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Von der „sozialistischen“ zur „kapitalistischen“ Stadt | APuZ 12/1995 | bpb.de

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APuZ 12/1995 Von der „sozialistischen“ zur „kapitalistischen“ Stadt Stadtentwicklung in den neuen Bundesländern: Der Sonderfall Leipzig Von der grauen zur bunten Stadt Folgen des Umbruchs in Gotha Wittenberg auf dem Weg zur Normalität. Politischer und wirtschaftlicher Wandel in der Lutherstadt 1990 bis 1994

Von der „sozialistischen“ zur „kapitalistischen“ Stadt

Hartmut Häußermann

/ 33 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Stadtentwicklung in der DDR unterlag anderen Rahmenbedingungen als in den westlichen Ländern: Das Privateigentum an Boden war abgeschafft, die Entscheidung über sämtliche Investitionen lag in den Händen einer zentral geleiteten Bürokratie, eine kommunale Selbstverwaltung gab es nicht. Unter diesen Bedingungen hatten städtebauliche Leitbilder, die stark von politischen Zielen bestimmt waren, eine hohe Bedeutung. Vor allem der Umbau der Stadtzentren und die großen Neubaugebiete prägten die „sozialistische“ Stadt. Mit der Wiedervereinigung haben sich die Rahmenbedingungen für die Stadtentwicklung in Ostdeutschland grundlegend verändert: Privateigentum an Boden sowie die Einführung eines pluralistisch-demokratischen Entscheidungssystems lassen die Entwicklung der Städte zu einem komplexen Prozeß werden, in dem die Steuerungsmöglichkeiten für die öffentliche Planung geringer sind. Wie sehr sich dies auf eine Veränderung der Stadtstruktur und auf eine Verbesserung der Wohnverhältnisse auswirkt, hängt einerseits von der wirtschaftlichen Dynamik der Städte ab, andererseits vom Verlauf der Privatisierung der Immobilien. Die Reprivatisierung der Grundstücke führt zu neuen Eigentümerstrukturen. Kapitalgesellschaften aus dem Westen sind überwiegend die Träger von Investitionen. Zusammen mit den Tendenzen zur Deregulierung in Planungsprozessen und in der Wohnungsversorgung entstehen damit wahrscheinlich Strukturen, die auch für die Zukunft der westlichen Städte typisch sein werden.

Die Entwicklung der Städte unterlag in der DDR gänzlich anderen Bedingungen als in der Bundesrepublik. Es gab kein privates Bodeneigentum (mehr), alle Investitionen wurden zentralstaatlich gelenkt, und die kommunale Selbstverwaltung war lediglich eine Fassade. Stadtbild, Stadtstruktur und Wohnbedingungen konnten daher nach einheitlichen Kriterien für die gesamte DDR „gestaltet“ werden. Durch die Integration der DDR in das politische und ökonomische System der Bundesrepublik haben sich nun auch die Bedingungen für die Stadtentwicklung fundamental verändert.

Obwohl es keine einheitliche Vorstellung davon gab, wie eine „sozialistische“ Stadt sein sollte, können anhand einiger als besonders negativ geltender Merkmale der „kapitalistischen“ Stadt die Umrisse eines Gegenbildes skizziert werden: Im Sozialismus sollte sich die Nutzungsstruktur der Stadt nicht aus den Verwertungsinteressen der privaten Grundeigentümer, sondern aus politischen Festlegungen ergeben; das System der Wohnungsversorgung sollte soziale Ungleichheit nicht reproduzieren, sondern für alle Einwohner gleiche Bedingungen für eine „sozialistische Lebensweise“ herstellen; die Stadtstruktur sollte kompakt sein, damit die kollektiven Infrastruktureinrichtungen und die öffentlichen Verkehrsmittel gut erreichbar sind.

I. Steuerung der Stadtentwicklung

Die Entwicklung der Raum-und Nutzungsstruktur unterschied sich in „sozialistischen“ und „kapitalistischen“ Städten grundlegend: Während unter marktwirtschaftlichen Bedingungen die Stadt aus dem Zusammenwirken einer Vielzahl von Akteuren entsteht, konnten in der sozialistischen Stadt die Orte und die Art von Investitionen zentral festgelegt werden.

In der „kapitalistischen“ Stadt spielen die Entscheidungen der privaten Grundeigentümer eine zentrale Rolle. Zwar sind deren Interessen nicht vollkommen einheitlich, aber eine möglichst rentable Verwertung des Bodens kann als zentrales Allokationsprinzip „kapitalistischer“ Stadtentwicklung bezeichnet werden. Der politische Einfluß auf die Stadtstruktur bewegt sich auf dem schmalen Grat einer „öffentlichen Planung auf privatem Terrain“. Die Eingriffs-und Planungsmöglichkeiten der Stadtverwaltungen wurden seit der Gründerzeit zwar nach und nach erheblich erweitert, aber Stadtentwicklung ergibt sich im Grundsatz immer aus Kompromissen zwischen privaten und öffentlichen Interessen. Wo rechtlich die Stellung der öffentlichen Planung stark erscheint (z. B. Enteignungsrechte, Baugebote usw.), wird sie materiell durch den Schutz der Eigentümerinteressen wieder eingeschränkt (z. B. Entschädiguhgsregelungen).

Nach dem liberalen Verständnis von Stadtentwicklung, das sich nach den bürgerlichen Revolutionen des 19. Jahrhunderts in Deutschland zunächst weitgehend durchsetzte, entsteht die beste Stadt, wenn jeder Eigentümer sein individuelles Interesse verfolgt. Diese Art der „Produktion von Stadt“ funktionierte tatsächlich so lange, wie das Stadtbürgertum sich vor allem aus Eigentümern zusammensetzte, versagte jedoch ab dem Zeitpunkt, als besitzlose Massen in die Städte strömten und die Vermietung von Wohnraum zu einem eigenständigen Geschäftszweig werden konnte. Unter „reinen“ Marktbedingungen mußten nun Wohn-und Lebensverhältnisse entstehen, die von der bürgerlichen Gesellschaft insgesamt als Gefahr für die politische und sittliche Ordnung sowie für die Gesundheit der Bewohner wahrgenommen wurden. Seitdem setzt die öffentliche Planung den privaten Investoren einen Rahmen, der allerdings so zugeschnitten sein muß, daß er von diesen auch tatsächlich ausgefüllt, gleichsam „angenommen“ wird: Stadtplanung ist Kompromißbildung.

Diese Art von Stadtentwicklung kennt viele Akteure, die in einem prekären und komplexen Machtgefüge miteinander verflochten sind. Rechte sind unterschiedlich institutionalisiert (qua Eigentums-oder als Beteiligungs-/Partizipationsrechte) und führen zu komplizierten Entscheidungs-und Abstimmungsprozessen. Die „kapitalistische“ Stadt entwickelt sich aus einer Vielzahl dezentraler Einzelentscheidungen; der Einfluß der öffentlichen Planung hinsichtlich der funktionalen und sozialen Nutzungsstruktur darf getrost als gering bezeichnet werden. Die Stadt im Sozialismus entstand unter grundlegend anderen Rahmenbedingungen: Es gab keine private Verfügung über den Boden, alle Investitionen wurden staatlich gelenkt, die Entscheidungsprozesse waren streng hierarchisch gegliedert und sollten zentral koordiniert werden. Die Verfügung über den Stadtraum, über die Nutzungen, über Zeitpunkt und Ausmaß von Investitionen lag vollkommen in staatlicher Hand -ideale Voraussetzungen also für die Stadtplanung. Das Endprodukt „Stadt“ konnte in politischen und fachplanerischen Entscheidungsprozessen theoretisch konstruiert und dann planmäßig realisiert werden, da die staatlichen Organe über alle Instrumente verfügten, die Planung zu implementieren -über derartig umfassende Mittel verfügten früher nicht einmal die absolutistischen Landesherren. Der Begriff „Stadtentwicklung“ ist daher für die sozialistische Stadt im Grunde unangemessen, unterstellt er doch implizit einen Prozeß, in dem sich die Handlungen von verschiedenen (teil-) autonomen Akteuren bzw. Systemen in einem nur teilweise steuerbaren Prozeß verschränken.

Um zu verstehen, was die „sozialistische“ Stadt war bzw.sein sollte, wollen wir zwei Dimensionen der Stadtpolitik untersuchen: die Leitbilder des Städtebaus einerseits, die Machtstrukturen andererseits.

II. Leitbild der „sozialistischen“ Stadt

Unter den Bedingungen des „demokratischen Zentralismus“ haben Leitbilder für den Städtebau eine sehr viel größere Bedeutung für die Entwicklung der Städte gehabt als in den westlichen Ländern: Während bei privater Verfügung über den Boden städtebauliche Leitbilder nur den Rahmen für die Investitionen verschiedener Akteure abgeben, also nur stückweise und in der Regel unvollkommen realisiert werden können konnten sie unter den Bedingungen des Realsozialismus unmittelbar in die Praxis umgesetzt werden. Die Leitlinien der architektonischen Gestaltung waren in den Gründungsjahren der DDR durch eine antikapitalistische bzw. antiwestliche Stoßrichtung geprägt, wurden ab den sechziger Jahren jedoch immer stärker den technischen Determinanten der industriellen Bauproduktion unterworfen.

Anhand der Debatten über den Städtebau und anhand realisierter Beispiele lassen sich einige Merkmale des Strukturmodells „sozialistische“ Stadt bestimmen, die allerdings in annähernd „reiner“ Form nur in den „sozialistischen Idealstädten“ verwirklicht wurden. Kennzeichnend für die Stadt-anlage sind klare Ordnungsprinzipien, Achsen, zentrale Plätze und monumentale Umfassungen. Das Zentrum sollte durch ein Hochhaus hervorgehoben werden, das der „Größe und Bedeutung des Sieges des Sozialismus“ in Deutschland Ausdruck verlieh -eine symbolische Konkurrenz zum Kirchenbau in der vorindustriellen Stadt.

Die Straße sollte dem „Volk“ gehören. Magistrale und Zentraler Platz, die Instrumente des absolutistischen Städtebaus, wurden als Orte für „Fließ-und Standdemonstrationen“ konzipiert. Darin zeigen sich die Züge einer repräsentativen, traditionellen „Stadtbaukunst“, die 1953 ihren Höhepunkt in der DDR erreichte. 1950 hatte Walter Ulbricht -damals Erster Stellvertretender Ministerpräsident der DDR -selbst die Rückbesinnung auf nationale Traditionen proklamiert, ohne die Parallelen zum NS-Städtebau zu scheuen. Bereits 1949 war festgelegt worden, daß die zerstörte Stadt Berlin zumindest im Zentrum wieder als „urbane Metropole“ aus Ruinen auferstehen sollte -mit breiten Boulevards und festlichen Plätzen, mit herrschaftlichen Fassaden und monumentalen Einzel-bauten im Stile nationaler Bautradition -, in schroffer Absage an den im Westen kultivierten Gedanken der „Stadtlandschaft“. 1954 hat dann Nikita Chruschtschow die Abwendung vom aufwendigen konventionellen Bauen und die Hin-wendung zu einem modernen, industrialisierten Wohnungsbau ohne den inzwischen verhöhnten Zuckerbäckerstil proklamiert. 1955 folgte der entsprechende Kurswechsel in der DDR, der auch durch die Ereignisse vom 17. Juni 1953 beeinflußt war: Das Mißverhältnis zwischen der aufwendigen Bauweise bei den großen Projekten in den Großstädten einerseits und der allgemeinen Verschlechterung der Versorgungslage andererseits hatte zum Unmut auch der Bauarbeiter beigetragen. Das neue Motto für den Städte-und Wohnungsbau lautete: besser, billiger, schneller! Das war der Grundgedanke für die Plattenbauweise.

III. Stadtstruktur

Ein genereller Zug der sozialistischen Stadtkonzeption ist die hohe Aufmerksamkeit, die das Stadtzentrum genoß. Dessen besondere Bedeutung ist ausdrücklich in den „ 16 Grundsätzen zum Städtebau“ hervorgehoben, die von der Regierung der DDR im Jahre 1950 beschlossen worden waren. Dort heißt es: „Das Zentrum bildet den bestimmenden Kern der Stadt. Das Zentrum der Stadt ist der politische Mittelpunkt für das Leben seiner Bevölkerung. Im Zentrum der Stadt liegen die wichtigsten politischen, administrativen und kulturellen Stätten. Auf den Plätzen im Stadtzentrum finden die politischen Demonstrationen, die Aufmärsche und die Volks-feiern an Festtagen statt. Das Zentrum der Stadt wird mit den wichtigsten und monumentalsten Gebäuden bebaut, beherrscht die architektonische Komposition des Stadtplanes und bestimmt die architektonische Silhouette der Stadt. ... Das Antlitz der Stadt, ihre individuelle künstlerische Gestalt, wird von Plätzen, Hauptstraßen und den beherrschenden Gebäuden im Zentrum der Stadt betimmt (in den größten Städten von Hochhäusern). Die Plätze sind die strukturelle Grundlage der Planung der Stadt und ihrer architektonischen Gesamtkomposition.“

Die Tatsache, daß derartige Grundsätze von der Staatsregierung erlassen werden konnten, ist deutlicher Ausdruck des Zentralismus, dem der Städte-bau in der DDR unterworfen war. Die einheitliche Gestaltung der Zentren war daher auch Ausdruck des neuen ökonomischen und politischen Systems: Endlich konnten, ungehindert von kapitalistischen Partikularinteressen, „künstlerische“ Stadtbau-Konzeptionen durchgesetzt werden, in denen sich der Sieg des Sozialismus materialisieren sollte. Nicht Einzelbauten privater Bauherren, sondern ein Ensemble gesellschaftlicher Einrichtungen in einer geschlossenen Gesamtkonzeption sollte den Gemeinschaftscharakter der sozialistischen im Gegensatz zur widersprüchlichen und fragmentierten kapitalistischen Gesellschaft darstellen. Herausragende Einzelbauwerke sollten die Identifikation der Bewohner mit ihrer Stadt und ihrem Sozialismus fördern.

Funktional wurden die Stadtzentren mit Verwaltungs-, Kultur-, Handels-und Dienstleistungseinrichtungen gefüllt wie in jeder „kapitalistischen“ Stadt auch. Der Einzelhandels-und der Dienstleistungssektor waren stark im Zentrum konzentriert, und die Gebäude der „gesellschaftlichen Einrichtungen“ nahmen eine prominente Stellung ein. Nicht primär die Funktionsmischung selbst machte den Unterschied zur „kapitalistischen“ Stadt aus, sondern die Trägerstruktur und die Differenzierung innerhalb der Funktionen: Weil es keine Konkurrenz zwischen Handels-oder Dienstleistungseinrichtungen und kaum private Unternehmer gab, fehlte die kleinteilige Vielfalt und Mischung von Funktionen und Angeboten weitgehend, die die Stadtzentren in den westlichen Ländern kennzeichnen.

In deutlichem Gegensatz zur Tendenz in den kapitalistischen Städten, wo Umnutzungen zu einem beständigen Sinken der Einwohnerzahlen im City-Bereich führen, stand die Entwicklung der Wohnfunktionen im Zentrum der sozialistischen Städte: Da weder der Bodenpreis noch die Zahlungsfähigkeit der Bewohner für die Standorte des Wohnungsbaus relevant waren und weil es außerdem keine Konkurrenz durch expandierende tertiäre Betriebe gab, wurden in den Stadtzentren auch neue Wohngebäude errichtet. Die Zahl der Wohnungen war z. B. in der Innenstadt von Ost-Berlin im Jahre 1989 höher als vor dem Zweiten Weltkrieg.

Die Grundsätze des Städtebaus waren außerdem gegen die im Westen nach 1945 favorisierten Ten-denzen zur Durchgrünung und Auflockerung der Städte gerichtet: „In der Stadt lebt man städtischer; am Stadtrand oder außerhalb der Stadt lebt man ländlicher. Die vielgeschossige Bauweise ist wirtschaftlicher als die ein-oder zweigeschossige. Sie entspricht auch dem Charakter der Großstadt.“ Das war ein eindeutiges Bekenntnis zur kompakten, dichten Stadt mit der Tendenz zum Hochhausbau. Da es in den Großstadtregionen der DDR private Eigentumsbildung im Wohnungsbau, die in den westlichen Städten in der Nachkriegszeit zum Hauptträger der Stadterweiterung im Umland geworden war, nur in marginalem Umfang gab, fehlte die für westliche Städte typische Form der Suburbanisierung in den sozialistischen Städten vollkommen. Sie fand ausschließlich in der Form neuer Hochhaussiedlungen am Rande der Stadt statt.

Die SED-Stadtpolitik vollzog den sozialistischen Umbau der „kapitalistischen“ Stadt in einer Art Zangenbewegung: Einerseits wurde das Stadtzentrum mit Repräsentationsgebäuden des Sozialismus durchsetzt und mit Aufmarschplätzen akzentuiert, andererseits wurden an den Rändern jene „Gehäuse“ errichtet, in denen die „sozialistische Lebensweise“ ihren konkreten Ausdruck finden sollte. Während mit großangelegten Wohnungsbauprogrammen in den siebziger und achtziger Jahren mehr als zwei Millionen Wohnungen in Plattenbauweise neu gebaut wurden, verfielen die innerstädtischen Altbaugebiete weitgehend.

IV. Umgang mit Altbaugebieten

Die „alte“ Stadt wurde weitgehend liegengelassen. Dafür gab es eine Vielzahl von Gründen, von denen hier nur drei wesentliche genannt werden.

Erstens: Die alten Mietskasernenviertel galten als Ausdruck kapitalistischer Wohnverhältnisse, die im Sozialismus überwunden werden sollten. In den Großstädten wurde deshalb ihre vollständige Beseitigung (Flächensanierung) geplant. In den neuen Wohngebieten konnte hingegen die „Leistungskraft des Sozialismus“ augenfällig demonstriert werden. Da die Altbauten auf dem technischen Standard der Jahrhundertwende verblieben (Ofenheizung, Außentoilette, kein Bad) und durch den Verfall immer mehr Altbauwohnungen unbewohnbar wurden (im Jahre 1989 standen in der DDR insgesamt 200000 Wohnungen leer), hatten die Neubauwohnungen eine konkurrenzlose Attraktivität: Sie waren trocken und mit Bequemlichkeit bietender Technik (Zentralheizung, fließend Warmwasser, Innentoilette, evtl. Müllschlucker und Fahrstuhl) ausgestattet. Außerdem waren die notwendigen Infrastruktureinrichtungen (Kindergarten, Schule, Kaufhalle) vorhanden.

Zweitens: Die alten Mietshäuser befanden sich nach 1945 zunächst noch überwiegend in Privatbesitz, und die staatlichen Organe der DDR hatten keinerlei Interesse daran, diesen Besitz durch materielle Unterstützung bei Sanierung oder Modernisierung zu rentablen oder gar attraktiven Wohnhäusern zu machen. Bauhandwerksbetriebe gab es immer weniger, da die gesamte Baupolitik zunehmend auf die Entwicklung des industrialisierten Wohnungsbaus in großen Kombinaten orientiert war, und die Mieten waren auf so niedrigem Niveau festgelegt, daß Reparatur und Instandhaltung ohnehin nicht aus den Einnahmen hätten finanziert werden können. Die kommunalen Wohnungsverwaltungen weigerten sich häufig sogar, Altbauten als Geschenk in ihren Besitz zu übernehmen, weil ihnen damit die Last der Instandhaltung übertragen worden wäre

Drittens: Da die für die Baupolitik verantwortlichen Funktionäre an die Rationalisierungseffekte des industrialisierten Bauens glaubten, die freilich nie eintraten galt schließlich die eindeutige Bevorzugung des Neubauens vor der Sanierung auch als ökonomisch rational

In einer Vorstadt aus dem 18. Jahrhundert im Zentrumsbereich Ost-Berlins mußten noch im Jahre 1989 die Bewohner nachts die Bohrlöcher wieder zuschmieren, die tagsüber die Sprengtrupps gebohrt hatten, die mit der Beseitigung dieses historischen Stadtteils beauftragt waren. Es gab also Widerstand gegen die strikt auf Neubau orientierte Stadtpolitik -und manche Stadtsoziologen, die sich in empirischen Untersuchungen mit den Stimmungen der Bevölkerung vertraut gemacht haben, gehen sogar so weit, daß sie die Unzufriedenheit mit dem Verfall der Altstädte zu einem starken Motiv für den offenen Widerstand im Jahre 1989 erklären.

Die schlechtesten Altbaubestände wurden auch zu Abschiebestationen solcher Bevölkerungsgruppen, die sich nicht der besonderen Wertschätzung der Staatspartei oder einer gesellschaftlichen Organisation erfreuten: unangepaßte Personen („Asoziale“ oder „Querulanten“), alte Menschen, aber auch unqualifizierte Arbeitskräfte in den weniger wichtigen Beschäftigungsbranchen.

V. Soziale Segregation

Gab es also soziale Segregation -eine räumliche Aufteilung bzw. Separierung der Bewohner nach bestimmten sozialen Merkmalen? Es gab sie, obwohl es sie nicht geben durfte. Die „Annäherung der Klassen und Schichten“ war ein vorrangiges, immer wieder propagiertes Ziel der Gesellschaftspolitik der DDR, und im Wohnungsbau fand es seinen augenfälligsten Ausdruck. Soziale Segregation im Wohnbereich galt als Ausdruck der Klassengesellschaft, und ihre Beseitigung hätte „in den Städten der DDR ein wesentliches, vielleicht sogar das entscheidende Kriterium der sozialistisch-industriegesellschaftlichen Struktur sein“ müssen.

In den Städten war nur ein verschwindend kleiner Teil der Wohnungen Privateigentum, und nahezu alle Wohnungen wurden von der „kommunalen Wohnungsverwaltung“ verwaltet. Da die Mieten extrem niedrig waren und die Höhe zwischen verschiedenen Lagen und Qualitäten kaum differierte, spielte das Einkommen für die Wohnstand-ortwahl keinerlei Rolle. Die Wohnungen wurden nach bestimmten Kriterien vergeben, wobei der Grundsatz galt: pro Person ein Raum. Betriebe, gesellschaftliche Einrichtungen und Zweige der öffentlichen Verwaltung hatten eigene Vergabe-kontingente und dadurch bildeten sich sehr fein segregierte Gruppen in Gebäuden mit solchen „Kontingentwohnungen“.

Gegenüber der zuvor erwähnten diskriminierenden Ausgrenzung kleiner Randgruppen am unteren Ende der sozialen Hierarchie der DDR-Gesellschaft lebte die oberste Schicht der Nomenklatura in relativ privilegierten Wohnverhältnissen Die dazwischenliegende Masse der Bevölkerung wohnte sozialräumlich vergleichsweise gering segregiert -schon deshalb, weil die sozialen Unterschiede in der DDR-Gesellschaft insgesamt sehr gering ausgeprägt waren.

VI. Wer war der „Stadtbauherr“?

In der DDR hatten die Kommunen als eigenständige politische Instanzen faktisch keine Bedeutung Es gab 7 563 Gemeinden, die nach dem Gesetz als „örtliche Organe der Staatsmacht“ bezeichnet wurden. Sie hatten zwar nach der Ver-fassung eine „eigene Verantwortung für alle Aufgaben“, dies war jedoch lediglich Fassade, da sämtliche auch die Gemeinden betreffenden Beschlüsse im Rahmen der zentralen staatlichen Leitung und Planung (Verfassung der DDR, Artikel 41) getroffen wurden. Die Gemeindeverwaltung war „doppelt unterstellt“: dem Rat der Bezirke und den jeweiligen „Volksvertretungen“ (Gemeindeparlamente). Die jeweils übergeordneten Räte bzw. Fachverwaltungen konnten deren Beschlüsse aufheben und hatten ein Anweisungsrecht. Wichtige Bereiche einer Stadt kamen überhaupt nicht in die Entscheidungskompetenz der kommunalen Organe. Diese hatten kaum eigenständige Einnahmen, mit denen eine Haushalts-politik hätte betrieben werden können. Bei der Realisierung eigener und vorgegebener Ziele waren die Kommunen vollständig von den Ressourcen der örtlichen Betriebe abhängig.

Die volkseigenen Betriebe (VEB) und Kombinate bzw.deren Direktoren waren wichtigere Akteure auf der lokalen Ebene als die Kommunalpolitiker selbst. Die Betriebe verfügten über Sach-und Personalressourcen, die die Kommunen für ihre Zwecke von ihnen einwerben mußten. „Die örtlichen Verwaltungen mußten als Bittsteller ständig den Kontakt zu den Betrieben suchen, um Straßen, Sportanlagen oder Versorgungskomplexe bauen, unterhalten oder reparieren zu können, wobei die Betriebe ihrerseits Investmittel aus zusätzlichen Leistungen bereitstellten, die betriebsintern nicht bilanziert wurden, oder aber Arbeitskräfte abstellten, die der Produktion auf Zeit entzogen wurden.“ Da die Bauabteilungen der Kombinate in der Regel nicht ausgelastet waren, konnten sie für kommunale Zwecke eingesetzt werden. Außerdem unterhielten große Betriebseinheiten eigene Kinderkrippen, Kindergärten, medizinische Einrichtungen, Sportstätten und Sozialdienste. Die Arbeitsbrigaden veranstalteten regelmäßig Feierabendfeste („Betriebsvergnügen“) und organisierten Ausflüge; auch die Beteiligung an den offiziell angeordneten Aufmärschen, Staatsakten und Parteiveranstaltungen wurde von den Betrieben organisiert und finanziert. Die Kulturarbeit (Musik-, Theater-und Gesangsgruppen sowie andere Kulturzirkel) fiel weitgehend in die Verantwortung der Betriebe. Die großen Betriebe verfügten außerdem über Wohnungseigentum und Ferienanlagen, die sie selbständig bewirtschafteten und verwalteten.

Im gesellschaftlichen System der DDR wurde der Betrieb zum zentralen Ort der Lebensorganisation.

Die großen Betriebe waren zentrale Verteilstellen von Ressourcen und Orte, von und an denen soziale und kulturelle Dienstleistungen organisiert wurden. Sie verteilten Prämien und beschenkten ihre Mitglieder zu allen möglichen Gelegenheiten -kurzum, der Betrieb hatte sowohl familiäre als auch umfassende Fürsorgefunktionen, die mit denjenigen der Grundherren im Feudalsystem vergleichbar sind

Obwohl es rechtlich -in der Diktion an die Tradition der bürgerlichen Selbstverwaltung in den deutschen Städten erinnernd -die Institution einer gewählten lokalen Regierung gab, war die Selbstbestimmung der Gemeinden doch faktisch vollkommen aufgehoben -und zwar umfassend: personell, weil es keine freien Wahlen gab, sondern die Bürgermeister von der Partei ausgewählt und kontrolliert wurden; finanziell, weil die Gemeinden; nur über minimale eigene Einnahmen verfügten, so daß sie keine Investitionen aus eigenen Ressourcen vornehmen konnten; sozial, weil der Mittelstand und das Bildungsbürgertum, die traditionell den Kern der kommunalen Selbstverwaltung bildeten, einerseits systematisch destruiert und andererseits von den politischen Entscheidungsmöglichkeiten ferngehalten wurden. Im Entscheidungsprozeß waren die Gemeinden abhängig von den übergeordneten Kreisräten und von den selbständig agierenden Betrieben, die ihrerseits in vertikale Strukturen eingebunden waren, bei denen die Entscheidungen von der zentralen Plan-kommission ausgingen. Da außerdem die private Bautätigkeit rechtlich und ökonomisch nahezu vollständig lahmgelegt worden war, waren alle dynamischen Elemente einer kommunalen Selbstverwaltung neutralisiert.

VII. Der Übergang zur „kapitalistischen“ Stadt nach der Wende

Wir haben bei der Betrachtung der „sozialistischen“ Stadt einige Merkmale festgestellt, die sie vom Typus der „kapitalistischen“ Stadt unterscheiden: -das als dominant geplante und „künstlerisch“

gestaltete Stadtzentrum mit der Konzentration öffentlich organisierter Einrichtungen auf der Basis einer umfassenden staatlichen Verfügungsgewalt über den Boden;

-die planmäßige Sicherung der kompakten Stadt durch einheitlichen staatlichen Großsiedlungsbau und durch die Verhinderung von Suburbanisierung in der Form des Einfamilienhauses;

-den großflächigen Verfall der Altbaugebiete;

-die geringe bzw. andere soziale Segregation;

-die materielle Austrockung der politischen Entscheidungsgewalt über örtliche Angelegenheiten und ihre Fragmentierung in Betriebspolitik einerseits, übergeordnete staatliche Fach-und Territorialpolitik andererseits.

Mit der Integration der DDR in die Bundesrepublik änderten sich die wichtigsten Parameter dieses Typus: Die Wiedereinführung von privatem Eigentum begrenzt die umfassenden Planungsmöglichkeiten und eliminiert die Möglichkeiten zur direkten Realisierung von Stadtstrukturvorstellungen; die nun eingeführte finanzwirtschaftlich bedingte Konkurrenz zwischen den Gemeinden und Städten hat außerdem zur Folge, daß unerwünschte Struktureffekte nicht verhindert werden können (Stadt-Umland-Konkurrenz insbesondere beim Handel); das Ende des staatlichen Wohnungsbaus und die massive Förderung von Privat-investitionen in diesem Bereich veränderten die Bedingungen von Wohnungsbau und -Versorgung ebenso grundlegend wie die Reprivatisierung von Haus-und Grundeigentum; die schrittweise Einführung einer an der Wirtschaftlichkeit orientierten Berechnung der Miete und die Übertragung des bundesrepublikanischen Mietrechts schaffen ein neues Machtgefälle zwischen Mietern und Vermietern schließlich tritt mit der Reetablierung der kommunalen Selbstverwaltung ein neuer politischer Akteur auf den Plan, der über mehr formale Rechte verfügt, aber auch sehr viele neue Aufgaben zu bewältigen hat: Eigenständige Finanzwirtschaft, Stadtsanierung, Bauleitplanung, Umwelt-, Sozial-und Arbeitsmarktpolitik sind Bereiche, die in den Stadtverwaltungen der DDR nur eine geringe oder gar keine Rolle spielten.

Diese Veränderungen traten mit dem Beitritt der DDR zur Bundesrepublik formal über Nacht in Kraft, aber ihre materielle Wirkung entfalten sie erst nach und nach, denn soziale, politische, institutionelle, räumlich-bauliche und schließlich mentale Strukturen ändern sich langsamer. Die sozial-räumlichen und funktionalen Veränderungen sind in denjenigen Orten am schnellsten und deutlichsten spürbar bzw. sichtbar, wo es eine vergleichsweise dynamische wirtschaftliche Entwicklung gibt bzw. diese erwartet wird, wie das etwa in Leipzig der Fall ist. Diese äußert sich zuerst im Immobiliensektor, wo im Bodenpreis und in Neubauprojekten eine spekulativ oder prognostisch angenommene zukünftige Entwicklung ihren Ausdruck findet. Die neue wirtschaftliche Entwicklung zeigt sich daher zunächst vor allem als „ImmobilienKapitalismus“, denn im gewerblichen Bereich ging per Saldo eine sehr große Zahl von Arbeitsplätzen verloren. An den Orten, die im Windschatten zukünftiger Ertragserwartungen liegen, ändert sich hingegen zunächst wenig. In vielen Kleinstädten haben sich zwar Bausparkassenbüros und Versicherungsfilialen etabliert, Eduscho-Depots sind neonbeleuchtet, aber der Geruch von Stagnation und Depression ist nicht verflogen.

Langsamer Wandel bei Sanierung und Modernisierung wird heute von vielen Seiten als Defizit der Wiedervereinigung gewertet. Die Überlagerung von tradierten Strukturen, Gewohnheiten, Mentalitäten und politischen Orientierungen mit einem vollkommen revolutionierten institutioneilen und rechtlichen Rahmen ist sicher eine Besonderheit der Transformationsphase -eine noch nicht zu beantwortende Frage ist, ob es dadurch in den ostdeutschen Städten und Gemeinden langfristig zu einer vom Westen abweichenden Entwicklung kommen wird. In Ostdeutschland sind andere Vorstellungen über soziale Gerechtigkeit verbreitet als in Westdeutschland, die auch für die Stadtpolitik relevant sind: Die Unkündbarkeit der Wohnung beispielsweise wurde als Grundrecht hoch geschätzt, und das Machtgefälle zwischen Vermieter und Mieter, das mit dem neuen System der Wohnungsversorgung etabliert wurde, findet nur bei den Eigentümern Beifall. Auch wird nicht als selbstverständlich angesehen, daß die Höhe des Einkommens für Standard und Standort der Wohnung entscheidend sein soll; ebensowenig, daß Obdachlosigkeit ein unvermeidliches Resultat einer effektiven Wohnungspolitik sein soll Ob sich diese sozialethischen Orientierungen irgendwann in einem eigenständigen Weg der Kommunalpolitik äußern werden, bleibt abzuwarten. Die Rahmenbedingungen für Stadt-und Kommunalpolitik sind möglicherweise auch im neuen System so eng gesteckt, daß der gegenwärtige Wandel in eine bloße Anpassung an „westliche“ Verhältnisse münden wird.

VIII. Die neuen „Stadtbauherren“ oder: Wem gehört die Stadt?

Während im sozialistischen System die Stadt eindeutig dem Staat bzw.der Partei gehörte, werden die Karten seit 1990 neu gemischt. Demokratisch gewählte Gemeindeparlamente und Bürgermeister haben es mit einer sozialen Organisation der Stadt zu tun, bei der eine Vielfalt von Akteuren aus eigenem Recht und mit eigener Macht an der Stadtentwicklung mitwirken: die privaten Grundeigentümer, die neuen Investoren und Developer, die Wohlfahrtsverbände und die „Träger öffentlicher Belange“ (wie z. B. das Arbeitsamt), die Wohnungsbaugesellschaften, die Kammern und Verbände, Bürgerinitiativen und Parteien, übergeordnete Behörden mit Kontrollrechten und Förderangeboten, lokale und überlokale Öffentlichkeit usw. Stadtpolitik wird zu Stadtmanagement in einem komplexen Geflecht von unterschiedlichen Interessen, in dem formale Rechte und Regelungsinstrumente nur dann effektiv genützt werden können, wenn man sie gut kennt und richtig einzusetzen weiß. Das ist eine Frage eines mit den neuen rechtlichen und ökonomischen Bedingungen vertrauten Fachpersonals, die besonders hohe Bedeutung hat, wenn sehr viele Entscheidungsprozesse gleichzeitig und unter hohem Zeitdruck ablaufen sollen. Und das ist das Mindeste, was von den neuen Stadtverwaltungen erwartet wird: daß sich möglichst viel möglichst rasch, aber auch in die richtige Richtung verändert und bewegt. Daß unter solchen Bedingungen vielerorts gerissene Geschäftemacher zunächst leichtes Spiel hatten, andernorts die unbewältigte Komplexität in eine blockierende Lähmung führte, ist kaum verwunderlich.

Im Vergleich zur alten Bundesrepublik gibt es in Ostdeutschland sehr viel mehr Gemeinden. 81, 1 Prozent der Gemeinden in den neuen Bundesländern haben weniger als 5 000 Einwohner, fast die Hälfte weniger als 500! Das wird sich durch die anstehende Gebietsreform zwar verändern, aber dies ist die Situation, in der die Wende auf die kommunale Ebene kam. Die kleinen Gemeinden haben in der Regel kein Fachpersonal, oft überhaupt nur ehrenamtliche Verwaltungskräfte -und diese sollen den nunmehr losgelassenen „Tiger reiten“.

In den großen Städten wurde für die Führungspositionen rasch Personal aus den alten Bundesländern rekrutiert und eine Parteienkonkurrenz auch in der Lokalpolitik etabliert, aber in der Masse der Kommunen sahen sich die „Außenseiter als Politiker“ mit Interessen und Verhandlungspartnern (aus dem Westen) konfrontiert, denen sie weder vertrauen konnten noch gewachsen waren. Dies gilt keineswegs nur für Haus-und Grundstückskäufer oder Gewerbetreibende, sondern auch für Beratungs-und Planungsfirmen, die im Auftrag der Gemeinden tätig werden wollten. Denn Bauleitpläne mußten entworfen, Anträge für Förderungsprogramme formuliert und Investitionen geplant werden. Da gleichzeitig die Fach-aufsicht auf der Landesebene vor ähnlichen Problemen stand, wurden in der grauen Übergangszone Entscheidungen getroffen und Gutachten bestellt, deren Wert gleich Null war oder die in eine falsche Richtung wiesen. Ein Beispiel dafür sind die überdimensionierten Kläranlagen, die vielen Gemeinden von angeblich fachkundigen Planungsbüros aufgeschwatzt wurden und an deren Folgekosten sie noch lange zu tragen haben werden. „Zuerst kamen die Discounter, die schnelles Geld machen wollten, dann die Makler und Juristen, die altes Eigentum requirieren; schließlich die Consulter, die alles versprechen, aber selber nichts können, und last, not least die Qualifizierer,, die dem Ostdeutschen klarmachen, was er noch alles lernen muß.“

Zum Teil ist dies darauf zurückzuführen, daß in fast allen Städten und Gemeinden das politische Führungspersonal nach den ersten Kommunalwahlen im Jahre 1990 komplett ausgetauscht wurde, weil das frühere politisch belastet und/oder unfähig war. Die nun in die Ämter gekommenen Personen hatten verständlicherweise keine administrative Erfahrung, waren sie doch als Dissidenten und Opponenten zuvor von jeglicher Mitwirkung ausgeschlossen. Zudem lagen ihre politischen Ideale auf einer höheren Etage des Problemhorizonts als Kläranlagen oder Gewerbegebiete.

Aber nicht nur kurzfristige und ohne ausreichende Informationen getroffene Entscheidungen wirken in die Gegenwart und in die Zukunft hinein, sondern auch soziale und gebaute Strukturen aus der Vor-Wende-Zeit. Da in den Städten und Gemeinden eine bürgerschaftliche Organisation jenseits der Kontrolle der SED nicht möglich war, ist jener assoziative bzw. verbandliche Unterbau des politischen Institutionensystems verschwunden, der unverzichtbare Voraussetzung einer kommunalen „Selbstverwaltung“ ist, weil sich dort bürgerschaftliche Interessen bündeln und bilden, und der zudem typischerweise das Rekrutierungsfeld für die Lokalpolitik darstellt. Da in der DDR alles „Bürgerliche“ behindert und sozialstrukturell ausgetrocknet worden war, fehlte nach der Wende zunächst das soziale Substrat einer bürgerlichen Selbstverwaltung, das selbstbewußte lokale Eliten ausbildet.

IX. Entwicklung der Stadtstruktur

Die sozialräumliche Struktur der „sozialistischen“ Stadt verändert sich zwar nur allmählich, aber aller Voraussicht nach grundlegend: a) Den raschesten Veränderungen unterliegt die Gewerbestruktur und deren räumliche Verteilung. Davon sind die inneren Bereiche der großen Städte am stärksten betroffen, denn auf diese richtete sich als erstes das Interesse von Immobilien-und Handelskapital. Die direktesten Auswirkungen der Wende vor der eigenen Haustür hatte die Kommerzialisierung des Stadtraumes, die sich -als Folge der Einführung eines Bodenpreises und entsprechender Mieten -in rigorosem Nutzungswechsel und einer knalligen Veränderung des Stadtbildes niederschlug. Nicht nur die angebotsarmen „Verkaufsstellen“ und die kundenfeindlichen gastronomischen Betriebe mußten weichen, sondern auch alle jene einwohnerfreundlichen Einrichtungen, die sich unter den neuen Bedingungen „nicht rechneten“: Anlaufstellen für hilfebedürftige Einwohner, Bibliotheken und kulturelle Einrichtungen, Jugendclubs und „SERO“ -Sammelstellen.

Aber das neue Gewerbe beschränkte sich nicht auf die Besetzung der Innenstädte, sondern breitet sich ebenso -mancherorts vor allem -im Umland aus. Dort war Platz für Automobilausstellungen vorhanden, und dort waren kurzfristig Baugenehmigungen für die Errichtung von großflächigen Einkaufszentren zu bekommen. Nach der raschen Automobilisierung der Kunden war das Fehlen von Verbindungen mit dem öffentlichen Nahverkehr kein Hindernis mehr Aus den grauen Quartieren der verfallenden Vorkriegshäuser und der Plattenbauten pendeln nun die Konsumenten in ihren bunten Autos in die grellen Gewerbezonen am Stadtrand, während die neuen Eigentümer der innerstädtischen Grundstücke mit dem Umbau oder Abriß der dortigen Gebäude den Wettlauf um die Dominanz als Einkaufsort aufnehmen. b) In Gang gekommen ist auch die Suburbanisierung des Wohnens. Developer, Wohnungsbaugesellschaften und viele Einzelpersonen machen sich -massiv gefördert durch Steuererleichterungen -daran, dem Umland endlich jene Form zu geben, die der Sozialismus so lange verhindert hatte: Siedlungslandschaften mit gutem Straßenanschluß. Die Konkurrenz zwischen den Stadtgemeinden und ihrem Umland um die (noch relativ seltenen) gut verdienenden Einwohner ist in vollem Gange. c) Befördert wird dieser Prozeß durch die unerwartet lange Dauer der Sanierung, Instandsetzung und Modernisierung der Altbaubestände. Diese kommt einerseits dadurch zustande, daß die durch die Restitutionsregelung notwendig gewordene Klärung der Eigentumsverhältnisse mehr Zeit in Anspruch nimmt, als man sich zum Zeitpunkt der Aushandlung des Einigungsvertrages vorstellen konnte, und andererseits dadurch, daß die neuen Eigentümer häufig nicht über genügend Kapital und/oder Interesse an ihrem unverhofft gewonnenen Hauseigentum verfügen, um sofort mit den notwendigen Erneuerungsarbeiten zu beginnen. Da bei ungeklärten Eigentumsverhältnissen am Haus keinerlei Investitionen vorgenommen werden -und von den Mietern nicht vorgenommen werden dürfen -, geht der Verfall weiter.

X. Die Wirkungen des Prinzips „Restitution vor Entschädigung“

Der Grundsatz, daß früheres Privateigentum an die Eigentümer bzw.deren Erben zurückgegeben werden muß, -kurz vor dessen Abschluß in den Einigungsvertrag aufgenömmen -wird heute vielfach als eine der weitreichendsten Fehlentscheidungen im Einigungsprozeß angesehen. Er stellt in gewisser Hinsicht eine „Revolution rückwärts“ dar, weil Eigentumsverhältnisse, die in der vierzigjährigen DDR-Zeit mehr oder weniger grundlegend umgestaltet worden waren, wieder auf den Stand von 1949 gebracht werden.

Insgesamt sind bis Ende 1992 (das war die Frist, bis zu der entsprechende Anträge bei den Ämtern für die „Regelung offener Vermögensfragen“ gestellt werden konnten) 1, 8 Millionen Vermögensansprüche auf Immobilien und Grundstücke angemeldet worden. Das betrifft etwa 15 Prozent des gesamten Wohnungsbestandes und ca. 30 Prozent der Altbauwohnungen, die sich allerdings in den Städten, und dort wiederum in bestimmten Gebieten konzentrieren. So gibt es z. B. in Berlin oder Leipzig Quartiere, wo bis zu 90 Prozent der Wohnungen mit Restitutionsanträgen belegt sind.

Der gesetzlich garantierte Rückübertragungsanspruch führt nicht in allen Fällen zur Wiederherstellung der alten Grundstücksgrenzen, und schon gar nicht zur Rekonstruktion der alten Eigentümerstruktur. Um die rasche Verwertung und Bebauung solcher Grundstücke sicherzustellen, auf die sich im neuen Koordinatensystem der Stadtentwicklung das Interesse kapitalkräftiger Investoren richtet, wurde mit dem „Investitionsvorranggesetz“ der Rückübertragungsanspruch in eine bloße Entschädigungsregelung umgewandelt, wenn andere als die alt-neuen Eigentümer ein überzeugenderes Investitonskonzept (mit dem Versprechen einer baldigen Realisierung und mit der Verpflichtung zur Schaffung von Arbeitsplätzen) vorlegen konnten. Damit sollte die wirtschaftliche und städtebauliche Erneuerung beschleunigt werden, denn kapital-schwache oder spekulationswillige Alt-Eigentümer hätten Grundstücke einer raschen Wiedernutzung vorenthalten können. Mit Hilfe des Investitionsvorranggesetzes konnten verschiedene, früher private Einzelgrundstücke zu größeren Investitionsflächen zusammengefaßt und einer „modernen“ Strategie der Stadtentwicklung zur Verfügung gestellt werden.

In der DDR hatte sich ein seltsames Nebeneinander von alter Eigentumsstruktur und neuer Verfassungsrealität, nach der es kein Privateigentum an Boden geben durfte, entwickelt, das dazu führte, daß viele Eigentumsübertragungen weder vollständig dokumentiert noch rechtskräftig vollzogen worden sind. Bei Fortbestehen der sozialistischen DDR wäre daraus ja auch kein Problem erwachsen. Nun aber richten sich in sehr vielen Fällen gleich mehrere Rückübertragungsansprüche (manchmal von bis zu zehn verschiedenen Parteien) auf dasselbe Grundstück. Die rechtliche Klärung braucht Zeit, auch deshalb, weil die Ämter personell unterbesetzt sind und die Aktenlage unvollständig ist. Noch ist nicht einmal die Hälfte der Restitutionsanträge von den Ämtern entschieden, und danach kann es noch zu langwierigen gerichtlichen Auseinandersetzungen kommen.

Die Restitutionsregelung ist jedoch nicht nur unter dem Gesichtspunkt der Praktikabilität und der Effizienz für die zukünftige Stadtentwicklung zu betrachten, sie hat vielmehr tiefgreifende sozialethische und moralische Dimensionen, die in der aktuellen Diskussion aber freilich kaum eine Rolle spielen: Einerseits steht hier die deutsche Geschichte als Gespenst plötzlich wieder mitten in der Stadt, denn beim größten Teil der Restitutionsansprüche in den Städten handelt es sich um Anträge früherer jüdischer Eigentümer; andererseits tritt die neue Rechtsordnung den Bewohnern von Altbauten häufig genau so entgegen, wie die DDR-Propaganda den Kapitalismus immer dargestellt hat: als stärkeres Recht des Eigentums gegenüber den sozialen Ansprüchen der Bewohner Die deutsche Geschichte kommt als Gespenst zurück, weil die Restitutionsregelung dazu zwingt, die Eigentumsgeschichte von Grundstücken und Häusern bis zurück in die Weimarer Republik zu rekonstruieren. Das führt dazu, daß nun die Erben von früheren jüdischen Bürgern nicht nur mit den neuen Eigentümern, die dies zu DDR-Zeiten geworden sind, um ihre alten Rechte streiten müssen, sondern manchmal auch mit den Erben der Ariseure, die sich das unter Zwang verkaufte oder von den Nazis akquirierte Eigentum angeeignet haben -möglicherweise auf eine den damaligen Verhältnissen entsprechende legale Weise. Wenn keine jüdischen Erben mehr am Leben sind, weil die nationalsozialistische Vernichtungsmaschinerie tatsächlich die Familie ganz ausgelöscht hat, kann die „Jewish Claims Conference“ deren Rechte wahrnehmen und die Immobilie (oder den Rechtsanspruch darauf) verkaufen, wobei der Erlös einem Fonds für die Opfer des Holocaust zugeführt wird. Nur in wenigen Fällen kommen die Nachfahren von Emigranten oder Ermordeten in eine deutsche Stadt zurück, um die alte Eigentümer-tradition tatsächlich wieder mit Leben zu erfüllen. Daß dies aber überhaupt denkbar und möglich ist, muß angesichts der Verbrechen, die den Ausgangspunkt für die heutigen Probleme bildeten, als ein versöhnlicher Aspek't der Restitutionsregelung gesehen werden.

Aber die Regelung zur Rückübertragung von Eigentumsansprüchen hat auch andere Wirkungen. Der Regelfall ist, daß keine Erben mehr leben bzw. daß diese kein Interesse an einer eigenen Nutzung haben. Dann werden entweder die Rückübertragungsansprüche oder die rückübertragenen Grundstücke und Häuser rasch verkauft. Auf diesem Wege entstehen neue Grundstücks-größen und eine neue soziale Struktur der Eigentümer von städtischen Immobilien.

Zumindest in den Innenstädten sind die Aufkäufer nicht mehr private Einzelpersonen, sondern Grundstücksverwertungsgesellschaften, Immobilienfonds und Developer aus dem westlichen In-und Ausland. Grundstückszuschnitte entsprechen nicht mehr den Parzellengrößen, in denen sich die traditionelle „europäische Stadt“ entwickelt hatte, sondern umfassen so große Areale, daß „moderne“, großmaßstäbliche Entwicklungskonzepte umgesetzt werden können. Eigentümer der Innenstädte werden nicht wieder alte Handels-oder Handwerkerdynastien, sondern offene oder geschlossene Immobilienfonds, internationale Immobilienfirmen und Zwischenhändler aller Art. Das Immobilienkapital tritt als „Stadtentwickler“ mit einer Bedeutung und mit finanziellen Möglichkeiten auf den Plan, wie dies bisher in deutschen Städten nicht bekannt war. Da die steuerlichen Abschreibungsmöglichkeiten in den neuen Bundesländern äußerst großzügig bemessen sind, ist für die Kapitalgeber nicht nur die Höhe der Investition, sondern auch die Art der Nutzung und sogar die Rentabilität sekundär. Damit wurden die Grundstückspreise und erforderlichen Summen so in die Höhe getrieben, daß keine Einzelpersonen -und schon gar nicht solche aus dem Osten Deutschlands -mehr Träger von neuen Investitionen sein können. Eine Entlokalisierung und Anonymisierung der Eigentümer-struktur ist die zwangsläufige Folge. Jetzt, wo die kommunale Selbstverwaltung wieder eingeführt wurde, verflüchtigt sich jene bürgerliche Eigentümerstruktur, die das soziale Substrat einer eigenständigen Entwicklung bilden müßte.

XI. Neue Strukturen der sozialen Segregation

41 Prozent der Wohnungen in der DDR gehörten im Jahr 1990 dem Staat bzw.den Gemeinden. Dieses Eigentum ist inzwischen auf ca. 1200 kommunale oder genossenschaftliche Wohnungsunternehmen aufgeteilt worden. Bis Mitte 1995 werden die Mieten für diese Wohnungen (wie zu DDR-Zeiten) gesetzlich festgelegt; danach soll das Vergleichsmietensystem gelten. Da nach der Abschaffung des Gemeinnützigkeitsgesetzes diese -überwiegend in öffentlicher Hand befindlichen -Wohnungsbaugesellschaften rentabilitätsorientiert wirtschaften müssen wie jedes andere private Unternehmen auch, hängt es allein von ihrer Geschäftsführung ab, ob und in welchem Maße sie Funktionen im Rahmen einer sozialen Wohnungspolitik übernehmen, die der „soziale Wohnungsbau“ im Westen aufgrund der Sozialbindungen noch erfüllt, denn einen Altbestand an sozialem Wohnungsbau wird es in den neuen Bundesländern nicht geben.

Anstelle der vordem staatlichen Wohnungsversorgung wird eine neue Eigentümerstruktur auf verschiedenen Wegen etabliert: Einerseits werden frühere Eigentumsverhältnisse wiederhergestellt („Rückübertragung“), andererseits wurde das „volkseigene“ Vermögen den neugegründeten Wohnungsgesellschaften der Gemeinden übergeben. Ihnen gehören nun sämtliche Neubauwohnungen, die seit 1949 in staatlicher Regie errichtet wurden, sowie jene Altbaubestände, die auf verschiedenste Weise in das Eigentum des DDR-Staates übergegangen waren.

In Ostdeutschland wohnt jeder vierte Einwohner in einem Plattenbau in einer Großsiedlung am Stadtrand. Schon diese Größenordnung läßt darauf schließen, daß die Bewohnerschaft sozial-strukturell stark gemischt ist -und tatsächlich haben die Bewohner dieser Wohngebiete einen durchschnittlich hohen Bildungsstand sowie häu-fig überdurchschnittliche Haushaltseinkommen. Die dortigen Sozialstrukturen sind also sehr verschieden im Vergleich zu den westdeutscher Großsiedlungen. Dies kommt daher, daß der Bezug solcher Wohnungen zu DDR-Zeiten im Regelfall eine Verbesserung der Wohnbedingungen bedeutete und deshalb allgemein begehrt war.

Mit den Wohnungen haben die kommunalen Gesellschaften auch 36 Milliarden DM Schulden auferlegt bekommen, die vom Bundesfinanzminister aus den Bilanzen des DDR-Staatshaushaltes errechnet wurden. Den städtischen Wohnungsbaugesellschaften (und auch den Wohnungsbaugenossenschaften) war es dadurch unmöglich gemacht, ihre Bestände sofort und freihändig zu verkaufen oder gar zu verschenken Da die Mieteinnahmen gesetzlich geregelt wurden (und höhere bei den niedrigen Durchschnittseinkommen im übrigen auch ohne eine solche Regelung nicht zu erzielen gewesen wären) und gleichzeitig erhebliche Instandhaltungs-und Modernisierungsmaßnahmen durchgeführt werden mußten, steigen die Schuldenlasten der Wohnungsgesellschaften stetig an. Der Bundesfinanzminister bietet einen Schuldenerlaß um 50 Prozent an, wenn die Wohnungsbaugesellschaften 15 Prozent ihres Wohnungsbestandes bis zum Ende des Jahre 1996 „privatisieren“, d. h. an andere Eigentümer verkaufen. Ziel ist dabei eine breite Eigentums-streuung, denn „Privatisierung“ soll heißen: Verkauf an individuelle Eigentümer, vornehmlich an die Bewohner selbst. Dieser Verkauf von Wohnungen in Plattenbauten läuft schleppend an, obwohl nur Preise um DM 1000 pro Quadratmeter (im Stadtzentrum von Berlin bis DM 2000) verlangt werden, denn natürlich stellt sich denjenigen, die über Kapital und/oder ein genügend hohes Einkommen verfügen, um Eigentum erwerben zu können, die Alternative, ob sie nicht gleich auf den Zug der Suburbanisierung aufspringen und ein Häuschen im Umland kaufen oder bauen sollen.

Damit käme jener Prozeß der sozialen Segregation in den Großsiedlungen in Gang, dem sowohl Stadtplaner wie Wohnungsbaugesellschaften mit großer Sorge entgegensehen. Die großen Siedlungen würden entmischt, und langfristig bliebe eine Wohnbevölkerung zurück, aus deren Einkommen eine nachhaltige Verbesserung und Modernisierung der Siedlungen nicht finanzierbar wäre und deren räumliche Konzentration möglicherweise die befürchteten „sozialen Brennpunke“ entstehen ließe.

In den Altbaugebieten führen Sanierung und Modernisierung durch die alten oder neuen Eigentümer im Regelfall zu einer Verdrängung der einkommensschwachen Bewohner, denn die Mittel für eine sozial orientierte, öffentlich gesteuerte Sanierung sind knapp. Diese soll überwiegend durch privates Kapital finanziert werden, und das muß sich rentieren. Die geringere soziale Segregation der Wohngebiete, die sich in der Zeit des DDR-Sozialismus herausgebildet hat, weicht deshalb nach und nach einer Separierung nach Einkommens-und Lebensstilgruppen.

Welche Muster werden dabei entstehen? Einerseits hängt dies von der Einkommensentwicklung insgesamt und insbesondere von der Einkommensdifferenzierung ab, die sich in den neuen Bundesländern herausbildet, und andererseits ist die Entwicklung von alternativen Wohnungsangeboten entscheidend. Welcher Zukunft die großen Plattenbaugebiete entgegengehen, ist ungewiß. Gelingt eine breite Privatisierung an die Bewohner und eine Modernisierung der Wohnungen sowie des Wohnumfeldes ohne dramatische Mietsteigerungen, könnte die soziale Struktur stabil bleiben; verteuern sich jedoch die Wohnungen stark und gibt es genügend andere, attraktivere Standorte, wird eine soziale Segregation bald eintreten. Abwanderungen in zwei Richtungen sind wahrscheinlich: Zum einen werden gut verdienende Bewohner mit Kindern kleinere Häuser mit Garten am Stadtrand bevorzugen, zum anderen könnten die Altbaugebiete auch für die Besserverdienenden wieder attraktiv werden, wenn dort jene technischen und ästhetischen Aufwertungsinvestitionen (und Umwandlungen in Eigentumswohnungen) tatsächlich vorgenommen werden, wie sie für viele Altbaugebiete in westdeutschen Städten in den letzten zwanzig Jahren typisch waren. Diese führten in der Regel zu der oben angedeuteten Verdrängung der einkommensschwächeren Bewohner und resultieren in „Gentrification" (d. h. Ersetzung der Quartiersbewohner durch höhere Einkommensschichten).

Einkommenssteigerungen, Einkommensdifferenzierung, Privatisierung von Wohnungen, Modernisierung von Altbauten, Neubau von Einfamilienhäusern, Umnutzungen und Zweckentfremdun- gen -all dies sind Prozesse, die mit Sicherheit zu einer anderen sozialräumlichen Verteilung der Wohnbevölkerung führen werden, als dies in der „sozialistischen“ Stadt der Fall war. Für das Muster der neuen Verteilung dürften auch die „vorsozialistischen“ Strukturen der Städte eine wichtige Rolle spielen. Wohnungsgrößen und -ausstattungen wurden unter „kapitalistischen“ Bedingungen für verschiedene Nachfragegruppen an verschiedenen Stellen in der Stadt gebaut: Neben den großbürgerlichen Wohnungen entstanden die Arbeiterquartiere, die Villengebiete und kleinbürgerliche Mischgebiete. In den Altbaugebieten sind diese sozialen Strukturen in die Grundrisse, in die Wohnungsausstattung, in die Fassadengestaltung und in den Straßenraum buchstäblich eingemauert, und dies läßt sich kaum grundsätzlich ändern. Die „gebaute Sozialstruktur“, so ist anzunehmen, wird sich in der sozialräumlichen Differenzierung wieder durchsetzen, wenn marktförmige Investitions-und Belegungsregeln wieder die sozialräumliche Struktur bestimmen. Insofern könnte der Wandel in eine Rückkehr zur „kapitalistischen“ Stadtstruktur münden.

XII. Fazit

Ist mit dem Wandel vom Sozialismus zum Kapitalismus, der begleitet ist von einer tiefgreifenden sektoralen Umstrukturierung der Ökonomie, die Durchsetzung eines neuen Modells von Stadtentwicklung denkbar, das die Zukunft auch der westlichen Städte darstellt? Manches spricht dafür: Die neuen Strukturen beim Grundeigentum, neue Akteure auf den Immobilienmärkten, eine deregulierte Wohnungsversorgung und eine zunehmende Knappheit öffentlicher Finanzen verändern die Rahmenbedingungen für die Stadtentwicklung in Ostdeutschland. Aber auch in den westlichen Städten werden derartige Veränderungen sichtbar, sie setzen sich allerdings nur schleichend und langsamer durch. Die besonderen Bedingungen der Transformationsperiode in den neuen Bundesländern führen schneller zur „Stadt neuen Typs“. In den dortigen Städten entstehen heute jene Strukturen, die wahrscheinlich auch die Zukunft der westlichen Städte prägen werden.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Daß diese Organisation in der Wirklichkeit wegen Konkurrenzen zwischen verschiedenen politischen Organen, wegen Desinformation und informeller Koalitionsbildungen nicht so funktionierte, wie sie formal hätte funktionieren sollen, braucht hier nicht weiter diskutiert zu werden. Diese Tatsache ist jedoch dafür verantwortlich, daß nicht alle Neubauteile der Städte in Ostdeutschland sich bis ins Detail gleichen.

  2. Am ehesten werden unter kapitalistischen Bedingungen städtebauliche Leitbilder dann relevant, wenn ähnliche Bedingungen wie für die Entstehung der „sozialistischen“ Stadt gegeben sind: beim Neubau „auf der grünen Wiese“, wenn große Flächen von einem einheitlichen Träger beplant und bebaut werden. Dies war bei der Entstehung der „Großsiedlungen“ in den sechziger und siebziger Jahren in der (alten) Bundesrepublik der Fall (vgl. Johann Jessen, Die Zukunft der Großsiedlungen in schrumpfenden Stadtregionen, in: Archiv für Kommunalwissenschaften, (1987) 1, S. 52-65; Großsiedlungsbericht 1994, Bundestagsdrucksache 122/8406). Welche (wechselnden) Leitbilder für die Gestaltung eines neuen Zentrums in einer westlichen Stadt entwickelt wurden, zeigt Dagmar Gausmann: „Ein Bild von einer Stadt“. Eine Industriestadt auf der Suche nach ihrer Mitte: Das Beispiel Marl, in Rolf Lindner (Hrsg.), Die Wiederkehr des Regionalen, Frankfurt am Main-New York 1994, S. 158-183.

  3. Vgl. dazu: Thomas Topfstedt, Städtebau in der DDR 1995-1971, Leipzig 1988; Thomas Hoscislawski, Bauen zwischen Macht und Ohnmacht. Architektur und Städtebau in der DDR, Berlin 1991; Klaus von Beyme/Werner Durth/Niels Gutschow/Winfried Nerdinger/Thomas Topfstedt (Hrsg.), Neue Städte aus Ruinen. Deutscher Städtebau der Nachkriegszeit , München 1992; Werner Durth, Die große Magistrale. Städtebau zwischen Gartenstadt und Monumentalbaukunst, in: Die große Magistrale, Perspektiven städtebaulicher Entwicklung, hrsg. von der Wohnungsbaugesellschaft Berlin-Friedrichshain, Berlin 1993, S. 8-25; Simone Hain, Reise nach Moskau: Wie deutsche „sozialistisch“ bauen lernten, in: Bauwelt, (1992) 45, S. 1546-1558.

  4. In der DDR wurden vier Städte neugegründet: Stalin-stadt (heute: Eisenhüttenstadt). Schwedt, Hoyerswerda und Halle-Neustadt. Zum Leitbild beim Aufbau von Stalinstadt vgl. Wolfgang Kil, Der letzte Monolith. Baudenkmal Stalin-stadt, in: Bauwelt, (1992) 10, S. 497-505.

  5. K. v. Beyme u. a. (Hrsg.) (Anm. 3).

  6. Vgl. zur Nutzungsstruktur der sozialistischen Stadt: Burkhard Hofmeister, Die Stadtstruktur, Darmstadt 1980; Jürgen Friedrichs (Hrsg.), Stadtentwicklungen in West-und Osteuropa, Berlin-New York 1985.

  7. K. v. Beyme u. a. (Hrsg.) (Anm. 3), S. 31.

  8. Seit den siebziger Jahren gab es zwar Ansätze zur „Rekonstruktion“ von Altbauwohnungen, aber quantitativ blieb die erhaltende Sanierung marginal.

  9. Die Zahl der Altbauwohnungen in der DDR sank von 5, 4 Millionen im Jahre 1961 auf 3, 9 Millionen im Jahr 1990.

  10. Vgl. Daniela Dahn, Wir bleiben hier oder Wem gehört der Osten, Reinbek bei Hamburg 1994.

  11. Vgl. Christine Hannemann, Industrialisiertes Bauen: Zur Kontinuität eines Leitbildes im Wohnungsbau der DDR, phil. Diss., TU Berlin 1994.

  12. Im Staatshaushalt wurden die Kosten für eine Neubauwohnung um 80 000 Mark höher veranschlagt als die Modernisierung einer Altbauwohnung. Mit geringerem ökonomischen Aufwand hätten also mehr Wohnungen mit ausreichendem technischen Standard geschaffen werden können als durch die einseitige Favorisierung des Neubaus.

  13. Die stadtsoziologische Forschung in der DDR widmete dieser Frage verständlicherweise wenig Aufmerksamkeit, standen doch alle Fragen der sozialen Differenzierung unter dem Verdikt, daß die sich entwickelnde sozialistische Gesellschaft eine Gesellschaft der Gleichheit sein werde. Eine auf der Basis der neuen gesellschaftlichen Bedingungen entstehende Ungleichheit, wie sie z. B. am Beispiel der Wohnungsversorgung in Ungarn analysiert worden sind (vgl. Ivan Szelenyi, Urban Inequalities under State Socialism, Oxford 1983), durfte noch nicht einmal gedacht werden. Zu den Elementen sozialer Segregation in den DDR-Städten im Zusammenhang mit den Neubaugebieten vgl. C, Hannemann (Anm. 11).

  14. Frank Werner, Stadt, Städtebau, Architektur in der DDR. Aspekte der Stadtgeographie, Stadtplanung und Forschungspolitik, Erlangen 1989, S. 122.

  15. Für die Zuweisung von Wohnraum galten zumindest drei Kriterien: ein gesellschaftspolitisches, ein volkswirtschaftliches und ein soziales. „Bevorzugt versorgt mit Wohnraum wurden kinderreiche Familien, junge Ehepaare ohne eigene Wohnung und alleinstehende Mütter mit Kind“ (Großsiedlungsbericht 1994 [Anm. 2, S. 40]). Das volkswirtschaftliche Kriterium kam zum Zuge dadurch, daß Betriebe Belegungsrechte hatten. An erster Stelle stand das gesellschaftspolitische Kriterium, nach dem die „Kämpfer gegen den Faschismus“ bevorzugt wurden bzw. „Personen, die sich durch herausragende Leistungen bei der Stärkung, Festigung sowie zum Schutz der Deutschen Demokratischen Republik verdient gemacht haben...“ (zitiert nach C. Hannemann [Anm. 11]).

  16. F. Werner (Anm. 14, S. 132) hat in seiner „Skizze vermuteter sozialräumlicher Differenzierungen in den Städten der DDR“ die neue politische Elite, die neue und alte wirtschaftliche und kulturelle Elite sowie die Selbständigen und die wirtschaftlichen Führungskräfte zu den privilegiert wohnenden Schichten gerechnet, die in Funktionärsghettos (Pankow bzw. Wandlitz), in den alten Villengebieten, in den Einfamilienhausgebieten und in den großen, zentral gelegenen Stadtwohnungen wohnten. In den geschlossenen Wohnbebauungen (alte und neue Miethausblocks) vermutete er die „Normalbevölkerung“, in den Wohngebieten mit der niedrigsten Qualität (wozu auch die Altbauten in den Kernen der Klein-und Mittelstädte gehörten) hingegen die „alte Bevölkerung“ sowie die Außenseiter.

  17. Vgl. zum folgenden: Sieghard Neckel, Das lokale Staats-organ. Kommunale Herrschaft im Staatssozialismus der DDR, in: Zeitschrift für Soziologie, 21 (1992), S. 252-286.

  18. Ebd., S. 258.

  19. Vgl. Michail Illner, Zwischen Ökonomie und Neofeudalismus, in: Wolfgang Glatzer (Hrsg.), 25. Deutscher Soziologentag 1990. Die Modernisierung moderner Gesellschaften, Opladen 1991, S. 407-413.

  20. In der DDR konnte sich jeder Bewohner einer Wohnung wie ein Eigentümer fühlen, denn das Mietverhältnis war unkündbar. Eigeninvestitionen waren daher weit verbreitet. Umzugsmobilität ergab sich im Wohnungsbestand fast ausschließlich durch Wohnungstausch, vgl. dazu: Marlies Schulz, Der Tauschwohnungsmarkt in der zentralistischen Planwirtschaft -das Beispiel von Ostberlin, ISR-Forschungsberichte, Heft 3, Wien 1991.

  21. Trotz der teilweisen naiven politischen Einschätzungen gibt das Buch von Daniela Dahn (Anm. 10), in dem die Probleme der Reprivatisierung von Haus-und Bodeneigentum anschaulich und eindringlich geschildert werden, einen guten Einblick in die sozialmoralischen Überzeugungen, die in der DDR sehr verbreitet gewesen sein dürften.

  22. In Ostdeutschland gibt es außer Berlin nur wenige sehr große Städte: Mehr als 200000 Einwohner hatten im Jahr 1991 nur Rostock, Magdeburg, Erfurt, Halle, Chemnitz, Leipzig und Dresden.

  23. Helmut Berking/Sieghard Neckel, Die gestörte Gemeinschaft. Machtprozesse und Konfliktpotentiale in einer ostdeutschen Gemeinde, in: Stefan Hradil (Hrsg.), Zwischen Bewußtsein und Sein. Die Vermittlung „objektiver“ Lebensbedingungen und „subjektiver“ Lebensweisen, Opladen 1992, S. 151-171.

  24. H. Berking/S. Neckel (Anm. 23), S. 166.

  25. Vgl. Helga Schmidt, Die metropolitane Region Leipzig -Erbe der sozialistischen Planwirtschaft und Zukunftschancen, ISR-Forschungsberichte, Heft 4, Wien 1991.

  26. Abkürzung für Sekundärrohstoffe, d. h. wiederverwendbare oder wiederverwertbare Materialien (Flaschen, Papier usw.).

  27. Der „modal split", d. h. das Verhältnis der Fahrten, die mit dem öffentlichen Nahverkehr durchgeführt werden, zu denjenigen in privaten PKW, lag in der DDR bei 70: 30, in der alten BRD bei 30: 70. Inzwischen hat er sich in manchen ostdeutschen Regionen bereits dem bundesrepublikanischen Standard angeglichen.

  28. Vgl. Carola Scholz, Stadtentwicklung im Umbruch. Eine Bestandsaufnahme der spezifischen Entwicklungsbedingungen ostdeutscher Städte und Regionen, Berlin 1993, S. 32.

  29. Beispiele bei D. Dahn (Anm. 10).

  30. Das staatliche Wohnungsvermögen wurde in den osteuropäischen Staaten auf verschiedene Weise privatisiert. In Rußland z. B. wurde den Bewohnern das Eigentumsrecht an den von ihnen belegten Räumen (bis zu 18 qm pro Person) ohne Geldzahlungen übertragen. Vgl. Hellmut Wollmann, Systemwandel und Städtebau in Mittel-und Osteuropa, Basel u. a. 1994.

Weitere Inhalte

Hartmut Häußermann, Dr. rer. pol., geb. 1943; Professor für Stadt-und Regionalsoziologie im Institut für Sozial-wissenschaften der Humboldt-Universität zu Berlin; bis September 1993 Mitglied der Zentralen Wissenschaftlichen Einrichtung „Arbeit und Region“ an der Universität Bremen. Veröffentlichungen u. a.: (Hrsg. zus. mit Jürgen Friedrichs und Walter Siebel) Süd-Nord-Gefälle in der Bundesrepublik?, Opladen 1986; (zus. mit Walter Siebel) Neue Urbanität, Frankfurt am Main 1987; (Hrsg.) Ökonomie und Politik in alten Industrieregionen Europas, Basel 1992; (Hrsg. zus. mit Walter Siebel) Festivalisierung der Stadtpolitik. Stadt-entwicklung durch große Projekte, Leviathan, Sonderheft 13, Opladen 1993.