Für Deutschland ist aufgrund seiner geographischen Lage der durch den Zusammenbruch des Ostblocks ausgelöste Immigrationsdruck aus Osteuropa vorrangig gegenüber demjenigen aus dem Süden. Die Erfahrungen seit dem Fall des Eisernen Vorhangs haben dem Ausmaß dieses Immigrationsdrucks einen konkreten Inhalt gegeben: noch keine „Völkerwanderung“, aber doch enorme Zugangszahlen. Hinter den osteuropäischen Migrationsbewegungen stehen nicht individuelle politische Verfolgungen, sondern wirtschaftliche (Existenz-) Bedingungen und ethnische Auseinandersetzungen -bis hin zu Bürgerkriegen. Das Asylrecht paßt auf solche Immigration nicht; die Asylpolitik ist mit solcher Zuwanderung überfordert. Die deutsche Politik hat inzwischen auf diese Migrations„flanke“ reagiert: Der Parteienkompromiß zur Asyl-und Zuwanderungspolitik vom Dezember 1992 beinhaltet eine Kontingentierung der Aussiedleraufnahme und eine -angestrebte -Indienstnahme der östlichen Anrainerstaaten für eine Abschottungspolitik gegenüber Migranten aus dem Osten. Es entwickeln sich aber auch Ansätze einer Entwicklungshilfepolitik, mit der die Migration „an ihrer Wurzel“ bekämpft werden soll: gesteuerte, zeitlich limitierte Arbeits-und Ausbildungsmigration zum Aufbau von Humankapital sowie Aufbauprojekte in den Herkunftsländern.
Der mit dem Fall des „Eisernen Vorhangs“ mitnichten bereits „zu Ende gebrachte“ Zusammenbruch des sozialistischen Ostblocks hat der weltweiten, sich immer mehr verschärfenden Migrationsproblematik einen eigenen Part hinzugefügt. Zunächst handelt es sich dabei um eine schlichte quantitative Erweiterung: Die früher von den sozialistischen Staaten betriebene extrem restriktive Emigrationspolitik bedeutete für die potentiellen Zielländer des Westens, daß sie sich aus dieser Richtung keinem nennenswerten Immigrationsdruck gegenübersahen. Diese Situation hat sich jetzt grundlegend verändert. Andererseits läßt sich diese zusätzlich eröffnete europäische „Migrationsflanke“ nicht auf ihre bloße Quantität reduzieren. Die Zuwanderung aus Ost-nach Westeuropa (sowie -in allerdings weit geringerem Maße -auch in andere westliche Industrieländer wie USA, Kanada, Australien), sei sie bereits real oder nur potentiell, bedarf durchaus einer speziellen Betrachtung und Analyse: hinsichtlich ihres Ausmaßes, ihrer Ursachen und Beweggründe, schließlich ihrer Verkraftbarkeit -in den Herkunfts-ebenso wie in den Zugangsländern
Eine nüchterne, empirische Analyse dieses Themas ist nicht zuletzt deshalb vonnöten, weil die im Umlauf befindlichen westlichen Erwartungen, Prognosen und Szenarien bezüglich der zukünftigen Immigration aus Osteuropa sehr weit auseinanderliegen:
Abbildung 9
Tabelle 6: Wirtschaftsentwicklung und -prognosen für ausgewählte Staaten Osteuropas Quellen: IWH; Globus; Süddeutsche Zeitung vom 25. 6. 1992, S. 29; Die Zeit vom 19. 6. 1992, S. 40
Tabelle 6: Wirtschaftsentwicklung und -prognosen für ausgewählte Staaten Osteuropas Quellen: IWH; Globus; Süddeutsche Zeitung vom 25. 6. 1992, S. 29; Die Zeit vom 19. 6. 1992, S. 40
Von vielen wird eine regelrechte „Völkerwanderung“ befürchtet. Dagegen stehen -allerdings relativ selten -argumentative Abwiegelungen etwa folgender Art: „Die Vorstellung von der Völkerwanderung, die aus dem Osten auf uns zurollt, hat sich sehr schnell als Hirngespinst erwiesen. Überwiegend sind die Wanderungsbewegungen aus Osteuropa, die zur dauerhaften Einwanderung führen, eben doch nicht ökonomisch begründet, sondern haben einen Hintergrund in ethnischen und nationalen Konflikten, was zugleich dazu führt, daß sie meist in der Region bleiben und sich nicht als ArbeitskräfteWanderung aus der Region heraus entwickeln.“
Erkenntnistheoretisch leiten sich Zukunftsprognosen aus der Vergangenheitsempirie ab: Sie werden -mehr oder weniger argumentativ modifiziert -extrapoliert. Anders als unmittelbar zur Zeit der „Ostöffnung“ 1989, als eine solche Extrapolation der Migrationserfahrungen wegen der tiefgreifenden Umwälzung der Verhältnisse noch äußerst spekulativ und sinnlos war, haben wir inzwischen zumindest ein kleines Stück an historischer Entwicklung und Empirie hinter uns gebracht, an die sich etwas realistischere Prognosen zur europäischen Ost-West-Wanderung anschließen lassen.
Deutschland spielt für die Ost-West-Migration -durchaus anders als bei der älteren, sich aber in Zukunft fortsetzenden Süd-Nord-Migration -eine zentrale Rolle. Denn:
1. Deutschland gilt als eines der reichsten Länder Europas und der Erde. Von daher ist es für Ost-West-Migranten mindestens ebenso attraktiv wie für andere.
2. Nach Schätzungen des UNO-Flüchtlingskommissariats kommen/wollen tatsächlich ca. 80 Prozent der die EG erreichenden Asylbewerber nach Deutschland.
3. Deutschland liegt, von Osteuropa her gesehen, als erstes Immigrationsland „auf dem (Land-) Wege“ nach Westen. Unter Berücksichtigung von Punkt 1 liegt es deshalb nahe, gerade hierhin zu wollen und hier bleiben zu wollen. 4. Deutschland bildet für einen quantitativ erheblichen -bestimmten Migrantentypus, die Aussiedler, praktisch das alleinige westliche Zielland. Dies folgt daraus, daß sie einen rechtlichen Anspruch auf Aufnahme geltend machen können. Über die europäische Ost-West-Migration zu reden, heißt also unter diesen Umständen und zur Zeit in der Hauptsache: über Deutschland reden.
Im Hinblick auf eine analytische Behandlung des Themas ist eine soziodemographische Differenzierung der Immigration zweckmäßig. Vor der „Ostöffnung“ gab es, auf die alte Bundesrepublik Deutschland gerichtet, vornehmlich folgende Typen von Zuwanderem aus dem Osten: -„Gastarbeiter“ aus Jugoslawien, -Übersiedler aus der DDR, -(ausländische) Flüchtlinge aus Ostblockstaaten und -deutschstämmige Aussiedler aus Ostblockstaaten. Jetzt, nachdem durch die Wiedervereinigung die deutsche Grenze nach Osten verschoben ist und in den osteuropäischen Staaten der totalitäre Sozialismus sich aufgelöst hat, erscheint -unabhängig von den Quantitäten -die Typologie der Ostzuwanderung in einer etwas anderen Zusammensetzung: -deutschstämmige Aussiedler, -osteuropäische Asylbewerber, -„illegale Zuwanderer“, -Bürgerkriegsflüchtlinge (die allerdings in der Regel keinen dauerhaften Asylstatus anstreben) und -osteuropäische Gastarbeiter.
Diese Typologie ist bewußt nicht ausschließlich oder vorrangig an rechtlichen Gesichtspunkten ausgerichtet, sondern mehr soziographisch orientiert. Der wesentliche Effekt dieser nicht an juristischen Kriterien ansetzenden Betrachtung ist die Einbeziehung der Aussiedler in die osteuropäische Immigration nach Deutschland (statt ihre Sonder-betrachtung). Es kommt dabei nämlich schon längst viel stärker auf deren ökonomische Verursachung und Motivation an als auf die Deutschstämmigkeit der Aussiedler und das daran gekoppelte rechtliche Immigrationsprivileg. Die Aussiedler, insbesondere diejenigen aus der ehemaligen Sowjetunion, signalisieren von daher generalisierbar Auswanderungsbereitschaft auch nichtdeutsch-stämmiger Osteuropäer. Gleiches ist hinsichtlich der sozialen Integration(sprobleme) zu sagen: Die Deutschstämmigkeit spielt im „Sozialisationsgepäck“ der Aussiedler eine immer geringere Rolle. Sie werden anderen Migrantenarten immer ähnlicher
Die neue Kategorie der „illegalen“ Zuwanderung enthält eine gewisse komplizierende Heterogenität. Sie umschließt einerseits die illegale Ausnutzung an sich legaler Zuwanderung: insbesondere die Arbeitsaufnahme oder Gewerbetätigkeit im Rahmen von Reiseerlaubnissen nach Deutschland (mit oder ohne Visa). Diese Konstellation betrifft vor allem Polen in Deutschland. Zuwanderer dieses Typs stellen normalerweise keinen Asylantrag. Sie verlassen das Land tatsächlich auch immer wieder. Andererseits enthält diese Kategorie Asylbewerber, die auf illegalem Weg ins Land gelangt sind: insbesondere Zuwanderer aus Ländern, für die Visazwang besteht. Diese Zuwanderer stellen nach Grenzübertritt in der Regel Asylanträge. Es gibt Schätzungen, wonach etwa 15 Prozent der Zu-wanderer aus Rumänien ohne Visum und somit illegal die deutschen Ostgrenzen (mit Polen oder der Tschechoslowakischen Republik) überschreiten
Im Zusammenhang des Asylzugangs birgt die Kategorie legal/illegal allerdings grundsätzliche Probleme. Das Asylbegehren an sich kann nicht illegal sein -auf welche Weise auch immer es dazu kommt. Auch ein heimlicher Grenzübertritt -mit oder ohne Hilfe von sogenannten Schleppern -bewirkt nicht seine Illegalität. Ein Asylantrag wird auch nicht etwa dadurch nachträglich illegal, daß er irgendwann abschlägig beschieden wird. Von daher ist eine Kategorie „illegale Zuwanderung“ prinzipiell fragwürdig, jedenfalls dann, wenn dem Grenzübertritt ein Asylbegehren unmittelbar folgt.
Ausgehend von der vorstehenden typologischen Differenzierung vertrete ich die These, daß es für die Einschätzung der zukünftigen Ostzuwanderung angebracht ist, die Unterschiede der Kategorien eher zu relativieren. Nachdem -von Bürgerkriegs-flüchtlingen einmal abgesehen -ein politischer Auswanderungsdruck in Osteuropa entfallen ist und statt dessen vornehmlich wirtschaftliche Mo-tive sowie ethnische Diskriminierung zur Emigration in den Westen führen, wählen Emigrationswillige den -auch in rechtlicher Hinsicht -nächstliegenden Immigrationsweg, der sich ihnen bietet: Das kann die Ausnutzung einer Touristenreise oder eines Reisevisums ebenso sein wie der illegale Grenzübertritt. Ob dann ein Asylantrag gestellt wird oder illegal eine Arbeit aufgenommen wird, ist eine andere, nachgeordnete Frage.
I. Empirie der Zuwanderung aus Osteuropa
Abbildung 4
Tabelle 1: Aussiedlerzuwanderung von 1950 bis 1991 insgesamt Quelle: Stat. Bericht Vt-2/92 des Bundesausgleichsamts.
Tabelle 1: Aussiedlerzuwanderung von 1950 bis 1991 insgesamt Quelle: Stat. Bericht Vt-2/92 des Bundesausgleichsamts.
Zunächst soll die Frage der Zuwanderung aus Osteuropa so weit wie möglich empirisch behandelt werden. Dabei werden Aussiedler, Asylbewerber und „Gastarbeiter“ separat betrachtet, obwohl die Kategorien, wie gesagt, hinsichtlich des Migration-und Integrationsprozesses nicht völlig trennscharf sind.
Auf die in Deutschland aufgenommenen Bürgerkriegsflüchtlinge aus Jugoslawien wird hier nicht weiter eingegangen, obwohl ihre Zahl ganz erheblich ist: bis zum Dezember 1992 rund 260 000 Diese Flüchtlinge dürften so bald wie möglich in ihre Heimat zurückkehren wollen. Über die Zukunft des ehemaligen Jugoslawien -und damit über die Möglichkeit zur Rückkehr dieser Flüchtlinge -läßt sich allerdings höchstens spekulieren. Abgesehen von offiziellen Kontingent-Aufnahmen leben viele von ihnen bei Verwandten und Bekannten, die schon vor längerer Zeit im Zuge der Gastarbeiterzuwanderung nach Deutschland gekommen waren. Von daher belasten sie die deutsche Gesellschaft ökonomisch wie politisch relativ wenig. Sie sind -bzw. ihre vorübergehende Zuwanderung ist -auch in der deutschen Öffentlichkeit kaum umstritten
1. Aussiedler
Deutschstämmige Aussiedler besitzen ein Zuwanderungsprivileg gemäß Art. 116 GG. Das Anknüpfungsmerkmal dieses Sonderrechts, die Deutschstämmigkeit, ist allerdings inzwischen zunehmend fragwürdig geworden. Von ihrer Sozialcharakteristik her wie hinsichtlich ihrer Migrationsmotive un terscheiden sich die Aussiedler von ihren Landsleuten im Herkunftsland zunehmend weniger. Es ist -nur oder doch vorwiegend -das spezifische deutsche Abstammungsrecht des ius sanguinis, aus dem sich eine besondere Beziehung der potentiellen Aussiedler zu Deutschland und ihre besondere Zuwanderungsberechtigung ableiten. Ein Effekt dieses Volkszugehörigkeitsrechts besteht darin, daß es eigentlich keine feste Obergrenze für die Aussiedlerzahlen gibt; Aussiedler wachsen mit der natürlichen Reproduktion sozusagen unbegrenzt nach.
In den letzten vier Jahrzehnten sind mehr als zweieinhalb Millionen Aussiedler in die Bundesrepublik gekommen. Der mit Abstand größte Anteil von ihnen kam aus Polen. Ein großer „Nachholbedarf“ ist für die ehemalige Sowjetunion zu unterstellen. Die Zahlenschätzungen für die dort lebenden potentiellen Aussiedler schwanken zwischen zwei und fünf Millionen.
Die Zahlen der zugewanderten Aussiedler haben sich in den letzten Jahren im Zuge der Liberalisierung im Ostblock drastisch erhöht. Die Jahreszugänge an Aussiedlem, die sich seit 1959 immer im fünfstelligen Bereich bewegt hatten, wurden 1988 in einem großen Sprung sechsstellig und sind es seitdem geblieben. Dabei waren es zunächst, etwa seit 1987, in erster Linie Aussiedler aus Polen und der ehemaligen Sowjetunion, deren Zahl rasant in die Höhe ging. Vorübergehend, aber einmalig (1990), schnellte auch die Zahl der Aussiedler aus Rumänien drastisch nach oben (vgl. Tabelle 2).
Der Zugang an Aussiedlern nahm nach der „Ostöffnung“ derartige quantitative Formen an, daß seit Mitte 1990 ein Gesetz (Aussiedleraufnahmegesetz) diesen Zustrom dadurch zu bremsen versucht, daß die Aussiedlungsanträge bei den deut-sehen Vertretungen im Herkunftsland gestellt und die Entscheidungen darüber dort abgewartet werden müssen. Dadurch wurde eine durch die Administration erzeugte Steuerung -und faktisch die Reduktion bzw. zeitliche Streckung -des Aussied-, lerzugangs ermöglicht. Dieser Bremseffekt, von dem man nicht genau weiß, inwieweit er nur eine zeitliche Streckung bedeutet oder eine Demotivierung zur Aussiedlung überhaupt zur Folge hat (ersteres ist wahrscheinlicher), ist, wie die Zahlen zeigen, tatsächlich eingetroffen
Die zwischen 1988 und 1990 noch großen Zahlen von Aussiedlern aus Polen sind 1991 und noch einmal 1992 drastisch zurückgegangen. Dafür gibt es zwei Erklärungsmöglichkeiten: 1. Das Gros der potentiellen Aussiedler aus diesem Land ist bereits in Deutschland; dafür spricht die absolut und relativ große Zahl von Polen-Aussiedlem über die gesamte Nachkriegszeit hinweg. 2. Die deutsch-polnische Grenzöffnung für Touristenverkehr hat den Aussiedlungsmodus der Migration sozusagen ersetzt; diese Annahme ist angesichts der großen Zahl an polnischen Deutschland-Touristen nicht abwegig. Vermutlich wirkt beides zusammen.
Seit 1991 kommt das Gros der Aussiedler aus der ehemaligen Sowjetunion. Die Zugänge aus Polen und Rumänien sind relativ stark zurückgegangen, liegen aber absolut immer noch auf durchaus nennenswertem Niveau. Der größte Aussiedlerzuwan derungsdruck dürfte auch in Zukunft aus den Gebieten der ehemaligen Sowjetunion zu erwarten sein. Nur durch das neue restriktive Zugangsrecht wird dieser Druck (bislang) nicht statistisch sichtbar.
2. Asylbewerber
Rechtlich gesehen bildet der Zugang von Asylbewerbern eigentlich kein angemessenes Datum für das Thema der -dauerhaften -Zuwanderung. Ein solches wären nur die anerkannten Asylbewerber. Die Quote der Anerkennung -als politisch verfolgt -liegt bei den Asylbewerbern aus Osteuropa inzwischen allerdings sehr niedrig. Es ist jedoch kein Geheimnis (und bildet ja seit einiger Zeit einen Gegenstand heftiger politischer Diskussion), daß die administrative (inkl. gerichtliche) Anerkennungsprozedur des Asylverfahrens derzeit äußerst langwierig ist und Abschiebungen nach rechtskräftiger Asylverweigerung nur in geringem Umfang erfolgen. Daraus folgt, daß einmal nach Deutschland gelangte Asylbewerber tendenziell als Einwanderer anzusehen sind. Von daher ist der Indikator der Asylbewerber für unseren Migrations-Zusammenhang alles andere als abwegig. 1991 kamen allein aus den osteuropäischen Ländern mehr Asylbewerber nach Deutschland als zwei Jahre zuvor noch insgesamt. Die Zahl der osteuropäischen Asylbewerber hat sich 1991 gegenüber -1988-90 verdoppelt, -1987 verfünffacht, -1986 versiebenfacht und -1985 verzwölffacht (vgl. Tabelle 3). 1992 haben sich die Asylbewerberzahlen noch einmal deutlich erhöht. Der monatliche Zugang lag in diesem Jahr bei 40-bis 50000. Auf das Jahr hoch-gerechnet, ergaben sich rund 440000. Der Anteil von Osteuropäern dürfte mindestens die Hälfte ausmachen
Die Daten zeigen auch, daß die Migrationsbewegungen in bzw. aus Osteuropa differenziert zu sehen sind. Die Asylbewerberzahl aus Polen z. B. hat inzwischen -offenbar im Zuge erleichterter Reisemöglichkeiten nach Deutschland -rapide abgenommen. Differenziert betrachtet, weisen also nicht etwa alle Extrapolationskurven nach oben.
3. Legale und illegale „Gastarbeiter“
Der inzwischen aus der Mode gekommene Terminus der „Gastarbeiter“ stammt aus den sechziger und siebziger Jahren, in denen aus südeuropäischen (westlichen) Ländern sowie der Türkei Arbeiter angeworben wurden, von denen man erwartete, daß sie nicht für immer in Deutschland bleiben, sondern nach einiger Zeit wieder in ihre Heimat zurückkehren würden. Den wesentlichen Aspekt des Begriffs bildet somit die Zeitweiligkeit (im Unterschied zur Endgültigkeit) dieser Migration -die sich dann bekanntlich nicht realisiert hat. „Gastarbeit“ in diesem Sinne der zeitlichen Be-grenztheit gibt es derzeit erneut, wenngleich in bestimmten, von den früheren Konnotationen abweichenden Formen. Und sie betrifft speziell Migranten aus Osteuropa.
Dabei sind zunächst zwei große Kategorien zu unterscheiden: Erstens die Ausnutzung von Reiseerlaubnissen (ob mit Visa oder visafrei) zu -illegaler -Arbeitsaufnahme oder gewerblicher Tätigkeit in Deutschland. In diese Kategorie fallen in erster Linie und mit vermutlich erheblicher Quantität Migranten aus Polen. Die Öffnung der deutsch-polnischen Grenze für den Reiseverkehr hat hier einen großen Schub bewirkt. Weil es sich um eine illegale Verhaltensweise handelt, gibt es darüber verständlicherweise keine verläßlichen Daten. Solche fallen nur gelegentlich und indirekt, z. B. im Zuge von polizeilichen und kriminalpolitischen Informationen, an.
Die zweite -und eigentliche -Kategorie von „Gastarbeitern“ aus Osteuropa hat demgegenüber legalen Charakter; es handelt sich um temporäre Arbeitsmigranten, die im Rahmen von bilateral zwischen den Regierungen ausgehandelten Kontingenten nach Deutschland kommen. Dabei gibt es unterschiedliche Arten von Arbeitsverträgen und unterschiedliche Befristungen solcher „Gast-arbeit“ Werkvertragsarbeitnehmer, befristete Gastarbeit und Saisonarbeitnehmer. Im Dezember 1991 waren insgesamt ca. 77000 Werkvertragsarbeitnehmer -vorwiegend aus Osteuropa -in der Bundesrepublik tätig. Das vereinbarte Gesamtkontingent (= Obergrenze), das sich aus mehreren Vertragskontingenten verschiedener Länder addiert, lag zu diesem Zeitpunkt bei ca. 100000.
Im Rahmen von Gastarbeitnehmer-Abkommen, die maximal 18 Monate Beschäftigungsdauer zulassen, waren Ende 1991 rd. zweieinhalbtausend Osteuropäer (aus Ungarn, Polen, CSFR) in Deutschland.
Im Rahmen der Saisonarbeit -d. h. maximal drei Monate pro Jahr -waren Ende 1991 ca. 123000 Osteuropäer (Jugoslawen, Polen, Tschechen, Slowaken und Ungarn) in Deutschland.
In Zukunft soll die Zahl der Werkvertragsarbeitnehmer wegen häufiger mißbräuchlicher Ausbeutung durch Firmen vermindert, die Zahl der Gastarbeiter -mit Einjahresbefristung -dagegen erhöht werden.
4. Aus der Perspektive der Auswanderungsländer
Die vorstehenden Zahlen beziehen sich auf die Seite des Emwanderungslandes (Deutschland). Hierfür ist mit einigermaßen valider amtlicher Statistik zu rechnen. Grundsätzlich läßt sich die Perspektive natürlich auch umdrehen, um die Auswanderung aus osteuropäischen Ländern zu betrachten. Die Qualität der dortigen Statistik dürfte allerdings wesentlich schlechter sein. Außerdem werden dort nicht spiegelbildlich diejenigen Kategorien erhoben wie deutscherseits; ob das Zielland „Deutschland“ separat ausgewiesen wird, ist fraglich. Gewissen Indikationswert kann man immerhin Daten über Entwicklungstendenzen der Auswanderung beimessen, wie es sie z. B. für die ehemalige Sowjetunion oder Polen gibt. Die dortige Auswanderung streut natürlich nicht gleichmäßig über die ganze Welt, sondern richtet sich konzentriert auf den Westen (in der Sowjetunion inklusive Israel).
Die Tendenz dieser Auswanderungsdaten stimmt immerhin mit deijenigen der deutschen Einwanderungsstatistiken überein: In Polen zeigt sie nach unten (vgl. Tabelle 4), in der ehemaligen Sowjetunion dagegen deutlich nach oben:
Zusammenfassend erfolgt zur Zeit eine jährliche Zuwanderung aus Osteuropa nach Deutschland in folgender Größenordnung: -administrativ gesteuert, d. h. praktisch kontingentiert, ca. 200000 Aussiedler; ungesteuert wäre diese Zuwanderung sicherlich mehr als doppelt so hoch; -als Asylbewerber mindestens 100000 bis 150000, eher mehr als weniger; -als legale Gastarbeiter ständig (personell wechselnd) ca. 200000.
Hinzu kommen zur Zeit die ca. 260000 außerhalb des Asylverfahrens aufgenommenen Bürgerkriegs-flüchtlinge aus dem ehemaligen Jugoslawien, de-ren weitere quantitative Entwicklung sich aber kaum beziffern läßt. Hinzuzufügen, aber ebenfalls nicht zu beziffern, sind schließlich illegale Ausländer aus Osteuropa in Deutschland.
II. Prognosen der Zuwanderung aus Osteuropa
Abbildung 5
Tabelle 2: Aussiedlerzuwanderung pro Jahr (1980-1992) Quellen: Stat. Bericht Vt-2/92 des Bundesausgleichsamts; Süddeutsche Zeitung vom 2. 13. 1. 1993, S. 1.
Tabelle 2: Aussiedlerzuwanderung pro Jahr (1980-1992) Quellen: Stat. Bericht Vt-2/92 des Bundesausgleichsamts; Süddeutsche Zeitung vom 2. 13. 1. 1993, S. 1.
Die quantitative Entwicklung der Ostzuwanderung nach Deutschland zeigt seit 1989 deutlich nach oben. Die Frage ist, welche qualitativen Argumente zur Beurteilung und eventuellen Modifikation einer daraus ableitbaren Extrapolationskurve zu berücksichtigen sind. Dabei sollte man das „Migrationspotential“ abschätzende Umfragen zur Emigrationsbereitschaft in Osteuropa nur mit Zurückhaltung ins Spiel bringen Sie variieren extrem stark, sind methodisch wenig verläßlich und zudem oft mit -durchsichtigen -politischen Interessen der Auswanderungsländer verknüpft.
Daß der reiche Westen in Europa auf die Armen in aller Welt grundsätzlich Anziehungskraft ausübt, daß dieser relative Reichtum einen Pu//-Faktor ausmacht, bedarf keiner weiteren Ausführungen. Zu diesem Pw//-Faktor muß aber in der Regel ein PusA-Faktor hinzukommen, um Wanderung auszulösen. Denn im Normalfall ist anzunehmen, daß -nicht erzwungene -Wanderungsentscheidungen nicht unbedacht und leichthändig gefällt werden, da sie immer erhebliche individuelle Kosten implizieren. Unter diesen Umständen sind die Push-Faktoren von besonderem Interesse. Außerdem sind zur Abschätzung von Wanderungserwartungen natürlich erfolgsträchtige Maßnahmen der Wanderungsbegrenzung oder gar -Verhinderung von Interesse; auf sie wird aber erst im folgenden Kapitel eingegangen.
1. Push-Faktoren in Osteuropa
Man kann über die diversen individuellen Motive hinweg verallgemeinernd vor allem zwei Faktoren hervorheben, die in der Zukunft ebenso wie zur Zeit die Auswanderung aus den osteuropäischen Ländern bestimmen: erstens die wirtschaftliche Entwicklung und zweitens die ethnischen Bewegungen. Einen politischen Druck zur Auswanderung im engeren Sinne, der zur Asylgewährung in Deutschland erforderlich wäre, wird man dagegen nach der Liberalisierung des früheren „Ostblocks“ höchstens nur noch vereinzelt anzunehmen haben. Eine besondere Situation ergibt sich daneben natürlich für Regionen, in denen Bürgerkrieg herrscht und aus denen deshalb -in der Regel wohl nur vorübergehend -Fluchtbewegungen erwachsen.
Wirtschaftliche Entwicklung: Die mit dem Über-gang vom Sozialismus zur Marktwirtschaft verbundene realwirtschaftliche Entwicklung bedeutet für große Teile der Bevölkerung Osteuropas eine radikale Verschlechterung der Lebensbedingungen. Zudem sind auch die wirtschaftlichen Aussichten für die Zukunft meistens obskur. Offene Grenzen nach Westeuropa ermöglichen den Menschen vor diesem Hintergrund die Option einer Verbesserung ihrer Lage.
Man kann aus der jeweiligen Wirtschaftsentwicklung und den Wirtschaftsprognosen Schlüsse auf Auswanderungsdruck und -bereitschaft ziehen. (Allerdings sind die Wirtschaftsdaten selbst in ihrer Validität aus verschiedensten Gründen natürlich nicht zwingend.) Eine noch moderate Prognose enthält Tabelle 6.
Die ökonomische Lage im früheren Ostblock entwickelt sich erkennbar unterschiedlich. Zum Teil ist die wirtschaftliche „Talsohle“ bereits durchschritten, während sie in anderen Ländern erst noch bevorsteht. Den Höhepunkt der Arbeitslosigkeit -und die damit verbundene Haushaltsarmut -haben allerdings praktisch alle osteuropäischen Länder wohl noch nicht erreicht. In Bulgarien und Rumänien, ferner in einzelnen autonom gewordenen Republiken der früheren Sowjetunion sind die Daten und Zukunftserwartungen wohl noch wesentlich schlechter als bei den aufgeführten Ländern.
Den zweiten wichtigen Faktor, der die Emigration(sneigung und -bereitschaft) mitbestimmt, bilden die in vielen Bereichen Osteuropas aufgebrochenen ethnischen Bewegungen. Sie erzeugen unzählige diskriminierte Minderheiten, für die die Auswanderung nach Westeuropa als Hoffnung auf eine Verbesserung ihrer Situation erscheinen mag. Den -inzwischen im Bereich des früheren Ostblocks bereits weit verbreiteten -Grenzfall ethnischer Diskriminierung bilden ethnisch bestimmte Bürgerkriege und ethnische Revier-„Bereinigungen“: siehe etwa Jugoslawien, Georgien, etwas weiter entfernt Armenien/Aserbeidschan. Grundsätzlich läßt sich wohl auch die Auswanderung von Deutschstämmigen in diesen Zusammenhang ein-, ordnen. Nur wird bei dieser Minderheit die Sensibilitätsschwelle dadurch mitbestimmt, daß sie -bislang -eine außergewöhnlich gute Chance auf die Einwanderung nach Deutschland besitzt.
2. Unsicherheitsfaktor Transit-Migranten
Die osteuropäischen Länder sind meistens -von der ehemaligen Sowjetunion abgesehen -nicht nur Herkunftsregionen („Quellenländer“) von Immigranten nach Westeuropa und vor allem nach Deutschland. Sie bilden -wie übrigens auch Österreich -zudem, und manchmal vorwiegend, Transit-Länder auf dem Weg nach dem Westen, insbesondere nach Deutschland, und sind von daher so etwas wie Warteräume für eine allerdings quantitativ schwer abzuschätzende Zahl von Migranten, sowohl aus jeweils anderen osteuropäischen Herkunftsländern, als auch „aus aller Welt“. Osteuropa bildet ja die Landweg-Brücke zwischen Westeuropa und der „Dritten Welt“ Asiens.
Beispielsweise sollen sich in Rumänien rund 30 000 Transit-Migranten aus Staaten der Dritten Welt aufhalten Die Visalage führt dazu, daß sich insbesondere in Polen große Zahlen von Migranten aus Rumänien und Bulgarien aufhalten, von denen die meisten nach Deutschland wollen. Polen ist für diese Transit-Migranten visafrei, nicht dagegen ihr eigentliches Wanderungsziel Deutschland. Aus dieser Konstellation speist sich vermutlich der Großteil an illegalen, häufig von Schleppern organisierten Grenzübertritten an den deutschen Grenzen nach Polen und zur ehemaligen Tschechoslowakei Diese Existenz von „Transit-Räumen“ in Osteuropa, in denen sich in größerer, aber nicht genau bekannter Zahl Migranten aufhalten, die in Richtung Deutschland unterwegs sind, stellt natürlich für eine Zuwanderungsprognose einen erheblichen Unsicherheitsfaktor dar.
Im Ergebnis ist festzuhalten, daß -sofern keine Politik interveniert -die beiden osteuropäischen Pus/i-Faktoren der wirtschaftlichen Entwicklung und der ethnischen Auseinandersetzungen, die sich wohl eher noch ins Negative verstärken werden, die hochgerechnete Extrapolationskurve der derzeitigen Zuwanderung eher nach oben als nach unten treiben werden.
III. Politik der Zuwanderungsbegrenzung
Abbildung 6
Tabelle 3: Asylbewerber insgesamt und aus Osteuropa (1980-1992) Quellen: Stat. Jahrbuch der Bundesrepublik 1992, S. 72; Süddeutsche Zeitung vom 7. 1. 1993, S. 6.
Tabelle 3: Asylbewerber insgesamt und aus Osteuropa (1980-1992) Quellen: Stat. Jahrbuch der Bundesrepublik 1992, S. 72; Süddeutsche Zeitung vom 7. 1. 1993, S. 6.
Praktisch schon im Zuge der „Ostöffnung“ entstanden im westlichen Europa Befürchtungen eines Immigrationsdrucks aus dem Osten und wurden Maßnahmen der Verhinderung, zumindestens der Kontrolle und Begrenzung des Zustroms unternommen Unter dem Begriff der „Festung Europa“ wurden diese Politiken kritisch angesprochen Da das westliche Europa gegenüber dem Osten sozialräumlich gestaffelt ist, besteht hier natürlich eine unterschiedliche Sensitivität für das Problem dieser Migration: nämlich in Abhängigkeit von der jeweiligen Nähe zur Grenze. Diese Grenze selbst bildet allerdings zugleich das erste von zwei wesentlichen Problemen in diesem Zusammenhang: Wo verläuft eigentlich die Grenze zwischen Ost-und Westeuropa -und somit zwischen Emigration und Immigration? Die nahe-liegende Antwort, den früheren Eisernen Vorhang als Grenze anzusehen, erweist sich bei näherer Betrachtung nämlich schnell als fragwürdig.
Der frühere sozialistische „Ostblock“ war, bei aller „Gleichschaltung“, selbstverständlich nie eine gleichförmige Masse, sondern durch Binnendifferenzierung geprägt. Der Auflösungsprozeß des Ostblocks, der sich ja nicht in einem großen Schlag ereignete, sondern unterschiedlich und zeitlich versetzt, hat diese Differenzierung sehr schnell und deutlich ans Licht gebracht. Ausmaß und Art der Annäherung der Ostblockstaaten an den Westen verlaufen durchaus unterschiedlich -und dabei noch überlagert und" kompliziert durch die teilweise überhaupt erst jetzt erfolgende Staatenbildung in dieser Region (siehe Sowjetunion, Jugoslawien, Tschechoslowakei). Auf diese Weise können Länder/Gesellschaften mehr oder weniger ost-bzw. westeuropäisch sein, schneller oder langsamer in der ökonomischen und politischen (Um-) Entwicklung fortschreiten und, was uns hier interessiert, mehr oder weniger Einwanderungsoder Auswanderungsländer darstellen.
Dies soll hier nicht empirisch detailliert werden. Wichtig daran ist, daß sich von daher die Grenze zwischen Ost-und Westeuropa, zwischen Aus-und Einwanderung, als diffus -eher als ein Ländergürtel denn eine Staatsgrenze -und im Fluß befindlich darstellt. Polen z. B. ist (noch) Auswanderungsland nach Westen/Deutschland und zugleich Ein-oder Durchwanderungsland von östlicher Seite, d. h. gegenüber den SU-Nachfolgestaaten sowie nach Südosteuropa. Polen muß deshalb für die Durchlässigkeit seiner Grenzen nach Westen plädieren und gleichzeitig seine eigene Ostgrenze gegen Zuwanderung und unter bestimmten Umständen auch gegen Durchwanderung befestigen. Diese Konstellation ist keine Ausnahme: In einer solchen Lage befinden sich gleichfalls Ungarn und die Tschechoslowakei bzw. jetzt die Tschechoslowakische Republik, Slowenien und Kroatien, aber auch Bulgarien (gegenüber dem näheren und ferneren, nicht mehr europäischen Osten). Auch traditionell westliche Länder wie z. B. Österreich oder Finnland gehören, weil sie in vielen Fällen nur Transitländer bilden, zu diesem ost-west-europäischen Überlappungsbereich.
Für viele dieser Cordon-Länder gilt ein ähnliches politisches Kalkül. Obwohl sie inzwischen eigentlich nurmehr Transit-und nicht Letztzuwanderungsländer sind, unternehmen sie Grenzsicherung nach Osten -nicht nur im eigenen, sondern zugleich im Interesse Deutschlands und anderer westlicher Länder, von denen sie sich im Gegenzug z. B. Unterstützung für eine EG-Annäherung bzw. -Mitgliedschaft oder schlicht Finanzhilfen erhoffen.
Bulgarien z. B. möchte Deutschland dazu bringen, seine Grenzbefestigungen und Zuwanderer-Rückschiebungen mitzufinanzieren, weil es sich vorwiegend um Migranten handelt, deren Ziel eigentlich Deutschland ist. Für Polen läßt sich von einer Art „deal“ sprechen, der das Land in die EG führen soll: Offene Westgrenzen nach Deutschland, dafür Abschottung gegenüber Russen, Rumänen und anderen an der Ostgrenze
Eine eindeutige Grenze nach Osten stellt natürlich der EG-Raum dar. Allerdings weicht der angestrebte und erwartete EG-Beitritt mehrerer Länder des ehemaligen Ostblocks -mit den meisten bestehen bereits Assoziierungsabkommen -auch diese Grenze allmählich auf.
Das zweite wichtige Problem in diesem Zusammenhang ist eines der politischen Moral: In welchem Maße dürfen reichere -in diesem Fall westliche -Länder bzw. Gesellschaften ihre Grenzen gegen Zuwanderung aus ärmeren -in diesem Fall osteuropäischen -Ländern bzw. Gesellschaften abschotten, und welche Mittel dürfen sie zu diesem Zweck einsetzen? Weder ist nach westlichen Moralvorstellungen die völlige Abschottung gegenüber einer ärmeren oder in anderer Weise „unwirtlichen“ Umwelt und deren Bevölkerung legitim, noch ist dies jedes Mittel in der Politik der Zuwanderungskontrolle und -begrenzung.
Ereignisse wie die Verlegung von Soldaten an die österreichischen Ostgrenzen zur Grenzsicherung zwecks Zuwanderungsverhinderung oder, noch deutlicher, die militärische Rückführung von albanischen Flüchtlingen aus Italien über See haben heftige internationale Diskussionen über die Moral des Westens verursacht. Das Bild eines Eisernen Vorhangs mit umgekehrtem Vorzeichen hat viele im Westen tief verunsichert. Nach der Geschichte des „Eisernen Vorhangs“ läßt sich in Europa wohl nicht wie zwischen den USA und Mexiko eine Grenzbefestigung errichten die im übrigen auch dort keine wirksame Abschottung schafft. Von der deutsch-polnischen Grenze werden horrende Zahlen illegaler Grenzübertritte gemeldet. Die Grenzpolizei ist dieser Zuwanderung gegenüber bisher weitgehend machtlos: Auf der einen Seite erfolgt sie mit organisatorischer Unterstützung durch Schlepper; auf der anderen Seite bietet eine Berufung der Immigranten auf Asyl effektiven Schutz vor sofortiger Zurückweisung und Abschiebung. Die deutsche Politik hat sich, bei aller Grenzüberwachung, offenbar damit abgefunden, daß rd. 800 km (polnische und tschechische) Grenze nicht wirklich befestigt und überwacht werden können.
Aber was kann -und wird -die deutsche Politik im Hinblick auf den gesamten Immigrationsdruck aus Osteuropa tun? So wie oben bei der Darstellung der Problemlage weniger prognostisch als vielmehr empirisch gefragt und argumentiert wurde, so wollen wir uns hinsichtlich der Frage, was man zur Lösung des Problems der Zuwanderung aus Osteuropa politisch tun kann, nicht ins Normative oder Utopische verlieren, sondern auf das Machbare und, wenn möglich, auf das tatsächlich Erfolgende konzentrieren. Warum? Und was heißt das?
Erstens scheint es mir keine politisch hilfreiche -wenngleich vielleicht moralisch verständliche -Position zu sein, gegenüber dem Immigrationsdruck von seiten der Entwicklungsländer (sei es des Südens oder sei es neuerdings des Ostens) auf eigene Verursachung und Schuld des Westens zu verweisen. Ökonomische Ausbeutung der Dritten durch die Erste Welt ebenso wie europäischer Kolonialismus mögen ja die Weltmigrationsbewegung mitverursacht haben -obwohl derart pauschale und historisch ausgreifende Kausalitäten mir eher suspekt sind; die Folgerung, daß wegen dieser historischen Schuld die westlichen Länder eben mit unbegrenzter Immigration der Armen dieser Welt zu rechnen und fertigzuwerden hätten, liegt aber jenseits realistischer politischer Aufgaben und gesellschaftlicher Möglichkeiten.
Zweitens ist -gerade auch in der Politik -in den westlichen Gesellschaften realistisch mit wachsendem Immigrationsdruck zu rechnen sowie mit nur begrenzten Möglichkeiten einer Steuerung oder gar Verhinderung von Immigration. Dies hängt schlicht damit zusammen, daß die Welt immer mehr „zusammenwächst“: die Verkehrsverbindungen dichter und leichter nutzbar werden, die Infor-mationen sich intensiver und schneller verbreiten. Von daher wird Migration im Weltmaßstab erleichtert. Hinzu kommt eine wachsende Moralisierung der öffentlichen Welt-Meinung, die die westlichen Demokratien unter den Druck ihrer eigenen Werte setzt. Dies beschränkt die Alternativen der (Im-) Migrationspolitik.
Vor diesem generellen Hintergrund fragen wir -wie gesagt, eher empirisch als normativ -nach politischen Reaktionen auf den Immigrationsdruck aus Osteuropa, speziell aus deutscher Perspektive.
Sieht man einmal einerseits von den fragwürdigen, im Westen selbst umstrittenen Strategien einer militärisch oder grenzpolizeilich gesicherten Ostgrenze, andererseits auch vom Programm einer weitgehend offenen und durchlässigen Grenze (Deutschland als Einwanderungsland) ab, so spielen in der politischen Diskussion und Praxis vier Politiken eine zentrale Rolle: -Aussiedler-Kontingentierung, -Bilaterale Rücknahmeabkommen, -„Cordon sanitaire“ hinsichtlich Asylbewerbern und -Entwicklungshilfe zwecks Reduzierung der Auswanderungsneigung.
1. Aussiedler-Kontingentierung
Mit dem Aussiedleraufnahmegesetz von 1990 wurde praktisch bereits eine Kontingentierung des Aussiedlerzugangs in Gestalt von Jahresquoten ermöglicht. Die Größenordnung des angestrebten und tatsächlich erzielten Kontingents lag, wie die Jahre 1991 und 1992 gezeigt haben, bei gut 200000 jährlich.
Der im Dezember 1992 zwischen den Parteien erzielte politische Kompromiß über die zukünftige deutsche Asyl-und Einwanderungspolitik enthält auch Aussagen zum Aussiedlerzugang. Zwei Punkte sind dabei hervorhebenswert Erstens wird die in den Jahren 1991 und 1992 vollzogene Drosselung bzw. Kontingentierung des Aussiedler-zugangs für die Zukunft offiziell fest-und fortge-schrieben. Zweitens wird das sozusagen unbegrenzte Nachwachsen von Deutschstämmigen bzw. potentiellen Aussiedlern dadurch beendet, daß Personen, die nach Inkrafttreten des Kriegsfolgenbereinigungsgesetzes geboren werden, nicht mehr Aussiedler werden, d. h., sich nicht mehr auf den Art. 116 GG berufen können.
2. Rücknahmeabkommen
Ein bemerkenswertes politisches Instrument in unserem Zusammenhang bilden Rücknahmeabkommen zwischen Zugangs-und Herkunfts-(bzw. Transit-) land. Außer mit Polen besteht ein derartiges Abkommen seit Herbst 1992 zwischen Deutschland und Rumänien, geschlossen unter der Zusage von rd. 30 Mio. DM Finanzhilfe an Rumänien. Erste Rückführungen auf der Basis dieses Vertrags sind bereits erfolgt allerdings erklärten nicht wenige der „Rückgeführten“, daß sie wieder nach Deutschland einreisen wollten; gegenüber Polen ist die Rückführung bereits Routine
Daß sich Nachbarländer oder auch räumlich entferntere Emigrationsländer -wie z. B. Rumänien -in diese deutsche Politik „einspannen“ lassen, ist eigentlich verwunderlich, ergibt sich allerdings in der Regel aus dem Kontext eines „Deals“: von Deutschland wird im Gegenzug z. B. die Unterstützung einer angestrebten EG-Mitgliedschaft erwartet, oder es wird als „Entschädigung“ ein finanzieller Entwicklungshilfebeitrag vereinbart.
3. „Cordon sanitaire“ -PoIitik
In dem Maße, in dem es der deutschen Politik gelingt, ihre unmittelbaren Nachbarländer dazu zu veranlassen, insbesondere die Transit-Migration in Richtung Deutschland zu unterbinden, wird die Einwanderung nach Deutschland natürlich effektiv begrenzt. Die deutsche Bundesregierung verfolgt dieses Ziel der Abschottung Deutschlands mit Hilfe der Nachbarländer seit einiger Zeit. Dies ist die eigentliche Alternative zur mehr oder weniger militärischen Grenzbefestigung, die angesichts der Länge des Grenzverlaufs kaum aussichtsreich erscheint und zudem für Deutschland nicht eben image-förderlich wäre.
Der zwischen den Parteien erreichte asylpolitische Kompromiß liegt auf der Linie dieser „Cordon sanitaire“ -Politik. Demgemäß sollen zu sogenannten „sicheren Drittstaaten“, bei denen keine asyl begründende politische Lage angenommen wird, neben den EG-Staaten auch die östlichen Anrainerstaaten -Polen, Tschechoslowakische Republik und Österreich -erklärt werden. Immigranten könnten dann problemlos dorthin zurückgeschickt, d. h. abgeschoben werden. Sofern diese Länder -gegen Entschädigung von noch offenem Umfang -dabei mitmachen, ergäbe sich für Deutschland eine wirksame Abschottung gegenüber einer Zuwanderung aus Osteuropa
Wie die Diskussion im Anschluß an den Asylkompromiß gezeigt hat, ist dieser Modus der Migrationspolitik ebenso umstritten wie im Ergebnis wahrscheinlich effektiv. Die für Deutschland unter Migrationsaspekten so prekäre Ostgrenze würde „um ein Land“ nach Osten verschoben. Die Grenzsicherungsarbeit gegen unerwünschte Immigration aus dem Osten würde auf die „Cordon“ -Länder abgewälzt -unter (insbesondere finanzieller) Gegenleistung.
4. Entwicklungshilfe zur Verhinderung von Emigration
Statt ungewollt und unkontrolliert Immigranten aufzunehmen und sie unter hohen finanziellen und sozialen Kosten zu unterhalten oder zu integrieren, könnte in den Herkunftsländern Entwicklungshilfe geleistet werden, die das den größten Teil der Migrationsbewegung verursachende Wohlstandsgefälle vermindern würde. Entwicklungshilfepolitik also statt Asyl-oder Einwanderungspolitik.
Zwar ist angesichts der Reichtumsverteilung in der Welt von vornherein klar, daß kein einzelnes westliches Land die Armut dieser Welt zu beheben imstande ist (ebensowenig wie es alle Armen dieser Welt aufnehmen kann); daraus darf jedoch nicht der Schluß gezogen werden, nichts in dieser Richtung zu unternehmen. Jedenfalls im Hinblick auf den Migrationsfaktor Wohlstandsgefälle hilft -zu-mindest theoretisch -ein Wohlstandsausgleich und eine entsprechende Politik. Der Einwand, daß dieses Gefälle derart groß sei, daß es praktisch nicht ausgleichbar ist, ist zwar richtig, darf aber nicht zur Nicht-Politik führen.
Entwicklungshilfeprojekte mit dieser Intention, den Menschen den Verbleib bzw. die Reintegration in ihrer Heimat wirtschaftlich zu ermöglichen, gibt es inzwischen. Es lassen sich dabei zwei unterschiedliche Ansätze feststellen: a) Projekte, die die ökonomischen Bedingungen in den Herkunftsgebieten von Remigranten verbessern; b) Projekte, die im westlichen Land (in diesem Fall in Deutschland) in kontrollierter Weise Entwicklungshilfe „am Mann“ leisten a) Das bekannteste Beispiel der Entwicklungshilfe „vor Ort“ im osteuropäischen Migrationszusammenhang bildet das Projekt des Landes Nordrhein-Westfalen in Mazedonien (im ehemaligen Jugoslawien). Es wurde 1991 begonnen, als eine größere Gruppe von Roma nach abgelehntem Asylantrag zur Abschiebung anstand und sich mit Demonstrationen dagegen wehrte. Damals bot die Landesregierung von NRW freiwillig Rückkehrenden der Gruppe an, sie in ihrer Heimat (bzw. ihrem Herkunftsgebiet) durch ein großes infrastrukturelles Aufbauprojekt zu unterstützen. Neben finanziellen Leistungen an die Remigranten selbst sollten vor allem in der Heimat Wohnungen gebaut und Arbeitsplätze geschaffen werden. Zwar gestalteten sich die Projektverhandlungen mit der Herkunftsregion (Skopje in Mazedonien) wegen des Bürgerkriegs in Jugoslawien zäh und schwierig und war die Zahl der Rückkehrwilligen wegen entgegenstehender Propaganda des Roma-Verbands relativ gering, dennoch kam das Projekt tatsächlich in Gang b) Anders als das eben geschilderte Projekt, das erst nach erfolgter Migration einsetzte, geht es anderen Projekten um die Verhinderung von Migration. Von erheblicher Bedeutung ist in diesem Zusammenhang die von der Bundesregierung bzw.der Bundesanstalt für Arbeit seit einiger Zeit betriebene „Gastarbeiter“ -Politik: Im Rahmen bestimmter Kontingente werden aus ver-schiedenen osteuropäischen Ländern Arbeitskräfte mit zeitlicher Befristung zur Qualifizierung oder zur Arbeit nach Deutschland geholt. Diese -in quantitativ erheblichem Umfang vollzogene -Politik setzt auf die Bildung von Humankapital, das den potentiellen Emigrationsländern anschließend zugute kommen soll. Bekanntlich bedeutet Emigration ja in vielen Fällen einen volkswirtschaftlich schädlichen „Brain Drain“ für die betroffenen Länder.
Entsprechende Regierungsabkommen bestehen inzwischen mit einer ganzen Reihe von osteuropäischen Ländern. In Deutschland erfährt dieser Modus der Migrationspolitik allerdings zunehmend Kritik, vor allem im (besonders betroffenen) Baugewerbe, wo die osteuropäischen Werkvertragsarbeitnehmer die Konkurrenzverhältnisse tangieren
Eine Verbindung beider erwähnten Politikansätze enthält beispielsweise ein im Herbst 1992 initiiertes Programm der Bundesregierung, mit dem abgelehnte Asylbewerber aus Bulgarien erst noch eine berufliche Qualifizierungsmaßnahme durchlaufen, bevor sie in ihre Heimat zurückkehren (müssen)
Es ist völlig klar, daß alle Projekte der genannten Art „Tropfen auf den heißen Stein“ des Weltmigrationsproblems darstellen. Das spricht freilich mitnichten gegen sie. Es sollte mehr solcher Projekte geben. Die hohen Kosten ungewollter und erfolgloser Immigration der Zielländer sollten mehr und mehr in derartige Entwicklungshilfeprojekte umgeleitet werden. Auch sollte die Symbolik solcher Politik nicht unterschätzt werden.
IV. Fazit und Ausblick
Abbildung 7
Tabelle 4: Auswanderung aus Polen* (1985-1990) Quellen: Migration, (1991) 11-12, S. 167f.; Statistisches Jahrbuch Polens 1991.
Tabelle 4: Auswanderung aus Polen* (1985-1990) Quellen: Migration, (1991) 11-12, S. 167f.; Statistisches Jahrbuch Polens 1991.
Westliche Politik kann sich weder ungesteuerte und unbegrenzte Immigration leisten noch Attentismus gegenüber dem Migration verursachenden Wohlstandsgefälle in der Welt. Anders als für praktisch alle übrigen westlichen Länder, vor allem der EG, ist für Deutschland -schlicht aufgrund seiner geographischen Lage -der Immigrationsdruck aus Osteuropa vorrangig gegenüber demjenigen aus dem mediterranen Süden. Man muß nicht gleich von einer drohenden „Völkerwanderung“ reden, aber doch, wie die Empi-rie lehrt, von einem erheblichen Zuwanderungsdruck ausgehen, der eine politische Reaktion der Begrenzung und Kontrolle erforderlich macht.
Die Aussiedlerzuwanderung dürfte aufgrund der inzwischen ergriffenen Maßnahmen in Zukunft kontrolliert und quantitativ begrenzt erfolgen. Sie bleibt gleichwohl hoch. Ob bzw. in welchem Maße die angestrebte Politik der Asylzuwanderung durch Mobilisierung der Anrainerstaaten greift, hängt zunächst davon ab, ob der Parteienkompromiß in diesem Punkt überhaupt politisch umgesetzt werden kann. Ob dann die Anrainerstaaten dabei „mitspielen“ werden, ist auch noch nicht entschieden. Ihre Mitwirkung wird ihnen „abgekauft“ werden müssen. Aber selbst unter solchen Erwartungen wird ein gewisses Maß an illegalem Zugang nach Deutschland weiterhin zu gewärtigen sein.
An Entwicklungshilfeprojekten in der Absicht, die Menschen durch erträgliche wirtschaftliche Verhältnisse in ihren Heimatländern zu halten und nicht zur Emigration zu drängen, besteht weiterhin größter Bedarf. Dadurch, daß solche Projekte an konkreten Personen -Remigranten oder „Gastarbeitern“ -sozusagen festgemacht werden, unterliegen sie nicht denjenigen Problemen und (berechtigten) Kritiken, wie sie mit der konventionellen Entwicklungshilfepolitik normalerweise verbunden sind.
Volker Ronge, Dr. rer. pol., geb. 1943; Dipl. -Politologe; seit 1982 Professor für Allgemeine Soziologie an der Bergischen Universität Wuppertal. Veröffentlichungen u. a.: Von drüben nach hüben. DDR-Bürger im Westen, Wuppertal 1985; (Hrsg.) Berufliche Integration ausländischer Flüchtlinge, Wuppertal 1986; (Hrsg.) Der institutionelle Kontext der Sozialarbeit mit Flüchtlingen, Wuppertal 1989; Die Einheit ist erst der Anfang. Soziologische Lehren aus der Übersiedlerbewegung für die deutsch-deutsche Integration, Wuppertal 1991.
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