Wider die Relativierung der heiligen Ordnung: Fundamentalismen im Katholizismus
Michael N. Ebertz
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Zusammenfassung
Der Ausdruck „religiöser Fundamentalismus“ wird als Sammelbezeichnung gebraucht für solche Protestbewegungen, die „das Heilige“ und die überkommenen „Hüter“ des Heiligen durch moderne Strukturen und Prozesse innerhalb und außerhalb des „religiösen Feldes“ relativiert sehen und gegen diese Bedrohung „der heiligen Ordnung“ zu Felde ziehen. Diese „heilige Ordnung“ wird als superiorer Letztwert behauptet, ihr suchen religiöse Fundamentalisten religionsintem und -extern (wieder) Geltung zu verschaffen. Der katholische Fundamentalismus läßt sich als Antwort auf die gesellschaftliche und politische Marginalisierung der Kirche und auf ihre strategisch riskanten „Anpassungen“ an die Moderne verstehen, welche zur Erosion solcher Symbolelemente beigetragen haben, die als spezifisch katholisch galten und für die Anhänger des fundamentalistischen Protests von persönlicher Identitätsrelevanz sind. Die enorme -nach einem Sechsfelderschema typologisierbare -Vielfalt katholisch-fundamentalistischer Gruppen hat ihre Gründe und ihre Folgen.
I. Religiöser Fundamentalismus
Wer mit dem Ausdruck „Fundamentalismus“ operiert, riskiert, sich in einem Dschungel von Polemiken zu verstricken, ist doch aus einer anfänglich religiösen Selbstbezeichnung evangelischer Christen in den USA inzwischen eine beliebte Vokabel-Keule im Tageskampf zur Diskreditierung einiger politischer und religiöser Strömungen geworden, die an öffentlicher Aufmerksamkeit und Bedeutung zu gewinnen scheinen.
Auch gegen einige neuere Bewegungen im Christentum wird mit dem Terminus „Fundamentalismus“ polemisiert, nicht nur „von außen“, sondern auch innerhalb der jeweiligen religiösen Teiltraditionen. Hier wie da geschieht dies nicht selten ohne erkennbares Bemühen, das Phänomen in seiner „Soziologik“ zu verstehen, obwohl in der Tatsache dieses „symbolischen Kampfes“ selbst bereits erste Anknüpfungspunkte zur Interpretation dessen liegen, was „Fundamentalismus“ genannt werden kann. Offensichtlich indiziert dieser „symbolische Kampf“ Auseinandersetzungen von Interessen-und Statusgruppen zum einen um den Geltungsanspruch religiöser Heilswahrheiten gegenüber einzelnen gesellschaftlichen Teilsphären -bis hin zur politischen Sphäre; zum anderen um die Definition und Kompetenz zur Definition der religiösen Heilswahrheiten selbst.
Wer von „Fundamentalismus“ spricht, läuft zudem Gefahr, einen kaum umgrenzten und wenig verbindlich verwendeten Ausdruck semantisch noch stärker auszuweiten und zum Schillern zu bringen Wer schließlich auch noch von „katholischem Fundamentalismus“ spricht, verletzt eine stark von Theologen und Religionswissenschaftlern dominierte sprachliche Konvention. So ist etwa noch in einem vor wenigen Jahren erschienenen „Handwörterbuch“ zu lesen, daß man „den Begriff Fundamentalismus ... nicht auf den ... Katholizismus wird übertragen dürfen“, was sich schon daraus ergebe, „daß die Grundvoraussetzung des Fundamentalismus die Unfehlbarkeit und Irrtumslosigkeit der Bibel“ sei
In der Tat wird der Ausdruck „Fundamentalismus“ im christlich-theologischen Sprachgebrauch -wohl auch um seiner polemischen und inflationären Verwendung entgegenzutreten -nicht selten substantial gefaßt und vorwiegend für diejenigen Bewegungen innerhalb des Protestantismus -namentlich der angelsächsischen Länder -reserviert, zu deren Forderungen die Anerkennung von fünf als unaufgebbar definierten christlichen Glaubens-wahrheiten („Fundamentalien“) zählt Bei dem „Fundamentalismus“ in diesem Sinn handelt es sich um die Selbst-und Fremdbezeichnung einer „antimodemistischen“ Bewegung, die ins letzte Drittel des 19. Jahrhunderts zurückreicht und sich zunächst in den ersten Dezennien unseres Jahrhunderts in den USA formiert hat, literarisch verstärkt durch die theologische Schriftenreihe „The Fundamentals“ In Reaktion auf die nach dem amerikanischen Bürgerkrieg (1861-1865) einset-zenden sozialstrukturellen und kulturellen Modernisierungsschübe stellt sie sich als religiöse Protest-und Abwehrbewegung dar: zum einen gegen die wachsende Erosion der überkommenen Bräuche, Sitten und Normen in der amerikanischen Gesellschaft und zum anderen gegen die wachsende Einbeziehung natur-und geschichtswissenschaftlicher Erkenntnisse in Theologie und Verkündigung, sofern durch sie die Infallibilität der Bibel als Offenbahrungswahrheit und damit als verbindliche Quelle der Weltorientierung, Handlungsformierung und Ohnmachtsbewältigung in Frage gestellt wird.
Unbeschadet jener Vorbehalte macht es Sinn, auch von einem Fundamentalismus im Katholizismus zu reden, zumal sich darunter Kräfte begreifen lassen, die sogar sehr viele substantiale Ähnlichkeiten mit ihrem protestantischen Bruder haben freilich auch markante Unterschiede. Solche substantialen Unterschiede ergeben sich aus konfessionellen Spezifika, die jedoch, berücksichtigt man deren Stellenwert und Funktion für die jeweilige Teiltradition, kaum dafür herhalten können, den Ausdruck Fundamentalismus innerhalb des Christentums allein auf einige Strömungen des Protestantismus zu beziehen. Ist es nicht im Gegenteil so, daß es den Anhängern religiöser Fundamentalismen auch und gerade um die Erhaltung der Eigenart ihrer religiösen Überzeugungen und Praktiken, Werte, Normen und Institutionen geht, d. h. um ihre jeweilige sozioreligiöse „Identität“?
Löst man sich also sowohl von jener Diskreditierung, die dem Ausdruck Fundamentalismus schon früh widerfahren ist als auch von seiner terminologisch substantialen Engführung einschließlich seiner Eingrenzung auf einen bestimmten religionshistorisch-konkreten Verwendungszusammenhang, behält aber seine funktionalen und strukturellen Momente und Bezugspunkte im Blick, dann fallen zum einen als konstitutive positive Bezugspunkte literarisch fixierte Überlieferungen an, denen göttlicher Offenbarungscharakter zugeschrieben wird und die als unaufgebbare Bestandteile der kollektiven (religiösen) Identität und insofern als „heiliges Wissen“ gelten. Zum zweiten fallen bei einem solchen Abstraktionsverfahren als konstitutive negative Bezugspunkte solche Kräfte an, denen zugeschrieben wird, das heilige Wissen -die Vorstellungen, Werte und" Normen der eigenen religiösen Überlieferung -in Frage zu stellen, abzuwerten, an den Rand zu drängen, in seiner Bedeutung zu schmälern, zu verletzen oder gar zu zersetzen. Dem religiösen Fundamentalismus geht es also um die Unverletzlichkeit „des Heiligen“ bzw.dessen, was in einer religiösen Tradition als „heilig“ definiert wird, wurde oder werden sollte.
Schließlich zeigt ein solches Abstraktionsverfahren, daß es dem religiösen Fundamentalismus im Kern auch um die Verteidigung bzw. Wiedergewinnung eines religiösen Wahrheitsdefinitionsmonopols geht, dessen Status innerhalb, aber auch außerhalb des jeweiligen religiösen Feldes neu zur Geltung gebracht werden müsse. Der protestantische Fundamentalismus war immer auch eine Reaktion auf Verwerfungen im religiösen Kräftefeld, nämlich auf Prozesse der Enteignung und Aneignung der Verfügung über die religiösen Heilswahrheiten. Und dies in doppelter Hinsicht: zum einen durch den Verlust der sozioreligiösen Vorherrschaft des angelsächsischen Protestantismus, zum anderen durch den Einflußgewinn der theologischen Bibel-kritik. Einerseits wurde „durch die Masseneinwanderungen von süd-und osteuropäischen Katholiken, von Juden und deutschen Lutheranern die ethnisch-religiöse Dominanz der angelsächsischen Protestanten abgebaut“, andererseits die überkommene Bibelauslegung durch den Aufstieg neuer theologischer Experten in Frage gestellt. Sie begannen nicht nur, die legitime Interpretation der biblischen Offenbarungsquelle für sich zu beanspruchen, sondern auch noch den „allgemeinen Geltungsanspruch der , mittelständischen'Lebensführung und seine Übereinstimmung mit der biblischen Lehre (zu) bestreiten“ Die sozialen Träger des protestantischen Fundamentalismus waren „an den unmittelbaren Umgang mit den Dingen ihrer Existenz“ und eben auch an den direkten Umgang mit der Bibel als Offenbarungsquelle gewöhnt. Durch die Konkurrenz alternativer religiöser Deutungstraditionen und den Aufstieg „aufgeklärter“ intellektueller Bibelexperten mußten sie sich sozusagen „in die Zange genommen“, „laisiert“ und marginalisiert, also deklassiert, „enteignet“ und „überfremdet“ sehen hinsichtlich ihrer Verfügung über die Heilswahrheiten und ihrer Kontrolle der religiösen und kulturellen Institutionen. Der Ausdruck „religiöser Fundamentalismus“ kann deshalb als Sammelbezeichnung gebraucht werden für die Anhänger solcher religiöser Protestbewegungen, die „das Heilige“ und die überkommenen „Hüter“ des Heiligen durch moderne Strukturen und Prozesse innerhalb und außerhalb des „religiösen Feldes“ relativiert sehen und gegen diese Bedrohung „der heiligen Ordnung“ zu Felde ziehen. Diese „heilige Ordnung“ soll als Letztwert behauptet und ihrem Superioren Geltungsanspruch möglichst rein zum Durchbruch verholten werden.
II. Zur „Soziologik“ des katholischen Fundamentalismus
Sein Protest folgt einer Logik, die sich „soziologisch“ verstehen läßt. Es geht ihm um die Einforderung von Elementen, die bisher unauflöslich zu einem System verflochten waren, um die Bestandteile also eines „Codes“, der als spezifisch katholisch galt, für „heilig“, d. h. für unantastbar erklärt worden war, aber unter dem Druck eines sich modernisierenden gesellschaftlichen Kontextes der katholischen Kirche und im Zuge ihrer Anpassung an die Verhaltensgesetzlichkeiten der modernen Welt einem -nur teilweise geplanten -Erosionsprozeß ausgesetzt war.
Moderne Gesellschaften sind durch Prozesse der funktionalen Differenzierung der Gesellschaftsbereiche (etwa von Politik, Wirtschaft, Wissenschaft), der Privatisierung bzw. Individualisierung der Lebensführung und der Pluralisierung der Weltanschauungen charakterisierbar, die den Religionen nur noch einen marginalen Ort in der Gesellschaft zuweisen, die Machtgewichte zuungunsten der Kirchen verschieben und die herkömmlichen religiösen Selbstverständlichkeiten und Verbindlichkeiten in „Fragwürdigkeiten“ überführen, d. h.deren Träger zur „Dauerreflexion“ (Schelsky) zwingen An Manifestationen und Folgen solcher Differenzierungs-, Pluralisierungs-und Individualisierungsprozesse, die das „Heilige“ relativieren, indem sie es auf den religiösen, kirchlichen oder privaten Bereich zu beschränken suchen, seiner absoluten Dignität berauben und der Beliebigkeit der persönlichen Disposition überantworten, hat sich bereits in der Vergangenheit der protestantisch-fundamentalische Protest entzündet Hier liegen die entscheidenden gesellschaftlichen Voraussetzungen, die auch den katholischen Fundamentalismus hervorbringen, zumal sich die katholische Kirche seit den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts mehr und auch weniger offiziell an diese Prozesse anzupassen begann, um nicht auf den Status einer Sekte abzusinken. Damit geriet sie allerdings in ein Dilemma, aus dem sie bis heute noch nicht herausgefunden hat, mußte sie doch bei dieser Sicherung ihrer strukturellen Identität -als für alle offenstehende „Volkskirche“ -mit kulturellen Elementen ihres eigenen Traditionsbestandes in Konflikt geraten.
Diese kirchlichen Anpassungsmaßnahmen, die hier weder chronologisch noch umfassend bis in ihre Details hinein vorgeführt werden können, sollen mit Hilfe der von Helmut Schelsky eingeführten Kategorien des „Funktionswechsels“, der „Emeritierung“ und des „Einbaus“ stichwortartig und exemplarisch in Erinnerung gebracht werden „Funktionswechsel“ in der Richtung, daß tradierte Einrichtungen des kirchlichen Lebens „zur Befriedigung der religiösen Ansprüche der Dauer-reflexion eingesetzt werden“, lassen sich in der katholischen Kirche etwa an der Beichte in Richtung psychologischer „Seelentherapie“ oder „am Bedeutungswandel der Predigt“ erkennen, „deren , Verkündigung des Wortes Gottes 6 immer mehr in der Einleitung und Anregung des »Deutens 6, des Reflexionsprozesses und Subjektivitätsstromes der modernen Gläubigkeit zu bestehen scheint“ sowie an der Aufwertung des Status der -in manchen Kirchengemeinden sogar durch Gespräche ersetzten -Predigt innerhalb des katholischen Gottesdienstes, ja am gängigen Vollzug der Messe überhaupt. Ihr sakramentaler „Kreuzesopfer“ -Charakter wurde zugunsten des Charakters einer „Mahlfeier“ im Effekt zurückgedrängt, wobei „das erläuternde und kommentierende Reden... eine so beherrschende Stellung“ einnehmen kann, daß der Kult als Mittel zum Zweck der „Bewußtseins bildung“ umfunktionalisiert wird Begünstigt wurde dieser Funktionswechsel der Messe durch einen Wechsel der Zelebrationsrichtung des Priesters und durch die weitgehende Einführung der Muttersprache, also auch durch den Einbau „profaner“ -sprachlicher, gestischer, mimischer („schauspielerischer“) -Elemente und durch die Emeritierung eines als spezifisch „sakral“ und zudem als spezifisch römisch-katholisch definierten Elements, des Kirchenlateins.
Emeritierungs-oder zumindest Peripherisierungsvorgänge lassen sich auch hinsichtlich eines anderen konfessionellen Identitätsmerkmals beobachten, nämlich der Marienverehrung Diese Vorgänge kommen sinnfällig etwa darin zum Aufdruck, daß in neueren Kirchengebäuden oft -ohne traditionelle Gebetskniebank davor -Mariendarstellungen aus dem Blickfeld genommen wurden. In die gleiche Richtung weisen die numerische Kürzung bzw. die Umtitulierung marianischer Feste im Kirchenjahr („Mariae Lichtmeß“ wurde zu „Darstellung des Herrn“, „Mariae Verkündigung“ zu „Verkündigung des Herrn“), die Reduzierung und Eliminierung von Marienliedern im katholischen Gesangbuch sowie die Tilgung explizit marianischer Bekenntnisformeln aus den Namen und Satzungen katholischer Vereine, um nur einige Beispiele zu nennen. Zumindest in den Predigten weitgehend aufgegeben, abgeschwächt oder doch wenigstens umgedeutet wurden auch die überlieferten Jenseitsvorstellungen von „Hölle“ und „Fegefeuer“ und damit auch spezifische Züge des überkommenen Gottesbildes, dessen Attribut der „Gerechtigkeit“ zurückgedrängt und durch dasjenige der „Barmherzigkeit“ ersetzt wird
Peripherisiert bzw. retuschiert wurden auch Elemente des Kirchenbildes, die den geistlichen Gnadenanstalts-bzw. Herrschaftscharakter akzentuierten und als Spezifika im Selbstverständnis der römisch-katholischen Kirche galten Emeritiert wurden nicht zuletzt auch ihre traditionellen Ex klusivitätsansprüche gegenüber dem Staat. Hatte „die traditionelle katholische Lehre... die Anerkennung eines Rechts auf Religionsfreiheit im Ergebnis immer abgelehnt“, sofern sie „vom Primat der Wahrheit gegenüber der Freiheit und von der These“ ausging, „daß dem Irrtum an sich kein Recht gegenüber der Wahrheit zukommen könne“, so hat die Konzilserklärung über die Religionsfreiheit „dies nun alles hinter sich gelassen“ und „ist von der bisherigen Lehre nicht nur graduell, sondern prinzipiell abgerückt“ In diesem Emeritierungsvorgang, der sich freilich auch umgekehrt als Einbauvorgang, als Einführung des modernen Toleranzpostulats, des „Rechts der Person“ usw. in die Kirchenlehre darstellen läßt, ist die Anpassung der Kirche an funktionale Differenzierungs-, weltanschauliche Pluralisierungs-und Individualisierungsprozesse dicht zu greifen. Mehr oder weniger erzwungen bzw.selbstbescheiden, wenn auch theologisch reflektiert, nimmt sie die komplexe Eigenlogik des Politischen, ihre eigene faktische Partikularität im Konzert des Weltanschauungspluralismus sowie die Dominanz des „individualistischen Paradigmas vom Sein und Sollen des Menschen“ hin.
Daß solche Anpassungsprozesse auch Ergebnisse des Kampfes konkurrierender -hier theologischer bzw. kirchlicher -Interessen-und Statusgruppen um die Verfügung über die Heilswahrheiten und die Durchsetzung, Offizialisierung und Legitimierung ihrer Sicht von „Kirche“, „Gott“ und der „Welt“ sind und ihrerseits Verwerfungen von religionsinternen Kräfteverhältnissen zur Folge hatten, läßt sich generell unterstellen und kann an einem anderen Anpassungs-bzw. Einbauvorgang demonstriert werden. Eine solche Einbaumaßnahme bestand darin, die überkommenen religiösen Vorstellungen und Praktiken kritisch zu reflektieren und im Hinblick auf ihren biblischen Anhalt zu überprüfen, was sich nicht zuletzt in der sukzessiven Duldung und Akzeptanz der modernen -protestantischerseits vorexerzierten -Bibelkritik manifestierte Bis in die erste Hälfte unseres Jahrhunderts hinein war es zu zahlreichen „Ausgrenzungsoperationen“ im Hinblick auf moderne katholische Bibel-wissenschaftler durch die kirchlichen Leitungsinstanzen gekommen. Noch in den fünfziger Jahren war es üblich, daß sich die katholische Bibel-wissenschaft der theologischen Dogmatik unterzuordnen hatte, indem sie das „aus der Schrift hervorgehende Dogma“ exegetisch zu legitimieren half oder zumindest gegenüber der Dogmatik -etwa „bezüglich der Begründung des neuen Mariendogmas“ -„Zurückhaltung übte“. Allerdings strebte die katholische Bibelwissenschaft in der Folgezeit erfolgreich danach, sich von dieser Unterordnung zu emanzipieren. Es gelang ihr, die alten Kräfteverhältnisse geradezu umzukehren, d. h. „sich als die eigentliche theologische Grund-wissenschaft zu verstehen“, nachdem auch noch das II. Vatikanische Konzil „ihre führende Rolle innerhalb der theologischen Wissenschaft“ bestätigt hatte Damit war eine Deklassierung der theologischen Dogmatik und freilich auch des Status ihrer Vertreter verbunden, eine Umwertung, die auch die Repräsentanten einer anderen, sozusagen „normativen theologischen Disziplin“, nämlich des „Kirchenrechts“, betraf. In den siebziger Jahren fiel diese Disziplin auf den achten und damit letzten Platz der offiziellen theologischen Fächerliste zurück, während eine zweite „empirische theologische Disziplin“, die „Praktische Theologie“, einen „Aufstiegsprozeß“ durchlief
Es kommt deshalb nicht von ungefähr, daß sich -zumindest auffällig zahlreiche -Meinungsführer der im nächsten Abschnitt zu erwähnenden katholisch-fundamentalistischen Gruppen, die solche Anpassungsprozesse beispielsweise als „Protestantisierung“ des Katholizismus beklagen, aus den Vertretern der älteren Generation der „normativen Theologie“, also der dogmatischen und kirchenrechtlichen, aber auch der moraltheologischen Disziplinen rekrutieren, die den skizzierten Deklassierungsprozeß an ihrer eigenen Person erleiden mußten. Überhaupt scheint es zahlreichen katholischen Fundamentalisten nicht zuletzt um die Behauptung von biographischen Fundamenten ihrer eigenen Identität zu gehen, die sehr eng mit jenem traditionellen „Code“ der Kirche verknüpft ist -oder zumindest mit einigen seiner Elemente, was auch die enorme programmatische und organisatorische Zersplitterung dieser Protestbewegungen miterklären mag. Wenn man beispielsweise den anscheinend relativ hohen Anteil von -vor den sechziger Jahren -bewußt zum Katholizismus Konvertierten unter ihren Meinungsführern und Anhängern bedenkt sind darunter eine Vielzahl von Personen zu vermuten, die sich stark mit Einstellungs-und Verhaltensmustern identifiziert haben, die als spezifisch römisch-katholisch galten. Sie sehen sich nicht mehr in der Lage, den teilweise bürokratisch exekutierten und enorme kognitive Dissonanzen hervorrufenden Arrangements der Kirche mit der Moderne Folge zu leisten, zumal sie dadurch nicht nur in eine Minderheitslage manövriert, sondern auch noch in Subkulturen abgedrängt und -auch ohne Exkommunikation -als abweichend stigmatisiert wurden Eine Minderheit, „die mit ihrer Beziehung zur vorherrschenden Gruppe Zufrieden ist“, hat zwar die Neigung, „sich mehr und mehr zu assimilieren. Wenn jedoch die Mitglieder einer Minderheitengruppe fühlen, daß sie von der dominierenden Gruppe beherrscht werden und daß sie ihre charakteristischen Merkmale, mit denen sie sich von anderen Gruppen unterscheiden, nicht beibehalten können oder daß man ihnen ihre zukünftige Entwicklung abschneiden will, dann wird die Beziehung der Minderheit zur herrschenden Gruppe zunehmend gespannt.“
III. Katholische Fundamentalismen
Den katholischen Fundamentalismus gibt es nicht, allenfalls Varianten, die sich in einer Vielzahl von Gruppen vergemeinschaften und vergesellschaften. Dies hat auch seine soziokulturellen bzw. sozioreligiösen Gründe. Ein Spezifikum der katholischen Kirche ist, daß sie -wie es ein Konzilstext formuliert -„ihre Gewißheit über alles Geoffenbarte nicht aus der Heiligen Schrift allein schöpft“, sondern „die Heilige Überlieferung, die Heilige Schrift und das Lehramt der Kirche gemäß dem weisen Ratschluß Gottes so miteinander verknüpft und einander zugesellt sind, daß keines ohne die anderen besteht.. ,“
Diese durchaus konfliktträchtige triadische Struktur in der kirchenoffiziellen Reklamation von Quellen „heiligen Wissens“ (mit ihrem „non sola scriptura“ -Akzent) spiegelt sich auch im katholischen Fundamentalismus wider und macht ihn zu einer weitaus komplexeren, pluralistischeren, ja fragmentierteren Erscheinung als den protestantischen Fundamentalismus. Dies hat Auswirkungen auf seine Organisierbarkeit und setzt seinen Durchsetzungschancen binnenkulturelle Grenzen. Neben einer biblizistischen Ausprägung, welche sich -ähnlich dem protestantischen Fundamentalismus -am Leitprinzip der absoluten Verbindlichkeit und Irrtumslosigkeit der biblischen Texte orientiert, die Deckungsgleichheit der biblischen Überlieferung mit dem historisch wirklichen Geschehen postuliert, deren göttliche Inspiration und Verfasserschaft akzentuiert, die historisch-kritischen Methodologien verpflichteten Bibeltheologen häretisiert und zugleich solche Bischöfe attakkiert, welche die Veröffentlichungen jener auch noch mit kirchlicher Druckerlaubnis versehen zeigt der katholische Fundamentalismus vor allem eine deutlich traditionalistische Ausprägung. Der Biblizismus katholischer Fundamentalisten hat eine defensive, ihre traditionalistische Ausrichtung stützende Funktion und dient als Legitimationsbasis zahlreicher Anstrengungen zur Verteidigung auch und gerade solcher Überzeugungen und Praktiken, die zur überkommenen konfessionsspezifischen Kultur und zur institutionellen Kern-struktur dieser christlichen Teiltradition zählen.
Hinsichtlich des Kultes können katholische Fundamentalisten -ganz zentral -bei der durch das II. Vatikanische Konzil oktroyierten Liturgiereform anknüpfen, der sie die „Messe aller Zeiten“, die sogenannte tridentinische Messe, wie sie vor dem letzten Konzil gefeiert wurde, als einzig „richtige“ Messe gegenüberstellen oder an scheinbar nebensächlichen Details dieser -von ihnen so diffamierten -„Bastardmesse“, wie etwa an der Frage des „Volksaltars“, der Laien-Handkommunion, der „neuliturgischen“ Musik, der Informalisierung der liturgischen bzw. priesterlichen Mimik, Gestik und Kleidung oder der Zurückdrängung des Lateins als Kultsprache. Sie können die Zulassung weiblicher Ministranten als Zentral-Problem oder den Pflicht-Zölibat des Priesters sowie das Tragen der schwarzen Soutane als Zentral-Wert hervorkehren.
Im Hinblick auf die dogmatische Lehre kehrt der traditionalistisch orientierte katholische Fundamentalismus solche Züge hervor, die nicht nur theologisch, sondern auch frömmigkeitspraktisch, nach der Gegenreformation verstärkt wieder seit dem 19. Jahrhundert, als konfessionelles Unterscheidungszeichen reprofiliert wurden Obwohl zu den „Fundamentalien“ des protestantischen Fundamentalismus die „Jungfrauengeburt“ zählt, ist doch auffällig, daß diese biblische Überlieferung bei dessen Anhängern „keinesfalls im Mittelpunkt“ steht und „auch in der Predigt keine große Rolle spielt“. Vielmehr wird dieses essential lediglich „soweit beibehalten, als es bejaht werden muß“, weil es eben wortwörtlich biblisch überliefert ist In den Überzeugungen und Praktiken des katholischen Fundamentalisten dagegen zählt gerade der Glaube an das Dogma der Jungfrauengeburt zum Zentrum, ja er wird geradezu zur Voraussetzung, mit einer exzessiven Marienverehrung eine symbolische Grenzziehung gegenüber den Protestanten und anderen Andersgläubigen vorzunehmen und damit ein traditionelles konfessionelles Identitäts-und Unterscheidungsmerkmal zu kultivieren Um es mit einem der zahlreichen marianischen Aphorismen des kürzlich selig gesprochenen Gründers des „Opus Dei“, das wie die meisten katholisch-fundamentalistischen Gruppen einem Marianismus huldigt, auf den Punkt zu bringen: „Gehöre Maria, und du gehörst zu uns.“ So entstanden zahlreiche explizit marianische Vereinigungen die sich auch zu gemeinsamen Bedürfnissen -zur „Actio Mariae“ -zusammengeschlossen haben, regelmäßige „Kongresse“ -vornehmlich an Wallfahrtsorten -veranstalten und sich wechselseitig in ihrer deutlich am 19. Jahrhundert orientierten traditionalistischen Frömmigkeitsversion des Katholizismus bestätigen. Im Unterschied zu den protestantischen werfen katholische Fundamentalisten in Zeitschriften, Pamphleten und Flugblättern anderen katholischen Gruppen -insbesondere aber Theologen, namentlich führenden Bibelwissenschaftlem -die „Leugnung des Dogmas der Jungfräulichkeit Mariens“ vor und rufen zur Sanktionierung und Disziplinierung dieser „Textempiriker“ auf.
Es scheint kaum ein Element aus der eigenen dogmatischen Überlieferung zu geben, an dem katholische Fundamentalisten nicht den „rationalistischen Geist der Zersetzung“ am Werk sehen: Ob es sich um die biblische Überlieferung der „Jungfrauengeburt“ -aber auch anderer „Wunder“ -handelt oder ob es um den Glauben an die Existenz des Teufels, an die Hölle oder an das Fegefeuer und damit um den traditionellen Dualismus im Gottesbild geht, um nur die typischsten Beispiele anzuführen. Katholische Fundamentalisten versuchen, die inzwischen versprengten Elemente des überlieferten römisch-katholischen „Codes“ wieder zusammenzutragen und wollen die „anarchische Diversifizierung“ des ehemals als „heilig“ definierten symbolischen Verweisungszusammenhangs aufhalten, wenn nicht rückgängig machen.
Auch die Tendenz, „spezielle Gnadengaben Gottes“, mittels derer „die Grenzen zwischen dem Jenseits und dem Diesseits niedergerissen werden, zu beanspruchen“ und dabei solche „Phänomene wie Stigmatisationen, Visionen, Marienerscheinungen, wunderbare Heilungen, Prophezeiungen künftiger Dinge, Einsichten in das Jenseits“ sogar in den Mittelpunkt des religiösen Leben zu stellen“ kann von katholischen Fundamentalisten gefördert werden. Sie versuchen damit, mystizistische Traditionen zu revitalisieren, die noch in der katholischen Kirche des neunzehnten sowie in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts verbreitet waren und von der kirchlichen Behörde teilweise gefördert, zumindest selten bekämpft und oft geduldet wurden In einigen Regionen wie im Allgäu und im Bodenseeraum formieren sich beispielsweise um charismatische Führer mit Marienvisionen diverse -teilweise als „häretisch“ definierte -Organisationen und Gruppen welche die Kühlerhauben ihrer Fahrzeuge anstelle des Markenzeichens mit Madonnenfiguren zieren oder mit Flugblättern, Kleinschriften und audiovisuellen Medien kirchenoffiziell nicht legitimierte marianische Neuoffenbarungen im jugoslawischen Medjugoije oder im belgischen Maasmechelen propagieren. Auf Privatoffenbarungen, die „nur mit Hilfe der Bibel und des Schott-Meßbuches“ systematisiert worden seien beruft sich auch das heute erbcharismatisch vom Sohn seiner Gründerin geführte „Engelwerk“ („Opus Angelorum“) mit Sitz in St. Petersberg (Sils/Österreich), welches -unter Verknüpfung mit gnostisch-kabbalistischen und apokalyptischen Elementen -Traditionen christlichen Wissens über Engel und Dämonen wiederbelebt und erweitert, diese dualistischen gedachten kosmischen Kräfte magisch bestimmten Wirkungsbereichen zuordnet (etwa den Freiheitswert der Moderne dem „Dämon der Freiheit“) und rituelle Sonderpraktiken pflegt, zu denen gestufte Einweihungs-Mysterien sowie die Einhaltung einer Arkandisziplin zählen, letztere übrigens auch gegenüber dem kirchlichen Lehramt
Unter einem stark traditionalistischen Akzent kann der katholisch-fundamentalistische Protest im Extrem sogar dazu übergehen, die persönlichen Inhaber des päpstlichen Lehramts der letzten Jahrzehnte unter Häresieverdacht zu stellen und ihnen den Gehorsam aufzukündigen -so nicht nur der selbsternannte „Papst Clemens XV.“ und Gründer der „Erneuerten Kirche“, sondern auch ein profilierter Meinungsführer der „Sammlung glaubens-treuer Katholiken“ (SAKA) in Basel bzw.des „Oratoriums von der Göttlichen Wahrheit“ und so freilich auch der inzwischen verstorbene Erzbischof Marcel Lefdbvre. Nach dessen Auffassung sind „der Stuhl Petri und die amtlichen Stellen in Rom von Antichristen besetzt“ und die „Katholische Kirche in der Endzeit“, wie sich das apokalyptische „Oratorium“ in seinem Katechismus auch selbst bezeichnet, schreibt sich -ähnlich wie andere christliche Sekten -die „besonderen Merkmale“ zu: „Die Kirche in der Endzeit ist klein; sie ist ohne staatlichen Schutz; sie ist -wenigstens zeitweise -ohne Führungshierarchie, Christus steht ihr in besonderer Weise nahe; sie kämpft gegen die römische Hure.“
Damit katapultiert freilich der traditionalistische Impuls zahlreiche katholische Fundamentalisten bereits an den „äußeren Rand“ der Kirche. Die Mehrheit der Anhänger katholischer Fundamentalismen operiert allerdings am „inneren Rand“ der Kirche und attackiert auch deshalb in der Regel nicht direkt den Inhaber des päpstlichen Lehramts, sondern die Bischöfe sowie die römischen Kurialbeamten
Neben der selten rein ausgeprägten biblizistischen und der dominanten traditionalistischen Dimension schält sich damit als dritte katholisch-fundamentalistische Ausprägung ein institutionalistischpatriarchalisches Prinzip heraus, das seinen Brennpunkt im Primat und Wahrheitsmonopol des päpstlichen Lehramts hat. Überspitzt und einseitig, eben nur auf eine katholisch-fundamentalistische Ausprägung gemünzt, kann diese auf die Formel gebracht werden: „Der protestantische Fundamentalismus steht auf dem Standpunkt: Die Bibel sagt es mir so. Der katholische Fundamentalismus geht davon aus: Der Papst sagt es mir so.“ Wie das traditionalistische Prinzip kann auch das religiöse Interpretations-bzw. Wahrheitsdefinitionsmonopol des Papstes und dessen superiorer Status übersteigert werden. Dies zeigt sich bereits in einigen Titeln einschlägiger Publikationen oder im Namen einiger katholisch-fundamentalistischer Gruppierungen Als „sehr römisch“ empfiehlt sich auch das „Opus Dei“ Die im Verlauf des 19. Jahrhunderts bis hin zum I. Vatikanischen Konzil beförderte, überaus starke päpstliche Vorrangstellung sucht man im katholisch-fundamentalistischen Kampf um die Definition des credendum auch noch dadurch auszubauen, daß man die einschlägigen biblischen Textstellen, die zu ihrer Legitimation herangezogen werden, so interpretiert, daß nicht die Kirche bzw. Gemeinde, sondern der „Fels“ Petrus als Adressat der Verheißung erscheint, von der Unterwelt nicht verschlungen zu werden
Immer wieder -und gerade auch hinsichtlich dieser papalistischen Thematik -wird zum Protest gegen die Befunde der führenden Repräsentanten der historisch-kritisch verfahrenden Bibelauslegung aufgerufen, die sich mit Vertretern einiger anderer theologischer Disziplinen zu einem „progressistischen Kartell“ zusammengeschlossen und die Nachfolge von „Wicleff, Luther, Febronius und anderen Irrlehrern“ angetreten hätten Eine bestimmte „Spielart der progressistischen Exegese“ stelle den päpstlichen Primat als „geschichtlich gewordene Erscheinung ohne göttliche Herkunft und Verbindlichkeit“ dar und hebe „mit ihren sogenannten Ergebnissen die gesamte Verfassung der Kirche aus den Angeln“. Dadurch würden „die Fundamente (!) der katholischen Kirche untergraben“ werden, sei es „mit unserer Kirche am Ende“ Wie der Fundamentalismus im Protestantismus, der aus der Verweigerung der Einbeziehung wissenschaftlicher Erkenntnisse zur Interpretation der Bibel als einziger Offenbarungsquelle lebt, ist auch der Fundamentalismus im Katholizismus ohne das Moment der Verweigerung nicht zu denken: nämlich der Verweigerung, die spezifisch katholische Quellen-Trias des Offenbarungswissens -also Bibel, Tradition und päpstliches Lehramt -in den Diskurs der Profanwissenschaften einzubeziehen. Letztere können diabolisiert werden, brachte doch, wie beispielsweise der Generalobere der „Priesterbruderschaft PiusX.“, einer der führenden Repräsentanten der schismatischen Leföbvre-Bewegung, formuliert, „die , Erbsünde ... eine Verblendung der menschlichen Vernunft, eine Verkehrung des menschlichen Willens und eine Entfesselung der menschlichen Leidenschaften“ und ließ „die Welt unter die Herrschaft Satans geraten“. Jene Verweigerung wird deshalb zu einem identitätssichernden „heiligen“ Akt, um die von den Fundamentalisten reklamierte „einzige Wahrheit“ weil göttlich vorgegebene Wahrheit, vor Kontaminationen durch die „weltlichen“ und d. h. sündhaft, wenn nicht diabolisch belasteten Wissenschaften überhaupt bzw. vor den bereits „verweltlichten“ Vertretern der „nachkonziliaren“ Kirche zu immunisieren: „Wenn wir uns von diesen Leuten entfernen, so genau wie von den Personen, die AIDS haben. Man hat keine Lust, es sich zu holen... das geistige AIDS, eine ansteckende Krankheit.“
IV. Eine Typologie katholischfundamentalistischer Gruppen
Die kaum überschaubare Vielfalt katholisch-fundamentalistischer Gruppen, die sich auch noch in ganz unterschiedlichen Sozialformen vergesellschaften kann mit der Unterscheidung einer biblizistischen, einer traditionalistischen und einer papalistischen Ausprägung im Hinblick auf ihre jeweiligen legitimatorischen Orientierungsschwerpunkte und unter Vernachlässigung fließender Übergänge, Überschneidungen und Verflechtungen in eine vorläufige Typologie gebracht werden. Je nach Reichweite ihres Geltungsanspruchs ist des weiteren zwischen eher religionsintern und eher religionsextern orientierten katholisch-fundamentalistischen Gruppen zu unterscheiden, also danach, ob sich ihr Geltungsanspruch faktisch vorwiegend auf religiös spezifische Kommunikationsund Handlungszusammenhänge (etwa Kult und Dogmatik) konzentriert oder darüber hinaus auch auf religiös unspezifische Gesellschaftsbereiche erstreckt.
Der heuristische Nutzen einer solchen -verfeinerbaren -Typologie müßte sich freilich erst in der weiteren empirischen Erforschung katholischer Fundamentalismen erweisen: beispielsweise in Untersuchungen der Bedeutung jener prekären triadischen Orientierungs-bzw. Legitimationsstruktur oder des Spannungsverhältnisses von Religion und Politik innerhalb der -aber auch zwischen den -einzelnen fundamentalistischen Gruppen ferner im internationalen Vergleich der nationalen und regionalen Profile katholisch-fundamentalistischer Gruppen sowie in Langzeitstudien ihres soziokulturellen Wandels.
Die meisten der vorstehend erwähnten Gruppen beziehen ihren Protest bzw. Geltungsanspruch auf Objekte im religionsinternen Feld, reduzieren damit wenn auch nicht prinzipiell, so doch faktisch -und möglicherweise vorläufig mit der Intention zur Sammlung des „heiligen Rests“ -den universalen Geltungsbereich des Wahrheitsanspruchs ihres heiligen Wissens. Dessen Expansion wird in den meisten europäischen Gesellschaften in Grenzen gehalten, insbesondere durch die dort herrschenden demokratischen Strukturen Nach dem bisher Gesagten lassen sich Typ 1 z. B. die „SAKA“, das „Oratorium“ und die von Lef& bvre initiierte Traditionalistenbewegung mit der „Priesterbruderschaft PiusX.“ zuordnen; Typ 2z. B. die „Priester-bruderschaft Sankt Petrus“ und die „Bewegung für Papst und Kirche“ mit der Lesergemeinde um die Zeitschrift „Der Fels“; Typ 3 z. B. das „Engel-werk“.
Andere, aber auch einige „Fraktionen“ der nach Typ 1, 2 und 3 sortierten katholisch-fundamentalistischen Gruppen halten auch faktisch am prinzipiell universalen Geltungsbereich des Wahrheitsanspruchs ihres heiligen Wissens fest und reden zumindest einer „Absorption der Gesellschaft durch die Religion“ das Wort Die von ihnen intendierte „Verkirchlichung der Welt“ zielt namentlich auf eine Entdifferenzierung von Religion und Politik, und dies gerade auch auf dem Hintergrund des in den Gesellschaften Mitteleuropas historisch spannungsreichen, jedenfalls nicht unumstrittenen Verhältnisses von Kirche und Staat.
Wenn nicht alles täuscht, hat die Mehrheit der katholischen Fundamentalisten in Deutschland und in anderen konfessionell stark gemischten europäischen Ländern ihren Schwerpunkt im religionsinternen Feld. Im Unterschied zu den „katholischen“, romanischen bzw. „katholisch-laizistischen“ Ländern sind hier religionsextem orientierte katholisch-fundamentalistische Gruppen -wie die nationalkatholischen „Traditionalisten“ bzw. „Integrallsten“ in Frankreich (z. B. die Bewegung „Chr 6tient 6-Solidarit 6“), die sich auch aus ehemaligen Anhängern und Sympathisanten der 1926 von Rom verurteilten, nach dem Zweiten Weltkrieg aufgelösten „Action Frangaise“ rekrutieren und die Wiederherstellung der Verbindung von „Thron und Altar“ propagieren (Typ 4) oder komplex organisierte Massenmobilisierungsbewegungen wie die von Rom als Laienbewegung approbierte „Communione e Liberazione“ („Compagnia delle Opere“; „Movimento popolare“) in Italien (Typ 5) -kaum entstanden. Auch Gruppen, die einen religionsexternen Fundamentalismus mit stark biblizistischer Ausprägung vertreten, formieren sich in Deutschland eher im prote-stantischen Christentum Allerdings lassen sich auch aus dem katholischen Spektrum einige Sondergruppen dieser Richtung ausmachen, deren spezifisch katholisches Profil freilich kaum mehr zu identifizieren ist, zumal sie punktuell mit ihren evangelischen Schwestern und Brüdern kooperieren Als -wenn auch zwischen allen Religionen sozusagen „vagabundierender“ -Vertreter dieses Grenztypus eines religionsexternen Fundamentalismus biblizistischer Ausprägung aus dem katholischen Bereich (Typ 6) kann der politische Publizist Franz Alt gelten, der mit einer in Millionenhöhe aufgelegten Streit-und Protestschrift zumindest temporär eine Lesergemeinde zu formieren verstand. Da Jesus „nie übertrieben“ habe und die Bergpredigt die „geistige Energiereserve für die ganze Menschheit“ biete, zielt Alts prophetischer Ruf auf eine Entprivatisierung von Religion und auf die Aufhebung ihrer Trennung von Politik und Gesellschaft, die er als „folgenschwerstes Schisma des Christentums“ diskreditiert
Abgesehen von diesem Grenz-und Sonderfall formieren sich religionsextern orientierte katholischfundamentalistische Gruppen hierzulande öffentlich entweder punktuell in solchen Initiativen (Typ 4), die sozusagen „den Sturz der Sexualität... in die Heimatlosigkeit“ aufzufangen suchen, sowie als „Lebensschützer“ im Zusammenhang mit der gesetzlichen Regulierung der Abtreibungsfrage oder diffus und unspektakulär über die Kaderaktivitäten des hierarchisch straff gegliederten „Opus Dei“ (Typ 5), das, kirchenrechtlich seit 1982 als sogenannte „Personalprälatur“ errichtet, direkt dem päpstlichen Lehramt untersteht und seinen Mitgliedern -weltweit ca. 80000, vor wiegend Akademiker -zur Aufgabe gestellt hat, nicht auf direktem, sondern auf indirektem Weg die gesellschaftlichen Strukturen zu verkirchlichen: nämlich über das persönliche „Streben nach Heiligkeit seiner Mitglieder inmitten der Welt“ die „Welt zu gewinnen“
Wie man auch immer zu dieser Methode stehen und deren Erfolgsaussichten beurteilen mag, eine zentrale Strategie besteht darin, innerhalb, aber mehr noch außerhalb der Kirche Schlüsselpositionen zu besetzen und das „Opus Dei“ mit anderen Organisationen personell zu vernetzen, um „die Institutionen der Völker, der Wissenschaft, Kultur, Zivilisation, Politik, Kunst und sozialen Beziehungen (zu) christianisieren“ So sollen beispielsweise Mitglieder (mehrheitlich Nicht-Priester) des „Opus Dei“, das als exklusive wie elitäre Fokusorganisation mit zahlreichen Vorfeld-und Ableger-organisationen verflochten ist, international bereits in -nicht näher spezifizierten -„ 694 Presseorganen, 52 Rundfunk-und Fernsehanstalten, 12 Filmproduktions-bzw. Vertriebsgesellschaften und 38 Nachrichtenagenturen“ tätig sein um ihr „diskretes Apostolat“, ihre „im Stillen wirkende Sendung“ zu erfüllen
V. Schlußbemerkung
Die über die Anpassungen der Kirche an die Verhaltensgesetzlichkeiten der Moderne ausgelösten Spannungen und Konflikte um die Definition „des Heiligen“ und die Verfügung darüber können zwar enorme Ressourcen der Betroffenen binden, doch sollte die Potenz des katholischen Fundamentalismus, der in seiner legitimatorischen und organisatorischen Fragmentierung sowie in seiner Vielfalt der Sozialformen ohne wirkliches Steuerungszentrum agiert, einen politischen und gesell-schädlichen Strukturwandel zu bewirken, nicht überschätzt werden -auch wenn er außer den Kirchenreform-Opfern noch Zulauf aus sonst eher „kirchenfernen“ Generationen, Gruppen und Schichten erhalten mag, denen die Instabilität religiöser Formen zum Symbol ihrer beängstigenden biographischen und sozialen Unsicherheit wird Freilich sollte die Potenz seiner Gruppen, den intra-und interkirchlichen Strukturwandel zu blockieren, nicht unterschätzt werden. Bezüglich ihrer Chancen zur Repolarisierung der Religionsund Konfessionskulturen und im Hinblick auf ihre Macht, Auseinandersetzungen um die Kontrolle kirchlicher Institutionen und personeller wie finanzieller Ressourcen für sich zu entscheiden, wird man mit den Führern und Anhängern katholischer Fundamentalismen noch allemal zu rechnen haben.
Michael N. Ebertz, Dr. rer. soc., geb. 1953; Studium der Soziologie in Frankfurt/M.; Promotion und Tätigkeit als Hochschulassistent an der Universität Konstanz; seit 1991 Professor für Sozialpolitik und Freie Wohlfahrtspflege am Fachbereich Sozialarbeit der Katholischen Fachhochschule in Freiburg. Veröffentlichungen u. a.: Das Charisma des Gekreuzigten. Zur Soziologie der Jesusbewegung, Tübingen 1987; (Hrsg. zus. mit Winfried Gebhardt und Arnold Zingerle), Charisma: Theorie. Politik. Religion, Tübingen i. E.
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