Energiewirtschaft und Energiepolitik in der Bundesrepublik Deutschland vor neuen Herausforderungen. Möglichkeiten und Folgen eines sofortigen oder eines mittel-bzw. längerfristigen Ausstiegs aus der Kernenergie | APuZ 32/1986 | bpb.de
Energiewirtschaft und Energiepolitik in der Bundesrepublik Deutschland vor neuen Herausforderungen. Möglichkeiten und Folgen eines sofortigen oder eines mittel-bzw. längerfristigen Ausstiegs aus der Kernenergie
Hans-Joachim Ziesing
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Zusammenfassung
Gemessen an den energiepolitischen Zielen einer ausreichenden und sicheren, preis-und kostengünstigen sowie umweltverträglichen Energieversorgung scheint sich in der Bundesrepublik Deutschland zumindest kurzfristig kein Handlungsbedarfzu ergeben. Der Anstieg des Energieverbrauchs ist nach den beiden zurückliegenden Ölpreiskrisen gebremst. Für die Zukunft wird allenfalls noch mit einer geringfügigen Verbrauchssteigerung gerechnet. Die Abhängigkeit vom Öl hat sich spürbar gemindert. Die Energiepreise — vor allem von Öl und Gas — sind in jüngster Zeit kräftig gefallen. Zur Reduzierung der gerade aus dem Energiebereich herrührenden Luftverunreinigungen sind wirksame Maßnahmen beschlossen oder eingeleitet. Nach dem Reaktorunfall in Tschernobyl sind aber die langjährigen Kontroversen um die Kernenergie wieder mit aller Heftigkeit ausgebrochen. Die energiepolitische Diskussion — aber nicht nur sie — wird heute vor allem von der Frage nach einem möglichst umgehenden Verzicht auf die Nutzung der Kernenergie beherrscht. Die Gesellschaft ist immer weniger bereit, die nuklearen Risiken weiterhin hinzunehmen. Energiewirtschaft und Energiepolitik können sich dieser Auseinandersetzung nicht entziehen. Angesichts der gegenwärtig bereits erreichten Bedeutung der Kernenergie für die Energieversorgung — mehr als jede dritte Kilowattstunde in der öffentlichen Elektrizitätsversorgung stammt heute aus Kernkraftwerken — dürfte ein kurzfristig durchgesetzter Verzicht allerdings mit schwierigen versorgungswirtschaftlichen und gesamtwirtschaftlichen Problemen verbunden sein. Mittel-bis längerfristig angelegte Strategien erhöhen den Gestaltungsspielraum und verbessern die Chancen für einen friktionsärmeren Übergang auf eine Energieversorgung ohne Kernenergie.
Der vorliegende Aufsatz spiegelt ausschließlich die Meinung des Autors wider.
I. Vorbemerkung
Nach dem Reaktorunfall in Tschernobyl geriet die vorhergehende Diskussion über die wirtschafts-und energiepolitischen Konsequenzen des jüngsten Ölpreisverfalls in den Hintergrund. An ihre Stelle trat die wieder mit aller Heftigkeit aufbrechende Kontroverse um die weitere Nutzung der Kernenergie. Die Grünen sehen sich in ihrer traditionellen Forderung nach einem Sofort-ausstieg bestätigt, weite Teile der SPD halten nunmehr ebenfalls den Einsatz von Kernkraftwerken nicht mehr länger für vertretbar, und auch der DGB faßte auf seinem Bundeskongreß in Hamburg in Abweichung von seinen früheren Vorstellungen den Beschluß, so bald wie möglich auf die Kernenergie zu verzichten. Selbst in den regierenden Koalitionsparteien ist die langfristige weitere Nutzung der Kernenergie nicht unumstritten.
Abbildung 7
Abbildung 7
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Ohne die äußerst komplexe Problematik, die sich bei einer Risikoabwägung zwischen einer Energieversorgung mit bzw. ohne Kernenergie stellt, auch nur annäherungsweise abschließend behandeln zu können, soll im folgenden auf einige Aspekte im Hinblick auf die Möglichkeiten und Konsequenzen eines Verzichts auf die Kernenergienutzung eingegangen werden. Dem ist vorangestellt ein Überblick über die energiepolitische Ausgangslage und ihrer Perspektiven.
II. Energiepolitische Ausgangstage und Perspektiven
Abbildung 2
Tabelle 2: Kernkraftwerke in der Bundesrepublik Deutschland (Stand: Ende 1985) Quelle: atw-report: Neue Kernkraftwerke in der Bundesrepublik Deutschland 1986, in: atomwirtschaft, (1986) 4.
Tabelle 2: Kernkraftwerke in der Bundesrepublik Deutschland (Stand: Ende 1985) Quelle: atw-report: Neue Kernkraftwerke in der Bundesrepublik Deutschland 1986, in: atomwirtschaft, (1986) 4.
Gemessen an den inzwischen gängigen energiepolitischen Globalzielen einer ausreichenden und sicheren, preis-und kostengünstigen sowie umweltverträglichen Energieversorgung scheint sich ein kurzfristiger politischer Handlungsbedarf nicht zu ergeben. Zwar gehören Energieerzeugung, Energieumwandlung und Energieverwendung zu den wichtigsten Quellen für die Luftverunreinigungen, doch sind hier bei konsequenter Durchführung der 1983 verabschiedeten Großfeuerungsanlagen-Verordnung, der Maßnahmen zur Einführung schadstoffarmer Fahrzeuge und der im Februar 1986 verabschiedeten TA Luft sowie mit den geplanten Maßnahmen zur Reduzierung der Emissionen aus Kleinfeuerungsanlagen und der Halbierung des Schwefelgehaltes im leichten Heizöl in den kommenden Jahren spürbare Entlastungen zu erwarten.
Mit der 1983 wieder einsetzenden konjunkturellen Belebung in der Bundesrepublik Deutschland und in anderen Industrieländern schienen auch die negativen Wirkungen der zweiten Ölpreiskrise vom Ende der siebziger Jahre überwunden und einer weitgehend störungsfreien Entwicklung auf den Energiemärkten gewichen zu sein. Die vorher nicht für möglich gehaltenen Anpassungsreaktionen der Energieverbraucher an die besonders durch die zweite Ölpreiskrise grundlegend veränderten Rahmenbedingungen setzten fast überall Substitutions-und Einsparprozesse — hauptsächlich zu Lasten des Mineralöls — in einem solchen Umfang in Gang, daß es weltweit bald zu einem teilweise erheblichen Überangebot auf den Energiemärkten und — damit verbunden — zu einem spürbaren Druck auf die Energiepreise und zum Verfall der Ölpreise kam. Einen zusammengefaßten Überblick über die Entwicklung des Energie-verbrauchs in der Bundesrepublik Deutschland gibt Tabelle 1. Die aktuelle Preissituation gibt auch mittelfristig keinen Anlaß zu größerer Sorge. Die Sorge gilt eher der Gefahr von erneuten Energiepreisschüben auf längere Sicht. Für die kommenden Jahre lassen sich angesichts des weltweiten Überangebots an Primärenergieträgern ebenfalls keine außergewöhnlichen Versorgungsrisiken erkennen. Dies gilt für die — überdies im Inland reichlich vorhandenen — Stein-und Braunkohlen ebenso wie für Erdgas und für Kernbrennstoffe. Zumindest auf mittlere Sicht gilt dies aber auch für das Mineralöl. Diese Vermutung stützt sich u. a. auf die Tatsache, daß sich die Strukturen auf dem Welterdölmarkt seit der ersten Ölkrise wesentlich gewandelt haben. So hat sich der Anteil der OPEC-Länder an der gesamten Welterdölförderung von 54 v. H. im Jahre 1973 bis heute auf nur noch 28 v. H. vermindert. Bei weltweit nahezu unveränderter Förderung ging diejenige in der OPEC von gut 1, 5 Mrd. t (1973) auf knapp 0, 8 Mrd. t (1985) fast um die Hälfte zurück. Entsprechend wurde außerhalb der OPEC deutlich mehr Öl gefördert. Hervorzuheben ist insbesondere der Zuwachs in Westeuropa, wo die Ölförderung dank der Vorkommen in der Nordsee in den Jahren von 1973 bis 1985 um mehr als das Achtfache auf nahezu 190 Mill, t gesteigert werden konnte. Hiervon hat vor allem auch die Bundesrepublik Deutschland profitiert, deren Abhängigkeit bei den Rohölbezügen von der OPEC von einem Anteil von 96 v. H. (1973) auf 55 v. H. reduziert werden konnte — demgegenüber stammte 1985 rund ein Drittel des in inländischen Raffinerien verarbeiteten Importöls aus der Nordsee (1973: 0, 3v. H.).
Auf der anderen Seite zeigen die vorliegenden Daten aber auch, daß unter langfristigen Aspekten kein Anlaß zur Sorglosigkeit besteht. Trotz spürbarer Anteilseinbußen ist das Öl in den meisten Ländern immer noch der bedeutsamste Energieträger. Auch hat sich an der grundlegenden Konstellation bei den Rohölvorräten in den vergangenen Jahren wenig geändert: Nach wie vor verfügt die OPEC mit rund zwei Dritteln über den bei weitem größten Anteil aller nachgewiesenen Ölreserven. Sie bleibt damit langfristig weiterhin die wichtigste Rohölversorgungsquelle für die westlichen Verbraucherländer. Vor diesem Hintergrund sind auch die fortgesetzten Mahnungen der Internationalen Energieagentur (IEA) zu verstehen, bei den Bemühungen um eine möglichst sparsame Ölverwendung nicht nachzulassen.
Anders als in den siebziger Jahren, als man für die Zukunft noch einen kräftigen Anstieg des Energieverbrauchs erwartet hatte, kommen fast alle in jüngerer Zeit vorgelegten Prognosen über die künftige Entwicklung des Energieverbrauchs in der Bundesrepublik Deutschland — sofern sie unter der Annahme von im wesentlichen gleichbleibenden energiepolitischen Rahmenbedingungen einen wahrscheinlichen Zukunftsverlaufbeschreiben wollen — zu dem Ergebnis, das zumindest bis zur Jahrhundertwende mit keinem wesentlichen Anstieg der Energienachfrage zu rechnen ist Überwiegend wird angenommen, daß sich die Bemühungen der Energieverbraucher um eine möglichst rationelle und sparsame Energieverwendung, die nach der zweiten Ölpreiskrise einen entscheidenden Auftrieb erhalten haben, weiter fortsetzen werden. Daher wird zumeist für die Jahrhundertwende bei leichten sektoralen Strukturverschiebungen allenfalls noch mit einem gegenüber dem heutigen Niveau geringfügig höheren Endenergieverbrauch gerechnet. Dabei werden auch die Tendenzen im Hinblick auf dessen Energieträgerstruktur im wesentlichen einheitlich gesehen: Bei einem weiterhin spürbar steigenden Stromverbrauch wird sich die Bedeutung von festen Brennstoffen und von Mineralölprodukten für die Deckung des Endenergieverbrauchs vermindern. Von Seiten der Mineralölindustrie wird für die Bundesrepublik Deutschland im übrigen auch nach dem jüngsten Ölpreisverfall keine Umkehr dieser Tendenz angenommen Freilich dürfte dies entscheidend davon abhängen, wie lange es bei dem gegenwärtig niedrigen Ölpreisniveau bleibt.
Aufgrund des erwarteten Stromverbrauchszuwachses würde sich der Primärenergieverbrauch wegen der hohen Umwandlungsverluste bei der Stromerzeugung in Zukunft stärker als der Endenergieverbrauch erhöhen. Nach den vorliegenden Prognosen wird die steigende Stromnachfrage vornehmlich aus Kernkraftwerken gedeckt, so daß sich der Versorgungsbeitrag dieses Energieträgers in Zukunft noch ausweiten würde. Nach Schätzungen von Prognos könnte sich z. B. die Kapazität der Kernkraftwerke bis zum Jahre 2000 auf rund 22 000 bis 27 400 MW vergrößern (Ende 1985: 17 246 MW), der Anteil der Kern-energie am Primärenergieverbrauch würde dann etwa 13, 5 bis 15, 5 v. H. betragen (1985: 10, 7 v. H.). Diese Voraussage muß nach dem Reaktorunfall in Tschernobyl schon angesichts der dadurch in weiten Kreisen der Bevölkerung gewachsenen Ablehnung der Kernenergie vermutlich überdacht werden. Stärker noch als je zuvor dürfte die weitere politische Diskussion von der Frage nach einem möglichst baldigen Ausstieg aus der Kernenergie beherrscht werden.
Bereits im Zusammenhang mit den früheren Auseinandersetzungen um die Kernenergie sind von deren Kritikern immer wieder Szenarien vorgelegt worden, die zumindest auf die technisch realisierbaren Alternativen einer Energieversorgung ohne Kernenergie verwiesen haben Parallel hierzu wurde im übrigen auch die — mit den Ergebnissen zahlreicher Studien und mit den praktischen Erfahrungen der Kemkraftwerksbetreiber begründete — Behauptung einer wirtschaftlichen Überlegenheit der Stromerzeugung in Kernkraftwerken im Vergleich zu anderen Stromerzeugungstechniken ebenso bestritten wie die energiepolitische Notwendigkeit, zur Sicherung einer weltweit vermutlich weiter steigenden Energie-nachfrage auf die Nutzung des Urans als Energiequelle zurückgreifen zu müssen.
Ihren prominentesten Ausdruck fand die Diskussion über alternative Pfade der Energieversorgung und der in der Gesellschaft hierzu vertretenen unterschiedlichen Sichtweisen in den Ergebnissen, die die Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages „Zukünftige Kernenergie-Politik“ im Jahre 1980 vorlegte Für zwei der insgesamt vier im einzelnen dokumentierten Pfade einer künftig möglichen Energieversorgung in der Bundesrepublik Deutschland wurde ein Weg ohne Kernenergie beschrieben. Die Kommission hielt damals freilich den Zeitpunkt noch nicht für gekommen, eine grundsätzliche Entscheidung für oder gegen einen Weg mit der Kernenergie zu treffen. Die Kommission hegte vielmehr die Erwartung, daß eine solche Entscheidung etwa um das Jahr 1990 möglich sei, wenn man besser übersehe, „ob die Voraussetzungen eines Verzichts auf Kernenergie, insbesondere die notwendigen Energieeinsparerfolge, sich einstellen werden oder nicht“ Bei der Angabe dieses Zeitpunktes setzte die Kommission voraus, daß ihre „Empfehlungen energiepolitischer Maßnahmen zum Energieeinsparen und zur Technologieentwicklung zügig in Angriff genommen und umgesetzt werden, um nach den von der Kommission beschlossenen Kriterien zur Bewertung von Energiesystemen einen rationalen Vergleich der beiden Wege in fairer Konkurrenz zu ermöglichen
Gegenwärtig sind derartige strategische Überlegungen, die auch noch Grundlage für den kürzlich von Meyer-Abich und Schefold veröffentlichten Bericht über die Sozialverträglichkeit von Energiesystemen waren hinter die aktuelle Diskussion über den möglichst sofortigen Ausstieg aus der Kernenergie zurückgetreten. Insoweit könnten die jüngsten Ereignisse den von der Enquete-Kommission anvisierten Zeitpunkt für eine grundsätzliche Entscheidung vorverlegt haben.
III. Möglichkeiten und Folgen eines sofortigen Ausstiegs aus der Kernenergie
Abbildung 3
Tabelle 3: Kraftwerkskapazität in der öffentlichen Elektrizitätsversorgung (in MW)
Tabelle 3: Kraftwerkskapazität in der öffentlichen Elektrizitätsversorgung (in MW)
Es hilft wenig, wenn es bei dem die Diskussion in den vergangenen Wochen bestimmenden Schlagabtausch von Positionen bleibt, bei dem den Be-fürchtungen vor einer nuklearen Katastrophe der plakative Hinweis auf eine wirtschaftliche Katastrophe im Falle eines sofortigen Kernenergieausstiegs entgegengestellt wird. Was not tut, ist, daß das Für und Wider der Kernenergie unter Abwä-gung aller hierbei zu berücksichtigenden Aspekte einer möglichst vorurteilsfreien Überprüfung unterzogen wird. Angesichts der verständlichen Sorgen um die nuklearen Risiken der Kernenergie-nutzung ist es berechtigt, wenn dabei vorrangig geprüft wird, welche Möglichkeiten eines Verzichts auf die Kernenergie bestehen, welche Maßnahmen für diesen Weg erforderlich sind und welche Konsequenzen daraus resultieren.
Es geht letztlich um die Frage, ob wir uns mit einem Ausstieg aus der Kernenergie tatsächlich größere Probleme einhandeln als mit ihrer Beibehaltung. Diese Problemstellung ist zu komplex, um sie in diesem Beitrag angesichts des derzeitigen Wissensstandes in all ihren Facetten adäquat behandeln zu können. Deshalb kann es bei den weiteren Überlegungen nur darum gehen, auf einige wichtige Aspekte hinzuweisen.
Bei jeder Diskussion über einen Ausstieg aus der Kernenergie ist es von großer Bedeutung, welches Ausstiegsszenario man unterstellt. Der geforderte Sofortausstieg binnen weniger Monate ist zwangsläufig anders einzuschätzen als ein Ausstieg auf mittlere oder längere Sicht. Im ersten Fall kann lediglich auf die unmittelbar zur Verfügung stehenden Alternativen zurückgegriffen werden — der Freiheitsspielraum engt sich hierdurch beträchtlich ein —; im zweiten Fall sind demgegenüber größere Spielräume für einen friktionsärmeren Anpassungsprozeß gegeben. Es scheint auch plausibel, daß die Konsequenzen eines Sofortausstiegs unter ökonomischen Aspekten sicher schwerwiegender sind als bei einem stufenweisen Ausstieg. Sollten sorgfältige Untersuchungen über die Folgen eines Sofortausstiegs zu einem für die politischen Entscheidungsträger akzeptierbaren Ergebnis führen, so wäre eine Folgenabschätzung für Stufenkonzepte im Grunde entbehrlich. Umgekehrt kann aber immer noch der Frage nach den Umsetzungschancen und Folgen von Stufen-konzepten nachgegangen werden.
Kraftwerkskapazitäten Wenn in der Bundesrepublik Deutschland schon in den vergangenen Jahren immer wieder von Kernenergiekritikern betont worden ist, daß ein Verzicht auf die Kernenergie kurzfristig möglich sei, so stützt sich diese Auffassung in erster Linie auf die Annahme entsprechender Überkapazitäten im Bereich der öffentlichen Elektrizitätsversorgung. Nun ist es weitgehend unstrittig, daß es hier solche Überkapazitäten gibt, ihr Umfang wird allerdings von den Elektrizitätsversorgungsunternehmen und von Kernenergiekritikern sehr unterschiedlich eingeschätzt und bewertet. Die Elektrizitätswirtschaft kann die ihr auferlegte Verpflichtung einer jederzeit sicheren Stromversorgung nur dann erfüllen, wenn sie über ausreichende Kapazitäten zur Deckung des jeweils höchsten Leistungsbedarfs (Höchstlast) verfügt. Dabei muß sie berücksichtigen, daß in den Wintermonaten, in denen diese Höchstlast auftritt, ein Teil der insgesamt installierten Kraftwerkskapazitäten vorhersehbar nicht verfügbar ist und ein weiterer Teil als Reserve für unerwartete Verbrauchssteigerungen und unplanmäßige Kraftwerksausfälle vorgehalten werden sollte. Die Unternehmen veranschlagen die notwendigen Reservekapazitäten im allgemeinen auf etwa 20 bis 25 v. H.der Höchstlast — ein Wert, der von manchem Kritiker freilich als bei weitem überhöht angesehen wird.
Die bisher in der Bundesrepublik Deutschland erreichte Höchstlast im öffentlichen Netz trat im Januar des vergangenen Jahres mit rund 58 800 MW auf. Folgt man den Annahmen der Elektrizitätswirtschaft 10), so betrug damals unter Einrechnung der nicht verfügbaren Leistung (11 400 MW) und der erforderlichen Reserveleistung 800 MW) die sogenannte freie Leistung — also die Überkapazität — lediglich 5 100 MW. Dabei ist zu berücksichtigen, daß die damalige Höchstlast aufgrund der außergewöhnlich niedrigen Temperaturen witterungsbedingt sehr stark nach oben verzerrt war und außerdem die hohe nicht verfügbare Leistung zum großen Teil darauf beruhte, daß gerade drei Kernkraftwerke mit einer Kapazität von zusammen 3 800 MW in der Inbetriebnahmephase waren und daher nur bedingt zur Lastdeckung herangezogen werden konnten. Die tatsächlichen Überkapazitäten dürften somit eher über den genannten 5 100 MW gelegen haben.
Da die bisherige Höchstlast noch nicht wieder erreicht worden ist, haben sich die Überkapazitäten angesichts der seither weiter vergrößerten Kraftwerkskapazitäten inzwischen nochmals erhöht. Ende 1985 betrug die in der öffentlichen Versorgung insgesamt installierte Bruttoengpaßleistung knapp 83 400 MW — fast 3 800 MW mehr als im Vorjahr. Abzüglich des Eigenverbrauchs der Kraftwerke belief sich die Nettoengpaßleistung auf 79 300 MW. Einschließlich der vertraglich gesicherten Bezüge aus inländischen Industrie-kraftwerken und aus dem Ausland (zusammen rund 9 700 MW) betrug die Nettoleistung in der öffentlichen Versorgung Ende 1985 rund 89 000 MW. Unter der Annahme, daß zum Zeitpunkt der Höchstlast entsprechend dem langjährigen Mittel rund 8 000 MW nicht einsetzbar waren, ergibt sich eine verfügbare Leistung von 81 000 MW. Bei einer unveränderten Höchstlast von 58 800 MW und der dafür für ausreichend erachteten Reserveleistung von 10 800 MW (s. o.) würden sich die Überkapazitäten auch nach den Kriterien der Elektrizitätswirtschaft auf mindestens 11 000 MW belaufen. Hierbei handelt es sich jedoch in erster Linie um Öl-und Gaskraftwerke, deren Einsatz in den vergangenen Jahren aus ökonomischen, aber auch aus energiepolitischen Gründen bewußt reduziert worden ist.
Vor diesem Hintergrund ist zu prüfen, welche unmittelbaren Folgen eine sofortige Stillegung aller Kernkraftwerke auf die elektrizitätswirtschaftliche Leistungsbilanz und auf die Struktur der Stromerzeugung hätte. Ende 1985 waren in der Bundesrepublik Deutschland insgesamt 19 Kernkraftwerke mit einer Bruttoleistung von 17 246 MW bzw. einer Nettoleistung von 16 382 MW in Betrieb (vgl. Tabelle 2). Unter sonst unveränderten Bedingungen würde der öffentlichen Stromversorgung nach einem Abschalten dieser Anlagen nur noch eine Leistung von ungefähr 72 800 MW (netto) zur Verfügung stehen. Das sind 14 000 MW oder knapp 24 v. H. mehr als die bisherige Höchstlast. Da hieraus aber auch die zum Zeitpunkt der Höchstlast vorhersehbar nicht einsetzbare Kapazität in einer Größen-
Ordnung von vielleicht 7 000 MW ausgeglichen werden muß, verbleiben für die Reservehaltung ebenfalls noch etwa 7 000 MW — immerhin rund 12 v. H.der bisherigen Höchstlast.
Nach den Kriterien der Elektrizitätswirtschaft wäre damit eine jederzeit gesicherte Stromversorgung nicht zu garantieren. Es muß aber hinzugefügt werden, daß dies nur dann gilt, wenn tatsächlich der „Reservefall" eintreten sollte. Andererseits erlaubt eine derartige Leistungsbilanz in Zukunft jedoch kaum noch Nachfragesteigerungen über die bisherige Höchstlast hinaus. Die Forderung nach einem sofortigen und vollständigen Ausstieg aus der Kernenergie macht es daher nötig, einen weiteren Lastanstieg zu vermeiden oder — besser noch — eine Minderung der Leistungsnachfrage zu erreichen. Dies dürfte zu einem erheblichen Politikbedarf führen.
Schließlich muß berücksichtigt werden, daß sich die zuvor genannten Zahlen stets auf das Bundesgebiet insgesamt beziehen. Innerhalb einzelner Regionen ist die Struktur der Kraftwerkskapazitäten jedoch recht unterschiedlich, wie folgende Übersicht für die Kraftwerke in der öffentlichen Elektrizitätsversorgung zeigt (Stand Ende 1985; Angaben z. T. geschätzt):
Angesichts der überdies existierenden ungleichen regionalen Verteilung von Stromverbrauch und Stromerzeugung ist zu vermuten, daß eine sofortige Stillegung sämtlicher Kernkraftwerke zu regionalen Friktionen führen könnte, die über das Verbundnetz mangels ausreichender Transportkapazitäten nicht ohne weiteres auszugleichen sind.
Stromerzeugung Bei der Diskussion um die Forderung nach einem Sofortausstieg aus der Kernenergie ist also zunächst eine sorgfältige Abwägung der nuklearen Risiken und der Risiken einer nicht mehr in jedem Fall gesicherten Stromversorgung vorzunehmen. Dabei wird auch zu bedenken sein, von welchen anderen Kraftwerken die Stromerzeugung übernommen werden könnte, falls die Kernkraftwerke abgeschaltet werden. Immerhin trug die Kernenergie im Jahre 1985 mit rund 125 Mrd. kWh oder 36 vH zur Stromerzeugung aller Kraftwerke der öffentlichen Versorgung bei. Zumindest für einige Jahre — bis entsprechende Ersatzkapazitäten gebaut und in Betrieb genommen werden könnten — müßten zum Ausgleich vor allem die bereits vorhandenen Öl-und Gaskraftwerke, aber auch die Steinkohlenkraftwerke wesentlich stärker zur Stromerzeugung herangezogen werden, als dies zuletzt der Fall war. Theoretisch sind dabei sicherlich sehr unterschiedliche Varianten denkbar, allerdings sind die Grenzen zu beachten, die durch die jeweils verfügbaren Kapazitäten gezogen sind. Eine Variante könnte — ausgehend von der Stromerzeugung in der öffentlichen Elektrizitätsversorgung im Jahre 1985 — die folgende sein:
Sieht man wieder von den möglichen regionalen Friktionen ab, so erscheint eine derartige Struktur der Stromerzeugung realisierbar. Mit Ausnahme der Steinkohle handelt es sich um Erzeugungsniveaus, die in der Vergangenheit bei Braunkohlenund Gaskraftwerken sogar schon überschritten worden sind. Die Ölkraftwerke würden im Durchschnitt weniger stark ausgelastet sein als im Jahre 1973, als deren Kapazität jedoch erst halb so groß war wie heute
Brennstoffbedarf Verfolgt man die genannte Erzeugungsvariante weiter, so wäre bei den betroffenen Energieträgern mit den nachstehenden Veränderungen im Verbrauch zu rechnen (Angaben in Mill, t SKE; in Klammern: Ist-Verbrauch 1985):
+ 11, 6 (4, 6) Für den Ersatz der Kernenergie müßte also der Verbrauch fossiler Brennstoffe um insgesamt knapp 41 Mill, t SKE gesteigert werden. Abgesehen von der Braunkohle, bei der nur eine mäßige Erhöhung unterstellt worden ist, wären die zusätzlich erforderlichen Mengen bei den übrigen Energieträgern doch recht erheblich. Es spricht vieles dafür, daß diese Zusatzmengen — auch bei der Steinkohle — im wesentlichen importiert werden müßten. Insgesamt dürfte sich ein zusätzlicher Importbedarf in einer Größenordnung von rund 30 Mill, t SKE ergeben. Die Beschaffung derartiger Mengen dürfte — wenn auch nicht ohne Schwierigkeiten und nicht ohne preissteigernde Wirkungen — möglich sein.
Unter der Voraussetzung, daß die hier unterstellte mengenmäßige Anpassung kurzfristig realisierbar ist, würde ein sofortiger Ausstieg aus der Kernenergie bedeuten, daß Kraftwerke mit verhältnismäßig niedrigen Brennstoffkosten — also Kernkraftwerke — durch solche mit relativ hohen Brennstoffkosten ersetzt werden müßten. Nun bestehen zwar angesichts des gegenwärtigen Preisverfalls beim Öl, aber auch beim Erdgas, erhebliche Unsicherheiten darüber, welche Energiepreise bei der Ermittlung der Brennstoffkosten-differenzen unterstellt werden sollten: Es erscheint jedoch nicht vertretbar — wie dies in einigen Fällen offenbar geschieht 13) —, die aktuellen Tiefpreise zugrunde zu legen. Dies würde übersehen, daß die oben genannte Zusatznachfrage nach fossilen Brennstoffen nicht nur kurzfristig auftritt, sondern auch in den kommenden Jahren wirksam bleiben wird. Über kurz oder lang muß aber mit hoher Wahrscheinlichkeit wieder mit spürbar steigenden Energiepreisen gerechnet werden. Dieser Prozeß würde vermutlich durch die plötzliche Zusatznachfrage nach Kohle, Öl und Erdgas noch beschleunigt. Daher erscheint es plausibler, wenn man für die weiteren Berechnungen nicht wesentlich geringere Energiepreise als im Jahre 1985 annimmt 14). In diesem Fall würden sich die Brennstoffkosten für die Stromerzeugung in öffentlichen Kraftwerken pro Jahr um ungefähr 7, 8 Mrd. DM erhöhen. Bezogen In diesem Fall würden sich die Brennstoffkosten für die Stromerzeugung in öffentlichen Kraftwerken pro Jahr um ungefähr 7, 8 Mrd. DM erhöhen. Bezogen auf die gesamte nutzbare Stromabgabe der öffentlichen Elektrizitätsversorgung in Höhe von rund 330 Mrd. kWh im Jahre 1985 würde dies einer Kostensteigerung von 2, 4 Pf/kWh entsprechen. Bei vollständiger Überwälzung würden sich dann die Strompreise im Durchschnitt aller Verbraucher einmalig um rund 13 vH erhöhen.
Unterstellt man vereinfachend eine Gleichverteilung über sämtliche Verbrauchergruppen, so würde sich für die aus dem öffentlichen Netz versorgten industriellen Stromabnehmer eine Steigerung der Strompreise um rund ein Fünftel ergeben. ’ Insgesamt würde die Industrie mit einer jährlichen Mehrbelastung von etwa 3, 5 Mrd. DM zu rechnen haben. Im Durchschnitt des verarbeitenden Gewerbes wären dies weniger als 0, 5 des gegenwärtigen Umsatzes und vielleicht 1, 5 vH der Lohn-und Gehaltssumme.
Die gesamtwirtschaftlichen Folgen derartiger Kostensteigerungen sind nicht ohne weiteres zu bestimmen. So deuten zwar etliche Untersuchungen darauf hin, daß die Wettbewerbsfähigkeit der Industrie im allgemeinen nicht entscheidend von den Energie-bzw. Strompreisen beeinflußt wird doch trifft dies für einige besonders stromintensive Produktionen wohl nicht zu, zumal diese meist Grundlaststrom zu günstigen Tarifen beziehen und daher von der Mehrbelastung überdurchschnittlich stark betroffen würden. Augenfällig ist dies vor allem für so stromintensive Bereiche wie die NE-Metallindustrie, die Elektrostahlerzeugung und einige Sparten in der Chemie, aber auch für die Zellstoff-, Papier-und Pappeerzeugung und die Herstellung und Verarbeitung von Glas l 6). Besonders betroffen wären auch jene Haushaltskunden, die den Strom für ihre Speicherheizungen bisher noch zu niedrigen Heiztarifen (10 bis 11 Pf/kWh) beziehen. Hier käme es zu einer Preiserhöhung um ein Viertel; pro Monat hätten diese Haushalte im Mittel eine um 20 DM höhere Stromrechnung. Ein Haushalt ohne Speicherheizung müßte dagegen im Monat lediglich sechs bis sieben DM mehr bezahlen.
Zu den reinen Brennstoffmehrkosten, die im Fall eines Sofortausstiegs aus der Kernenergie bei der Verstromung fossiler Brennstoffe unmittelbar entstehen, kommen mittelfristig weitere Kosten hinzu. So müßte berücksichtigt werden, daß auch die Stromerzeugung der in der Inbetriebnahme (Mülheim-Kärlich) bzw. kurz davor stehenden (Brokdorf) oder in fortgeschrittenem Bau befindlichen Kernkraftwerke (Emsland, Ohu und Nekkarwestheim) von fossil gefeuerten Kraftwerken zu übernehmen wäre. Das Stromerzeugungspotential dieser Kernkraftwerke beträgt etwa 45 Mrd. kWh, deren Erzeugung in Kohle-, Ölund Gaskraftwerken größenordnungsmäßig zu sonst vermeidbaren Brennstoffmehrkosten in Höhe von rund 2, 8 Mrd. DM pro Jahr führen würde.
Schließlich würde es selbst bei einem in Zukunft nur noch stagnierenden Stromverbrauch und einem vollständigen Verzicht auf die weitere Nutzung der Kernenergie zu einem — andernfalls nicht entstehenden — Ersatzinvestitionsbedarf bei konventionellen Wärmekraftwerken kommen. Dies wird spätestens dann der Fall sein, wenn die Anlagen, die zunächst noch als Ersatz für die nicht mehr verfügbaren Kernkraftwerke weiter betrieben werden müssen, wegen Überalterung oder aus Gründen des Umweltschutzes ausscheiden. Die Kosten für derartige Ersatzinvestitionen wären dem Ausstiegsszenario ebenso anzulasten wie diejenigen Investitionskosten, die für die dafür erforderlichen Umweltschutzeinrichtungen (Rauchgasentschwefelungs-und Entstickungsanlagen) anfallen. Dem wären aber die noch nicht entstandenen Kosten für die im Bau befindlichen Kernkraftwerke gegenzurechnen.
Bei einer in Zukunft weiterhin wachsenden Stromnachfrage, die im „Normalfall" zu großen Teilen mit Hilfe von neuen Kernkraftwerken gedeckt werden würde, wären schließlich im Ausstiegsfall unmittelbar die Kostendifferenzen zwischen der Stromerzeugung aus Kernkraftwerken und den statt dessen zu betreibenden Kraftwerken zu berücksichtigen. Sicher dürften bei einem vollständigen Verzicht auf die weitere Nutzung der Kernenergie auch die möglichen Entschädigungsansprüche der Kernkraftwerksbetreiber für das noch nicht abgeschriebene Kapital und für bestehende vertragliche Verpflichtungen nicht vernachlässigt werden
Auf der anderen Seite würden in Zukunft aber auch einige Kosten entfallen, die ansonsten bei einem weiteren Ausbau der Kernenergie und für die gesamte kemtechnische Infrastruktur (z. B. Wiederaufarbeitungsanlagen, Bau von Zwischen-lagern, Entsorgungsleistungen aus dem Ausland) entstehen würden. Die Notwendigkeit der Schaffung von Endlagerkapazitäten für die radioaktiven Abfallstoffe der bereits betriebenen Kernkraftwerke bleibt hiervon aber unberührt. Zumindest gedanklich wären auch die gesamtwirtschaftlichen Kosten zu kalkulieren, die bei einem Reaktorunfall entstehen könnten. Dies entzieht sich aber wohl der Quantifizierung. Im übrigen mag es unter beschäftigungspolitischen Aspekten von Interesse sein, das bei Stillegung aller Kernkraftwerke Altemativinvestitionen großen Umfangs ausgelöst werden würden. Freilich ist noch offen, welche Effekte hierbei per Saldo zu erwarten sind.
Es bedarf zweifellos erst noch sehr sorgfältiger Untersuchungen, bevor man zu einer abschließenden Wertung der letztlich zu erwartenden gesamtwirtschaftlichen Konsequenzen eines sofortigen Ausstiegs aus der Kernenergie kommt. Es spricht aber einiges dafür, daß angesichts der inzwischen erreichten Bedeutung der Kernenergie ein Sofort ausstieg — unabhängig von seiner politischen und rechtlichen Durchsetzbarkeit — sehr schwierige versorgungswirtschaftliche und gesamtwirtschaftliche Probleme schaffen würde, für deren Lösung kurzfristig keine Patentrezepte zur Verfügung stehen. Dabei kann sich die Diskussion allerdings nicht allein auf wirtschaftliche Aspekte beschränken, sie muß diesen vielmehr auch diejenigen — freilich sehr unterschiedlich eingeschätzten — Risiken gegenüberstellen, die bei einer weiteren Nutzung der Kernenergie in Kauf genommen werden müssen.
Umweltbelastung Zu einer umfassenden Risikoabwägung gehört u. a. auch eine Abschätzung der Folgen für die Umwelt. Abgesehen von der Emission radioaktiver Substanzen, die bei einem Normalbetrieb meist für unbedenklich gehalten werden, geben Kernkraftwerke im Unterschied zu fossil gefeuerten Kraftwerken keine luftverunreinigenden Stoffe an die Umwelt ab. Die im Ausstiegsfall stärkere Verstromung von Kohle, Öl und Gas in dem oben genannten Umfang führt daher grundsätzlich zu einer höheren Luftbelastung z. B. mit Schwefeldioxid, Stickoxiden und Staub. Hinzu kommen höhere Kohlendioxidemissionen, die — anders als die zuvor erwähnten Schadstoffe — durch keine Rückhaltetechnik reduziert werden können.
Mit der 1983 verabschiedeten Großfeuerungsanlagenverordnung sind die Kraftwerksbetreiber verpflichtet worden, durch Einsatz geeigneter Maßnahmen die Emissionen der von ihnen betriebenen Kohle-, Öl-und Gaskraftwerke bis 1988 bzw. bis 1993 erheblich zu reduzieren. Zumindest im Hinblick auf die Nachrüstung von Kraftwerken mit Rauchgasentschwefelungsanlagen ist die Entwicklung inzwischen schon weit vorangetrieben worden. Im Fall eines sofortigen Ausstiegs aus der Kernenergie müßten jedoch vermutlich zum großen Teil auch jene Kraftwerke (re) aktiviert werden, bei denen eine Nachrüstung mit Entschwefelungs-und Entstickungsanlagen nicht mehr vorgesehen war. Kurzfristig könnten die Schadstoffemissionen dieser Kraftwerke allenfalls durch den Einsatz besonders schadstoff-armer Brennstoffe oder kraftwerksseitig durch primäre Maßnahmen (z. B. veränderte Brenner-einstellung) reduziert werden. Alles in allem erscheint es aber nicht unplausibel, wenn man für die einzelnen Kraftwerke ein günstigeres Emissionsverhalten unterstellt als es in den Emissionsschätzungen des Umweltbundesamtes für das Jahr 1982 zum Ausdruck kommt Unter dieser Voraussetzung wären mit dem oben angenommenen Ersatz durch fossile Brennstoffe pro Jahr die folgenden zusätzlichen Emissionen verbunden: beim Schwefeldioxid um rund 500 0001, bei den Stickoxiden um etwa 300 0001 und beim Staub um vielleicht 50 0001. Allerdings handelt es sich hierbei nur um vorübergehende Mehrbelastungen, sofern die beteiligten Kraftwerke umgehend mit Schadstoffrückhaltetechniken nachgerüstet oder gänzlich durch umweitverträglichere neue Kraftwerke ersetzt werden. Der hierfür anzusetzende Zeitaufwand muß jedoch auf mehrere Jahre veranschlagt werden.
IV. Fazit
Abbildung 4
Tabelle 4: Stromerzeugung in der öffentlichen Elektrizitätsversorgung 1985 mit und ohne Kernenergie
Tabelle 4: Stromerzeugung in der öffentlichen Elektrizitätsversorgung 1985 mit und ohne Kernenergie
Beim gegenwärtigen Wissensstand ist es außerordentlich schwierig, die Möglichkeiten und — insbesondere — die Konsequenzen eines sofortigen Ausstiegs aus der Kernenergie in sämtlichen ihrer Ausprägungen umfassend zu bewerten und damit eine fundierte Grundlage für politische Entscheidungsprozesse zu schaffen. Ein vorläufiges Fazit könnte wie folgt lauten:
1. Unter ausschließlich technischen Gesichtspunkten erscheint selbst kurzfristig ein Verzicht auf die Kernenergie möglich. An dem Postulat einer jederzeit ausreichenden und sicheren Stromversorgung müßten allerdings — vor allem unter Berücksichtigung regionaler Friktionen — Abstriche gemacht werden. Im übrigen wäre das Ziel einer möglichst geringen Verstromung von Heizöl (aber auch Erdgas) aufzugeben. Die gegenwärtig noch geltende Begrenzung der Steinkohleneinfuhren aus Drittländern wäre weitgehend aufzuheben.
2. Die sofortige Stillegung aller Kernkraftwerke ist mit Mehrkosten verbunden. Die Beschaffung der Ersatzbrennstoffe vorausgesetzt, summieren sich allein die höheren Brennstoffkosten beim Ersatz der heute betriebenen Kernkraftwerke auf einen Betrag von jährlich rund 7, 8 Mrd. DM. Unter Einbeziehung des Stromerzeugungspotentials der vor der Inbetriebnahme stehenden neuen Kernkraftwerke würden sich die Brennstoffkosten um weitere 2, 8 Mrd. DM pro Jahr erhöhen. Im Mittel bedeutet dies einen — einmaligen — Anstieg der Strompreise um 2, 4 bis 3, 2 Pf/kWh bzw. um 13 bis 18 v. H.
3. Mittelfristig wären über den Brennstoffmehraufwand hinaus zusätzliche Kosten für die Bereitstellung von Ersatzkapazitäten und für die Nachrüstung der weiter zu betreibenden konventionellen Kraftwerke mit Umweltschutzeinrichtungen zu erwarten. Entschädigungsansprüche der Kernkraftwerksbetreiber könnten ebenfalls nicht vernachlässigt werden. Eine abschließende Bewertung der bei einem sofortigen Ausstieg aus der Kernenergie entstehenden Kosten hätte aber auch die entfallenden Kosten für den sonst in Zukunft fortgesetzten Ausbau der „kerntechnischen Infrastruktur“ sowie — zumindest gedanklich — die ökonomischen Folgen eines Reaktorunfalls zu berücksichtigen. 4. Der Ersatz der Kernenergie durch fossile Brennstoffe führt vorübergehend zu deutlich höheren Emissionen bei den „klassischen“ Schadstoffen Schwefeldioxid, Stickoxid und Staub. Die Kohlendioxidemissionen, die bei der Verbrennung fossiler Brennstoffe grundsätzlich unvermeidbar sind, steigen ebenfalls. Es entfallen dagegen die Emissionen radioaktiver Substanzen, die bei einem Normalbetrieb der Kernkraftwerke jedoch als unbedenklich bezeichnet werden.
5. Die Forderung nach einem sofortigen Verzicht auf die Nutzung der Kernenergie ist sinnvoll nur mit einer forcierten Strategie der Einsparung von elektrischer Leistung und Arbeit zu verbinden. Ohne nachhaltige Einwirkungen auf das Verbrauchsverhalten sind die Hoffnungen auf rasche Erfolge allerdings nicht zu hoch zu veranschlagen. 6. Als entscheidender Grund und damit als überragender Vorteil eines Verzichts auf die Kernenergie gilt die daraus resultierende Vermeidung der nuklearen Risiken. Dies ist grundsätzlich richtig, doch kann nicht übersehen werden, daß bei einem nationalen Alleingang das aus den Nachbarländern herrührende Gefährdungspotential weiterhin existiert. Ob und wie weit die Bundesrepublik Deutschland als Vorreiter eines Ausstiegs aus der Kernenergie die anderen Länder zu gleichem Verhalten motivieren könnte, ist äußerst zweifelhaft.
V. Exkurs: Die weltweite Bedeutung der Kernenergie
Abbildung 5
Abbildung 5
Abbildung 5
Ende 1985 waren weltweit in 26 Ländern insgesamt 355 Kernkraftwerke mit einer Kapazität von 263 000 MW in Betrieb die zusammen nahezu 1 500 Mrd. kWh elektrische Energie erzeugt haben dürften. Das entspricht einem Anteil an der gesamten weltweiten Stromerzeugung von vielleicht 15 v. H. In einigen Ländern haben Kernkraftwerke schon heute eine überragende Bedeutung für die Stromversorgung. Prominentes Beispiel ist Frankreich, wo gegenwärtig rund zwei Drittel des Stroms aus Kernkraftwerken stammen. Gemessen an ihrem Kernenergieanteil an der Stromerzeugung folgen bei den westlichen Industrieländern Belgien, Finnland, Schweden und die Schweiz vor der Bundesrepublik Deutschland, Japan, Spanien, Großbritannien, den USA und Kanada.
Nach den USA (82600 MW), aber noch vor der UdSSR (28 000 MW) und Japan (24 700 MW) verfügt Frankreich mit fast 40 000 MW heute über die mit Abstand größte Kernkraftwerkskapazität. Weitere 26 000 MW befinden sich hier in Bau. Weltweit sind derzeit 163 Kernkraftwerke mit einer Leistung von zusammen 158 000 MW in Bau.
In vielen Ländern ist allerdings schon seit mehreren Jahren keine neue Anlage mehr in Auftrag gegeben worden. So datiert etwa in den USA der letzte Auftrag aus dem Jahre 1978.
Wenn sämtliche im Bau befindlichen Kernkraftwerke in Betrieb genommen werden, so wird es in naher Zukunft mehr als 500 Anlagen mit einer Kapazität von rund 420000 MW geben. Das bedeutet ein Stromerzeugungspotential in einer Größenordnung von 2000 bis 2 500 Mrd. kWh, dem ein Brennstoffeinsatz von etwa 640 bis 800 Mill, t SKE — fast ein Zehntel des gegenwärtigen weltweiten Primärenergieverbrauchs — entspricht. Sieht man davon ab, daß ein weltweiter Ausstieg aus der Kernenergie realistischerweise auf überschaubare Zeit nicht unterstellt werden kann, so deuten diese Zahlen gleichwohl an, mit welchen gravierenden Veränderungen auf den Weltenergiemärkten in diesem Fall gerechnet werden müßte — mit all ihren Folgen auf Verfügbarkeit und Preise der dann benötigten Substitutionsenergieträger.
VI. Mittel-bis längerfristige Strategien
Abbildung 6
Abhängig von Atomstrom
Abhängig von Atomstrom
Nun ist zu fragen, ob nicht zumindest auf mittlere und längere Sicht friktionsarme Alternativen zur Kernenergie geschaffen werden könnten. Mit der zur Verfügung stehenden Zeit wächst zweifellos auch die Chance eines reibungsloseren Übergangs auf eine Versorgungsstruktur ohne Kernenergie. Eine darauf abzielende Übergangsstrategie müßte sowohl angebotsseitige als auch nachfrageseitige Elemente enthalten. Unter gesamtwirtschaftlichen Aspekten sollte dabei stets die kostengünstigste Kombination gesucht werden.
Vielfach wird in der öffentlichen Diskussion darauf verwiesen, daß bei einer Ausschöpfung der immer noch vorhandenen Potentiale zur Energieeinsparung ein Verzicht auf die Nutzung der Kernenergie möglich sei. Dabei wird aber häufig übersehen, daß die in diesem Zusammenhang genannten Maßnahmen zwar zu einer Reduzierung des Energieverbrauchs, jedoch nicht unbedingt zu einer Senkung des Verbrauchs von elektrischer Energie beitragen. So ist es richtig, daß der Energieeinsatz zur Deckung des Raumwärmebedarfs durch eine verbesserte Wärmedämmung der Gebäude noch erheblich gesenkt werden kann. Dies würde aber in erster Linie die Energieträger Öl und Gas betreffen. Elektrische Energie, die nur in jeder zwölften Wohnung zur Raumheizung verwendet wird, wäre hierdurch weit weniger tangiert, zumal an Wohnungen mit Speicherheizungen schon heute erhöhte Wärmedämmungsansprüche gestellt werden.
Auch die Politik der Bundesregierung zur Förderung der Energieeinsparung hat vorrangig die fossilen Brennstoffe im Auge. Eine gezielte Strategie zur Stromeinsparung wurde bisher nicht verfolgt. Vielmehr hieß es noch in der 3. Fortschreibung des Energieprogramms der Bundesregierung: „Strom wird auch bei der Ölsubstitution im Wärmemarkt künftig eine größere Rolle übernehmen.“
Grundsätzlich läßt sich natürlich auch die Nachfrage nach elektrischer Energie durch Einsparung und Substitution vermindern. Dabei stößt die Substitution jedoch dadurch auf Grenzen, daß Strom — im Unterschied zu fast allen anderen Energieträgern — in bestimmten Verwendungsbereichen praktisch nicht ersetzt werden kann. Hierbei handelt es sich in erster Linie um die Deckung des Kraft-(z. B. für Elektromotoren) und Lichtbedarfs, die etwa die Hälfte des gesamten Stromverbrauchs in den Endenergiesektoren beansprucht. Eine Reduzierung des Stromverbrauchs ist hier nur durch unmittelbare Einsparung — sei es durch geringere Nutzungsintensität oder durch Einsatz moderner Elektrogeräte mit einem niedrigeren spezifischen Stromverbrauch — möglich. In der Vergangenheit sind gerade im Hinblick auf den zuletzt angesprochenen „stromsparenden“ technischen Fortschritt bereits beachtliche Erfolge erzielt worden Auch für die Zukunft sollten die hierin liegenden Möglichkeiten positiv eingeschätzt werden, zumal sich die schon heute angebotenen Elektrogeräte mit ihrem gegenüber früheren Gerätegenerationen erheblich günstigeren spezifischen Verbrauchswerten erst in den kommenden Jahren im Zuge von Ersatzbeschaffungen voll auf die Stromnachfrage auswirken werden. Ein wesentlicher Ansatzpunkt zur Minderung der Stromnachfrage (bzw. ihres Anstiegs) könnte daher darin liegen, diesen Modernisierungsprozeß — z. B. auch mit Hilfe finanzieller Anreize, wie dies heute bereits in Hinblick auf die Modernisierung von Heizungsanlagen der Fall ist — zu beschleunigen.
Soweit elektrische Energie zur Deckung des Wärmebedarfs verwendet wird — die andere Hälfte des Stromverbrauchs —, steht sie grundsätzlich in Konkurrenz zu allen anderen Energieträgern. Eine Minderung des Stromeinsatzes läßt sich daher außer durch unmittelbare Einsparung ebenso durch Substitution bewirken. Dabei kommt allerdings wegen der besonderen anwendungstechnischen Vorteile des Stroms für elektrothermische Zwecke und Elektrolyseverfahren in der Industrie ein Ersatz durch andere Energieträger praktisch kaum in Betracht. Anders sieht es dort aus, wo Strom für die Raumheizung und die Warmwasserbereitung eingesetzt wird. Deshalb zielen auch viele Vorschläge darauf ab, die elektrische Energie aus diesem Verwendungsbereich nach Möglichkeit vollständig herauszunehmen. Immerhin würde davon allein bei den privaten Haushalten ein Potential von ungefähr 35 Mrd. kWh betroffen. Vielfach sind aber Nachtstromspeicherheizungen und dezentrale elektrische Heißwassergeräte für die Verbraucher die kostengünstigere Alternative im Vergleich zu anderen Energiebereitstellungssystemen. Ohne eine gezielte finanzielle Förderung oder den Einsatz eingriffsintensiverer Instrumente (z. B. Abschaffung des Sondertarifs für Heizstrom oder Untersagung bestimmter Stromanwendungen wie Speicherheizungen und Elektroradiatoren) kann nicht mit Umstellungen größeren Ausmaßes gerechnet werden. In jedem Fall wären hierfür recht lange Anpassungszeiträume einzuräumen. Für eine derartige Strategie kommt als Substitutionsenergieträger zunächst in erster Linie Erdgas (Etagenheizung, Gasboiler oder -durchlauferhitzer) in Betracht. Bei einer stärkeren finanziellen Förderung könnte aber auch bald der Einsatz von Sonnenkollektoranlagen zur Warmwasserbereitung lohnend werden.
Für die Formulierung einer Politik der sparsamen und rationellen Stromverwendung sollten die im Ausland gewonnenen Erfahrungen berücksichtigt werden. Insbesondere wäre zu prüfen, ob die in den USA von einigen großen Elektrizitätsversorgungsunternehmen durchgeführten Programme zur rationellen Stromverwendung und zur Lastverstetigung, mit denen der künftige Bedarf an Kraftwerkskapazitäten gemindert werden soll, trotz unterschiedlicher Verbrauchsstrukturen nicht auch auf die Bundesrepublik Deutschland übertragen werden können. In diesem Zusammenhang wäre auch eine Veränderung des Tarif-systems z. B. in Richtung zeitabhängiger oder linearer Tarife zu überdenken.
Solange nicht klar ist, welche Maßnahmen zur Stromeinsparung durchsetzbar sind und in welchen Zeiträumen spürbare Effekte zu erwarten wären, wird jede Strategie für einen mittel-oder längerfristigen Ausstieg aus der Kernenergie zunächst jedoch vor allem darauf setzen müssen, Zug um Zug die erforderlichen Ersatzkapazitäten zu schaffen. Hierfür bieten sich grundsätzlich drei Möglichkeiten an:
— Ausbau konventioneller Kraftwerke im Bereich der öffentlichen Elektrizitätsversorgung selbst;
— verstärkte Nutzung der Stromerzeugungspotentiale im industriellen, privaten und kommunalen Bereich, —-Nutzung erneuerbarer Energiequellen zur Stromerzeugung.
Der unter Berücksichtigung der vorgefundenen Versorgungsstrukturen sicherlich einfachste Weg würde darin bestehen, die Kapazität fossil gefeu-erter Kraftwerke im Bereich der öffentlichen Elektrizitätswirtschaft entsprechend zu erweitern. Aus energiepolitischer Sicht kämen dafür in erster Linie Steinkohlenkraftwerke in Betracht, die dann weitgehend für einen Einsatz in der Grund-last ausgelegt und mit den nach dem neuesten Stand der Technik verfügbaren Entschwefelungsund Entstickungsanlagen ausgerüstet werden müßten. Wo immer dies sinnvoll ist, sollten sie aus Gründen der Ressourcenschonung und der Umweltverträglichkeit außerdem die Möglichkeit der Fernwärmeauskopplung nutzen. Dies setzt allerdings verbrauchernahe Standorte voraus. Sollte als Ersatz für die Kernenergie tatsächlich überwiegend Steinkohle verstromt werden, wären pro Jahr zusätzlich bis zu 50 Mill, t SKE zu beschaffen. Da der einheimische Steinkohlenbergbau schon wegen der aus wirtschaftlichen Gründen deutlich reduzierten Förderkapazitäten zumindest kurz-und mittelfristig nur begrenzt in der Lage sein wird, einen solchen Zusatzbedarf zu decken, müßte in erheblichem Umfang auf Importkohle zurückgegriffen werden. Dies würde sich schon deshalb anbieten, weil Importkohle wesentlich preisgünstiger ist als die inländische Steinkohle. Auch von der Verfügbarkeit her dürften auf Dauer keine unüberwindbaren Schwierigkeiten entstehen, obwohl der Weltkohlenhandel mit einem Volumen von lediglich rund 320 Mill, t (Weltkohlenförderung 1985: 3, 2 Mrd. t) bisher noch nicht sehr entwickelt ist. Abgesehen von den preissteigernden Wirkungen wäre bei den hier in Frage stehenden Zusatzmengen zunächst vermutlich mit einigen Engpässen aufgrund fehlender Transport-und Verladekapazitäten vor allem im Inland zu rechnen.
Schließlich muß man sich vergegenwärtigen, daß eine solche Substitutionsstrategie selbst bei Nutzung aller vorhandenen Möglichkeiten zur Schadstoffreduzierung — bei einem dann insgesamt allerdings erheblich niedrigeren Emissionsniveau als heute — zu einer gewissen Mehrbelastung bei den sogenannten klassischen Schadstoffen Schwefeldioxid, Stickoxide, Staub u. ä. führen müßte. Allerdings könnten deren Emissionen vergleichsweise gering gehalten werden — im Unterschied zu den Kohlendioxidemissionen, die proportional mit der steigenden Verbrennung fossiler Brennstoffe zunehmen würden. Hier wären insbesondere die negativen klimatischen Folgen zu beachten. Der auf den ersten Blick recht einfach erscheinende Weg eines sukzessiven Ersatzes von Kernkraftwerken durch den Bau fossil gefeuerter konventioneller Kraftwerke wird nicht ohne Hürden sein. Er könnte aber in dem Maße geebnet werden, in dem weitere Stromerzeugungspotentiale innerhalb und außerhalb der öffentlichen Elektrizitätsversorgung erschlossen werden können.
Neben dem Bereich der kommunalen Energieversorgung ist hier vorrangig an Industriekraftwerke zu denken, die einerseits der Eigenversorgung der Industriebetriebe dienen, andererseits aber Strom in das öffentliche Netz einspeisen. Industrielle Stromerzeugungsanlagen sind auch deshalb von besonderem Belang, weil hier die elektrische Energie überwiegend auf der Basis der energetisch sehr günstig zu wertenden Kraft-Wärme-Kopplung erzeugt wird. In der Vergangenheit haben Industriekraftwerke jedoch zunehmend an Bedeutung verloren. Hierzu hat unter anderem beigetragen, daß sich die Brennstoffpreise wesentlich stärker als die Strompreise erhöht haben, so daß ein wirtschaftlicher Betrieb der zumeist am jeweiligen Wärmebedarf orientierten Heizkraftwerke immer schwieriger geworden ist Auf der anderen Seite dürften die Stromerzeugungspotentiale im industriellen Bereich beträchtlich sein. Wie weit sie mobilisiert werden können, hängt jedoch entscheidend von den jeweiligen Randbedingungen ab. Eine wichtige Rolle spielt hierbei — wie im übrigen auch bei dem vieldiskutierten Einsatz kleiner Blockheizkraftwerke im privaten und kommunalen Bereich — die Vergütung, die die Elektrizitätsversorgungsunternehmen für den in das öffentliche Netz eingespeisten Strom bezahlen. Bei der derzeit geltenden Regelung sind die Anreize nur gering. Umgekehrt kann „schon ein geringer Strompreisnachlaß ... genügen, um ein industrielles Heizkraftwerk zu verhindern“ Vorteilhaft wäre es, wenn in der Bundesrepublik ähnliche Regelungen durchgesetzt werden könnten wie in den USA. Mit dem dort geltenden Public Utility Regulatory Policies Act (PURPA) werden u. a. gezielt Wärme-Kraft-Kopplungsanlagen sowie Kleinkraftwerke gefördert.
Der aus Gründen der Ressourcenschonung fossiler Brennstoffe und der Umweltverträglichkeit wohl eleganteste Weg für eine längerfristige Ablösung der Kernenergie wäre ohne Zweifel die forcierte Nutzung erneuerbarer Energiequellen zur Stromerzeugung: Sieht man von der Verfeuerung von Biogas z. B. in Blockheizkraftwerken ab, so kommen hierfür in erster Linie die Wasserkraft, die Windenergie und die Sonnenenergie in Betracht
Die Nutzung der Wasserkraft gehört schon heute zu den kostengünstigsten Möglichkeiten der Stromerzeugung. Mit etwa 16 bis 20 Mrd. kWh leistet sie gegenwärtig auch schon einen spürbaren Beitrag zur Stromversorgung. Allerdings sind die weiteren Ausbaumöglichkeiten begrenzt. Bis zur Jahrhundertwende kann voraussichtlich mit keiner größeren Steigerung als um 3 bis 4 Mrd. kWh, maximal um 10 Mrd. kWh gerechnet werden.
Im Unterschied zu anderen Ländern — z. B. Dänemark oder Teile der USA — spielt die Wind-energie in der Bundesrepublik Deutschland bislang praktisch keine Rolle für die Stromversorgung. An küstennahen Standorten könnten Windkraftanlagen aber schon in naher Zukunft gegenüber konventionellen Mittellastkraftwerken auf Basis inländischer Steinkohle konkurrenzfähig werden. Das wirtschaftliche Potential für das Jahr 2000 wird unter günstigen Randbedingungen auf nahezu 40 Mrd. kWh geschätzt, wovon allerdings ohne einen Abbau der bisher noch bestehenden Hemmnisse und ohne gezielte Förderung nur ein kleinerer Teil ausgeschöpft werden dürfte.
Sonnenenergie kann mit photovoltaischen Zellen (Solarzellen) durch Ausnutzung von Halbleitereffekten direkt in Elektrizität umgewandelt werden. Angesichts der derzeit noch sehr hohen Kosten für Solarzellen ist in der Bundesrepublik Deutschland — anders als z. B. in den USA, wo günstigere Klimabedingungen herrschen und umfassendere staatliche Anreizprogramme existieren — zumindest bis zur Jahrhundertwende kaum mit einem wesentlichen Einsatz netzverbundener, also in das öffentliche Netz einspeisender Systeme zu rech-nen. Die kommerziellen Anwendungsmöglichkeiten beschränken sich hier auf absehbare Zeit auf Verkehrs-, Meß-und Kommunikationseinrichtungen sowie auf Konsumgüter und Freizeitprodukte. Alles in allem läßt sich aus dem Vorgenannten folgern, daß die Nutzung erneuerbarer Energiequellen zur Stromerzeugung zumindest bis zur Jahrhundertwende noch keine realistische Alternative zur Kernenergie darstellt. Das kann aber nicht heißen, daß nicht deren Nutzung schon heute mit allen Kräften gefördert werden sollte, denn auf lange Sicht dürfte ihr Versorgungsbeitrag möglicherweise unentbehrlich sein.
Zieht man aus den zuvor skizzierten Möglichkeiten eines mittel-bis längerfristigen Ersatzes von Kernkraftwerken ein kurzes Resümee, so erscheint auch unter durchsetzungsorientierten Aspekten eine Strategie am geeignetsten, die alle Anstrengungen zur rationellen und sparsamen Stromverwendung sowie zur Mobilisierung der vor allem im industriellen und kommunalen Bereich vorhandenen Stromerzeugungspotentiale auf Basis der Kraft-Wärme-Kopplung unterstützt, die aber gleichwohl ihren Schwerpunkt zunächst auf eine möglichst zügige Errichtung konventioneller „Ersatz“ -Kraftwerke legt.
Im Ergebnis dürften die direkten Kosten für eine solche Strategie spürbar niedriger sein als bei einem Sofortausstieg aus der Kernenergie. Der wesentliche Vorzug eines stufenweisen Verzichts auf die Kernenergie würde jedoch darin bestehen, daß der Übergang auf die neuen Versorgungsstrukturen wesentlich friktionsärmer und damit mit weitaus geringeren indirekten Kosten vollzogen werden könnte. Es würde aber nicht nur der Anpassungsprozeß für Stromversorger und -Verbraucher erleichtert, vielmehr könnte auch die Forderung nach einem jederzeit gesicherten Stromangebot erfüllt und eine mit vergleichsweise geringen Zusatzemissionen belastete Stromerzeugung realisiert werden.
Spätestens nach dem Reaktorunglück in Tschernobyl kann man sich auch in der Bundesrepublik Deutschland nicht länger einer erneuten Risikoabwägung und damit auch der Frage nach einer künftigen Energieversorgung ohne Kernenergie entziehen. Ein solcher Weg ist — wenn auch nicht ohne andersartige Risiken — gangbar. Ihn zu gehen, erfordert aber einen breiten gesellschaftlichen und politischen Konsens.
Hans-Joachim Ziesing, Dr. rer. oec., geb. 1943; 1969 bis 1982 wissenschaftlicher Mitarbeiter, seit 1982 Leiter der Abteilung Bergbau und Energiewirtschaft im Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) in Berlin.
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