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Israel und die Bundesrepublik Eine Bilanz besonderer Beziehungen | APuZ 15/1990 | bpb.de

Archiv Ausgaben ab 1953

APuZ 15/1990 Israel und die Bundesrepublik Eine Bilanz besonderer Beziehungen Verbindungen in die Zukunft 25 Jahre diplomatische Beziehungen zwischen Deutschland und Israel Die Bedeutung des Holocaust für das Selbstverständnis der israelischen Gesellschaft Israel und die Palästinenser-Frage. Probleme und Perspektiven

Israel und die Bundesrepublik Eine Bilanz besonderer Beziehungen

Jitzhak Ben-Ari

/ 13 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Es dürfte nur selten außenpolitische Beziehungen geben, die so von Schwierigkeiten und Mißverständnissen geprägt sind, wie das Verhältnis zwischen Juden und Deutschen. Der Autor, 1981 bis 1988 Botschafter Israels in Bonn, beschreibt den Weg, der zur Aufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen der Bundesrepublik und Israel im Jahre 1965 führte. Er rät, auch weiterhin den moralischen und historischen Hintergrund dieser besonderen Beziehungen zu berücksichtigen und bezieht sich dabei auf die gemeinsamen Werte und Erfahrungen der beiden Völker. Er wertet mit Vertrauen und Optimismus das Zueinanderwachsen der beiden deutschen Staaten. Es sei ermutigend, daß trotz aller Probleme und Schwierigkeiten in den Beziehungen zwischen Israel und der Bundesrepublik tragfähige und vertrauensvolle vernünftige Verhältnisse geschaffen wurden, so daß eine produktive jüdisch-deutsche Zusammenarbeit möglich ist.

I.

In wenigen Wochen wird es genau 25 Jahre her sein, daß die Bundesrepublik Deutschland und Israel diplomatische Beziehungen aufnahmen. Die Herstellung dieser offiziellen Beziehungen war weder ein Schlußpunkt nach einer Reihe von Schwierigkeiten, Mißverständnissen und Krisen, noch war damit ein kulminierender Höhepunkt gesetzt.

Dieses Jahrhundert hat zwei außergewöhnliche, ja einmalige Ereignisse in der langen Geschichte der Juden zu verzeichnen: die Ermordung eines Drittels des jüdischen Volkes durch die nationalsozialistische Gewaltherrschaft in Europa und die Neugründung des jüdischen Staates nach 2000 Jahren der Zerstreuung über die ganze Welt.

Nachdem das junge Israel sich 1951 an die vier Besatzungsmächte wandte und seine Forderung geltend machte, als Erbe der Opfer anerkannt zu werden, um für die Rehabilitierung der Überlebenden zu sorgen, gab am 27. September 1951 Bundeskanzler Adenauer eine Erklärung im Deutschen Bundestag ab, in der er die Bereitschaft seiner Regierung zu Verhandlungen mit Vertretern der israelischen Regierung zum Ausdruck brachte, um das Problem der materiellen Entschädigung zu lösen. Als im Januar 1952 in der Knesseth über die Entschädigung diskutiert wurde, waren die Reden nicht nur von besonderer Härte geprägt, sondern auch begleitet von gewalttätigen Demonstrationen in der Umgebung des Parlaments. Der Regierungsvorschlag wurde bestätigt. Nachdem Übereinstimmung mit den jüdischen Organisationen in der Welt erreicht worden war, begannen die Verhandlungen, die mit der Unterzeichnung des Abkommens am 10. September 1952 erfolgreich beendet wurden. Ein Jahr nach den Verhandlungen in Den Haag über ein Wiedergutmachungsabkommen, wurde der Vertrag zum Gesetz durch die Unterschrift von Bundespräsident Theodor Heuss und der Veröffentlichung am 21. März 1953 im Bundesanzeiger. Damit waren die Voraussetzungen für den Beginn einer de-facto-Beziehung zwischen Israel und Deutschland eingeleitet.

Es ist wahrscheinlich von historischer Bedeutung, daß die zu jener Zeit noch zugelassene Kommunistische Partei Deutschlands geschlossen gegen das Abkommen stimmte. Diese Einstellung war ein erstes Zeichen der feindseligen Haltung, die die DDR in den kommenden Jahren und Jahrzehnten einnehmen sollte. Wenngleich dieser Teil Deutschlands nicht minder zum Dritten Reich gehörte wie die Bundesrepublik, weigerte sich die DDR, nicht nur eine materielle Entschädigung an die Erben der Opfer zu erstatten, sondern überhaupt ihre historische Mitverantwortung zu bekennen.

Meinungsumfragen über die Einstellung der Bundesbürger bezeugten, daß die Deutschen zu jener Zeit sich nicht für die „Wiedergutmachung“ begeisterten. Doch das Verhalten und die Abstimmung der Bundestagsabgeordneten, deren insgesamt höhere Schulbildung ihnen mehr politisches Verständnis mitgab, zeigte mehr Besonnenheit, als die befragten Bundesbürger damals aufzubringen vermochten.

Im selben Jahr 1952 bot Bonn der israelischen Regierung die Aufnahme diplomatischer Beziehungen an. Doch Israel glaubte, der Zeitpunkt sei noch nicht reif dafür, obwohl David Ben-Gurion immer wieder betonte, daß das neue Deutschland nicht mit dem Nazi-Regime zu identifizieren sei. Am Anfang der sechziger Jahre war Israel an den diplomatischen Beziehungen interessiert, jedoch glaubte Bonn im Hinblick auf die „Hallstein-Doktrin“, daß dieser Schritt der Bundesrepublik ernsten Schaden in ihren Beziehungen mit der arabischen Welt zufügen würde.

II.

Im Januar 1963 berichtete der Israel-Korrespondent der Deutschen Presse-Agentur, Jerusalemer Regierungskreise hätten den Eindruck, daß die Aufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Israel bisher an der Hallstein-Doktrin gescheitert sei. Es werde in Israel auch angenommen, daß die Bundesrepublik Deutschland in den arabischen Ländern wichtige Interessen habe, die sie nicht ohne Not gefährden wolle. In Jerusalem werde auch nicht bestritten, daß die tatsächlichen Beziehungen zwischen Israel und der Bundesrepublik gut seien und „durch die Aufnahme formeller diplomatischer Beziehungen kaum verbessert werden könnten“. Der dies berichtete, war Rudolf Küstermeier, ein angesehener deutscher Journalist, der in Israel geehrt und geschätzt wurde. Zu jener Zeit wurden fast alle Kontakte — auf dem sicherheitspolitischen, aber auch auf dem zivilen politischen Gebiet — geheim gehalten.

Die endgültige Aufnahme der diplomatischen Beziehungen 1965 fiel nicht als Manna vom Himmel. Sie brachte sogar Spannungen. Die Sozialdemokratische Partei Deutschlands z. B. hatte sich schon seit Jahren für die Aufnahme normaler diplomatischer Beziehungen eingesetzt, die Bundestags-mehrheit war jedoch in dieser Frage geteilter Meinung. Der Fairness halber muß allerdings betont werden, daß es für eine politische Partei in der Opposition leichter ist, moralische oder ideologische Positionen einzunehmen, als für eine Regierungspartei, die ja auch auf praktische und pragmatische Überlegungen Rücksicht nehmen muß. Sicher, alle Fraktionen im Bundestag waren für gute und freundschaftliche Beziehungen, fürchteten aber, daß die formelle Aufnahme schädliche Auswirkungen auf die arabischen Länder haben und unter anderem ihr Verhältnis gegenüber dem, was damals „Zonen-Regime" genannt wurde, ändern könnte.

Die Araber standen während des Zweiten Weltkrieges in ihrer großen Mehrheit gefühlsmäßig auf Seiten Nazi-Deutschlands. Ihr Haß gegen England und Frankreich machte sie zu Sympathisanten der aggressiven Maßnahmen Hitlers, und die Vernichtungspolitik der Machthaber Deutschlands gegenüber den Juden lud die radikalen nationalistischen Kräfte in den arabischen Ländern, wie etwa den Groß-Mufti von Jerusalem, zur Zusammenarbeit mit der SS und anderen Organisationen der Nazi-Gewaltherrschaft ein. Deshalb stützten sich die Beziehungen auch zwischen dem neuen Deutschland und den unabhängigen arabischen Ländern in weitem Maße auf diese arabische Gesinnung, und die arabischen Herrscher sprachen daher von einer „traditionellen Freundschaft“. Schon bald nach der Aufnahme der Verhandlungen zwischen jüdischen Organisationen und Vertretern des Staates Israel mit der Bundesrepublik Deutschland, zu Beginn der fünfziger Jahre, begann der arabische Druck und der Versuch, die deutsch-israelischen Beziehungen negativ zu beeinflussen.

Am 13. Januar 1965 sagte Klaus Bölling, der spätere Regierungssprecher, in einem Fernsehkommentar: „Die Freundschaft mit den arabischen Völkern und Staaten . . . sollte uns wertvoll sein, und ich glaube, daß die freundschaftlichen Gefühle der Araber sich wohl nicht allein auf die Erinnerung an die militärische Aktivität des Generalfeldmarschalls Rommel gegen die Engländer im letzten Krieg gründen.“ (Weniger diplomatisch, als er es ausdrückte, verstand natürlich auch Klaus Bölling, was der Hintergrund der „traditionellen deutsch-arabischen Freundschaft im Bewußtsein der Araber“ bedeutete). Und er führte weiter aus: „Aber die Freundschaft wird in den letzten Tagen, wurde gestern und heute, auf eine sehr schwere Belastungsprobe gestellt. Der uns bekannte Standpunkt lautete, daß die arabischen Staaten die Anerkennung Ost-Berlins erwägen werden, wenn nicht gar beschließen würden, für den Fall, daß die Bundesrepublik sich entschließt, diplomatische Beziehungen zu Israel aufzunehmen. Nun sind die Araber einen Schritt weiter gegangen und meinen, daß sie diese Anerkennung des kommunistischen Deutschlands bereits in Erwägung ziehen würden, wenn die Regierung nicht auf die Waffenhilfe an Israel verzichtet, wenn sie diese Hilfe nicht einstellt . . . Ich glaube, daß die Bundesregierung sehr klar und sehr laut sagen müßte, daß sie sich dieser Nötigung unmöglich beugen kann. Wir haben in den vergangenen Jahren eine Menge Geld an Entwicklungshilfe an die arabische Welt gegeben ... Wir müssen nun den arabischen Regierungen, das scheint eine unausweichliche Pflicht der Bundesrepublik zu sein, klarmachen, daß das freie Deutschland und das kommunistisch beherrschte Deutschland nicht zwei konkurrierende Firmen sind, die man gegenseitig im Preis steigern kann ... Es muß gefragt werden, was sie eigentlich mit dieser Politik der Nötigung, ja man kann ruhig sagen, der Erpressung gegenüber Bonn ausrichten wollen.“

Das Auswärtige Amt unter der Leitung von Minister Gerhard Schröder erklärte wiederholt, „daß die Aufnahme diplomatischer Beziehungen nicht isoliert zu behandeln ist, sondern daß sie außenpoB litische Belange berührt und deshalb zurückzustellen ist“ — mit offenen Worten: Das Auswärtige Amt beugte sich lange der Nötigung der arabischen Länder.

Der Durchbruch zur Aufnahme diplomatischer Beziehungen, wurde mit Hilfe zweier bedeutender Persönlichkeiten erreicht: Bundeskanzler Ludwig Erhard beauftragte den Hamburger Politiker Erik Blumenfeld und seitens Israel beauftragte Premierminister Levy Eschkol den erfolgreichen und international politisch tätigen Geschäftsmann Jekutiel Federmann, sich heimlich zu treffen. Und was Diplomaten und hochrangige Politiker nicht erreichten, gelang den beiden. Federmann und Blumen-feldfanden den Weg, um den „schwierigen Knoten“ zu entwirren. Es würde zu weit führen, hier auf die Einzelheiten einzugehen, die zu der Aufnahme der diplomatischen Beziehungen zwischen dem Staat Israel und der Bundesrepublik Deutschland am 12. Mai 1965 führten. Unter den mitwirkenden Persönlichkeiten waren Vertreter aller demokratischen Parteien: Kurt Birrenbach, Rainer Barzel, Prof. Franz Böhm, Theodor Heuss, Carlo Schmid, Erich Ollenhauer, Willy Brandt, Eugen Gerstenmaier, Franz Josef Strauß, 430 Professoren, Gewerkschaftsvertreter — um nur einige zu nennen —, die sich für die Herstellung diplomatischer Beziehungen einsetzten.

III.

Die arabischen Länder versuchen weiterhin, Druck auf die israelisch-deutschen Beziehungen auszuüben, wie sie dies schon vor 30 Jahren getan hatten. Als der deutsche Bundeskanzler beabsichtigte, Israel zu besuchen, hielten es die arabischen Botschafter für richtig, sich einzumischen und kritische Bemerkungen zu äußern. Dies ist nicht die Art Israels. Als der deutsche Bundespräsident und der Bundeskanzler nach Jordanien und Ägypten fuhren, habe ich ihnen öffentlich eine gute Reise und Erfolg gewünscht, da wir der Meinung sind, daß es demokratischen Staatsmännern möglich sein sollte, unsere weniger demokratischen Nachbarn zu beeinflussen und auf diese Weise dem Frieden zu dienen. Wir sind deshalb auch für freundschaftliche Beziehungen der Bundesrepublik Deutschland mit der arabischen Welt, soweit diese nicht gegen Israel gerichtet sind.

Der Besuch des deutschen Bundespräsidenten in Israel, des israelischen Staatspräsidenten in der Bundesrepublik, der Besuch des deutschen Bundeskanzlers in Israel. Reisen von Politikern der demokratischen Parteien nach Israel und israelischen Politikern in die Bundesrepublik sind Beispiele eines produktiven und vernünftigen Dialogs, der zum besseren gegenseitigen Verständnis geführt hat. Aber manche dieser Besuche haben uns auch die noch immer bestehende Sensibilität für das jüdisch-deutsche Verhältnis vor Augen geführt. Man könnte hier viele nebensächliche, aber auch schmerzliche und konkrete Beispiele dieser feinfühligen Empfindlichkeiten aufzählen, die die öffentliche Meinung in Israel, aber auch die der jüdischen Menschen in der ganzen Welt erregten.

Es ist wahrscheinlich eine menschliche Schwäche, daß das Gedächtnis der Angehörigen derjenigen, die anderen Leid angetan haben, weniger entwikkelt und anhaltend ist, als das Gedächtnis derer, denen das Leid angetan wurde. Dies gilt auch für die Beziehungen zwischen Völkern und Ländern. Die Aufgaben der Diplomatie in der Gestaltung der internationalen Beziehungen zu unserer Zeit sind begrenzter als in der Vergangenheit. Dennoch meine ich, daß die Tätigkeit der deutschen Botschafter in Israel und der israelischen Diplomaten in Bonn während dieser 25 Jahre ausschlaggebend für die mittlerweile erreichten guten und sinnvollen Beziehungen waren. Die Aufgabe, aus der Fülle des Informationsmaterials ein ausgewogenes und faires Meinungsbild den beiden Regierungen zu übermitteln, Konflikte und Mißverständnisse auszugleichen, mit Fingerspitzengefühl Wogen gegenseitiger Unverständnisse zu glätten — das sind und bleiben wichtige Pflichten und Aufgaben dieses Berufes. Wenn ich das salopp und musikalisch ausdrücken darf: Diplomaten versuchen die Paukenschläge der Politik und der Medien in sanfte Flöten-klänge zu übersetzen.

Ich gehöre zu denjenigen in Israel, die schon seit 40 Jahren an die Aufnahme von Beziehungen mit dem neuen Deutschland geglaubt und ihren bescheidenen Beitrag dazu geleistet haben. Es gibt heute sehr wenige Menschen in Israel oder in Deutschland, die an der Richtigkeit und Weisheit der Aufnahme diplomatischer Beziehungen zweifeln. Der „moralische und historische Hintergrund“ besteht und wird noch lange anhalten. Wenn wir in Betracht ziehen, was in unserer Generation oder in der Generation unserer Väter den Juden von Deutschen angetan wurde, ist es fast ein Wunder, daß wir heute von freundschaftlichen Verhältnissen sprechen können. Wir sollten auf beiden Seiten so handeln, daß nichts die neue und zarte Bindung gefährden kann!

Manche Deutsche meinen, daß 45 Jahre nach der „Endlösung“ genug Gras über die Gräber gewachsen ist. Einige von uns Israelis wiederum neigen zu einem extremen Optimismus oder Pessimismus in bezug auf das, was wir von den Deutschen erwarten können. Beides ist falsch. Wir haben von einer verantwortungsvollen Suche nach Lösungen für die Probleme unserer Beziehungen nichts zu befürchten. Noch immer aber wird Deutschland auch nach seinem Verhältnis zu dem jüdischen Staat beurteilt, noch immer müssen Juden ihren Glauben an die Menschheit über ihr Verhältnis zu den Deutschen zurückgewinnen.

IV.

Deutsche und Israelis sind durch gemeinsame menschliche, politische und kulturelle Werte verbunden. Die besonderen Beziehungen, die es zum Beispiel zwischen deutschen und israelischen Sozialdemokraten gab, waren ein hilfreiches Glied in der Kette der sich entwickelnden Zusammenarbeit. Ich meine, daß mit keinem Land in der Welt — außer den Vereinigten Staaten von Amerika — Israel solch intensive Beziehungen entwickelt hat. wie mit den Deutschen: auf dem Gebiet der Wissenschaft und der technologischen Forschung, im Handel und in der Wirtschaft, im kulturellen Bereich und im Sport, im Jugendaustausch und den Städtepartnerschaften. Die meisten deutschen Botschafter in Israel waren der Meinung, daß sie sich in keinem Land der Welt so gefordert und angesprochen fühlten, wie während ihrer Dienstzeit in Israel. Ich kann diesem Gefühl aus meiner langjährigen Erfahrung in Deutschland nur zustimmen. Meine Frau und ich spürten die Intensität unserer beider Länder-Beziehungen nicht nur durch offizielle Anforderungen, sondern durch außerordentlich viele Bezeugungen von Freundschaft und Unterstützung. Es erstaunte uns immer wieder zu sehen, welche vielfältigen Möglichkeiten wir hatten, unzähligen Menschen zu begegnen und Kontakte auszubauen. Diese natürlich entwickelten Beziehungen zwischen Deutschen und Israelis sind ein sicheres Fundament der offiziellen Beziehungen.

Vor kurzem jährte sich zum 30. Male das historische Treffen zwischen Konrad Adenauer und Ben-Gurion in New York am 14. März 1960. Die beiden Herren gestanden sich gegenseitig ein, daß sie wenig von Wirtschaft verstünden. Sie beschlossen daher, daß sich damit der Bankier Dr. Hermann Abs befassen solle. Aber sie dachten auch an die Notwendigkeit, die damalige Wüste Israels, den Negev, urbar zu machen — als ein lebendiges Beispiel für die sich entwickelnde Welt in Afrika und Asien. Und David Ben-Gurion bemerkte auch,'daß die kommende Generation die Ereignisse der Nazi-Gewaltherrschaft verdrängen werde, daß es aber junge Menschen in Deutschland geben werde, die sich mehr und mehr fragen würden: „Wie war es möglich?“ Und so dachten die beiden in ihren Zukunftsvisionen: Warum soll diese kommende Generation nicht auch Grund haben, auf etwas gemeinsam Erreichtes — die Urbarmachung der Wüste, und damit der hungernden Welt Brot zu verschaffen — dereinst stolz sein können?

Viel wurde von einer „deutsch-jüdischen Symbiose“ gesprochen. Gershom Sholem hat in seiner Analyse der Situation des deutschen Judentums die Auffassung vertreten, daß diese Symbiose eine Illusion war. Diese Symbiose, so meinte er, sei einseitig nur von den Juden erfunden worden, während die Deutschen sie in ihrer überwiegenden Mehrheit ablehnten.

Gerade weil es in der deutschen Politik und Geistesgeschichte 1933 zu einer radikalen Unterbrechung kam und weil es heute einen jüdischen Staat gibt, der zum Zentrum derjüdischen Kultur und Wissenschaft geworden ist, glaube ich an eine mögliche Symbiose. In manchen Gebieten wird solch eine Symbiose realisiert. Die Deutsch-Israelische Stiftung für Wissenschaftliche Forschung und Entwicklung ist ein gutes Beispiel dafür, wie diese Partnerschaft nicht nur im gemeinsamen Interesse der beiden Völker, sondern zum Guten der ganzen Menschheit angewandt werden kann.

V.

Die Menschen in Israel verfolgten mit großem Interesse und Anteilnahme den symbolischen Fall der Mauer in Berlin und beobachten die weiteren Entwicklungen, das Zusammenwachsen der beiden deutschen Länder. Es gibt aber auch Menschen, die mit Angst und Sorge der Vereinigung entgegensehen: Ein britischer Historiker schreibt über die Gefahren eines starken und aggressiven 4. Reiches, das Europa und die Welt wieder destabilisieren wird, wenn es seine verlorenen Gebiete zurückfordem sollte. Franzosen fürchten, daß eine neue Achse Bonn-Tokio („Berlin-Tokio“) die Weltwirtschaft erobern wird, ohne diesmal einen einzigen Schuß abzugeben. Andere fürchten, daß die Adenauer-Doktrin (Deutschland ein integraler Teil des Westens) durch die Bismarck-Doktrin (Deutschland hält die Balance zwischen Ost und West) abgelöst werden könnte. Manche Opfer der NS-Gewaltherrschaft, darunter natürlich Juden, fürchten, daß ein Großdeutschland gefährlich werden kann; sie erinnern sich, daß der deutsche Charakter zur Gewalt neigt und sehen in der Teilung eine Strafe für den Völkermord.

Ich meine jedoch, daß das Zusammenwachsen der beiden deutschen Staaten positiv zu beurteilen ist. Das Ziel der Deutschen wird um so schneller erreicht werden, je mehr sie mit Vernunft, Fingerspitzengefühl, Takt und in Absprache mit den beiden Großmächten und ihren Nachbarn auf eine Vereinigung wirken werden.

Die Bundesrepublik hat sich seit vielen Jahren zum Selbstbestimmungsrecht der Völker bekannt, hinzufügend, daß dieses Recht nicht auf Kosten anderer, nicht mit Gewalt, und nicht gegen ein anderes Volk ausgeübt werden darf. Es besteht kein logischer Grund, dieses Recht — unter gleichen Bedingungen — nicht auch in Mitteleuropa anzuwenden, wenn Bonn die Welt überzeugt, daß von deutschem Boden nie wieder Krieg oder Gewalt, sondern nur Frieden ausgehen wird.

Es ist genau 45 Jahre her, seit Amerikaner, Sowjets und Briten in Jalta die deutsche Ostgrenze dorthin verlegten, wo sie tausend Jahre zuvor Markgraf Gero an der Oder und Neisse etabliert hatte. Die Festsetzung der Grenze vor 45 Jahren war nicht als Strafe gedacht für den vom Dritten Reich begangenen Völkermord, sondern eine Anerkennung der im Krieg erreichten Tatsachen — die Rote Armee stand bereits an dieser Linie und bei Budapest.

Westdeutsche Politiker haben mit Anstand und Mut Verantwortung und Schuld ihres Volkes für die Naziverbrechen anerkannt. Die Ostdeutschen haben sich dagegen hinter einem unehrlichen Antifaschismus versteckt. Der Faschismus, so behaupteten sie, sei das letzte Stadium des Kapitalismus und deshalb jede Schuld allein Sache der Bundesrepublik. Die Menschen in der Bundesrepublik haben sich in Freiheit mit der eigenen schlimmen Vergangenheit auseinandergesetzt. Nicht so die Deutschen in der DDR. Soweit ging ihr Widerstand gegen jedes Zeichen von Aufklärung und Sühne, daß sie sich mit besonderer Aufmerksamkeit der Aufgabe widmeten, die schlimmsten Terrororganisationen in ihrem Kampf gegen Juden auszubilden.

Hat nicht die Bundesrepublik bewiesen, daß sie ein freies, moralisches und demokratisches Land geworden ist und durch ihr faires Verhältnis zum jüdischen Staat Anspruch auf unser Vertrauen hat? Welch strategischer Unterschied besteht denn überhaupt, ob ein Land 61 oder 77 Millionen Einwohner hat?

Die Gefahren des Bösen sind nicht in dem Charakter der Deutschen zu suchen, sondern in einem unmenschlichen Regime. Die Gefahren für Juden oder für Polen liegen ganz und gar nicht in einem demokratischen Deutschland, sondern in totalitären Systemen. Das Deutschland von heute, ein Rechtsstaat und eine aufrechte Demokratie, kann nur einen positiven Einfluß auf seine undemokratischen Brüder im Osten ausüben, und ist heute als ein Freund der Juden anzusehen.

Es ist ermutigend, daß trotz des Leids der Juden durch die Vernichtung und des Hasses des Naziregimes in Deutschland die Begegnung zwischen Deutschen und Juden sowie das Verhältnis zwischen den beiden Staaten so vertrauensvoll, vernünftig und hoffnungsvoll aufgebaut werden konnte. Über alle politischen Schwierigkeiten hinweg, trotz unüberlegter Formulierungen von Politikern, die zu Mißverständnissen geführt haben, ist ein Verständnis zwischen Deutschen und Israelis zustande gekommen, das eine jüdisch-deutsche Zusammenarbeit ermöglichte — zum Wohle beider Völker.

Fussnoten

Weitere Inhalte

Jitzhak Ben-Ari, geb. 1924 in Wien; wanderte 1939 in das damalige Palästina aus; Studium der Landwirtschaft, der Jurisprudenz und der Politischen Wissenschaft; er diente in der israelischen Armee und war an der Gründung des Polizeiwesens in Jerusalem beteiligt. Nach Aufgaben im Finanzministerium und im Büro des Premierministers wurde er im Außenministerium tätig, unter anderem als Diplomat in Paris und in Addis-Abeba; 1971 bis 1975 war er Gesandter in Bonn; Botschafter in Kopenhagen von 1975 bis 1978 und in Bonn von 1981 bis 1988. Veröffentlichung von zahlreichen Artikeln in Zeitschriften und von Beiträgen in mehreren Sammelbänden, u. a. bei Werner Filmer und Heribert Schwan (Hrsg.), Mensch, der Krieg ist aus!, Düsseldorf 1985; Ulrich Gill und Winfried Steffani (Hrsg.), Eine Rede und ihre Wirkung, Berlin 1986.