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Die Volksrepublik China in der Krise Gesellschaftliche und politische Hintergründe der Studentenunruhen | APuZ 44/1989 | bpb.de

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APuZ 44/1989 Artikel 1 Politischer und sozialer Wandel in Thailand 1973-1988 Sieg ohne Frieden Vietnams Entwicklung seit 1975 Die Volksrepublik China in der Krise Gesellschaftliche und politische Hintergründe der Studentenunruhen

Die Volksrepublik China in der Krise Gesellschaftliche und politische Hintergründe der Studentenunruhen

Oskar Weggel

/ 31 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Zehn Jahre Reformen unter Deng Xiaoping und Zhao Ziyang haben der Volksrepublik China zwar ein in der chinesischen Geschichte unbekanntes Wirtschaftswachstum, aber auch eine Fülle von sozialen Problemen wie Inflation, Korruption und Ungerechtigkeiten in der Einkommensentwicklung beschert, von denen vor allem Arbeiter und Angehörige der städtischen Intelligenz betroffen waren. Kein Wunder, daß die Studenten, die bei ihren Beijinger Demonstrationen nicht nur mehr Mitbestimmung („Demokratie“) verlangten, sondern auch die sozialen Mißstände anprangerten, breite Solidarisierungseffekte auslösten. Zugleich wurde die Spaltung in der KP-Führung deutlich: Während der Zhao Ziyang-Flügel empfahl, die politischen Reformen zu beschleunigen, befürworteten die orthodox-konservativen Kräfte eine Niederschlagung der „konterrevolutionären Unruhen“. Ein informeller sechsköpfiger „Ältestenrat“ unter Führung Deng Xiaopings verhängte schließlich das Kriegsrecht und ließ am 3. /4. Juni auf die eigene Bevölkerung schießen. Anschließend wurden Tausende von „Konterrevolutionären“ festgenommen. Zudem wurde eine neue „korrekte Geschichte“ geschrieben, der zufolge nur Soldaten der Kriegsrechtstruppen, kaum aber Studenten ums Leben gekommen seien. Angst vor den „Massen“, traumatische Erinnerungen an die Kulturrevolution, nicht zuletzt aber auch Elemente der überkommenen politischen Kultur (Macht-, Bürokratie-und ,, Gesichts“ -Traditionen) gaben den Ausschlag für die tragische Entscheidung des Sechsergremiums. Das Massaker dürfte auf Jahre hinaus den Konsens zwischen den „mittelständischen Schichten“ und der Führung beeinträchtigen und hat überdies im Ausland buchstäblich über Nacht das einst so hell strahlende Chinabild verdüstert. Im nachhinein versucht die Deng Xiaoping-Führung zu retten, was noch zu retten ist. So sind beispielsweise die sechs auf dem 4. Plenum des XIII. ZK Ende Juni 1989 neuemannten Mitglieder des Politbüros durchweg „vorzeigbare“ Persönlichkeiten, an deren Händen kein Blut klebt. Außerdem wird der bisherige Reformkurs, so gut es eben geht, weitergeführt — und zwar aus dem Grund, daß es keine Alternative zu ihm gibt.

Wäre dieser Aufsatz im März 1989, also vor Beginn der Studentenunruhen in China, geschrieben worden, so hätte er sich hauptsächlich mit den Erfolgen des gerade zu Ende gegangenen ersten reformerischen Entwicklungsjahrzehnts (1979/88) befaßt. Nachdem die Welt inzwischen aber Zeuge des Massakers vom 3. /4. Juni geworden ist, rücken ganz neue Gesichtspunkte in den Vordergrund. Folgende Fragen sind vor allem zu beantworten: Mit welchen langfristigen Problemen ist China konfrontiert, und wie hat es sich bisher mit ihnen auseinandergesetzt? Warum ist der reformerische Kurs so sehr ins Schleudern gekommen, nachdem er doch im vergangenen Jahrzehnt zu so beeindruckenden wirtschaftlichen Erfolgen geführt hat? Wie sind die Studentendemonstrationen verlaufen? Welche Faktoren haben das brutale Vorgehen der Machthaber gegen ihre Kritiker beeinflußt? Welche Zukunftsperspektiven ergeben sich nach der Katastrophe vom 4. Juni?

I. Langfristige Probleme, Lösungsversuche und Lösungsdefizite

Mit sieben Prozent des Ackerbodens der Welt hat China nahezu ein Viertel der Menschheit zu ernähren. Die Ackerfläche des Landes hat sich seit 1949 durch Ausdehnung der Städte und Industrien um 12 Millionen Hektar verringert, während die Bevölkerung im gleichen Zeitraum um mehr als das Doppelte gewachsen ist. Wenn überhaupt, so kann die schon weit geöffnete Ernährungsschere nur mit Intensivierung und Modernisierung der Anbaumethoden wieder geschlossen werden. China leidet ferner unter zwei Ungleichgewichten: Jahrzehntelang wurde die Schwerindustrie auf Kosten der Leichtindustrie, vor allem der Landwirtschaft gefördert, und das Ost-West-Gefälle innerhalb des Landes hat sich nicht etwa verringert, sondern sogar noch verstärkt — mit der Folge, daß die reichste Provinz Chinas, Shanghai, ein 15mal höheres Pro-Kopf-Einkommen aufweist als die ärmste Provinz, Guizhou. Zudem hat überall Arbeitslosigkeit um sich gegriffen. Die alte Methode, „fünf Personen die Arbeit von drei verrichten zu lassen“, hat sich zwar sozialpolitisch als nützlich, wirtschaftspolitisch aber als kontraproduktiv erwiesen und wurde inzwischen aufgegeben. So kommt es, daß von den 15 Millionen Arbeitskräften, die pro Jahr neu auf den Arbeitsmarkt drängen, nur ein Teil absorbiert werden kann. Die übrigen müssen weiterhin auf „Arbeit warten“ (dai ye).

Verheerend sind auch die Umweltschäden. Vor allem die Tatsache, daß die chinesische Energie zu 70 Prozent aus Kohle gewonnen wird, wirkt sich in katastrophaler Weise auf Luft und Klima aus. Streckenweise sind inzwischen auch die Gewässer Chinas verseucht.

Was den Bildungsstand anbelangt, so wurden bei der Volkszählung vom Juli 1982 nicht weniger als 235 Millionen Analphabeten ermittelt, denen auf der anderen Seite nur 4, 4 Millionen Personen mit abgeschlossener Hochschulbildung gegenüberstanden.

China wird bereits im Jahre 2000 zu jenen Ländern gehören, die nach Definition der UNO eine „agedtype population“ besitzen, d. h. die „Alten“ — womit Personen über 60 Jahre gemeint sind — werden über zehn Prozent der Bevölkerung stellen. Da die Gesetzgebung für eine Sozialpolitik im Stile über-betrieblicher Versicherungssysteme erst 1976 eingesetzt hat, weiß niemand heute zu sagen, wie die Soziallasten bis zur Jahrtausendwende getragen werden sollen. Das uralte chinesische Rezept, auf die Fürsorge der Familie zurückzugreifen, versagt zumindest dort, wo die offizielle Ein-Kind-Politik gegriffen hat.

China ist zudem in eine Subventionsfalle hineingeraten. Fast alles, was ein Stadtbewohner heutzutage konsumiert, seien es nun Wohnung, Nahrungsmittel oder öffentliche Transporte, wird vom Staat subventioniert — eine Teufelsspirale, da die Kostenlawine immer höher und gleichzeitig die Nachfrage nach subventionierten Gütern immer stärker wird. Die Stützung von Verbrauchsgütem verschlingt schon heute nahezu ein Drittel des Gesamthaushalts.

Inzwischen ist auch der Bevölkerungszuwachs wieder außer Kontrolle geraten: Waren die reformerischen Optimisten noch Mitte der achtziger Jahre davon ausgegangen, daß das Wachstum der Bevölkerung im Jahre 2000 bei 1, 2 Milliarden Menschen zum Stillstand kommen könnte, so steht inzwischen fest, daß bis dahin möglicherweise 1, 3 Milliarden in Rechnung zu stellen sind.

Damit nicht genug, ist es im politischen Alltag zu zahlreichen Widersprüchen gekommen: Einerseits verlangt die Führung die möglichst schnelle Übernahme westlicher Technologien, andererseits will sie verhindern, daß auch westliches Gedankengut („bürgerliche Liberalisierung“) mit ins Land kommt. So forderte die Führung zumindest bis Ende 1988 zwar Demokratisierung, wollte einer wirklich breiten Mitbestimmung aber vor allem das Postulat des Führungsmonopols der KP entgegenhalten. Nicht zuletzt hat auch ein grassierender Bürokratismus dafür gesorgt, daß Eigeninitiative von unten jahrzehntelang die Ausnahme und Demokratisierung nur eine papierne Forderung blieb.

Als besonders explosiv erwies sich in den letzten Jahren der wachsende Generationenkonflikt, der gerade in den entscheidenden Tagen des Juni 1989 wieder einmal mit Gewalt zugunsten des Alters entschieden wurde. Obwohl sich kein Geringerer als Deng Xiaoping seit Jahren zum Befürworter einer Verjüngung der Staats-und Parteispitze gemacht hatte, waren es sechs Revolutionspatriarchen — der jüngste unter ihnen 82 Jahre —, die den Beschluß faßten, den Studenten-und Arbeiteraufstand niederzuschlagen.

Für Mao Zedong lag die Hauptursache für die genannten Probleme in der gesellschaftlichen, für die Reformer um Deng Xiaoping in der wirtschaftlichen Rückständigkeit Chinas. Mao hatte daher den Klassenkampf, Deng Xiaoping dagegen den Kampf für ökonomische Effizienz, Strukturverbesserungen und die Öffnung gegenüber dem Ausland in den Mittelpunkt der Politik gestellt. Der Startschuß für den „Dengismus“ erfolgte im Dezember 1978 und führte zu einem anfangs höchst positiven Gesamtbild — und zwar sowohl was den Entwicklungsverlauf als auch was die Zuwachszahlen anbelangt.

Während China bis Ende der siebziger Jahre von Krise zu Krise getaumelt war, stellte sich in den achtziger Jahren ein eher gleichmäßiges Dahinfließen ein. Ferner gelang es, die alten „Disproportionen“ zwischen Industrie und Landwirtschaft, Schwerindustrie und Leichtindustrie, Akkumulation und Konsumtion sowie produktiven und konsumtiven Investitionen (z. B. Wohnungsbau, Soziales) zu entschärfen. Darüber hinaus wurde die Tonnenideologie durch mehr Qualitätsbewußtsein und das lange Jahre hindurch fast monokulturell gehegte Staatseigentum durch ein Filigran von Staats-, Kollektiv-und Privatbetrieben abgelöst. Das riesige Gefälle zwischen städtischem und bäuerlichem Lebensstandard konnte man reduzieren, und die bis 1978 fast völlig abgeschottete Wirtschaft entwickelte sich zu einem verhältnismäßig offenen System, das nicht nur Joint-Ventures, sondern sogar Unternehmen mit zu hundert Prozent ausländischem Alleineigentum zuließ. Nicht zuletzt wurde auch in das Bildungswesen investiert — und damit eine modernisierungsträchtige Konsequenz aus der kulturrevolutionären Erziehungskatastrophe gezogen.

Auch das Wirtschaftswachstum war beachtlich, wie eine Gegenüberstellung der Ergebnisse von 1982 und 1987 zeigt: Das Bruttosozialprodukt stieg von 505 auf 1 092 Milliarden Yuan. Im Vergleich zu den vorangegangenen fünf Jahren wurden ferner 29, 38 Millionen Kilowatt mehr Strom erzeugt, 70, 49 Millionen Tonnen mehr Rohöl gefördert, und der Güterumschlag in den Küstenhäfen wurde um 132 Millionen Tonnen erhöht. 1987 erzielte ein Bauer ein Pro-Kopf-Nettoeinkommen von 463 Yuan — ein Zuwachs, der preisbereinigt immerhin um 51, 2 Prozent über dem Einkommen von 1982 lag. Die Stadtbewohner kamen demgegenüber zwar nur auf 35, 7 Prozent Einkommenszuwachs, lagen allerdings mit 916 Yuan (1987) auch jetzt noch weit vor der Land-bevölkerung. Im gleichen Zeitraum kletterte China hinsichtlich des erwirtschafteten Bruttosozialprodukts im weltweiten Vergleich vom neunten auf den siebten Platz und bei der Getreide-, Fleisch-, Baumwoll-, Rapssamen-, Baumwollstoff-und Zementproduktion sowie bei der Kohleförderung sogar auf den ersten Platz.

Die Erfolge waren jedoch begleitet von drei Krebsübeln. die vor allem seit 1985 beängstigend schnell um sich griffen und bei der Bevölkerung überall Angst und Empörung aufkommen ließen, nämlich Inflation, Korruption und Einkommensverzerrun-B gen. die als ungerecht empfunden wurden („Ein Friseur verdient mehr als ein Chirurg“).

Am unangenehmsten machte sich die Inflation bemerkbar, die eine Folge der Preisfreigabe bei mehreren Gebrauchsgüterkategorien war. Die Regierung verfolgte mit dieser Maßnahme die Absicht, dem Modell von Guangdong in ganz China Geltung zu verschaffen. Diese Provinz nahe Hongkong hatte in den vorangegangenen Jahren die Rationierung für Speisefisch aufgegeben, worauf die Preise zunächst blitzartig in die Höhe geschossen, dann aber schnell wieder heruntergegangen waren, da die örtlichen Fischzüchter aufgrund der gestiegenen Gewinnaussichten ihre Produktion in aller Eile vervielfacht hatten. Ähnliche Flexibilität erhofften sich die Reformer nun auch vom übrigen China. Sie wollten der Bevölkerung kurzfristig Preiserhöhungen zumuten, die aber, wie das Beispiel der Provinz Guangdong gezeigt hatte, bereits mittelfristig wieder durch Erhöhung des Angebots ausgeglichen würden. Doch sie täuschten sich in ihren Annahmen. Die Preise gingen zwar hoch, ein besseres Warenangebot jedoch ließ auf sich warten, so daß vor allem die Bezieher fixer Gehälter — also die Angestellten, Arbeiter, Studenten und Soldaten — schon bald mit ihren Einkünften nicht mehr zurechtkamen, während die Privathändler Gewinne verbuchen konnten. 1985 stieg der Index der Einzelhandelspreise um 8, 8 Prozent, 1986 um sechs Prozent und 1987 um 7, 3 Prozent, um 1988 landesweit um 16 Prozent, in den mittleren und großen Städten sogar um 28 Prozent hochzuschnellen. Verschlimmert wurde dieses Prozent, um 1988 landesweit um 16 Prozent, in den mittleren und großen Städten sogar um 28 Prozent hochzuschnellen. Verschlimmert wurde dieses Übel noch durch eine grassierende Korruption, die sich nachgerade zum Staatsfeind Nr. 1 entwickelte. Sie gedieh vor allem durch das „Doppelpreissystem“, das dem Auseinanderklaffen von behördlich festgesetzten Preisen und freien Marktpreisen zuzuschreiben war. Nach Schätzungen chinesischer Fachleute ergab sich hier Anfang 1989 eine manipulierbare Differenz von rund 400 Milliarden Yuan 1) — nach offiziellem Umrechnungskurs also circa 200 Milliarden DM.

Ein Kader, der es versteht, subventionierte Waren aus dem amtlichen Verteilungsstrom abzuzweigen und sie auf den freien Markt umzulenken, kann also phänomenale Gewinne erzielen, die ihn über das magere Beamtengehalt leicht hinwegtrösten. Ein Beispiel hierfür ist der Umgang mit Kunstdünger, der von den Bauern als „Lebensmittel der Lebensmittel“ betrachtet wird und von dem das Wohl und Wehe der gesamten inzwischen auf Intensivierung umgestellten Landwirtschaft abhängt. In einer Verordnung vom 24. Februar 1987 hatte der Staatsrat angeordnet, daß jeder Bauer für die Ablieferung von 100 chinesische Pfund Getreide im Gegenzug sechs Pfund Kunstdünger erster Qualität und drei Pfund Dieselöl zugeteilt erhalten solle. Zusätzlich sei den Bauern Kunstdünger zu verbilligten Preisen zu überlassen 2). Diese Verordnung blieb jedoch Makulatur, da viele Düngemittelverteilungsstellen den kostbaren Stoff veruntreuten. Die „Gesellschaft für landwirtschaftlichen Bedarf“ in der Stadt Kaifeng, die für Düngemittelauslieferung zuständig ist, konnte ihren Bauern beispielsweise keinen Dünger zur Verfügung stellen, weil sämtliche Vorräte von Regierungsbeamten vorher durch „Sonderbestellungen“ abgezogen worden waren.

Das Düngemittelmonopol des Staates wurde also durch graue und schwarze Märkte ausgehöhlt, wodurch Versorgungsengpässe entstanden. So kam es, daß Bauern, die über keine Guanxi („Beziehungen“) zu Regierungsstellen verfügten, für eine Tonne Düngemittel 875 Yuan statt, wie es in der amtlichen Preisliste stand. 464 Yuan bezahlen mußten. Ähnlich war es mit anderen knappen Gütern bestellt. Da diese Güter von den zuständigen Funktionären manchmal bis zu zwei Dutzend Mal unter der Hand weiterveräußert werden, ehe sie an den Verbraucher kommen, verdoppeln oder verdreifachen sich die Preise 3).

Preistreibend wirkte auch die unkoordinierte Doppelbestellungspolitik vieler Betriebe und Regionen, die, statt sich gegenseitig abzustimmen, in höchst eigennütziger Weise in alle Richtungen Orders ausgaben und dadurch die Gütemachfrage zusätzlich anheizten. Zudem hatte es sich eingebürgert, immer dann, wenn Geldknappheit aufkam. einfach die Notenpresse laufen zu lassen. Vor allem 1988 wurden erheblich mehr Banknoten gedruckt als im staatlichen Plan vorgesehen. Vor allem die von niedrigen Fix-Gehältern lebende städtische Intelligenz mußte solchen Manipulationen lange Zeit in ohnmächtiger Wut zusehen.

Korruption und Kaderwillkür hatten den Reformern schon seit einigen Jahren Kopfzerbrechen bereitet. Vor allem 1982 und 1983 waren zahlreiche Tatbestände des Strafgesetzbuches von 1979 novelliert und u. a. mit der Todesstrafe bedroht worden.

1983 fanden zahlreiche Schauprozesse und Massen-hinrichtungen statt, denen, wie es hieß. „Spekulan-ten, Profiteure und Schmuggler“ sowie eine Reihe von korrupten Betriebsleitern zum Opfer fielen

Die Reformer traten dem Übel aber nicht nur mit kriminalpolitischen, sondern auch mit ideologischen (Schulungen), organisatorischen (Einrichtung neuer Überwachungsorgane, u. a. auch von Rechnungshöfen) und politischen Mitteln entgegen. Besonders wichtig in diesem Zusammenhang waren die Beschlüsse des XIII. Parteitags (1987), die „politische Reformen“ herbeiführen sollten. Bei der Suche nach den Wurzeln des vielfachen Machtmißbrauchs hatten die Reformer „patriarchalisches Denken und Handeln“, Bürokratismus, Privilegienwesen und Personenkult entdecken müssen. Mit drei Therapien suchten sie diesen Übeln zu Leibe zu rücken, nämlich mit Demokratisierung, Gewaltenteilung und „Vergesetzlichung“.

Bereits 1980 hatten sie sechs Demokratisierungsmaßnahmen verkündet, nämlich 1. die Stärkung der Volkskongresse durch Direktwahl und erweiterte Befugnisse. 2. striktere Trennung von Partei-und Verwaltungsorganen, 3. Dezentralisierung von Entscheidungsbefugnissen durch Verlagerung von Gestaltungszuständigkeiten auf lokale Ebenen. 4. Ausweitung der Betriebsautonomie. 5. Reform des Kadersystems durch Erlaß eines neuen Dienst-rechts (Wahl. Absetzung. Überprüfung. Pensionierung etc.) und 6. weiteren Ausbau des sozialistischen Rechtssystems. Der XIII. Parteitag fügte diesem Katalog noch einen siebten Punkt hinzu, nämlich die „Institutionalisierung der Konsultation und des Dialogs in der Gesellschaft“ — womit erweiterte Mitbestimmung gemeint war. Kernstück dieses Reformplans war die Trennung zwischen Partei und Verwaltung/Management. Die Partei sollte sich in Zukunft nicht mehr in Sachentscheidungen einmischen, sondern nur noch die Einhaltung politischer Grundprinzipien überwachen.

Ebenso bedeutsam war die Forderung nach Dezentralisierung, d. h. nach Stärkung der unteren Ebenen. Noch unter Mao hatte der Grundsatz „Je zentraler, desto sozialistischer“ gegolten — was zwei Konsequenzen nach sich zog: Auf der einen Seite wurden alle einigermaßen wichtigen Entscheidungen möglichst nach oben verlagert; auf der anderen Seite sollte versucht werden, den traditionellen Dualismus zwischen Danwei und Transdanweibereich soweit wie möglich aufzuheben, also eines der Grundmerkmale des politischen Systems zu sprengen. Danwei heißt Grundeinheit. Der einzelne ist in erster Linie nicht Individuum, sondern Danwei-Mitglied, sei es nun eines Dorfes, eines Fabrikbetriebes, einer Werkhalle, eines Wohnviertels oder einer Universitätsfakultät. Die Durchschnittsdanwei neigt zur Autonomie. Sie ist Geburtsort, Schule, Arbeitgeber und — von wenigen Ausnahmen abgesehen — auch lebenslanger Aufenthaltsort. Durch die Neubegründung der Betriebsautonomie hatten die Reformer einen Zustand hergestellt, der vom Durchschnittschinesen wieder als „normal“ empfunden wurde.

Zu einer dritten wichtigen Demokratisierungsmaßnahme wurde die Reform des Kadersystems. Im dreißigsten Jahr der Volksrepublik waren die Reformer überall auf Schmarotzertum. Bürokratismus und bestürzenden Amtsmißbrauch gestoßen. Das Hauptmittel dagegen hieß „Demokratisierung“.

Wenn in amtlichen chinesischen Publikationen von „Demokratie“ die Rede ist, so verbinden sich damit — im Gegensatz zur herkömmlichen westlichen Interpretation dieses Begriffs — vor allem drei Besonderheiten: Es handelt sich hier eher um „korporative Demokratie“, d. h. um eine Mitbestimmungsform. an der weniger Individuen als vielmehr Danweis Anteil haben. Zudem assoziiert der Begriff immer auch den Wunsch nach Eindämmung bürokratischer Willkür und, Hand in Hand damit, auch die Hoffnung, daß die Partei sich weniger in die Danwei-Autonomie einmischt.

Der Königsweg zu einer solchen Demokratisierung sollte nach den Vorstellungen der Reformer über eine stärkere Vergesetzlichung führen. „Rechtsstatt Personenherrschaft“ — dies war die Parole, unter der seit 1979 Hunderte von Gesetzen und Verordnungen ergangen waren, die verhindern sollten, daß je wieder Mißstände einrissen, wie sie während der Kulturrevolution an der Tagesordnung gewesen waren. Man kann nicht leugnen, daß die Reformer manches versuchten, um den negativen sozialen Auswirkungen ihres wirtschaftlich so erfolgreichen Kurses entgegenzusteuern. Doch sollte es sich schon bald herausstellen, daß ihre Vorbeugemaßnahmen nicht ausreichten. In zahlreichen Städten kam es zu empörten Reaktionen der Bevölkerung gegen Inflation, Korruption und Einkommensverzerrungen. Ein ganzes Bündel von ungelösten Problemen war es also, das die Studentendemonstrationen und die ihnen folgenden Solidarisierungseffekte ausgelöst hat. Die Deng Xiaoping-Führung will aber diese inneren Ursachen nicht zur Kenntnis nehmen, sondern macht äußere Ursachen verantwortlich, indem sie in ihrem „Bericht über die Unterbindung des Aufruhrs und die Niederschlagung des konterrevolutionären Putsches“ vom 30. Juni 1989 eine Verschwörungstheorie aufstellt, der zufolge ZK-Generalsekretär Zhao Ziyang und sein Beraterstab zu-sammen mit der Hongkonger Presse und mit Intellektuellenkreisen in und außerhalb der Volksrepublik den „Aufruhr von langer Hand vorbereitet“ und schließlich durchgeführt hätten. Die zumeist patriotischen und aufrechten Studenten seien von den „Drahtziehern“ lediglich „ausgenutzt“ worden.

II. Die Studentendemonstrationen

Studentendemonstrationen waren auch in China seit der Bewegung des 4. Mai (1919) zu einer Art Institution geworden und hatten lediglich während des kampagnenträchtigen Zeitalters Mao Zedongs keine Entfaltungsmöglichkeit finden können. Nach dem Tode des Vorsitzenden jedoch machten sie sich schnell wieder bemerkbar. 1984/85 richteten sie sich beispielsweise gegen die Überflutung Chinas mit japanischen Waren („Japanische Wirtschaftsinvasion“). griffen also das patriotische Leitmotiv wieder auf. 1986/87 wurden auch die altbekannten Forderungen nach „Freiheit und Demokratie“ wieder erhoben, vor allem bei den Aufmärschen in Hefei, Wuhan. Shanghai, Nanjing, Hangzhou und Beijing. In der Stimmung dieser Tage sorgten die Reden einiger bekannter Professoren, u. a.des Astrophysikers Fang Lizhi, für Unruhe: Die Studenten seien sich ihrer gesellschaftsverändernden Kraft leider noch lange nicht genügend bewußt. Sie sollten zur Kenntnis nehmen, daß Demokratie nicht von oben geschenkt werde, sondern von unten nach oben erkämpft werden müsse; anzumahnen sei darüber hinaus eine umfassende „Verwestlichung“ und eine „Farbänderung der Partei“. In Shanghai führten die durch solche Reden aufgeheizten Studentendemonstrationen zwischen dem 19. und dem 21. Dezember 1986 zum partiellen Zusammenbruch des innerstädtischen Verkehrs, auch in Beijing kam es zu Umzügen von Tausenden von Studenten. Die Regierung hielt sich auffallend zurück, antwortete mit nur kurzfristigen Festnahmen — ließ also kein Märtyrertum aufkommen —. kurbelte dann allerdings, als die Demonstrationsbegeisterung verraucht war, eine Kampagne gegen die „bürgerliche Liberalisierung“ an

Auch 1989 gab es wieder Studentendemonstrationen, und zwar im Anschluß an den Tod des frühe-ren KP-Generalsekretärs Hu Yaobang, der am 22. April beerdigt wurde. An diesem Tage veranstalteten rund 150 000 Studenten, Arbeiter und Intellektuelle eine Art inoffizieller Nebentrauerfeier, bei der dem Verstorbenen als dem wahren Verfechter des Demokratiegedankens gehuldigt wurde. Da die Studenten bis dahin Hu kaum Beachtung geschenkt hatten, wirkte dieser plötzliche Sympathie-ausbruch überraschend und auch besorgniserregend. In der Tat traten kurz darauf über 100 000 Studenten an zwanzig Hochschulen Beijings in einen Vorlesungsstreik und gründeten einen „Unabhängigen Studentenverband“. Eine solche Herausforderung hatte es für die Parteiführung seit 1949 nicht gegeben. Am 26. April verurteilte die Ren-min Ribao (Volkszeitung) eine „Handvoll von Elementen mit unlauteren Hintergedanken“, die den Schmerz über den Tod Hu Yaobangs genutzt hätten, um Unruhe zu stiften. Zwischen den Zeilen war auch bereits von Konterrevolution die Rede.

Auch in Shanghai. Xi’an. Chengdu und einer Reihe weiterer Großstädte kam es zu Demonstrationen, denen von der übrigen städtischen Bevölkerung zugejubelt wurde — der Solidarisierungseffekt nahm für die Partei beunruhigende Ausmaße an. Am 18. April übergaben Vertreter der Studenten einem Regierungsrepräsentanten „Forderungen in sieben Punkten“: 1. Neubewertung der Rolle Hu Yaobangs für den Reformprozeß; 2. Rehabilitierung der Intellektuellen, die in den Kampagnen „gegen die geistige Verschmutzung“ und „gegen die bürgerliche Liberalisierung“ verurteilt worden waren; 3. Pressefreiheit; 4. Offenlegung der Einkünfte aller Führungskader; 5. höhere Zuschüsse für das Erziehungswesen und für die Intellektuellen; 6. Aufhebung der Einschränkung des Demonstrationsrechts in Beijing und 7. wahrheitsgemäße Berichterstattung über die Proteste in den Medien Diese Forderungen, die als Ausdruck der „Demokratie“ bezeichnet wurden, liefen letztlich auf eine breitere Mitbestimmung an den politischen Entscheidungsprozessen hinaus

Am 13. Mai begannen Teile der Studentenschaft einen Hungerstreik und forderten, daß Vertreter des Internationalen Roten Kreuzes zur Beobachtung herangezogen werden sollten. Eine Woche später hatten sich bereits über 3 000 Studenten dem Hungerstreik angeschlossen — seit Gandhis Zeiten sicher die umfassendste Bewegung dieser passiven Form des Widerstands, die denn auch vor allem bei den ausländischen Medien entsprechendes Echo fand. Drei Forderungen stellten die Hungerstreikenden: Das ZK solle die Studentenbewegung als patriotisch und demokratisch anerkennen, es solle die autonome Studentenorganisation legalisieren und ferner die Zusage geben, daß gegen die Studenten keine Gewalt eingesetzt werde. Begleitet waren diese Forderungen von Parolen wie „Wir wollen nichts als Blüte und Stärke unserer Nation“, „Wir wollen Freiheit mehr als Brot“ und „Das Volk verlieren heißt alles verlieren“. Trotz Hungerstreiks nahm sich die Versammlung auf dem Platz vor den Tiananmen immer mehr wie ein Pfadfinderlager aus, bei dessen Kundgebungen die Regierung frech-fröhlich herausgefordert wurde. Am 20. Mai gingen die Studenten vom Hungerstreik zum Sitzstreik über.

Die Machthaber zeigten sich verunsichert und reagierten zwiespältig: Einerseits beorderten sie Anfang Mai erste Truppenkontingente aus anderen Landesteilen nach Beijing. Andererseits erfolgten Zugeständnisse: Kein Geringerer als ZK-GeneralSekretär Zhao Ziyang.der offensichtlich mit dem scharfen Renmin Ribao-Artikel vom 26. April nicht einverstanden war, versicherte den Studenten am 16. Mai, ihre Forderungen entsprächen den Vorstellungen des XIII. Parteitags und sollten deshalb erfüllt werden. Im Gegenzug sollten die Studenten während des Gorbatschow-Besuchs (16. — 18. Mai) auf Demonstrationen verzichten. Sehr zum Schaden Zhaos gingen die Studenten darauf jedoch nicht ein. Vielmehr mußte Gorbatschow, dessen Visite eigentlich zum wichtigsten Staatsbesuch seit der Chinareise Nixons im Jahre 1972 hätte werden sollen, auf Schleichwegen durch die Innenstadt fahren ui d die Halle des Volkes durch eine Nebentür betreten — ein schwerer Gesichtsverlust für die chinesische Führung.

Im Gegensatz zu ZK-Generalsekretär Zhao Ziyang zeigte sich die Regierung gegenüber den Studenten kaum gesprächsbereit. Die Unterredung des Ministerpräsidenten Li Peng mit Studentenvertretern am 18. Mai z. B. ließ keinerlei Entgegenkommen erkennen. Tatsächlich hatten mittlerweile im „Ständigen Ausschuß des Politbüros“ die Falken über die Tauben gesiegt. Dies trat besonders deutlich am 20. Mai 1989 zutage, als das Kriegsrecht über Teile von Beijing verhängt wurde. Die Kriegsrechtstruppen freilich, die im Gefolge dieser Anordnung in die Stadt einzurücken versuchten, mußten schon bald unverrichteter Dinge wieder umkehren, da sie nicht nur überall auf Straßensperren stießen, sondern vor allem von Tausenden von Menschen aufgehalten wurden, die ihre Fahrzeuge umringten und deren Wortführer sie von der Volksfeindlichkeit und Sinnlosigkeit ihres Vorhabens zu überzeugen verstanden. Die politische Führung muß spätestens zu diesem Zeitpunkt in eine Art Panik geraten sein.

Der Wagemut der Studenten wurde nicht zuletzt dadurch erhöht, daß es sich schon seit einiger Zeit — offensichtlich als Folge einer bewußten Indiskretion Zhao Ziyangs — unter ihnen herumgesprochen hatte, daß es im Politbüro zu Auseinandersetzungen zwischen dem Deng Xiaoping/Y: ang Shangkun-Flügel und dem Anhang Zhao Ziyangs gekommen war. Nicht zuletzt wegen dieser Spaltung der Führungsspitze schien China im Mai 1989 wie ein steuerloses Schiff dahinzutreiben. Lediglich zwei „Organe“ funktionierten noch, der — informelle — Ältestenrat, der sich aus sechs von Deng Xiaoping angeführten „hochgeachteten Genossen“ zusammensetzte, und ein formelles Gremium, der ZK-Militärausschuß, an dessen Spitze ebenfalls Deng Xiaoping stand.

Ende Mai gab es für diese beiden noch funktionierenden Entscheidungsinstanzen drei Optionen: Entweder ließen sie den Ereignissen freien Lauf, was zur Folge haben konnte, daß die Unruhen in Beijing andere Landesteile ergriffen, oder sie ließen sich auf Verhandlungen mit den Studenten ein, wie sie ja von Zhao Ziyang immer wieder gefordert wurden, oder aber sie beschlossen ein gewaltsames Durchgreifen. Selbst wenn die letzte Option gewählt worden wäre, hätte es — zumindest wenn man die neueren reformerischen Gesetze befolgt hätte — allenfalls um die Räumung des Tiananmen-Platzes sowie um die Beseitigung sonstiger „Störungen der öffentlichen Ordnung“ auf den Zufahrtsstraßen gehen können. Mit dem Einsatz von Tränengas oder Knüppeln und mit dem Abtransport von hartnäckigen Demonstranten hätte sich dieses Ziel erreichen lassen, zumal Zehntausende von Soldaten sowie Einheiten der bewaffneten Polizei und der allgemeinen Polizei zur Verfügung standen. Statt dessen entschieden sich die „Ältesten“ für eine weit über die gesetzlichen Grundlagen hinausgehende Lösung, nämlich für den Einsatz von Panzern und Schnellfeuergewehren gegen unbewaffnete Zivilisten — und dies zu einem Zeitpunkt, als die Demonstrationen bereits abzuflauen begannen. Die Folge waren Hunderte, ja möglicherweise Tausende von Toten auf dem Tiananmen-Platz!

In der entscheidenden Phase scheint Deng Xiaoping in ärztlicher Behandlung, sicherlich aber nicht voll handlungsfähig gewesen zu sein, so daß die Kommandogewalt an Staatspräsident Yang Shangkun überging, der den gesamten „Yang-Clan“ in den Vernichtungsfeldzug gegen die Studenten einschaltete. Zu diesem Großfamilienverband gehören zwei der drei militärischen Spitzenführer der Volksbefreiungsarmee, nämlich Generalstabschef Chi Haotin und der oberste Politkommissar, Yang Baibing, daneben auch der Kommandant der 27. Armee, einer in der Provinz Shanxi stationierten strategischen Reserveeinheit, die als zuverlässig — und offensichtlich auch skrupellos — galt.

Die 27. Armee war es denn auch, die mit ihrem schnellen und rücksichtslosen Durchgreifen dafür sorgte, daß Spaltungserscheinungen in der Volks-befreiungsarmee während der entscheidenden Augenblicke auf ein Minimum beschränkt blieben. Daß die Gefahr eines Auseinanderfallens der Truppen eine Zeitlang durchaus bestanden hatte, ging aus einander widersprechenden Leitartikeln in der Armeezeitung, aus den Anti-Interventionsappellen einiger Armeeführer, u. a.des Verteidigungsministers Qin Jiwei. und vor allem aus einer Geheim-rede Yang Shangkuns vor der Zentralen Militär-kommission am 24. Mai 1989 hervor. Yang gab bei dieser Gelegenheit den Rat, vor allem die Armee-veteranen und die Regimentskommandanten für ein militärisches Eingreifen zu gewinnen

Die blutigen Ereignisse fanden hauptsächlich in den Frühstunden des 4. Juni statt. Um ein Uhr nachts hatte eine „bewegliche Mauer“ von Soldaten einem Konvoi mit mindestens 250 Armeefahrzeugen den* Weg zum Platz vor dem Tor des Himmlischen Friedens freigeschossen. Das Gelände wurde umstellt und die Beleuchtung ausgeschaltet. Um vier Uhr sprangen die Lichter wieder an, dann walzten Panzer über die friedlich auf dem Platz lagernden Arbeiter-und Studentengruppen und mähten Infanterie-Einheiten mit Maschinengewehren sogar Fliehende von hinten nieder. Angeblich wurden auch Dumdum-Geschosse auf die Demonstranten abgefeuert. Laut Chai Ling, einer Studentenführerin, wurden die Leichen anschließend mit Flammenwerfern verbrannt oder lastwagenweise weggekarrt, so daß am nächsten Tag fast alle Spuren des Geschehens getilgt waren.

Am 5. Juni besetzten die Truppen acht Hochschulen der Hauptstadt. Gerüchten zufolge sollen an der Beida-Universität 120 Studenten aus den Schlafsälen geholt und im Freien niedergeschossen worden sein Noch am gleichen Tag begannen auch umfangreiche Verhaftungen durch die „Gruppe 6/1“, die unter der Leitung Yang Shangkuns stand und die offensichtlich eine Liste von Tausenden von „konterrevolutionären Rebellen“ zusammengestellt hatte, wobei ihr westliches TV-Material sowie heimlich von der Polizei gedrehte Filme als Unterlagen dienten. Am 10. Juni waren bereits 400 „Konterrevolutionäre“ festgenommen. Am 13. Juni begann die Fahndung nach den 21 Anführern der „Autonomen Vereinigung der Hochschulstudenten von Beijing“. Einige der steckbrieflich Gesuchten konnten sich über ein offensichtlich gut-organisiertes Fluchtnetz nach Hongkong absetzen.

Die Berichte von der Mordnacht, vor allem aber die in alle Welt ausgestrahlten Fernsehbilder von der demütigenden Behandlung der gefaßten Anführer, der teilweise sogar in die Familien hineinreichende Denunziationswelle und den massenhaften Hinrichtungen tauchten das Chinabild, das bisher im Ausland so hell gestrahlt hatte, innerhalb weniger Tage in düstere Farben. Deprimierend war auch die Art und Weise, wie die Führung sich „wahrzulügen“

versuchte, indem sie behauptete, daß es am Tiananmen kein einziges Todesopfer unter den Zivilisten gegeben und das Militär ausnahmslos in die Luft geschossen habe. Tote und Verletzte seien ausschließlich unter den Soldaten zu beklagen, die in Ausübung ihrer Pflicht von einer „winzigen Minderheit“

von Rowdies angegriffen und sich nicht in allen Fällen rechtzeitig hätten zur Wehr setzen kön-nen. Das Martyrium dieser Soldaten wird aufs rührendste beschrieben. Nach offiziellen Angaben sind „Tausende von Soldaten und Polizisten verletzt, Hunderte getötet“ und etwa 1 280 Fahrzeuge — darunter über 1 000 Militärwagen, über 60 Panzer, über 30 Polizeiwagen, 120 Linienbusse u. a. während des Putsches zerstört worden Nur beiläufig hieß es, daß durch „Autostöße, heftiges Gedränge und verirrte Kugeln“ auch „über 3 000 Zivilisten verletzt und mehr als 200 getötet wurden, einschließlich 36 Studenten“ Auf dem Tiananmenplatz selbst habe es kein „Blutbad“ gegeben. Vielmehr seien die dort lagernden Studenten zum Abzug aufgefordert worden und hätten geordnet den Platz verlassen so daß dieser „wieder in die Hände des Volkes zurückgelangte“

Diese für westliche Leser unbegreifliche „Korrektur der Geschichte“ ist eine chinesische Eigenart, die bereits im alten China als „Baobian“ („Loben und Herabsetzen“) bekannt war und die darin besteht, daß Geschehnisse nicht so beschrieben werden. wie sie stattgefunden haben, sondern wie sie nach offizieller Ansicht eigentlich hätten stattfinden müssen. Vorgänge und Personen, die nicht in dieses Schema passen, werden aus der Historie kurzerhand „wegradiert“. Weltweit bekannt geworden ist z. B. die Herausretuschierung aller Mitglieder der „Viererbande“ aus den anläßlich der Trauerfeierlichkeiten zu Maos Tod aufgenommenen Fotografien. Die vier waren „Unpersonen" geworden und hatten damit einfach zu existieren aufgehört.

Nun könnte man argumentieren, daß sich die propagandistische Schönfärberei in erster Linie an die eigene Bevölkerung wendet, die über das Tiananmen-Ereignis ja so gut wie nicht informiert wurde, und auf die die Propaganda dieses Zuschnitts deshalb ihren Eindruck kaum verfehlen konnte. Allerdings ließ die Beijinger Propaganda ihre Version auch in solchen Organen nachdrucken, die nun ganz gewiß nicht für einheimische Leser gedacht sind, so z. B. in der Beijing Review sowie in der Beijing Rundschau Aus dieser Agitprop-Politik kann man ersehen, daß mit dem jetzigen Baobian nicht nur die eigene Bevölkerung „aufgeklärt“, sondern die Geschichte des Massakers insgesamt zurechtkorrigiert werden sollte.

Immer wieder taucht im Westen die Frage auf, warum eigentlich die Räumung des Platzes mit solcher Brutalität durchgeführt wurde. Hierfür lassen sich zunächst drei Gründe anführen: Angst, Trauma und Rache.

Die Angst hat mit der seit der Zeit der chinesischen Kaiser bestehenden Erfahrung zu tun, daß das Volk in gewissen Augenblicken der Geschichte sich seiner eigenen Kraft bewußt wird. Die „Massen“ Chinas waren immer schon eine unheimliche Größe, vor der sich jede Führung in acht nehmen muß: Entweder zwängt man sie bis zur Unbeweglichkeit in ein starres Verhaltenskorsett ein (so der konfuzianische Weg), oder aber man versucht, sie für die eigenen Zwecke zu mobilisieren — dies war die Praxis Mao Zedongs.

Seit 1979 ist Deng Xiaoping nicht müde geworden, vor der Gefahr des „Überrolltwerdens“ zu warnen: „Wenn heute die einen und morgen die anderen auf die Straße gehen, wie könnten wir da ruhig leben!? Wie könnten wir uns da auf den Aufbau konzentrieren!? Wenn heute dieser und morgen jener eine Demonstration veranstaltet, dann gibt es in China, einem Land mit einer Milliarde Menschen, alle 365 Tage etwas auszutragen. Unser Endziel ist zwar die sozialistische Demokratie; es geht jedoch nicht an, sie voreilig herbeizuführen . . . Wenn jeder Jugendliche auf seiner Meinung beharrt, bräche bald ein . allseitiger Bürgerkrieg* aus . . . Unser größter Fehler liegt darin, daß wir in den letzten Jahren die ideologisch-politische Arbeit vernachlässigt und die Erziehung nicht genügend streng durchgeführt haben . . . Dieser Fehler ist noch schlimmer als die Inflation.“

Die Mitglieder des „Ältestenrats“, die ihr halbes Leben lang Massenmobilisierungsarbeit geleistet hatten, glaubten daher Ende Mai. nur noch die Notbremse ziehen zu können. Gerade sie waren ja durchweg Opfer der Kulturrevolution gewesen, ein Trauma, das in den April-und Maitagen des Jahres 1989 wie.derbelebt worden sein mag, zumal die Transparente mit der Losung „Nieder mit Deng Xiaoping“ so zahlreich wurden, „daß man Himmel und Erde damit hätte bedecken können“ In diesem Augenblick gab es für den „Ältestenrat“ nur noch eine Parole, nämlich „Stabilität, Stabilität und nochmals Stabilität“.

Auch atavistisches Rachegefühl, das durch den Gesichtsverlust-vor allem anläßlich der Gorbatschow-Visite hervorgerufen wurde, dürfte mit im Spiel gewesen sein. Ausgerechnet der sowjetische Generalsekretär ist in der außenpolitischen Geschichte der VR China der einzige Besucher, der den Platz vor dem Tiananmen und den Kaiserpalast nicht zu Gesicht bekommen hat und sich statt dessen über Hintertüren mit seinen Gastgebern treffen müßte. Darüber hinaus mögen aber auch Nachwirkungen der Tradition mitgespielt haben. Sie seien hier mit den Stichworten „Gesicht des Herrschers“, „Macht“ und Bürokratietradition angeführt.

Nirgends in Asien gelten Machthaber als gewöhnliche Sterbliche, sondern vielmehr als höhere Wesen, zu denen man mit Scheu aufblickt und denen man übrigens auch gerne gehorcht — man denke an die traditionellen indischen „Gottkönige“ (devaraja) oder an die chinesischen „Himmelssöhne“ (tianzi), die sich bei ihrem Auftreten strengen Ritualen unterwarfen und deren Paläste stets den Mittelpunkt der Erde definierten Ist es Zufall, daß die Führer der VR China sich ausgerechnet in einem Teil des alten Kaiserpalasts niedergelassen haben, daß sie — trotz aller verbalen Bekenntnisse zur „Massenlinie“ — vom Volk unendlich ferne leben und daß ihre Auftritte nach wie vor einem strengen Zeremoniell gehorchen — so etwa beim Dfile der Führungsmannschaft anläßlich von Staatsempfängen oder an staatlichen Feiertagen? Deng Xiaoping gehört zwar, sieht man einmal von der ZK-Militär-kommission ab, keinem formellen Führungsgremium mehr an; doch jeder weiß, daß er die Graue Eminenz Chinas ist und er gemäß einer führungsintemen Vereinbarung in allen Schlüsselentscheidungen das letzte Wort hat. Statt ihm nun die gebührende Hochachtung zu erweisen, schrieben die Studenten Tausende von Plakaten, auf denen sie seinen Sturz herbeiwünschten („Nieder mit Deng Xiaoping und Li Peng!“, „Nieder mit dem senilen Kaiser!“). Dies war eine „Gesichts“ -Verletzung, die nicht ungesühnt bleiben durfte.

„Macht“ unterscheidet sich in Asien vor allem durch drei Merkmale von entsprechenden westlichen Vorstellungen: Sie ist keine menschliche Fähigkeit, die von einem Individuum ausgeht, sondern gilt als außermenschliche Energie, die sich in einer Einzelperson wie in einem Gefäß sammelt. Macht „fließt zu“, sie kann aber auch wieder „abfließen“, wobei als Begleiterscheinung stets deutliche Zeichen zutage treten. Kein Wunder, daß der Durchschnittschinese nach wie vor fest davon überzeugt ist, daß Naturkatastrophen auch allemal Politkatastrophen nach sich ziehen und umgekehrt. Auch 1988 war es zu zahlreichen Naturkatastrophen und Verkehrsunfällen gekommen. Mußte nun nicht fast zwangsweise auch im politischen Bereich ein neuer Einbruch erfolgen? Höchste Zeit also für Deng Xiaoping und seinen Anhang, Gegenzeichen zu setzen! Ein solches Konterkarieren war auch deshalb nötig, weil zudem nach überkommener chinesischer Auffassung Macht nicht als Ergebnis, sondern als Voraussetzung politischer Stärke, wirtschaftlichen Leistungsvermögens und militärischer Potenz gilt.

Während Macht sich im Westen durch Wohlfahrt, demokratische Spielregeln u. a. ständig rechtfertigen muß, legitimiert sie sich nach asiatischer Auffassung von selbst. Sie ist mit anderen Worten legitim, sofern sie gelingt. Aus diesem Grunde auch fällt es dem asiatischen Durchschnittspolitiker so schwer, freiwillig Macht abzugeben. Macht ist in sich schlechthin gut, und es gibt kaum etwas, das man dafür einzutauschen bereit wäre. Der Machterhaltung werden letztlich sogar die eigenen Prinzipien geopfert

Ferner macht es auch die bürokratische Tradition Chinas einer Führung nicht gerade leicht, oppositionellen Kräften gegenüber tolerant zu sein. In sämtlichen metakonfuzianischen Gesellschaften, seien es nun China, Taiwan, Vietnam, Japan, die beiden Koreas, Hongkong oder Singapur, herrscht grundsätzlich das Ein-Parteien-Konzept. Zwar gibt es auch in China acht nichtkommunistische Parteien, und in Japan existieren zahlreiche Gruppierungen außerhalb des LDP-Spektrums, doch letztlich wird das Geschehen immer nur von einer Partei bestimmt. Zur bürokratischen Tradition gehört außerdem ein gleichsam institutionalisiertes Mißtrauen gegen außerbürokratische Kräfte, seien es nun selbständige Betriebe, Intellektuelle oder nonkonformistische Neuerer. Gelingt es dem Führungszentrum nicht, solche Kräfte durch persönliche Beziehungen an sich zu binden, so reagiert es notfalls mit allen zur Verfügung stehenden Machtmitteln.

Gegen all diese Traditionen, die übrigens vom Großteil der Bevölkerung als „normal“ empfunden werden, haben die Studenten im Mai 1989 nachhaltig verstoßen. Kein Wunder, daß die Reaktion auf ihr Verhalten besonders unnachsichtig ausfiel.

III. Sieg der Reaktion

Zumindest in vierfacher Hinsicht hat das „alte China“ Anfang Juni 1989 erneut über alle Modernisierungsbestrebungen gesiegt.

Da ist erstens der Sieg des Personalismus über die Institution. Seit 1979 hatten sich die Reformer bemüht, die alte Personen-durch eine moderne Rechtsherrschaft zu ersetzen. Zehn Jahre reformerischer Gesetzgebung schienen mehr Berechenbarkeit geschaffen zu haben. Außerdem schien es zu einer neuen Balance zwischen den verschiedenen Teilen des Militärs, der Bürokratie, den Intellektuellen und der „Geschäftswelt“ gekommen zu sein. Nicht zuletzt war auch eine allgemein akzeptierte politische Kultur im Entstehen, die, wie unten noch auszuführen ist, hauptsächlich aus metakonfuzianischen Elementen bestand. Beim Übergang von der Personalisierung zur Institutionalisierung handelt es sich um einen kritischen Prozeß, der von jedem Land der Dritten Welt zu bewältigen ist, wenn es den Weg der Modernisierung erfolgreich beschreiten will. Am 4. Juni hat zumindest die chinesische Führungsspitze diesem Test nicht standgehalten, sondern ist in persönliche Willkür zurückgefallen. Zweitens hat die „Volksbefreiungsarmee“ auf das eigene Volk geschossen. Chinesische Armeen fühlten sich in der Vergangenheit meist nur bestimmten Personen und nur ganz selten einem übergeordneten Ganzen verpflichtet. Es scheint, daß die „Refeudalisierung“, d. h. die Rückkehr zur alten Denkweise. spätestens seit 1979 wieder eingesetzt hat, und zwar in eben dem Maße, in dem die Truppen sich zu „professionalisieren" begonnen haben. Aus einer „Volksbefreiungsarmee“ ist inzwischen allem Anschein nach wieder eine „Prätorianerarmee“ geworden, die notfalls auch auf das Volk schießt. wenn es denn von ihrem jeweiligen „Patron“ angeordnet wird.

Drittens hat die Führung offensichtlich vergessen, daß es Studenten waren, die der KP-Bewegung jahrelang genützt, ja, daß sie bei Gründung der Partei sogar die Hauptlast getragen haben. Solange die Studenten sich z. B. gegen die Guomindang erhoben, waren sie von niemandem lauter beklatscht worden als von der KP; doch nun, da sie es wagten, die KP-Führung an ihren eigenen Maßstäben, d. h. an den Grundsätzen des XIII. Parteitags zu messen und für die Verwirklichung eben dieser Prinzipien zu demonstrieren, wurden sie als „konterrevolutionär“ eingestuft und zum Teil im wahrsten Sinne des Wortes annihiliert. Ein ganzes Jahrzehnt lang haben Deng Xiaoping und seine Gefolgsleute immer wieder betont, daß die wahre Revolution in Reformen bestehe. Was die Studenten vor dem Tiananmen forderten, war nichts anderes als eine raschere Verwirklichung politischer Reformen.

Viertens haben die Reformer zehn Jahre Aufbauarbeit in einer einzigen Nacht zerstört. Recht ist kein Schönwetterphänomen, sondern sollte gerade in kritischen Situationen berechenbare Regelungsmechanismen schaffen. Betrachtet man den Militäreinsatz auf dem Tiananmen-Platz und die anschließenden Massenverhaftungen, so hat man den Eindruck, als tauchten die Gespenster der kulturrevolutionären Vergangenheit wieder auf. Schlimm genug, daß die alten Revolutionäre, die dem Tod so nahe stehen, nach Jahren friedlicher Neuerungsbemühungen wieder in ihre Jugendsünden zurückverfallen sind und allein durch dieses Verhalten schon dem Kadernachwuchs ein denkbar schlechtes Vorbild geliefert haben.

IV. Wie kann es weitergehen?

Auf die Frage, ob Deng Xiaoping mit dem Massaker sein eigenes Lebenswerkzerstört hat. muß man paradoxerweise mit Nein antworten, denn es gibt keine Alternative zu seinen Reformen, und zwar aus vier Gründen.

Erstens vermehrt sich die chinesische Bevölkerung jedes Jahr um 15 Millionen Neubürger, so daß China alle vier Jahre um eine Einwohnerschaft von der Größenordnung der Bundesrepublik Deutschland wächst. Die hierbei auftretenden Emährungsund Ausbildungsprobleme lassen sich nicht mit dem Rückgriff auf stalinistische Methoden lösen, die ja. wie der Reformdruck in der gesamten realsozialistischen Welt zeigt, ihre Glaubhaftigkeit vor der Geschichte verloren haben.

Zweitens sind die Konflikte, aus denen sich die Studentendemonstrationen entwickelt haben, nicht aus einer Unter-, sondern einer Überfunktion der Wirtschaft entstanden, die zu Überhitzungen (Inflation) und zu Einkommensverzerrungen geführt hatten. Nie in seiner Geschichte hat China ein wirtschaftlich erfolgreicheres Jahrzehnt erlebt als im Zeitraum zwischen 1979 und 1988. 1988 hatte China mit seinem Wirtschaftswachstum von 11, 2 Prozent sogar die Spitze in Asien übernommen, und zwar vor Singapur (11, 1 Prozent), Südkorea (11 Prozent), Thailand (11 Prozent), Indien (9 Prozent), Hongkong (7, 5 Prozent), Malaysia (7, 4 Prozent) Taiwan (7, 3 Prozent), den Philippinen (6, 7 Prozent), Pakistan (5, 8 Prozent) und Japan (5, 7 Prozent). Es wäre geradezu töricht, würde man auf die dabei gewonnenen Erfahrungen verzichten, zumal sogar die Negativa noch höchst lehrreich sein können.

Drittens sind die „Überlebenden“ um Deng Xiaoping zum wirtschaftlichen Erfolg noch stärker verdammt als die Reformer in den vorausgegangenen Jahren. Sollten sie nämlich nach ihrem politischen Versagen nun auch noch eine Wirtschaftskrise verschulden, so wäre ihre Position vollends unhaltbar, falls sie dann überhaupt noch physisch überleben. Kein Wunder, daß die Regierung bereits eineinhalb Wochen nach dem Massaker feierlich versichert hat, sie wolle am Kurs der Strukturreformen und der Öffnung nach außen „unabänderlich festhalten“. Gegenwärtig gebe es in China annähernd 18 000 Betriebe mit Kapital aus mehr als 14 Ländern und einer Gesamtinvestitionssumme von über 30 Milliarden US-Dollar. China könne sich eine wirtschaftliche Kursänderung unter keinen Umständen leisten

Viertens haben die Reformen zu einer partiellen Renormalisierung Chinas im Sinne des „Metakonfuzianismus“ geführt, des Handwerker-, Bauemund Kaufmanns-Konfuzianismus, wie er ohne formales Studium in Form betrieblicher Konsensfindung, senioritätsbezogener Personalpolitik, hierarchiebewußtem Alltagsverhalten weitervererbt wird. Stichwortartig umrissen bedeutet dieser Begriff: Gemeinschaftsbezogenheit und Streben nach größtmöglicher Harmonie, hierarchische Ordnung sämtlicher gesellschaftlicher Beziehungen, „gesichts“ -und vergangenheitsbezogene Ordnung, ausgeprägte Lernkultur, Dualismus zwischen Danwei-und Transdanweibereich bzw. starke Bezogenheit auf den Danwei, nicht zuletzt auch Wirtschaftstugenden, die dem ökonomischen Aufstieg mehrerer metakonfuzianischer Gesellschaften wie Japan, Südkorea, Taiwan, Hongkong und Singapur bisher so hervorragende Dienste geleistet haben (Leistung, Fleiß, Sparsamkeit und Korporativität) Im Zeichen des Metakonfuzianismus sind nach 1979 zahlreiche Verstiegenheiten des Maoismus wieder korrigiert worden. Maos Priorität für den Klassenkampf beispielsweise widersprach den Harmonie-sowie den Korporativitätsvorstellungen des Durchschnittschinesen; seine Kritik-und Selbstkritik-postulate waren de facto Aufforderungen zur systematischen „Gesichtsverletzung“; sein Egalitarismus verstieß gegen eingefahrene Hierarchiegewohnheiten und seine Betonung des Politischen negierte das Leistungsprinzip. Die Reformen Deng Xiaopings brachten demgegenüber eine Heilung durch einen Rückgriff auf alte Traditionen. So hat z. B. die reformerische Betriebsautonomie auch die alten Forderungen nach Selbständigkeit der Danweis neu bestätigt. Der Hauptfehler Deng Xiaopings bestand darin, daß er zwar wirtschaftliche, nicht aber politische Freiheiten gestatten, daß er westliche Technologien, nicht aber westliches Denken rezipieren wollte.

Der zukünftige Kurs Chinas wird wohl oder übel auf einen „Dengismus ohne Deng Xiaoping“ hinauslaufen, d. h. aufeine Fortsetzung der wirtschaftlichen Liberalisierung bei gleichzeitiger Bremsung politischer Liberalisierung. Das 4. Plenum des XIII. ZK, das am 23. 724. Juni 1989 tagte und Bilanz aus der Niederschlagung des Volksaufstandes zog, forderte denn auch die Fortsetzung des in sich gespaltenen Reformkurses und war auch sonst voll von Merkwürdigkeiten und Absurditäten. Nach wie vor wurde beispielsweise die Meinung aufrechterhalten, daß es eine „extreme Minderheit von Drahtziehern“ gewesen sei, die die Studenten zu einem „konterrevolutionären Putsch“ mit dem Ziel angeleitet hätten, „KP und Volksmacht zu stürzen“. Unter diesen Umständen hätten die „alten proletarischen Führer mit Deng Xiaoping an der Spitze und die Volksbefreiungsarmee Notwehr üben müssen“. Ferner wurde ein „Bericht über die Fehler des . Genossen'Zhao Ziyang beim Aufruhr“ abgesegnet und schließlich die Führung umgebildet. Vier Mitglieder des Zhao Ziyang-Flügels wurden aus dem Politbüro entfernt, sechs Kader neu in die Spitze aufgenommen, u. a.der bisherige Shanghaier Bürgermeister Jiang Zemin als ZK-GeneralSekretär. Jiang, seines Zeichens Elektronikfachmann, versierter Organisator und Schwiegersohn des früheren Staatspräsidenten Li Xiannian, ist eine auch im Westen „vorzeigbare“ politische Persön-lichkeit, die den Reformkurs durchaus glaubhaft vertreten kann und die bei den Studentendemonstrationen im Mai Fingerspitzengefühl gezeigt hat: In Shanghai wurde niemand erschossen. Auch die anderen fünf „Aufsteiger“ gehören nicht zum orthodox-konservativen Flügel; auch sie haben kein Blut an den Händen.

Die neue personelle Zusammensetzung des Politbüros läßt erkennen, daß die Parteispitze über das Massaker und über die parteioffizielle Behandlung Zhao Ziyangs zutiefst gespalten ist. Diese Zerrissenheit dürfte das Regieren nicht gerade leichter machen. Vor allem wird es nicht leicht sein, der Bevölkerung klarzumachen, daß sie fast zehn Jahre lang von einem Ministerpräsidenten (und späteren Generalsekretär) regiert worden ist, der sich nun angeblich als Verräter entpuppt.

Das 4. Plenum segnete ferner die Programmrede ab, die Deng Xiaoping wenige Tage nach dem Blutbad von Beijing vor Armeekommandeuren gehalten hatte. Sie enthielt im wesentlichen vier Punkte: — Fortsetzung des reformerischen Kurses, wie er beim 3. Plenum des XI. ZK (Dezember 1978) und beim XIII. ZK (1987) abgesteckt worden war. — „Ein Mittelpunkt, zwei Orientierungen“: Danach soll im Zentrum aller Bemühungen nach wie vor der Wirtschaftsaufbau stehen, der durch zwei Orientierungen zu flankieren sei, nämlich zum einen durch die am 30. März 1979 verkündeten „Vier Grundlegenden Prinzipien“ (Festhalten am sozialistischen Weg. an der Diktatur des Proletariats, am Führungsmonopol der KP und an den Mao-Zedong-Ideen) und zum anderen durch das reformerische Grundprogramm „Strukturreform nach innen.

Türöffnung nach außen“. Offensichtlich scheint es die „neue Führung“ nicht zu stören, daß beide Grundorientierungen zueinander in diametralem Widerspruch stehen: Wie soll die Initiative von unten belebt und ein freier Markt hergestellt werden, wenn gleichzeitig die Mao-Zedong-Ideen, das Führungsmonopol der KP und die Diktatur des Proletariats fortbestehen sollen? — Kurzfristig sollen vor allem vier Aufgaben erfüllt werden: Beendigung des „Aufruhrs“, Verbesserung des Wirtschaftsumfelds, ideologisch-politische Erziehungsarbeit und Konsolidierung der Partei, wobei vor allem der Korruption zu Leibe gegangen werden soll. — Auch im Bereich der Außenpolitik soll Kontinuität Trumpf bleiben: China poche nach wie vor, heißt es, auf seine Unabhängigkeit, strebe ein friedliches Umfeld an und orientiere sich an den „Prinzipien der friedlichen Koexistenz“

Ob sich diese Vorsätze auch in die Wirklichkeit umsetzen lassen, steht auf einem anderen Blatt. In der Innenpolitik ist der Gegensatz zwischen Partei/Staat und Gesellschaft sowie zwischen Führern und Geführten durch das Massaker schärfer geworden. Im Außenbereich ist die China-Euphorie sowie das Wohlwollen, das andere Staaten und internationale Organisationen der VR China so lange entgegengebracht haben, plötzlich einer tiefen Ernüchterung gewichen. Das „Zeitalter Deng Xiaopings“, das so lange in helle Farben getaucht war, ist grau und düster geworden. Die Führung dürfte es schwer haben, nach dem 4. Juni bei der eigenen Bevölkerung wie im Ausland ihre frühere Glaubhaftigkeit zurückzugewinnen.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Beijing Rundschau, (1989) 16, S. 8f.

  2. Vgl. ausführlich dazu Oskar Weggel. Sicherheitsrecht in der VR China, in: China aktuell, 16(1987) März. S. 206ff. u. S. 222 f.

  3. Abgedruckt in der Beilage zur Beijing Rundschau, (1989) 30. S. I-XXVIII.

  4. Vgl. China aktuell, 16 (1987) Januar, Übersicht 6 und

  5. Vgl. Renmin Ribao vom 26. April 1989.

  6. In deutscher Sprache wurden die „Sieben Punkte“ veröffentlicht in der TAZ vom 22. April 1989.

  7. Einzelheiten bei Ruth Cremerius. Die Forderungen der chinesischen Studenten an die Regierung der VR China, in: China aktuell, 18 (1989) Mai, S. 348-351.

  8. Die Rede ist aufdeutsch abgedruckt im Handelsblatt vom 14. Juni 1989.

  9. Dokumentation in: China aktuell. 18 (1989) Mai. S. 334ff., hier S. 344.

  10. Vgl. Beijing Rundschau, (1989) 26, S. 17; Beilage zur Beijing Rundschau (Anm. 5). S. XXVI.

  11. Vgl. Beilage zur Beijing Rundschau (Anm. 5), S. XXVII.

  12. Vgl. Beijing Rundschau (Anm. 12). S. 18.

  13. Beilage zur Beijing Rundschau (Anm. 5), S. XXVII.

  14. Vgl. Beijing Rundschau (Anm. 12). S. 12ff.

  15. Zitate in Beijing Rundschau, (1989) 29. S. 15— 19.

  16. So Beijing Rundschau (Anm. 12). S. 21.

  17. Ausführlich dazu Oskar Weggel, Die Asiaten. München W 89. S. 108 ff.

  18. Zum Machtbegriff vgl. O. Weggel (Anm. 19). S. 105 ff.

  19. Vgl. Beijing Rundschau (Anm. 12), S. 6f.

  20. Vgl. Oskar Weggel, China zwischen Marx und Konfuzius, München 19885, S. 290 ff.

  21. Renmin Ribao vom 24. Juni 1989.

Weitere Inhalte

Oskar Weggel, Dr. jur., geb. 1935; seit 1968 wissenschaftlicher Referent am Institut für Asienkunde in Hamburg mit Forschungsschwerpunkt Volksrepublik China und Indochina. Veröffentlichungen u. a.: Die Alternative China. Politik, Gesellschaft, Wirtschaft der VR China, Hamburg 1973; Die Außenpolitik der Volksrepublik China, Stuttgart 1977; Chinesische Rechtsgeschichte, Leiden-Köln 1980; Weltgeltung der VR China, München 1986; Xinjiang — das zentralasiatische China, Hamburg 1984; China zwischen Marx und Konfuzius, München 19883; Geschichte Chinas im 20. Jahrhundert, Stuttgart 1989; Die Asiaten. Gesellschaftsordnungen, Wirtschaftssysteme, Denkformen, Glaubensweisen, Alltagsleben, Verhaltensstile, München 1989.