Sektorale und regionale Spezialisierungsmuster in Europa
Klaus Löbbe/Heinz Schrumpf
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Zusammenfassung
Mit der Erweiterung und Vertiefung der Europäischen Gemeinschaft und der Öffnung Osteuropas haben sich die gesamtwirtschaftlichen Rahmenbedingungen für die Entwicklung der Branchen und Regionen in Europa nachhaltig verändert. Die Verkürzung der Produktlebenszyklen und wachsende finanzielle Risiken fordern die Unternehmen im nationalen, die Globalisierung der Märkte und die Intemationalisierung der Produktion im internationalen Maßstab heraus. All dies gibt zu der Vermutung Anlaß, daß sich die sektoralen und regionalen Spezialisierungsmuster in Europa in der letzten Zeit verändert haben oder verändern werden. Vor diesem Hintergrund versucht der Beitrag, die heutigen Strukturen zu kennzeichnen und die Entwicklungsmuster der Vergangenheit, die gleichfalls von tiefgreifenden Veränderungen im gesamtwirtschaftlichen Umfeld geprägt waren, nachzuzeichnen. Im Ergebnis zeigt sich, daß die Branchenstrukturen der europäischen Wirtschaft auch heute noch sehr unterschiedlich sind und eher durch eine zunehmende Spezialisierung als durch eine Angleichung (strukturelle Konvergenz) gekennzeichnet sind.
I. Die veränderte Ausgangslage
Die fortschreitende Integration der europäischen Volkswirtschaften und die Weiterentwicklung zur Wirtschafts-und Währungsunion werden die Rahmenbedingungeq für die gesamtwirtschaftliche Entwicklung, aber auch für die sektorale und regionale Strukturbildung in Europa zweifellos nachhaltig verändern: Die weitere Öffnung der Märkte für Waren und Dienstleistungen, die Beseitigung der Hemmnisse für den Transfer von Kapital und Arbeitsleistungen und die Schaffung einer gemeinsamen Währung werden neue Grundlagen für die unternehmerische Standortwahl und die Entwicklungsaussichten einzelner Branchen schaffen. Sicherlich werden auch nach Vollendung der dritten Stufe der Wirtschafts-und Währungsunion gewisse Unterschiede, was die Standort-bedingungen und Entwicklungsperspektiven der Unternehmen in den einzelnen Mitgliedstaaten angeht, fortbestehen: Eine völlige Angleichung etwa der Steuer-und Abgabensysteme, der sozialen Sicherungssysteme, der Infrastruktureinrichtungen oder der Vorschriften zum Umweltschutz ist illusorisch und -im Prinzip -auch nicht erwünscht. Die skizzierten Veränderungen des gesamtwirtschaftlichen Umfeldes sind aber, für sich genommen, so umfassend, daß tiefgreifende Strukturveränderungen nahezu zwangsläufig scheinen
Abbildung 9
Tabelle 3: Beschäftigte in den Ländern der Europäischen Gemeinschaft Quelle: Eigene Berechnungen des RWI Essen nach Angaben von EUROSTAT.
Tabelle 3: Beschäftigte in den Ländern der Europäischen Gemeinschaft Quelle: Eigene Berechnungen des RWI Essen nach Angaben von EUROSTAT.
Hinzu kommt, daß sich zur gleichen Zeit gravierende Veränderungen der globalen Entwicklungsbedingungen für die Unternehmenstrukturen vollzogen haben und noch vollziehen. Hier sind stichwortartig zu nennen -die Globalisierung der Wirtschaft und die Vernetzung der Absatz-und Beschaffungsmärkte, -die Internationalisierung der Produktion und die Bildung strategischer Allianzen, -die zunehmende intersektorale Arbeitsteilung und die Tertiarisierung der Wirtschaft sowie -die Verkürzung der Produktlebenszyklen und die Zunahme finanzieller Risiken
Es wäre allerdings verfrüht, heute bereits konkrete Auswirkungen der jüngsten Entwicklungen feststellen zu wollen, d. h., die Effekte des Binnenmarktprogramms und die daran geknüpften Hoffnungen und Vermutungen evaluieren oder gar die Auswirkungen der europäischen Wirtschafts-und Währungsunion auf die regionalen und sektoralen Wirtschaftsstrukturen Vorhersagen zu wollen. Ziel des vorliegenden Beitrages kann es nur sein, eine Bestandsaufnahme der heute bestehenden sektoralen und regionalen Strukturunterschiede vorzunehmen. Dazu muß auch eine Analyse der Entwicklungstrends der achtziger Jahre gehören, die noch unter dem Eindruck zahlreicher Hemmnisse -vor allem in Form von technischen Handels-hemmnissen und Beschränkungen des Dienstleistungshandels -standen, ansonsten aber durchaus als Phase der Integration und des Zusammenwachsens anzusprechen sind und insoweit erste Anhaltspunkte für das zu liefern vermögen, was uns an Chancen und Risiken noch bevorsteht.
II. Sektorale Entwicklungsmuster in Europa
Abbildung 7
Tabelle 1: Beschäftigte in den Ländern der Europäischen Gemeinschaft nach Produktionsbereichen 1991, Anteile an der Summe der Produktionsbereiche in Prozent Quelle: Eigene Berechnungen des RWI Essen nach Angaben von EUROSTAT.
Tabelle 1: Beschäftigte in den Ländern der Europäischen Gemeinschaft nach Produktionsbereichen 1991, Anteile an der Summe der Produktionsbereiche in Prozent Quelle: Eigene Berechnungen des RWI Essen nach Angaben von EUROSTAT.
Im Hinblick auf die sektorale Strukturbildung, also die relative Bedeutung der einzelnen Branchen an der gesamtwirtschaftlichen Wirtschaftsleistung (Bruttowertschöpfung und Beschäftigung), sind zwei grundverschiedene Entwicklungsmuster vorstellbar. -Zum einen könnte vermutet werden, daß die Erweiterung der Gemeinschaft und die Öffnung der Märkte zu einer Verschärfung des Wettbewerbs zwischen den einzelnen Regionen und Unternehmensstandorten geführt hat oder führen wird. Die industriellen Ballungsräume und die Dienstleistungszentren der Bundesrepublik Deutschland müßten sich mehr denn je an den „Top-Standorten“ in Großbritannien, Frankreich und Italien messen lassen, die ländlich geprägten Räume würden zunehmend von den Agrarregionen in Süd-und Osteuropa herausgefordert. Dies wird -so die erste Hypo-these -zu einer Spezialisierung der Branchen und Regionen in Europa führen, verbunden mit einer weiteren Verstärkung der Einkommensdifferenzen zwischen den strukturschwachen Regionen und Alt-Industrien auf der einen, sogenannten Mega-Städten und industriellen Hochtechnologiekomplexen auf der anderen Seite. -Die Gegenhypothese lautet, daß die politische und wirtschaftliche Annäherung der verschiedenen Volkswirtschaften mit einer Angleichung der sektoralen und regionalen Strukturen verbunden ist -wenn nicht schon jetzt, dann mit Sicherheit im kommenden Jahrzehnt: Nationale Produktivitätsunterschiede würden allmählich abgebaut, die Inflationsraten einander angeglichen, mit dem Ergebnis, daß sich ähnliche Branchenstrukturen und regionale Entwicklungsmuster ausbilden. Begründen ließe sich diese Erwartung z. B. mit der sogenannten Normstrukturhypothese, nach der zu einem gesamtwirtschaftlichen Einkommensniveau jeweils eine ganz bestimmte Wirtschaftsstruktur gehört Mit der Erweiterung und Vertiefung der Gemeinschaft geht nach dieser Sicht der Dinge eine zunehmende Konvergenz der Wirtschaften einher, und zwar nicht nur in gesamtwirtschaftlicher, sondern auch in struktureller Hinsicht.
1. Deutliche Unterschiede in den Branchenstrukturen
Zur Beantwortung dieser Fragen soll zunächst die sektorale Struktur der einzelnen Volkswirtschaften der Europäischen Gemeinschaft kurz dargestellt und kommentiert werden. Zu diesem Zweck wer-den in der Tabelle 1 für die europäische Wirtschaft insgesamt und die fünf größten EG-Länder (gemessen an der Zahl der Beschäftigten) die Anteile ausgewählter Wirtschaftszweige an der jeweiligen Gesamtbeschäftigung ausgewiesen
Das aus deutscher Sicht bemerkenswerteste Ergebnis ist zunächst eine neuerliche Bestätigung des weithin bekannten Sachverhalts, daß die Bundesrepublik Deutschland durch einen vergleichsweise großen industriell-gewerblichen Bereich gekennzeichnet ist. In keinem EG-Land sind absolut und relativ mehr Beschäftigte im Produzierenden Gewerbe (Energie und Bergbau, Verarbeitendes Gewerbe und Baugewerbe) zu finden. Entsprechend niedrig fällt der Anteil der ^Beschäftigten in den Dienstleistungsbereichen aus. Dies zeigt nach einer weitverbreiteten Auffassung, daß die Bundesrepublik Deutschland nach wie vor „überindustrialisiert“ ist und den Übergang zur modernen „Dienstleistungs-und Informationsgesellschaft“ noch nicht geschafft hat. In diesem Zusammenhang wird besonders auf den Rückstand bei den sogenannten Sonstigen marktbestimmten Dienstleistungen verwiesen, der in erster Linie auf Defizite bei den industrienahen bzw. untemehmensbezogenen Dienstleistungen zurückzuführen sei: Informations-und Kommunikationsdienste, Online-Datenbanken und Multimediadienste, Unternehmensberater und neue Finanzierungsinstitutionen seien in der Bundesrepublik Deutschland nur schwach vertreten oder von ausländischen Anbietern dominiert. Hier könne und müsse eine große Zahl neuer, attraktiver Arbeitsplätze geschaffen werden; dies würde zum Abbau der Arbeitslosigkeit beitragen, aber auch die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Industrie auf den internationalen Märkten stärken. Gerade die in der Bundesrepublik Deutschland stark entwickelten Investitionsgüterbereiche seien jetzt und in Zukunft auf derartige Dienstleistungen angewiesen, der internationale Wettbewerb verlange nicht mehr einzelne Produkte, sondern komplette Systemlösungen.
Dies alles ist im Prinzip nicht zu bestreiten. Es muß aber darauf hingewiesen werden, daß der Rückstand der Bundesrepublik Deutschland bei den modernen Dienstleistungen zumindest stark relativiert wird, wenn als Erhebungseinheit nicht Unternehmen bzw. Wirtschaftszweige, sondern Tätigkeiten bzw. Berufe gewählt werden. Offensichtlich neigen die deutschen Unternehmen dazu, Dienst-leistungen selbst zu erstellen; sie scheuen den externen Bezug bzw. die Auslagerung der Produktion dieser Leistungen Dies mag aus verschiedenen Gründen vorteilhaft erscheinen (jederzeitige Verfügbarkeit der Leistungen, Wahrung von Betriebsintema), kann aber zu einzel-und gesamtwirtschaftlichen Effizienzeinbußen führen, da die Leistungsbewertung dem Markttest entzogen wird. In diesem Zusammenhang ist auch zu berücksichtigen, daß viele Dienstleistungsbereiche in der Bundesrepublik Deutschland durch Marktzugangsbeschränkungen und Preisregulierungen staatlich reglementiert werden.
Gemessen an der Bundesrepublik Deutschland und am gesamteuropäischen Durchschnitt sind vor allem die französische und die britische Wirtschaft durch einen hohen Dienstleistungsanteil geprägt -wofür im ersten Fall der starke staatliche Sektor (die sogenannten Nicht marktbestimmten Dienstleistungen), im zweiten Fall die Sonstigen marktbestimmten Dienstleistungen verantwortlich sind. Daneben finden sich in Frank-reich relativ viele Erwerbstätige im Bereich Post und Telekommunikation (Nachrichtenübermittlung), im Baugewerbe und in der Nahrungs-und Genußmittelherstellung; relativ wenige dagegen in den Bereichen Handel, Gastgewerbe und Transportwesen. Von hohen Anteilswerten bei vielen weiteren Dienstleistungsbereichen abgesehen, zeichnet sich das Vereinigte Königreich durch eine vergleichsweise bedeutsame Energiewirtschaft aus; die italienische Wirtschaft -wie zu erwarten -durch einen hohen Agraranteil, eine relativ bedeutsame Grundstoffindustrie und einen europäischen „Spitzenwert“ bei der Textilund Bekleidungsindustrie.
Insgesamt zeigt dieser Vergleich, daß selbst die -gemessen an der Beschäftigtenzahl -großen Länder der europäischen Wirtschaft noch recht unterschiedlich strukturiert sind, d. h., daß in den einzelnen Ländern jeweils typische Branchenschwerpunkte auszumachen sind. Dies gilt in noch stärkerem Maße für die „kleineren“ europäischen Länder, also z. B. Luxemburg, Belgien oder Dänemark. Sie zeigen erwartungsgemäßSpezialisierungstendenzen (z. B. im Bereich Ban-ken oder staatliche bzw. suprastaatliche Institutionen); ähnliches gilt -mit Blick auf die Landwirtschaft und die Verbrauchsgüterindustrien -für die südeuropäischen Länder.
2. Eher Differenzierung als Angleichung der Branchenstrukturen
Diese Strukturunterschiede scheinen sich im Verlauf der achtziger Jahre auch eher verfestigt als eingeebnet zu haben. Diesen Eindruck vermittelt zumindest ein Blick auf die in der Tabelle 2 ausgewiesenen jahresdurchschnittlichen Veränderungen. So blieb z. B. die Wachstumsrate der Beschäftigung im Bereich Handel, Verkehr und Dienstleistungen in der Bundesrepublik Deutschland hinter der europäischen Vergleichsrate zurück, d. h., der dort bestehende Rückstand hat sich im Verlauf der achtziger Jahre weiter verstärkt. Der Rückzug der europäischen Textil-und Bekleidungsindustrie vollzog sich in Italien weniger ausgeprägt -was den relativen Vorsprung erklärt (und, wie sich zeigen läßt, verstärkt hat). Generell scheinen die europäischen Volkswirtschaften damit eher von einer Differenzierung und Spezialisierung als von einer Angleichung -einer „strukturellen Konvergenz“ -geprägt zu sein.
Diese Vermutung läßt sich erhärten mit Hilfe von sogenannten Streuungsmaßen, d. h. einfachen statistischen Maßzahlen, die die durchschnittliche Abweichung der einzelnen Länderwerte vom europäischen Durchschnitt messen und im Zeitablauf vergleichen Bestimmt man diese Prüfgröße für verschiedene, im Rahmen der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen ermittelte Kennziffern (nominale und reale Bruttowertschöpfung, Erwerbstätigkeit und Anlageinvestitionen), dann hat sich das Strukturgefüge der europäischen Wirtschaft im Verlauf der achtziger Jahre in den meisten Fällen nicht signifikant verändert. Auffällig ist allerdings, daß -gemessen an der Wertschöpfung in jeweiligen Preisen, die erste Hälfte der achtziger Jahre eher durch eine Differenzierung, die zweite Hälfte dagegen häufig durch eine Nivellierung der Produktionsstrukturen gekennzeichnet war. Dies spiegelt wohl in erster Linie die zu Beginn des Beobachtungszeitraums noch recht hohen Inflationsraten und die ausgeprägten Inflationsdifferenzen wider; eine vergleichbare Entwicklung ist jedenfalls in den Streuungsmaßen der realen Wertschöpfung nicht erkennbar; -die Streuung der Beschäftigtenstrukturen im allgemeinen höher ist als die der Wertschöpfungsstrukturen. Eine Ausnahme bilden Luxemburg und -vor allem -die Bundesrepublik Deutschland, hier ist zumindest die statistisch gemessene Flexibilität der Beschäftigungsstrukturen vergleichsweise gering, geringer jedenfalls als in anderen europäischen Ländern. Ähnliches gilt übrigens auch für die Standardabweichungen der nominalen und realen Arbeitsproduktivität; -die Streuung der sektoralen Anlageinvestitionen bzw. die Investitionsquoten zwar im Niveau, nicht aber in der Entwicklungsrichtung von den Vergleichswerten für Wertschöpfung und Beschäftigung abweichen. Damit hat sich die Erwartung, daß der Neuaufbau von Kapazitäten als Frühindikator für sich abzeichnende Strukturveränderungen gelten könne, nicht erfüllt.
Insgesamt bestätigen die Ergebnisse, daß die -oftmals mühsame -Harmonisierung des rechtlichen und institutioneilen Rahmens und die -ohnehin nur schwach ausgeprägte -Angleichung der Einkommensdisparitäten bislang nicht zu einer eindeutig erkennbaren Konvergenz der Wirtschaftsstrukturen in den Ländern der EU geführt hat. Die Unterschiede in den Standortbedingungen für die einzelnen Wirtschaftszweige und in den Präferenzen der Verbraucher werden sich wohl erst im Verlaufe eines sehr langfristigen Anpassungsprozesses vermindern; mit dem Ergebnis, daß auch die sektoralen Produktionsstrukturen noch für geraume Zeit nationale Charakteristika zeigen werden.
3. Weitere Strukturmerkmale -Ergebnisse einer Branchenbewertung
Weiter gehende Aufschlüsse über die Eigenarten der nationalen Volkswirtschaften lassen sich mit Hilfe eines zugestandenermaßen pauschalen Bewertungsverfahrens gewinnen, bei dem bestimmte branchentypische Eigenschaften (etwa die Lohnund Kapitalintensität, die spezifische Umweltbelastung oder der Technologiegehalt der Produkte) mit der relativen Bedeutung der Wirtschaftszweige in den einzelnen Ländern verknüpft, d. h. gewichtet werden Diese Klassifikation erfolgt hier -nach der Wachstumsintensität, gemessen am langfristigen Wachstum der Wertschöpfung des Wirtschaftsbereiches im Vergleich zum gesamtwirtschaftlichen Durchschnitt (hoch, durchschnittlich, niedrig), -nach den für den Wirtschaftszweig typischen Betriebsgrößenklassen (kleinbetrieblich, mittelständisch, großbetrieblich), -nach der Intensität der Einbindung in den internationalen Handel (weitmarkt-bzw. binnenmarktorientiert) und der Regulierungsintensität (reguliert bzw. marktbestimmt), -nach der Intensität, mit der die einzelnen Wirtschaftsbereiche bestimmte Produktionsfaktoren (insbes. Arbeit, Kapital und Umwelt) in Anspruch nehmen oder sich um die Entwicklung und Nutzung technischer Neuerungen bemühen (FuE-Intensität, Einsatz von Humankapital und/oder modernen Dienstleistungen).
Zur Vermeidung von Mißverständnissen muß allerdings zum einen betont werden, daß die Einordnung allein anhand branchendurchschnittlicher Kennziffern für die Bundesrepublik Deutschland erfolgt, also nichts darüber ausgesagt werden kann, ob eine bestimmte Branche in einem EU-Land mehr oder weniger Schadstoffe emittiert bzw. relativ höhere oder niedrigere FuE-Aufwendungen tätigt In diesem Zusammenhang ist auch auf das vergleichsweise grobe Branchenraster der europäischen Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen hinzuweisen. Zum anderen ist darauf aufmerksam zu machen, daß die Zuordnung einer Branche zu einer bestimmten Gruppe (der Chemischen Industrie etwa zur Gruppe der umweltbelastenden Bereiche) die Zuordnung zu einer zweiten Gruppe (etwa den forschungsintensiven Sektoren) keineswegs ausschließt.
Die in der Tabelle 3 zusammengefaßten Ergebnisse belegen eine Vielzahl divergierender Strukturen und Entwicklungsmuster in der europäischen Wirtschaft. Einige Gemeinsamkeiten sollen gleichwohl hervorgehoben werden: -In allen Ländern ist -wie nicht anders zu erwarten -der Anteil der wachstumsschwachen Branchen mehr oder weniger stark zurückgegangen. Über eine verhältnismäßig „wachstumsfreundliche“ Branchenstruktur verfügten im Jahre 1991 vor allem die Benelux-Länder und das Vereinigte Königreich; hier waren jeweils mehr als ein Viertel aller Beschäftigten in überdurchschnittlich wachsenden Bereichen zu finden. Eine deutliche Verbesserung ihrer Branchenstruktur konnten seit 1980 vor allem Italien, Luxemburg und Spanien erreichen.
Nimmt man den Austausch zwischen den drei unterschiedlich wachstumsintensiven Gruppen zum Maßstab, dann hat der sektorale Struktur-wandel in der Bundesrepublik Deutschland vergleichsweise wenig zur Verbesserung des Arbeitsplatzangebots beigetragen. -Der Beobachtungszeitraum ist durch eine deutliche Verschiebung der Beschäftigtenanteile zugunsten der kleinbetrieblich geprägten Sektoren und zu Lasten der mittelbetrieblich, vor allem aber der großbetrieblich geprägten Sektoren gekennzeichnet. Dies gilt vor allem für Italien, die Niederlande, Luxemburg und Spanien, also Länder, in denen Großbetriebe traditionell von relativ geringer Bedeutung sind. Im Gegensatz dazu hat sich die Dominanz von Großbetriebs-Branchen in Deutschland weiter erhöht. Ursächlich hierfür sind u. a. die bereits erwähnten Bedeutungs-und Entwicklungsunterschiede zwischen dem sekundären und dem tertiären Bereich. -Als Spiegelbild des strukturellen Wandels von den exportorientierten Industriebereichen zu den (immer noch) stark binnenmarktbezogenen Dienstleistungen ist auch zu werten, daß der Anteil der Branchen mit hoher Weltmarkt-orientierung in allen ausgewählten Ländern tendenziell sinkt, in vergleichsweise geringem Maße aber wiederum in Deutschland -Branchen, die vergleichsweise intensiver staatlicher Regulierung unterworfen sind (etwa die Landwirtschaft, die Energieversorgung, die Verkehrsbereiche sowie die Kreditinstitute und Versicherungen), gehören nach wie vor eher zu den Gewinnern als zu den Verlierern im Strukturwandel. Durch diesen Trend wurden die unverkennbaren Bemühungen aller europäischen Regierungen, den Einfluß staatlicher Steuerung im Einzelfall zurückzuführen, zumindest teil-weise kompensiert. Der weitaus höchste Anteil regulierter Branchen an der Gesamtbeschäftigung ergab sich 1991 für Dänemark und Portugal, und zwar mit weitem Abstand vor Frankreich und Spanien. -Im Hinblick auf die Umweltbelastung freilich hat der sektorale Strukturwandel die staatliche Umweltpolitik in nahezu allen europäischen Ländern unterstützt (zu den scheinbaren Ausnahmen gehören -aufgrund der raschen Expansion der Energiewirtschaft -die Niederlande Dieser „autonome“ umweltschonende Strukturwandel war im Zeitraum 1980 bis 1991 besonders ausgeprägt in Spanien, Portugal und im Vereinigten Königreich. Gleichwohl war im letzten Beobachtungsjahr die noch verbleibende strukturelle Belastung in allen südeuropäischen Ländern vergleichsweise hoch. -In den achtziger Jahren haben, im Durchschnitt der ausgewählten Länder betrachtet, sowohl die kapital-als auch die lohnintensiven Bereiche an Bedeutung gewonnen. Dieses paradox erscheinende Ergebnis spiegelt zum einen das überdurchschnittliche Wachstum der Efiergieund Verkehrssektoren, zum anderen die Expansion der Dienstleistungsbereiche wider.
Diese Überlagerung struktureller Entwicklungstrends erschwert die Interpretation der Ergebnisse. Darüber hinaus ist zu vermuten, daß sich die Faktoreinsatzrelationen innerhalb der Branchen im Zeitablauf mehr oder weniger stark verändert haben. Dies legt eine vertiefte Untersuchung dieser Entwicklungen nahe. -Neben der Bedeutungszunahme des tertiären Bereichs und der steigenden Dienstleistungsintensität ist die steigende Humankapitalintensität, d. h.der wachsende Anteil der Branchen, die auf hoch-und höchstqualifizierte Beschäftigte angewiesen sind, ein Merkmal, das alle einbezogenen Länder gleichermaßen kennzeichnet. Allerdings ist der Abstand zwischen den Anteilen an den Gesamtbeschäftigten im innereuropäischen Vergleich immer noch sehr groß -die Anteile schwanken 1991 zwischen knapp 22 Prozent für Portugal und 43 Prozent für Dänemark; auch sind die Anzeichen für eine Angleichung dieser Differenzen nicht besonders deutlich. -Ausgeprägte Divergenzen zwischen den einzelnen EU-Ländern bestehen weiterhin im Anteil der Branchen, die als forschungsintensiv anzusprechen sind; und zwar sowohl hinsichtlich des 1991 erreichten Nivaus als auch in der Entwicklung seit 1980. In deutlichem Kontrast zur Erwartung, daß in hochentwickelten Ländern auch vergleichsweise forschungsintensive Branchen dominieren, steht die Tatsache, daß dieser Anteil in Luxemburg und Portugal nur ein Viertel, in Italien, Dänemark und Spanien weniger als die Hälfte des Wertes ausmacht, den Deutschland erreicht. Von Angleichung oder Konvergenz kann keine Rede sein: Dort, wo die Anteile hoch sind, war in den letzten Jahren noch am ehesten eine Zunahme zu verzeichnen (Deutschland und die Niederlande); niedrige Anteile waren von Abnahmen begleitet (Portugal, Spanien und Dänemark). Erwähnenswerte Ausnahmen sind das Vereinigte Königreich, hier bildete sich eine ehedem überdurchschnittliche Position deutlich zurück, und Luxemburg, das heute -trotz des schlechten Abschneidens im Jahre 1991 -besser abschneidet als in der Vergangenheit. -Dienstleistungen gewinnen in allen Unternehmensbereichen und Produktionsstufen an Bedeutung. Dies gilt nicht nur für die von Betrieben oder Unternehmen des Dienstleistungsbereiches auf Märkten angebotenen, sondern auch für die innerhalb der Unternehmen des Produzierenden Gewerbes erbrachten Dienstleistungen. Dieser Sachverhalt wird verdeutlicht durch den hohen Anteil der Sektoren, die vergleichsweise viele Angehörige der Dienstleistungsberufe beschäftigen -der Anteil überstieg den der Tertiärbereiche an der Gesamtbeschäftigung im gesamteuropäischen Durchschnitt um mehr als fünf Prozentpunkte, er wird bekräftigt durch den seit 1981 durchweg steigenden Anteil in den einzelnen Ländern.
Insgesamt betrachtet, liefern die bisher vorliegenden Ergebnisse ein ambivalentes Bild von struktureller Angleichung in einigen, struktureller Divergenz in anderen Bereichen; ein eindeutiges Urteil scheint derzeit noch nicht möglich. In diesem Zusammenhang ist nochmals an die Grenzen der Aussagefähigkeit der in der Tabelle 3 dokumentierten Berechnungsergebnisse zu erinnern und vor falschen Schlußfolgerungen zu warnen: Zum einen mußten mangels geeigneter Indikatoren für die anderen EU-Staaten die für Deutschland festgestellten Branchenmerkmale als „europa-typisch“ angenommen werden. Zum anderen spiegeln die Daten allein die Folgen des intersektoralen Strukturwan-dels wider; es ist zu vermuten, daß die ausgewiesenen Veränderungen durch sektorinterne Entwicklungen zumindst teilweise kompensiert, möglicherweise sogar ins Gegenteil verkehrt wurden.
III. Regionale Entwicklungsmuster in Europa
Abbildung 8
Tabelle 2: Beschäftigungswachstum in den Ländern der Europäischen Gemeinschaft nach Produktionsbereichen 1980 bis 1991, jahresdurchschnittliche Veränderungen in Prozent Quelle: Eigene Berechnungen des RWI Essen nach Angaben von EUROSTAT.
Tabelle 2: Beschäftigungswachstum in den Ländern der Europäischen Gemeinschaft nach Produktionsbereichen 1980 bis 1991, jahresdurchschnittliche Veränderungen in Prozent Quelle: Eigene Berechnungen des RWI Essen nach Angaben von EUROSTAT.
1. Der empirische Befund
Die regionale Entwicklung ist in Europa durch die eingangs genannten Einflußfaktoren, insbesondere aber auch durch die deutsche Wiedervereinigung und die ökonomischen Umbrüche der letzten Jahre, zunehmend in Fluß geraten. Auf einer globaleren Ebene zeigt sich einerseits der Einfluß, der auf die Regionalentwicklung von nationalen Verschiebungen bei den für die Wettbewerbsfähigkeit entscheidenden Faktoren ausgeht: Die im europäischen Raum erfolgte Aufwertung der DM hat insbesondere Regionen wie Baden-Württemberg getroffen, die im europäischen Vergleich bislang zur Spitzengruppe gehörten. Andererseits hat die rigorose Abwertung der italienischen Lira und des britischen Pfundes in diesen Mitgliedsländern zu einem Export-und Investitionsboom geführt, der sich auch regional niederschlägt.
Trotzdem bleiben die regionalen Unterschiede in der EU in einem im Vergleich z. B. zur USA bemerkenswerten Ausmaß bestehen. Die schwächsten Regionen weisen ein Bruttosozialprodukt pro Kopf auf, das bei 35 Prozent von dem der stärksten Regionen liegt. Dieses Ergebnis wird sicherlich durch die Sonderfälle Ostdeutschland und Griechenland erheblich beeinflußt. Ist es bei Ostdeutschland die Transformationskrise, die sich in den Ergebnissen niederschlägt, so leidet Griechenland unter seiner Insellage in Hinblick auf das Kemgebiet der Gemeinschaft. Aber auch in Hinblick auf die Gemeinschaft als Ganzes bleibt festzustellen, daß nationale Unterschiede regionale Gefälle immer noch zu 40 bis 50 Prozent erklären. Ein nicht unerheblicher Teil der als „regionale Probleme“ deklarierten Unterschiede in der Europäischen Union spiegelt also in Wirklichkeit den sehr unterschiedlichen Entwicklungsstand der einzelnen Mitgliedsländer wider.
Nach Abschluß der Verträge über den Europäischen Wirtschaftsraum, den Gemeinsamen Binnenmarkt 1988 und die Wirtschafts-und Währungsunion wurde regionalpolitisch insbesondere diskutiert, ob dieser Integrationsprozeß bestehende Diskrepanzen zwischen den Regionen in der Tendenz eher nivelliert (Konvergenzhypothese) oder vor allem den wirtschaftsstarken Regionen nutzen und damit Unterschiede verstärken wird (Divergenzhypothese) Bereits in der Vergangenheit hat sich allerdings gezeigt, daß die Rich-tung eines Anpassungsprozesses in Abhängigkeit von der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung zu se-hen ist:
Zwischen 1980 und 1984 wiesen die vier schwächsten Mitgliedstaaten der EU ein Wachstum auf, das dem Gemeinschaftsdurchschnitt entsprach. Diese Periode war von den Nachwirkungen des zweiten Ölpreisschocks geprägt und auch in den ökonomisch starken Ländern durch schnell steigende Arbeitslosigkeit, den Zwang zur Haushaltskonsolidierung und eine relativ restriktive Geldpolitik gekennzeichnet. In den Jahren von 1985 bis 1989, die durch eine anhaltende konjunkturelle Erholung gekennzeichnet waren, wiesen diese Staaten hingegen mit Ausnahme Griechenlands Wachstumsraten auf, die permanent über dem Gemeinschaftsdurchschnitt lagen. Zunächst bestätigt dies auch die Erfahrungen mit der westdeutschen Regionalpolitik: In Zeiten konjunktureller Schieflagen ist eine Regionalpolitik, die auf eine Umleitung von Investitionsströmen zugunsten schwacher Regionen setzt, zum Scheitern verurteilt. Gewisse Chancen ergeben sich dann, wenn aufgrund lang anhaltender Kapazitätsauslastungen neue Kapazitäten aufgebaut werden.
Verläßt man allerdings die Ebene der Nationalstaaten und geht auf die Ebene der sogenannten NUTS-l-Regionen über so differenziert sich das Bild erheblich. Sowohl in Spanien als auch in Italien hält sich die Zahl der geförderten Regionen, die einen Konvergenzprozeß aufweisen, in den Jahren von 1985 bis 1990 mit jenen die Waage, die eine weitere , Verschlechterung ihrer Position gemessen am EU-Durchschnitt hinnehmen müssen. Innerhalb der schwachen Mitgliedsländer waren also vor allem die relativ starken Regionen die Hauptträger des Wachstums.
Je höher der Anteil der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten in der Landwirtschaft an den sozialversicherungspflichtig Beschäftigten insgesamt ist, um so geringer fällt die regionale Arbeitsproduktivität aus. Dieses nicht überraschende Ergeb nis gewinnt allerdings an Erklärungswert, wenn die entsprechenden Räume karthographisch dargestellt werden: Zu den Problemregionen in Europa zählen, wenn man nationale Unterschiede aus der Betrachtung ausschließt, peripher gelegene ländliche Regionen mit schlechter Verkehrserschließung, einer ungünstigen Siedlungsstruktur und einer insgesamt unterdurchschnittlichen (gemessen am Niveau des Mitgliedstaates) Infrastrukturausstattung.
Eine Analyse der Spitzenregionen zeigt hingegen, daß es sich im Regelfall um Zentren von zumindest nationaler Bedeutung handelt, -die im sekundären Sektor durch einen ausgeprägten Besatz mit Headquarterfunktionen gekennzeichnet sind, -folglich auch ein weites Spektrum an unternehmensorientierten Dienstleistungen aufweisen und -häufig auch Zentren der staatlichen Verwaltung sind.
Zu dieser Gruppe gehören Städte wie London, Paris, Barcelona, München und Frankfurt. Deutlich wird hier gleichzeitig eine in regionalanalytischen Untersuchungen häufig vernachlässigte, ausgeprägt historische Komponente, die einzelne Regionen über Jahrhunderte hinweg mit einem Wettbewerbsvorteil zumindest auf der nationalen Ebene versehen hat.
Daneben ist aber auch eine Renaissance der Mittelstädte feststellbar, die einem gewissen Muster fol-gen: Diese werden zunehmend zu Zentren des Produzierenden Gewerbes oder spezialisieren sich auf Bereiche wie den Fremdenverkehr. Allerdings wei-sen sie eine weitaus geringere Ausstrahlungskraft auf das Umland auf als die Großstädte mit der Folge, daß sich geographisch Inseln mit einem relativ hohen Arbeitsproduktivitätsniveau, gemessen wiederum am nationalen Durchschnitt, ergeben. Zusammenfassend läßt sich aus der Entwicklung der Vergangenheit kein eindeutiger Beleg für oder gegen die Konvergenzhypothese, soweit man unter Regionen Gebietseinheiten unterhalb des Nationalstaatsniveaus versteht, ableiten.
2. Theorien der regionalen Entwicklung und regionale Spezialisierungsmuster
Nach der (älteren) Wachstumspoltheorie findet räumliches Wachstum nicht gleichmäßig über die Fläche verteilt statt, sondern an Zentralen Orten, die auf ein weites Umland ausstrahlen und damit zur Regionsbildung führen. Nach Größe und Reichweite des jeweiligen Zentralen Ortes lassen sich diese hierarchisieren, was zu dem aus der Raumordnung bekannten Schema der Ober-, Mit-tel-und Unterzentren führt, wobei sich die Kategorie der Oberzentren noch in solche von internationaler, nationaler und landesweiter Bedeutung weiter untergliedern läßt. Da die räumliche Arbeitsteilung in der Vergangenheit zu einer zunehmenden Spezialisierung der Zentren geführt hat, werden die Verbindungslinien zwischen den Zentren der jeweils gleichen Kategorie immer bedeutsamer, sprich die Verkehrswege. Diese neh-men aber nach der Theorie der Entwicklungsachsen eine eigenständige Bedeutung an, da sie als Standort für Betriebe, die auf den Märkten beider Zentren tätig sein wollen, von Interesse sind. Damit ergibt sich räumlich das Bild von Entwicklungsbändem, die Zonen wirtschaftlicher Aktivität darstellen. Als typische Beispiele für derartige Entwicklungsbänder auf der europäischen Ebene werden die berühmte „Blaue Banane“ von Südengland über die BENELUX-Staaten bis Norditalien, also die Rheinschiene, und der europäische „Sunbelt“ von Norditalien bis Spanien entlang der Mittelmeerküste genannt
Ein konkurrierendes Modell stellt die Theorie der sektoral orientierten Entwicklungsnetze dar. So zeigen karthographische Darstellungen der regionalen Verteilung des Automobilbaus, der Chemischen Industrie oder des Maschinenbaus auf der westeuropäischen Ebene deutlich unterschiedliche Muster, wobei die einzelnen Standorte trotzdem in ein Netz der branchenintemen, aber überregional ausgerichteten Arbeitsteilung integriert sind. Die Entwicklungsimpulse, die von diesen Netzwerken auf die europäische Wirtschaft ausgehen, werden dabei einerseits von der Gesamtentwicklung der Branche determiniert, andererseits spiegeln sie aber die Verschiebungen in der relativen Standortgunst für einzelne Branchen relativ gut wider, wenn man diese über die Produktionsanteile der einzelnen Branchen mißt.
Allerdings deuten erste Analysen der europäischen Statistik darauf hin, daß der klassische Ansatz und der von Kunzmann in Wirklichkeit nicht gegensätzlich, sondern komplementär zu sehen sind. Die her kömmlichen Analysen stellen als Oberzentren nämlich jene Regionen heraus, die Schwerpunkte von öffentlichen und privaten Dienstleistern sind. Die Theorie der Netzwerke ist dann ein allgemeineres Modell, das sich auch auf die Branchen des Produzierenden Gewerbes anwenden läßt.
Aus diesen Zusammenhängen wird aber auch das Entstehen von Entwicklungsbändern erklärbar. Es handelt sich um Räume, die aufgrund ihrer Lagegunst Ausgleichsfunktionen für die Zentren übernehmen können, andererseits aber auch selbst als Produktionsschwerpunkte zur Versorgung mehrerer Zentren von Interesse sind. Dabei spielen nicht nur die geringeren Kosten der Produktionsfaktoren Boden und Kapital im Vergleich zu den Zentren eine Rolle, sondern auch die Minimierung der Raumüberwindungskosten. Zwar ha-ben die direkten Transportkosten in modernen Volkswirtschaften eine sinkende Bedeutung. Die indirekten und in der Kostenstatistik nicht meßbaren Raumüberwindungskosten etwa für notwendigen Zeitaufwand, Sicherstellung der Pünktlichkeit von Lieferungen und Leistungen sowie Zugang zu zentralen Dienstleistungen und Kommunikationsnetzen haben dagegen, nicht zuletzt durch die neuen Produktionskonzepte in der Industrie, laufend an Bedeutung gewonnen.
Geht man von der Hypothese aus, daß in den Regionen innerhalb eines Entwicklungsbandes das Bruttoinlandsprodukt je Einwohner höher liegen müßte als im jeweiligen nationalen Durchschnitt, so läßt sich die Existenz von Entwicklungsbändern allerdings nicht nachweisen. Vielmehr stellt sich heraus, daß das nationale Entwicklungsniveau, die Lage einer Region gemessen an Erreichbarkeitsindikatoren, die Siedlungsstruktur und die vorhandene Infrastruktur die Funktion innerhalb der europaweiten Arbeitsteilung und das Einkommensniveau der einzelnen Regionen determinieren.
3. Politische Ansätze zur Einleitung eines Konvergenzprozesses
Die nur mäßigen Erfolge der regionalen Wirtschaftspolitik in der Europäischen Union haben dazu geführt, daß ab 1988 eine Reihe von Reformen bei den Strukturfonds durchgeführt wurden. Eine prinzipielle Frage, die sich für jede Regionalpolitik stellt, hat diese Diskussion zumindest implizit geprägt:
Soll das Ziel der europäischen Regionalpolitik in einer Angleichung der Einkommen und der Beschäftigungschancen in den schwachen Regionen durch die Gewährung von Finanztransfers bestehen (Ausgleichspolitik), oder geht es um eine Politik, die die förderbedürftigen Regionen innerhalb des Europäischen Binnenmarktes wettbewerbsfähig macht? Bei einer Ausgleichspolitik wären die Regionen förderfähig, die einen bestimmten, politisch festgelegten Schwellenwert bei den Einkommens-und Beschäftigungsindikatoren nicht überschreiten. Dagegen ist im zweiten Fall -also Regionalpolitik als Politik der Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit von Regionen -zusätzlich die Frage zu beantworten, ob eine Region in Hinblick auf die historisch gewachsene Siedlungsstruktur, vorhandene Einwohnerdichten und in Hinblick auf ihre Lage zu den wichtigsten Absatz-und Bezugsmärkten überhaupt die Mindestvoraussetzungen für eine regionale Wettbewerbsfähigkeit erfüllt Eine ausschließlich an der Wettbewerbsfähigkeit ausgerichtete Regionalpolitik müßte also eine zusätzliche Auswahl treffen, die wahrscheinlich zum Förderausschluß vor allem einiger der schwächsten Regionen führen würde. Da dieser Ansatz von der Kommission politisch wohl kaum durchzuhalten wäre, stellt die Regionalpolitik nach der Reform der Strukturfonds einen Kompromiß zwischen beiden Ansätzen dar: Konnte man sich bei der EG der Sechs schwerpunktmäßig noch auf eine Förderung altindustrialisierter Gebiete (Ziel 2) und des ländlichen Raumes (Ziel 5 b) durch eine Investitionsförderung vornehmlich im produzierenden Gewerbe und damit auf Maßnahmen im Sinne einer Ausgleichspolitik beschränken, so sind durch die Erweiterungen um Mitglieder im Süden und im Norden die Problemlagen vielfältiger geworden: -In Süditalien, Portugal und Griechenland fehlt teilweise die fundamentale Infrastruktur. Dies hat bereits in den vergangenen Jahrzehnten zu einer massiven Abwanderung von Bevölkerung geführt, die es zweifelhaft erscheinen läßt, ob eine Integration einiger dieser Regionen überhaupt noch erreicht werden kann. -In Staaten mit zentralistischem Staatsaufbau hat die Dominanz der „Metropolitan Areas“ (z. B. die Großräume London, Paris, Athen) zu einem Sogeffekt geführt, der die Entwicklungsmöglichkeiten der Regionen erheblich einschränkt.
Die EU-Regionalpolitik setzte daher einen neuen Schwerpunkt bei der Förderung von Regionen mit einem erheblichen Einkommensrückstand (Ziel 1), die schwerpunktmäßig in den südeuropäischen Ländern, in Irland und in Ostdeutschland zu lokalisieren sind. Verstärkt wurde diese Politik durch die Schaffung des Kohäsionsfonds, dessen Mittel auf die schwächsten Mitgliedsländer konzentriert sind. Wie bereits aufgezeigt wurde, haben diese Maßnahmen noch keinen Kohäsionsprozeß auslösen können.
Mit dem Weißbuch der Kommission von 93 19 und der Schaffung des Kohäsionsfonds wurden insofern neue Wege beschritten, als nunmehr die Kommission sich auch massiv unter dem Stichwort „Transeuropäische Netze“ in der Förderung von Infrastrukturmaßnahmen engagiert. Die Frage, inwieweit diese Maßnahmen allerdings einen Trend zu einer stärkeren Konvergenz auslösen können und welche Zeiträume realistisch unterstellt werden müssen, bis sich diese auswirken, ist damit noch nicht beantwortet. Die Erfahrungen Deutsch-lands mit der Infrastrukturförderung in den neuen Bundesländern spricht allerdings dafür, daß es sich um einen sehr langwierigen Prozeß handeln wird.
Auch unter regionalpolitischem Aspekt zeigt sich, daß eine Reduzierung der Probleme der Europäischen Union auf die Schlagworte „Konvergenz versus Divergenz“ vor dem Hintergrund der Projekte „Gemeinsamer Binnenmarkt“ und „Wirtschafts-und Währungsunion“ zu kurz greift. In der Gemeinschaft als „Problemfälle“ klassifizierte Regionen -spiegeln die immer noch erheblichen Divergenzen auf der Ebene der Mitgliedsländer wider; -sind in einer Reihe von Mitgliedsländern Folge eines zentralistischen Staatsaufbaus und einer Konzentration auf die Entwicklung der Metropolregion; -werden erheblich von den geld-und währungspolitischen Entscheidungen der einzelnen Mitgliedsländer und der Entwicklung auf den internationalen Finanzmärkten beeinflußt.
Weder eine Infrastruktur-und humankapitalorientierte Förderpolitik noch eine regionalisierte Investitionsförderung können diese grundlegenden Determinanten beeinflussen, die nicht zuletzt die Frage aufwerfen, ob in Hinblick auf die Heterogenität der Mitgliedsstaaten eine gemeinschaftliche Regionalpolitik überhaupt sinnvoll ist und nicht durch ein vertikales Finanzausgleichssystem ersetzt werden sollte. Eng verknüpft ist damit auch eine Frage, die sich im Zusammenhang mit der Europäischen Wirtschafts-und Währungsunion sowie der beabsichtigten Osterweiterung der Europäischen Union akut stellt: Welches Ausmaß an Entwicklungsdifferenzen zwischen den Mitgliedsstaaten und den sie bildenden Regionen sind in einer Wirtschafts-und Währungsunion im Gegensatz zu einer Zollunion oder einer Freihandelszone überhaupt möglich, ohne das Projekt als Ganzes zu gefährden? Nach den Erfahrungen mit der Strukturpolitik der Nachkriegszeit wäre es eine Illusion anzunehmen, derartige Divergenzen mittelfristig auch nur annähernd ausgleichen zu können.
Klaus Löbbe, Dipl. -Volksw., geb. 1940; Studium der Wirtschaftswissenschaften in Köln; Leiter der Forschungsgruppe „Sektorale Strukturanalysen“ im Rheinisch-Westfälischen Institut für Wirtschaftsforschung (RWI) Essen. Zahlreiche Veröffentlichungen zu Fragen des wirtschaftlichen Strukturwandels. Heinz Schrumpf, Dipl. -Ök., Dr. rer. pol., geb. 1949; Studium der Wirtschaftswissenschaften in Bonn; Leiter der Forschungsgruppe „Regionale Analysen“ im Rheinisch-Westfälischen Institut für Wirtschaftsforschung (RWI) Essen. Zahlreiche Veröffentlichungen zu Fragen des wirtschaftlichen Strukturwandels, insbesondere in bezug auf Europa.
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