die friedliche Verständigung zwischen Ost und West nur durch mehr Kontakte und Kommunikation, d. h. durch mehr wechselseitige Bindungen und Verflechtungen zu erreichen sei.
Hinsichtlich einer dritten Überlegung waren die westlichen Positionen nicht einheitlich. Während die einen annahmen, daß die -poli tisch-diplomatische Entspannung auch zu einer gesellschaftspolitischen Stabilisierung der sozialistischen Länder beitragen würde und sie dadurch einen größeren Spielraum für die Öffnung nach außen bekämen, vermuteten die anderen eher das Gegenteil: ein verstärktes Abgrenzungsstreben infolge der Entspannungspolitik. Unabhängig von dieser Einschätzung war jedoch klar, daß der Westen den Erfolg der KSZE-Verhandlungen davon abhängig machte, daß substantielle Vereinbarungen zur Förderung der Freizügigkeit zustande kommen würden. Im Endergebnis gelang es den westlichen Staaten, ihre prinzipiellen Leitvorstellungen weitgehend durchzusetzen. Erkauft wurde dieser Erfolg jedoch mit häufig abschwächenden oder einschränkenden Verbindlichkeitsformeln, die einen erheblichen Auslegungsspielraum schufen. Immerhin gab es mit der Unterzeichnung der Schlußakte von Helsinki im Sommer 1975 zum ersten Mal einen von Ost und West gemeinsam anerkannten Katalog von Maßstäben für die Weiterentwicklung der intersystemaren zwischenmenschlichen und zwischengesellschaftlichen. Beziehungen In dem Zeitraum seit der Unterzeichnung der Schlußakte haben sich diese Beschlüsse im Zusammenhang mit dem Prinzip VII (Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten) als die dynamischsten Elemente der KSZE erwiesen, wodurch eine für viele unerwartete Asymmetrie der Folgewirkungen der KSZE eintrat. So begründeten aktive Minderheiten ihre Auswanderungs-und Liberalisierungsforderungen in zunehmendem Maße mit der Schlußakte. Dabei konnten sie die weite Verbreitung des Textes und die offizielle Propagierung der KSZE in Osteuropa für sich nutzen.
Allerdings verdeckten diese spektakulären Ereignisse auch den Blick auf die weniger dramatischen Folgen des Korbes III. So gab es nach 1975 kaum noch eine uni-oder bilaterale Initiative zum Ausbau oder zur Erleichterung der Ost-West-Kontakte, die nicht zumindest teilweise als Implementierung der KSZE-Beschlüsse ausgewiesen wurde. In fast allen östlichen und auch in einigen westlichen Staaten bemühte man sich, die auswärtige Kulturpolitik KSZE-konform zu gestalten bzw. darzustellen. Außerdem geht aus den Berichten diverser westlicher Kontaktinstitutionen hervor, daß es seit der Veröffentlichung, der weiten Verbreitung und der offiziellen Propagierung der Schlußakte in Osteuropa zu einer größeren Flexibilität und Aufgeschlossenheit im Hinblick auf einen verstärkten Austausch mit dem Westen gekommen sei. Indizien hierfür liefern auch eine Vielzahl von Abkommen, die in der zweiten Hälfte der siebziger Jahre zwischen Jugendorganisationen, Sportverbänden, wissenschaftlichen Vereinigungen, Städten, Kirchen, Gewerkschaften und kulturellen Einrichtungen abgeschlossen wurden, um ihre intersystemare Zusammenarbeit und ihre gegenseitigen Besuche auf eine dauerhafte Basis zu stellen.
Daneben gelang es nach 1975, eine Reihe von zwischenstaatlichen Vereinbarungen zu treffen, die die Rahmenbedingungen für mehr Ost-West-Kontakte und -Kommunikation wesentlich verbesserten. Außer diversen Kulturabkommen gehörten hierzu vor allem die Visabeseitigungen im Reiseverkehr zwischen einigen bündnisfreien und sozialistischen Ländern (am spektakulärsten war das entsprechende Abkommen zwischen Ungarn und Österreich von 1979) 3. Transnationale Kontakte und Kommunikation als Ziel oder Mittel der Ost-West-Politik? Welche Bilanz läßt sich nach zehn Jahren KSZE im Hinblick auf die Entwicklung der transnationalen Kontakte und Kommunikation zwischen Ost und West ziehen? Drei Punkte erscheinen besonders wichtig
1. Es gibt eine deutliche Parallele zwischen der Verbesserung der politischen Beziehungen einerseits und der Entfaltung und Verbreitung der zwischenmenschlichen und zwischengesellschaftlichen Beziehungen andererseits. Auf der diplomatischen Ebene wird dieser Zusammenhang durch die Verknüpfung der drei Körbe der KSZE-Schlußakte dokumentiert, auf der transnationalen Ebene durch den häufigen Bezug auf die Orientierungsfunktion der KSZE-Vereinbarungen — wobei allerdings je nach Interessenlage entweder eher der „Geist von Helsinki" oder der „Buchstabe der Schlußakte“ beschworen werden.
Offensichtlich ist, daß die KSZE-Vereinbarungen in den siebziger Jahren viele alte Verbindungen erleichtert und etliche neue Kontakte angeregt haben. Für die achtziger Jahre ist eine solche Aussage schwieriger, weil die verschlechterten Ost-West-Beziehungen mit der Entspannungs-und Kooperationsorientierung der KSZE nicht mehr im Einklang standen. Bemerkenswert ist jedoch, daß nicht zuletzt infolge der KSZE das Niveau der west-östlichen Freizügigkeit als eine Art „Besitzstand“ in den intersystemaren Beziehungen interpretiert wird, der nicht ohne erhebliche Legitimationsprobleme in Frage gestellt werden kann.
Solange mithin beide Seiten überhaupt am KSZE-Prozeß festhalten, haben die Korb-III-Vereinbarungen zumindest eine bremsende Wirkung gegenüber den Tendenzen zur erneuten Abschnürung der zwischengesellschaftlichen Beziehungen.
2. Die Entwicklung der zwischengesellschaftlichen Beziehungen ist jedoch nicht nur als ein Produkt der Entspannungspolitik zu sehen. Mindestens ebenso wichtig ist die Eigendynamik der verschiedenen Aspekte transnationaler Kontakte und Kommunikation. Ohne den Druck der von den menschlichen Erleichterungen betroffenen Personengruppen, ohne die Mobilisierungskräfte des Massentourismus, ohne die universalistischen Tendenzen der Massenmedien, von Kultur, Wissenschaft und Bildung und ohne die ökonomischen Anreize zur grenzüberschreitenden Kooperation wären wohl die Impulse, den „Eisernen Vorhang“ durchlässiger zu machen, weit geringer ausgefallen.
3. Ein dritter Aspekt der Korb-III-Dynamik ist bereits erwähnt worden: die spektakulären Folgewirkungen innerhalb Osteuropas. Sowohl das demonstrative Bekenntnis zur Achtung der Menschenrechte im Korb I als auch die detaillierten Beschlüsse über mehr Freizügigkeit für Menschen und Informationen im Korb III veranlaßten aktive Minderheiten in den sozialistischen Staaten, ihre Auswanderungs-und Liberalisierungsforderungen nachdrücklicher und offensiver zu vertreten. Diese oppositionellen Bestrebungen verstärkten sich sowohl nach der Anzahl wie nach der Reichweite ihrer Forderungen derart, daß man seitdem von einer „Bürgerrechtsbewegung" in Osteuropa sprechen kann. Diese Bewegung äußerte sich zwar in unterschiedlicher Weise, je nach den besonderen Problemen der einzelnen Länder und den Interessen der betroffenen Gruppen, gemeinsam war ihnen jedoch der Bezug zur intersystemaren Ebene. Ihre Forderungen und ihr Kampf wurden über die westlichen Massenmedien verbreitet, westliche Initiativen setzten sich für ihre Belange ein, und mit dem Amtsantritt des US-Präsidenten Carter erhielten sie schließlich sogar eine offizielle und direkte Unterstützung durch eine westliche Regierung. Aus der Sicht der osteuropäischen Führungen erschienen die Westkontakte als eine entscheidende Antriebskraft dieser Bewegung. Sie reagierten auf deren Kritik deshalb auch mit neuen Abgrenzungsmaßnahmen gegenüber dem Westen. Allerdings fiel diese Abgrenzungspolitik wesentlich subtiler aus als diejenige zur Zeit des Kalten Krieges, um einerseits die Beziehungen mit den westlichen Staaten nicht übermäßig zu strapazieren und weil andererseits mittlerweile auch der Umgang mit der Opposition zivilisierter geworden war. Das wichtigste Stichwort wurde die „innere Abgrenzung“, d. h., an die Stelle der Ein-oder Ausreisebeschränkungen an der Grenze rückten ökonomische Hebel wie die Einführung oder Erhöhung von Mindestsätzen beim Devisentausch, Kontakteinschränkungen oder gar Kontaktverbote für bestimmte Berufsgruppen u. ä. 4. Perspektiven für den Korb III Die Auseinandersetzungen um den Korb III sind in ihrem Kern eine unvermeidliche Folge der Entspannungs-und Kooperationspolitik zwischen zwei Gesellschaftssystemen mit divergierenden Integrationsmechanismen und einem ökonomischen Entwicklungsgefälle. Aufgrund ihrer pluralen politischen und soziokulturellen Systeme sowie der materiellen Überlegenheit verfügen die westlichen Länder auf der zwischengesellschaftlichen Ebene über erheblich größere Handlungsspielräume und -potentiale, die um so mehr zur Geltung kommen, je weniger die Interaktionskanäle politisch-administrativ kontrolliert werden. Dieses Ungleichgewicht wird auch durch die Existenz eines ideologischen Monopolanspruchs bei den Führungsgruppen in den sozialistischen Ländern nicht ausgegli19 chen. Im Gegenteil: Gerade dieser Anspruch provoziert innergesellschaftliche Gegentendenzen und verstärkt die Faszination für (fast) alles, was aus dem Westen kommt Eine Folge dieser asymmetrischen Interaktionsbedingungen sind asymmetrische Interaktionsströme. Auch wenn in den letzten Jahren manche dieser Asymmetrien geringer geworden sind, wird der KSZE-Prozeß im Korb III auf absehbare Zeit ein „Management von Asymmetrien“ beinhalten müssen. So ist z. B. anzunehmen, daß* die neuen Informationsund Kommunikationstechnologien die asymmetrischen Verhältnisse zuungunsten der östlichen Systeme verschärfen werden.
Um ein Beispiel herauszugreifen: Sollte es zu einer flächendeckenden Versorgung Osteuropas mit westlichen Fernsehprogrammen über die technischen Möglichkeiten der Satelliten-kommunikation kommen, dürfte das den west-östlichen Informationsfluß auf eine quantitativ und qualitativ völlig neue Stufe stellen. Der Abgrenzungsbedarf, den die UdSSR auf diesem Gebiet bereits seit längerem im Rahmen der UNESCO anmahnt, wird zwangsläufig auch die KSZE beschäftigen müssen. Ein anderes Beispiel, wo derzeit ein Abgrenzungsbedürfnis eher auf der westlichen Seite gesehen wird, ist der systemüberschreitende (on-line-) Zugang zu Datenbanken.
Falls sich Ost und West darüber verständigen sollten, auch die neuen Informations-und Kommunikationstechnologien in den Korb-III-Katalog aufzunehmen, stellt sich die Frage nach einem längerfristig tragfähigen Konzept zur Regulierung der transsystemaren Kontakte und Kommunikation noch dringlicher als in der Vergangenheit. Welche Zielsetzungen sollten dafür handlungsleitend sein?
Unbestreitbar bleibt es eine wichtige Aufgabe der Ost-West-Politik, mehr individuelle Freizügigkeit beim Reiseverkehr sowie beim Zugang zu Informationen, zu Kultur, Bildung und Wissenschaft zu schaffen. Das ist jedoch nur die eine Seite der Medaille. Unter friedenspolitischen Gesichtspunkten geht es auch darum, die zwischenmenschlichen und zwischengesellschaftlichen Beziehungen so zu gestalten, daß sie der politischen Verständigung zuträglich sind.
Für diese „politische Verständigung" erscheinen zwei Kriterien als besonders wesentlich: — ein Lernprozeß auf möglichst vielen Ebenen der beiden Gesellschaftssysteme, der zu einem möglichst differenzierten und wirklichkeitsgetreuen Bild der jeweils anderen Seite führt (Empathie);
— die Bereitschaft der politischen Führungen, die transsystemare Kommunikation schrittweise auf der Basis von Kompromissen zu entfalten (Modus vivendi)
Welche Konsequenzen ergeben sich aus diesen Kriterien für die künftige Gestaltung der Korb-III-Politik? Die wichtigste Konsequenz: Ohne eine breite innergesellschaftliche Unterstützung für Entspannungs-und Verständigungspolitik besteht die Gefahr, daß durch mehr transsystemare Kontakte und Kommunikation die bestehenden Asymmetrien noch mehr verstärkt werden bzw. die west-östlichen Spannungen sich auf neue Konfliktfelder ausbreiten. Deshalb ist eine systematische „Entspannungspolitik von unten“ die notwendige Ergänzung für die Weiterentwicklung des Korbes III. Im einzelnen besteht diese „Entspannungspolitik von unten“ aus den folgenden Elementen: 1. Der Ost-West-Konflikt darf nicht als ein Null-Summen-Spiel betrachtet werden, bei dem die eine Seite das gewinnt, was die andere verliert. Vielmehr ist davon auszugehen, daß dieser Konflikt aus einer Mischung antagonistischer und kooperativer Elemente besteht. Wünschenswert wäre es, wenn der ideologische Konflikt auf der Basis einer Anerkennung der Gleichwertigkeit der antagonistischen Positionen ausgetragen und die Kooperation im Sinne einer schrittweisen Ausdehnung von Feldern gemeinsamen Nutzens entwickelt werden könnte. 2. Die transsystemaren Kontakte und Kommunikationen verschiedener gesellschaftlicher Gruppierungen und Institutionen sollten auf möglichst vielen Ebenen verankert werden, wobei die professionelle und die Experten-Ebene eine besondere Aufmerksamkeit verdienen, weil hier die Chancen für Empathieeffekte und eine Modus-vivendi-Orientierung am größten sind. 3. Angesichts der vielfältigen Asymmetrien, des Mißtrauens und der grundlegenden poli30) tischen Differenzen ist eine erfolgreiche „Entspannungsstrategie von unten" auf die „Politik der kleinen Schritte", auf einen langen Atem und auf ein gradualistisches Verständnis der Wechselwirkungen zwischen beiden Seiten angewiesen.
Der KSZE-Prozeß schließlich hätte in diesem Rahmen die wichtige Funktion eines Steuerungsinstrumentariums, in dem der Modus vivendi der west-östlichen Verständigung regelmäßig überprüft, neu definiert und weiterentwickelt wird.
VI. Schlußfolgerungen zur gesamteuropäischen Entspannung und Zusammenarbeit
Trotz aller Enttäuschungen und Frustrationen in Ost und West hat sich der KSZE-Prozeß bisher als einer der krisenstabilsten Faktoren der gesamteuropäischen Beziehungen erwiesen. In manchen Phasen der KSZE-Geschichte sah es zwar so aus, als ob die Grenzen des Interessenausgleichs, auf dem dieses diplomatische Gerüst beruht, schon weit überschritten worden wären, in buchstäblich letzter Minute kam jedoch in der Regel noch ein Kompromiß zustande. Ob das auch weiterhin gelingen wird, ist eine offene Frage. Immerhin haben die KSZE-Teilnehmerstaaten in Madrid ausdrücklich das Prinzip regelmäßiger Folgetreffen festgeschrieben. Welchen Einfluß die künftige Konferenzdiplomatie und ihre Beschlüsse auf das Klima, den Umfang und die Intensität der gesamteuropäischen Beziehungen tatsächlich haben werden, steht allerdings noch auf einem anderen Blatt.
Einige Antworten auf diese Frage sind bereits in der exemplarischen Analyse der drei Körbe angedeutet worden. Andere Antworten ergeben sich zwangsläufig aus der Entwicklung der politischen Rahmenbedingungen im Ost-West-Verhältnis insgesamt. Im Hinblick auf das Ziel, den mit dem KSZE-Prozeß eingeschlagenen Weg der gesamteuropäischen Entspannung und Kooperation zu stabilisieren und weiterzuentwickeln, sollen abschließend noch einmal vier wichtige Aspekte skizziert werden: 1. das Engagement der kleineren und mittleren europäischen Staaten als Rückgrat des KSZE-Prozesses;
2. die Bereitschaft zum Modus vivendi als Voraussetzung für die Kooperation zwischen antagonistischen Partnern;
3. die stärkere Verankerung der gesamteuropäischen Verständigungsdiplomatie innerhalb der beteiligten Gesellschaften durch vermehrte „Entspannungspolitik von unten“; und schließlich 4. die Ergänzung des vorhandenen KSZE-Instrumentariums um gradualistisch angelegte, unilaterale und verbindliche Selbstverpflichtungen. Ein erklärtes Ziel des KSZE-Prozesses ist die Vertrauensbildung zwischen Ost und West Diesem Zweck dienen nicht nur die ausdrücklich so genannten „Vertrauensbildenden Maßnahmen", sondern auch ein großer Teil der übrigen, in der Schlußakte und den anderen KSZE-Dokumenten -festgeschriebenen Verhaltensregeln und Absichtserklärungen. Wie ausgeführt, liegt ein zentrales Dilemma dieser Methode der Vertrauensbildung jedoch darin, daß gerade die vertrauensbildende Absicht, mit der eine Handlung unternommen wird, genau den gegenteiligen Effekt beim (mißtrauischen) Gegner auslösen kann. Wesentlich wirksamer dürften demgegenüber einseitige und freiwillige Maßnahmen sein, die im Laufe eines längerfristigen Prozesses den Gegner von der Glaubwürdigkeit der eigenen Politik überzeugen würden.
Eine solche gradualistische Strategie könnte in den KSZE-Prozeß integriert werden, indem einzelne Staaten oder Staatengruppen zusätzlich zu den Vereinbarungen, die für alle Teilnehmerstaaten konsensfähig sind, weitergehende, politisch verbindliche Selbstverpflichtungen auf sich nehmen und diese auch in den KSZE-Dokumenten kodifizieren lassen. Die einseitigen Verpflichtungen mit „Vorbild" -Charakter sollten ebenso wie die übrigen Beschlüsse zum Thema nachfolgender Überprüfungskonferenzen werden. Auf diese Weise könnte der Vertrauensbildungsprozeß vermutlich eher beschleunigt werden als durch die regelmäßige Absprache über den „kleinsten gemeinsamen Nenner".
Mathias Jopp, Dr. phil, geb. 1950; Studium der Wirtschaftswissenschaften und der politischen Wissenschaften an den Universitäten Gießen und Frankfurt; seit 1976 wissenschaftlicher Mitarbeiter der Hessischen Stiftung Friedens-und Konfliktforschung (HSFK) in Frankfurt am Main. Veröffentlichungen u. a.: Militär und Gesellschaft in der Bundesrepublik Deutschland, Frankfurt 1983; Die Europäische Gemeinschaft, in: Reinhard Rode/Hanns-D. Jacobsen (Hrsg.), Wirtschaftskrieg oder Entspannung. Eine politische Bilanz der Ost-West-Wirtschaftsbeziehungen, Bonn 1984. Berthold Meyer, Dr. rer. soc., geb. 1944; Bankkaufmann; Studium der Rechtswissenschaften, der politischen Wissenschaften und der Soziologie an der Universität Tübingen; bis 1980 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Politikwissenschaft der Universität Tübingen; seit 1981 wissenschaftlicher Mitarbeiter der HSFK. Veröffentlichungen u. a.: Der Bürger und seine Sicherheit. Zum Verhältnis von Sicherheitastreben und Sicherheitspolitik, Frankfurt 1983; Atomwaffenfreie Zone und Vertrauensbildung in Europa, Frankfurt 1985. Norbert Ropers, Dipl. Soz., Dr. phil, geb. 1944; Studium der Soziologie, der Wirtschaftswissenschaften und politischen Wissenschaften an den Universitäten Hamburg und Frankfurt; von 1974 bis 1980 Referent für Forschungsförderung in der Deutschen Gesellschaft für Friedens-und Konfliktforschung; seit 1980 wissenschaftlicher Mitarbeiter der HSFK. Veröffentlichungen u. a.: (Mitherausgeber), DGFK-Jahrbuch 1979/80. Zur Entspannungspolitik in Europa, Baden-Baden 1980; (Hrsg.), Osteuropa. Ein Reisebuch in den -Alltag, Reinbek bei Hamburg 1985. Peter Schlotter, Dr. phil, geb. 1945; Studium der politischen Wissenschaften, Geschichte und der deutschen Literaturwissenschaften an den Universitäten München, Heidelberg und Frankfurt; seit 1974 wissenschaftlicher Mitarbeiter der HSFK; seit 1976 Lehrbeauftragter an der Universität Frankfurt Veröffentlichungen u. a.: Rüstungspolitik in der Bundesrepublik Deutschland. Die Beispiele Starfighter und Phantom, Frankfurt 1975; (zus. mit Carola Bielfeldt) Die militärische Sicherheitspolitik der Bundesrepublik Deutschland. Einführung und Kritik, Frankfurt 1980.
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