Arbeitslosigkeit bei ausbleibendem Wachstum -das Ende der Arbeitsmarktpolitik?
Norbert Reuter
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Zusammenfassung
Die frühe Entwicklung der Sozialen Marktwirtschaft schien der Einschätzung Ludwig Erhards recht zu geben, daß das „Gespenst der Arbeitslosigkeit wirksam und endgültig gebannt“ sei. Der Anstieg der Arbeitslosigkeit seit 1974 auf immer neue Rekordniveaus zeigt jedoch, daß dieses Urteil aus dem Jahr 1960 verfrüht war. Die optimistische Sichtweise war getragen von der Vorstellung anhaltend hoher Zuwächse des Sozialprodukts, die die Arbeitskraft in der Tat zu einer dauerhaft knappen Ressource gemacht hätten. Vor diesem Hintergrund überrascht es nicht, daß die in den sechziger Jahren geschaffene Arbeitsmarktpolitik keine Instrumente für den Fall vorgesehen hat, daß die Nachfrage nach Arbeit beständig hinter dem Angebot zurückbleibt. Eine Reihe von Ökonomen hat früh auf notwendigerweise sich vollziehende Veränderungen im Zuge der Entwicklung fortgeschrittener Industriegesellschaften hingewiesen, auf die wirtschaftspolitisch reagiert werden müsse, wenn Arbeitslosigkeit dauerhaft verhindert werden soll. John M. Keynes z. B. konnte bereits 1943 überzeugend darlegen, daß zunächst Angebots-und später Nachfrageprobleme in den Vordergrund treten, die jeweils einer spezifischen Wirtschaftspolitik bedürfen. Da Nachfrageprobleme und die Spartätigkeit an Bedeutung gewinnen, sind krisenhafte Entwicklungen mit einer auf weiteres Wachstums ausgerichteten Wirtschaftspolitik nicht in den Griff zu bekommen. Es besteht vielmehr die Gefahr, daß die Probleme verschärft werden. Vor diesem Hintergrund gewinnen Argumente an Plausibilität, die die Notwendigkeit des Umsteuems von einer Wachstums-zu einer verteilungsorientierten Wirtschafts-und Arbeitsmarktpolitik betonen. Die Beseitigung der Massenarbeitslosigkeit und der mit ihr eng verbundenen sozialen Verwerfungen wird wesentlich davon abhängen, ob es gelingt, die hohe wirtschaftliche Produktivität und den vorhandenen gesellschaftlichen Reichtum für die Befriedigung des zivilgesellschaftlichen Bedarfs zu nutzen.
I. Die Entwicklung der Arbeitslosigkeit in der Sozialen Marktwirtschaft
Das „Gespenst der Arbeitslosigkeit“
verschwand ...
In der Frühphase der Bundesrepublik Deutschland setzte sich mehr und mehr die Überzeugung durch, daß die im Rahmen der neu geschaffenen Sozialen Marktwirtschaft 1 bereitgestellten Instrumente zur wirtschaftspolitischen Steuerung von Marktergebnissen sozialökonomische Fehlentwicklungen der Vergangenheit, wie die schwere Wirtschaftskrise der späten zwanziger Jahre und ihre weitreichenden Folgen, dauerhaft verhindern könnten. Auch wenn zunächst starke gesellschaftliche Kräfte aller politischer Richtungen sich für ein wesentlich stärker antikapitalistisch geprägtes Wirtschaftssystem eingesetzt hatten 2, sprachen die Wirtschaftsdaten nach einigen anfänglichen Turbulenzen eine deutliche Sprache. In den fünfziger Jahren wuchs die Wirtschaftsleistung Jahr für Jahr enorm. Im Durchschnitt lag das Wachstum in dieser Zeit bei jährlichen acht Prozent. Höhepunkt war das Jahr 1955 mit einer knapp zwölfprozentigen Steigerung des Bruttoinlandsprodukts (BIP) (vgl. Schaubild l) 3. Hiermit war ein kontinuierlicher Abbau der Arbeitslosigkeit verbunden, die 1950 noch bei knapp 1, 6 Millionen Menschen gelegen und sich in einer Arbeitslosenquote von 10, 3 Prozent niedergeschlagen hatte. Ab diesem Zeitpunkt sank die Arbeitslosenquote bestä Hiermit war ein kontinuierlicher Abbau der Arbeitslosigkeit verbunden, die 1950 noch bei knapp 1, 6 Millionen Menschen gelegen und sich in einer Arbeitslosenquote von 10, 3 Prozent niedergeschlagen hatte. Ab diesem Zeitpunkt sank die Arbeitslosenquote beständig, so daß im Jahr 1960 der Vollbeschäftigungszustand verkündet werden konnte. Die Arbeitslosenquote unterschritt deutlich die Marke von einem Prozent (vgl. Schaubild 2). Das Phänomen der Arbeitslosigkeit schien endgültig der Vergangenheit anzugehören, was als Erfolg der Sozialen Marktwirtschaft interpretiert wurde. In einer Rede vor dem Bundesparteitag der CDU in Karlsruhe im selben Jahr brachte Ludwig Erhard diese Überzeugung folgendermaßen zum Ausdruck: „(.. .) die freie Gesellschaft des Westens (verfügt) über Mittel (...), sich gegen die Wiederholung von Krisen zu wehren (. . .). Immerhin kann schon die wirtschaftliche und soziale Entwicklung der letzten zwölf Jahre eine empirische Bestätigung dafür sein, daß das Gespenst der Arbeitslosigkeit als wirksam und endgültig gebannt angesehen werden darf.“
Der sprunghafte Anstieg der Arbeitslosigkeit im Jahr 1967 auf 459 000 gegenüber 161 000 registrierten Arbeitslosen im Vorjahr löste vor dem Hintergrund der mustergültigen Entwicklung seit 1950 einen gesellschaftlichen Schock aus, da das gebannt geglaubte Gespenst sich wieder zeigte (vgl. Schaubild 2) Die Tatsache, daß die Arbeitslosenzahlen innerhalb von nur drei Jahren unter das Niveau von 1966 zurückgeführt werden konnten, kann rückblickend aber eher als Bestätigung denn als Widerlegung der Auffassung Erhards gewertet werden, daß die Soziale Marktwirtschaft in der Lage sei, Problemen auf dem Arbeitsmarkt wirksam zu begegnen. Auch die weitere positive Entwicklung mit einem nur geringfügigen jährlichen Anstieg der Erwerbsarbeitslosigkeit und einem deutlichen Überhang an offenen Stellen bis 1973 war dazu angetan, das Vertrauen in die bundesdeutsche Wirtschaftsordnung zu festigen. 2. ... doch nicht auf Dauer Das Jahr 1974 markiert eine historische Wende auf dem bundesdeutschen Arbeitsmarkt. Seit diesem Zeitpunkt ist es nicht mehr gelungen, die Arbeitslosigkeit nach einem rezessionsbedingten Anstieg im folgenden Aufschwung wieder auf das Ausgangsniveau zurückzuführen. In der zweiten bundesdeutschen Rezession stieg sie bis 1975 auf 1, 1 Millionen Arbeitslose und sank im darauf-folgenden Aufschwung bis 1979 nur auf 876 000, was immer noch ein Plus von 603 000 Arbeitslosen gegenüber der Situation vor der zweiten Rezession bedeutete. Die nächste Rezession begann dann bereits auf einem hohen Arbeitslosensockel und übertraf in der Folge zum ersten Mal wieder die hohen Arbeitslosenzahlen der unmittelbaren Nachkriegszeit: Die Arbeitslosigkeit schnellte bis 1985 auf 2, 3 Millionen registrierte Arbeitslose hoch und sank -für Westdeutschland -bis 1991 trotz Einigungsbooms bei einer Arbeitslosenquote von 3 Prozent auf nur 1, 7 Millionen. Nach kurzer Beruhigung stieg sie danach weiter dramatisch an: 1996 waren in Deutschland durchschnittlich bereits knapp 4, 0 Millionen Frauen und Männer (davon 2, 8 Millionen in den alten Bundesländern) als arbeitslos registriert, was einer Arbeitslosenquote von 11, 5 Prozent entsprach (altes Bundesgebiet: 10, 1 Prozent; neues Bundesgebiet: 16, 7 Prozent) (vgl. Schaubild 2). Der anhaltende Anstieg der Arbeitslosigkeit im Frühjahr 1997 auf neue Rekordnivaus und die Tatsache, daß auf eine registrierte offene Stelle rund 13 Arbeitssuchende kommen, widerlegt in einer lange Zeit für undenkbar gehaltenen Dramatik die Einschätzung Erhards, daß das Gespenst der Arbeitslosigkeit „wirksam und endgültig gebannt“ sei.
II. Arbeitsmarktpolitik im Zeichen hoher Wachstumsdynamik
Abbildung 2
Schaubild 2: Entwicklung der registrierten Arbeitslosigkeit und der offenen Stellen Quelle: Institut für Arbeitsmarkt-und Berufsforschung.
Schaubild 2: Entwicklung der registrierten Arbeitslosigkeit und der offenen Stellen Quelle: Institut für Arbeitsmarkt-und Berufsforschung.
1. Die Grundlagen der bundesdeutschen Arbeitsmarktpolitik Die Ausgestaltung der aktiven Arbeitsmarktpolitik war getragen von einer spezifischen Sichtweise über den Verlauf marktwirtschaftlich organisierter Industriegesellschaften. Wirtschaftswissenschaftler und Sachverständige gingen bis weit in die siebziger Jahre hinein mit Blick auf die Bundesrepublik davon aus, daß mit einem anhaltenden Wachstum des Sozialprodukts von mindestens vier Prozent pro Jahr zu rechnen sei, das Wachstum also einem „exponentiellen“ Verlauf folge 6. Eine derartige dynamische Wachstumsentwicklung verlangt, daß Jahr für Jahr ein höherer realer Wert im Vergleich zum Sozialprodukt des jeweils vorangegangenen Jahres produziert wird. Ausgehend vom Jahr 1960 hätte ein jährliches Wachstum von vier Prozent bedeutet, daß in diesem Jahr rund 40 Milliarden DM, 1970 rund 60 Milliarden DM, 1980 rund 90 Milliarden DM, 1990 rund 130 Milliarden DM und 1996 bereits rund 164 Milliarden zusätzlich zum jeweiligen Vorjahr (alles in Preisen von 1991) an Werten hätten geschaffen werden müssen. Ohne den weiteren Ausführungen vorgreifen zu wollen, sei an dieser Stelle nur erwähnt, daß der reale BIP-Zuwachs in Westdeutschland 1995 43 Milliarden DM und 1996 sogar nur 38 Milliarden DM betragen hat (vgl. Schaubild 3).
Es überrascht nicht, daß die vor dem Hintergrund derart optimistischer Wachstumserwartungen gesetzlich fixierte Arbeitsmarktpolitik kaum Instrumente für den Fall vorgesehen hat, daß die Nachfrage nach Arbeit dauerhaft und in wachsendem Ausmaß hinter dem Arbeitsangebot zurückbleibt. Die Erwirtschaftung der prognostizierten hohen jährlichen Steigerungsraten des Sozialprodukts hätte die menschliche Arbeitskraft in der Tat dauerhaft zu einer knappen Ressource gemacht, woran auch hohe Produktivitätssteigerungen nichts Wesentliches hätten ändern können. Primär ist die bundesdeutsche Arbeitsmarktpolitik daher quantitativ auf die Überbrückung kurzfristiger Arbeitsplatzlücken (Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen, Kurzarbeitergeld) und qualitativ auf die Anpassung der abhängigen Erwerbspersonen an das Anforderungsprofil des Arbeitsmarktes (Arbeitsvermittlung, Berufsberatung, Umschulungsund Qualifizierungsmaßnahmen) ausgerichtet. Dies spiegelt sich im Arbeitsförderungsgesetz, dem zentralen Instrument der aktiven Arbeitsmarktpolitik, wider. 2. Arbeitsmarktpolitik zur Kompensation vorübergehender Wachstumsschwächen Das Arbeitsförderungsgesetz (AFG) aus dem Jahr 1969 stellt eine Reaktion auf die erste größere Rezession im Jahr 1967 dar. Vorangegangen war die Verabschiedung des von der „Großen Koalition“ aus CDU, CSU und SPD geschaffenen „Gesetzes zur Förderung der Stabilität und des Wachstums der Wirtschaft“ vom Juni 1967, in dem insbesondere die Bundesregierung auf die Verfol-gung der vier makroökonomischen Ziele „stabiles Preisniveau“, „außenwirtschaftliches Gleichgewicht“, „stetiges und angemessenes Wachstum“ und „hoher Beschäftigungsstand“ verpflichtet wurde. Das zwei Jahre später verabschiedete AFG stellt die bestehende Arbeitsverwaltung erstmals in den Dienst einer aktiven Arbeitsmarktpolitik und gab dem Staat hierzu umfassende Instrumente an die Hand. Als Trägerin dieser neuen Aufgaben wurde die „Bundesanstalt für Arbeit“ (BA) als Nachfolgerin der 1952 errichteten „Bundesanstalt für Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung“ gegründet.
Vor dem Hintergrund der unterstellten hohen Wachstumsdynamik wird verständlich, warum die einzelnen Maßnahmen im Rahmen des AFG, insbesondere die Möglichkeit, durch staatliche Intervention zusätzlich Arbeitsplätze im Rahmen eines „zweiten Arbeitsmarktes“ zu schaffen, grundsätzlich für die jeweiligen Betroffenen zeitlich befristet angelegt wurden. Der so konzipierte „zweite Arbeitsmarkt“ steht in einem komplementären Verhältnis zum „ersten“, privatwirtschaftlich organisierten Arbeitsmarkt: In Phasen schwächeren Wachstums und angesichts des damit verbundenen sinkenden Arbeitsplatzangebots hat der „zweite
Arbeitsmarkt“ die Aufgabe, kurzfristig als „Auffangbecken“ zu fungieren und gleichzeitig die Qualifikation der Arbeitskräfte -das „Humankapital“ -zu erhalten bzw. an neue Bedingungen anzupassen, damit diese mit Beginn der folgenden Aufschwungperiode wieder dem „ersten Arbeitsmarkt“ zur Verfügung stehen und hier integriert werden können. Dementsprechend wurden im AFG Tätigkeiten als förderungsfähig beschrieben, die Voraussetzungen für die Beschäftigung von Arbeitslosen in Dauerarbeit und übergangsweise Arbeitsangelegenheiten für Langzeitarbeitslose schaffen und gleichzeitig im öffentlichen Interesse liegen.
III. Von der Realität zur Theorie und zurück
Abbildung 3
Schaubild 3: Tatsächliche und erwartete Entwicklung des realen Bruttoinlandsproduktes (BIP) Quelle: Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung und eigene Berechnungen.
Schaubild 3: Tatsächliche und erwartete Entwicklung des realen Bruttoinlandsproduktes (BIP) Quelle: Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung und eigene Berechnungen.
1. Die Realität folgte nicht den Wachstums-erwartungen Aus heutiger Sicht ist deutlich zu erkennen, daß das tatsächliche Wachstum nicht den erwarteten Verlauf genommen hat. Die Entwicklung des realen Sozialprodukts verlief nicht exponentiell, sondern folgte im wesentlichen „nur“ einem linearen Trend (vgl. Schaubild 3). Lineares im Gegensatz zu exponentiellem Wachstum bedeutet, daß jährlich kein steigender, sondern jeweils nur ein real konstanter Sozialproduktzuwachs erfolgt, der für die Bundesrepublik seit 1960 beständig um den langfristigen Durchschnitt des Sozialproduktzuwachses in Höhe von rund 50 Milliarden DM schwankt (in Preisen von 1991). Geht man von einer Fortsetzung dieses Trends aus, werden gegenwärtige Wachstumsraten von rund zwei Prozent langfristig weiter unterschritten, da das Verhältnis von weitgehend konstantem jährlichen Zuwachs zu wachsendem Sozialprodukt notwendigerweise immer kleiner wird. Vor diesem Hintergrund stellen die abnehmenden Wachstumsraten des Sozial-produkts (vgl. Schaubild 1) keinen Trendbruch dar, sondern sind lediglich Ausdruck einer seit Bestehen der Bundesrepublik anhaltenden Entwicklung, die auch für vergleichbare Industrieländer charakteristisch ist
Insbesondere mit Blick auf den Arbeitsmarkt hat dieses hinter den Erwartungen zurückbleibende Wachstum den Effekt, daß wesentlich weniger Arbeit benötigt wird, als zunächst angenommen wurde. Hätte sich das Wachstum allein von 1960 an mit prognostizierten Wachstumsraten von konstant vier Prozent pro Jahr entwickelt, würden unter den gegenwärtigen westdeutschen Produktionsbedingungen heute rund 14 Millionen Erwerbstätige mehr zur Erwirtschaftung dieses Sozialprodukts benötigt. In diesem Fall gäbe es also keinen Arbeitsplatz-, sondern einen nicht unerheblichen Arbeitskräftemangel.
Neben den ausgebliebenen hohen Wachstumsraten ist auch die voranschreitende Produktivitätsentwicklung für eine zurückbieibene Arbeitskräftenachfrage verantwortlich zu machen. Eine sich ständig steigernde Mechanisierung der Produktion führt dazu, daß mit immer weniger Arbeitseinsatz ein gleiches oder sogar steigendes Sozialprodukt erwirtschaftet wird. Waren 1960 noch 56, 1 Milliarden Arbeitsstunden notwendig, um ein BIP von einer Billion DM (in Preisen von 1991) zu erwirtschaften, so wurde 1996 in Westdeutschland mit nur knapp 44 Milliarden Arbeitsstunden ein BIP von 2, 8 Billionen DM produziert. Mit nur noch 80 Prozent der Arbeitsstunden wurde also ein rund 2, 7facher Produktionswert geschaffen. Insofern spiegelt der von der Statistik für das Jahr 1992 aus-7 gewiesene und als Erfolg gefeierte Beschäftigungsanstieg für Westdeutschland von rund 2, 5 Millionen zusätzlichen Erwerbstätigen gegenüber dem Jahr 1980 ein falsches Bild wider. Diesem Anstieg von neun Prozent stand nämlich nur ein geringfügiger Anstieg des westdeutschen Arbeitsvolumens von 47, 1 auf 47, 4 Milliarden Arbeitsstunden (plus 0, 6 Prozent) gegenüber, der sich zudem im wesentlichen aus dem Einigungsboom speiste. Dies zeigt die Tatsache, daß das Arbeitsvolumen bis 1996 mit knapp 44 Milliarden Stunden sogar wieder deutlich unter den Wert von 1980 (minus 6, 7 Prozent) auf einen neuen historischen Tiefstand absank. Insofern wurde in den letzten 15 Jahren nicht mehr Arbeit im Sinne von mehr Arbeitsstunden geschaffen, sondern im wesentlichen die Arbeit auf nur mehr Köpfe verteilt (vgl. Schaubild 4).
Da der Produktivitätsfortschritt sich fortsetzen wird, ist davon auszugehen, daß auch in Zukunft ein weiter sinkender Arbeitseinsatz zur Produktion des Sozialprodukts benötigt werden wird. Um allein die derzeit 4, 7 Millionen registrierten Arbeitslosen unter den gegenwärtigen westdeutschen Produktionsbedingungen beschäftigen zu können, müßte das BIP um rund 17 Prozent von 2, 7 auf 3, 2 Billionen DM (plus 452 Milliarden DM) dauerhaft erhöht werden. Gesetzt den Fall, eine solche Steigerung wäre grundsätzlich möglich, könnte sie nur über viele Jahre verteilt realisiert werden Da in dieser Zeit aber weiterer Produktivitätsfortschritt stattfindet, der die Arbeitsplatzwirkung eines steigenden BIP zu einem Teil immer wieder zunichte macht müßte dessen Wachstum in Abhängigkeit vom Ausmaß des Produktivitätsfortschritts noch wesentlich höher liegen. Dies ist jedoch weder wünschenswert noch machbar. Zum einen würde ein derartig hohes Wirtschaftswachstum eine unvertretbar steigende Umweltbelastung mit sich bringen, zum anderen muß aus heutiger Sicht bereits die Verhinderung weiter abnehmender Wachstumsraten als Erfolg gewertet werden. Eine Umkehr des Wachstumstrends hin zu einer Wachstumsdynamik, wie sie die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg gekannt hat, erscheint dagegen völlig unrealistisch. Damit schwindet die Möglichkeit, auf diesem Wege die vorhandene Massenarbeitslosigkeit in einem nennenswerten Umfang beseitigen zu können.
Selbstverständlich läßt sich hierfür nicht das empirische Phänomen als Beleg anführen, daß seit über 45 Jahren eine trendmäßige Abnahme der Wachstumsrate zu verzeichnen ist. Auch lassen sich aus einem Trend keine Prognosen für die Zukunft ableiten. Aber es stellt sich in diesem Zusammenhang die Frage nach theoretischen Ansätzen, die eine solche Entwicklung nicht nur erklären können, sondern sie in der Vergangenheit bereits vorhergesehen haben. Ein derartiger Verbund von Theorie und Empirie würde erhebliche Zweifel an einem wirtschaftspolitischen Credo wecken, das in einer Innovations-und Wachstumsoffensive ein realistisches Mittel zur Überwindung der Massenarbeitslosigkeit sieht. 2. Die Theorie langfristiger Wachstums-abschwächung
Mit dem Namen des bedeutenden englischen Ökonomen John Maynard Keynes wird in der Regel ausschließlich eine über periodische Schuldenaufnahme finanzierte „antizyklische Fiskalpolitik“ verbunden. Völlig übersehen wird die Tatsache, daß Keynes sich ausführlich mit der Zukunft marktwirtschaftlich organisierter Industriegesellschaften beschäftigt hat. In diesem Zusammenhang hat er darauf hingewiesen, daß im Verlauf der Nachkriegsentwicklung antizyklischen Eingriffen des Staates aufgrund voranschreitender Wachstumsabschwächung sukzessive die Grundlage entzogen und eine grundsätzliche wirtschaftspolitische Neuorientierung nötig werden würde
Als Ausfluß seiner umfangreichen Forschungen über die Bewegungsgesetze kapitalistischer Systeme prognostizierte Keynes im Mai 1943 drei Entwicklungsphasen für die Zeit nach dem Krieg In einer ersten Phase bestehe ein erhebli-eher Bedarf an Investitionen, um die hohe Nachfrage (bedingt vor allem durch Wiederaufbau, Nachholbedarf, Mangel an Grundbedürfnisgütern) decken zu können. Aufgabe der Wirtschaftspolitik dieser Phase sei es, die Bereitstellung des hierzu nötigen hohen Kapitalbedarfs zu unterstützen. Mittels staatlicher Anreize solle das gesellschaftliche Sparen, also der Konsumverzicht zugunsten von Investitionen, angeregt werden. In einer zweiten Phase, die den Übergang in ein grundsätzlich verändertes Investitionsregime markiert, schwäche sich aufgrund sinkender Konsumdringlichkeit bei wachsender Konsumfähigkeit der privatwirtschaftliche Investitionsbedarf ab, und das Sparangebot stehe vorübergehend in einem ausgeglichenen Verhältnis zur Investitionsnachfrage. Die dritte Phase ist dann von einem im Vergleich zum Investitionsvolumen (auf Vollbeschäftigungsniveau) höheren Sparniveau als Ausdruck einer sinkenden Attraktivität des Konsums infolge einer zwischenzeitlich erreichten hohen Güterausstattung der Haushalte geprägt. Zu dieser dritten Phase hielt Keynes fest: „Es wird notwendig sein, sinnvollen Konsum zu unterstützen, vom Sparen abzuraten -und einen Teil des unerwünschten Überangebots durch vermehrte Freizeit zu absorbieren, mehr Urlaub (welches ein wunderbarer Weg ist, Geld loszuwerden) und kürzere Arbeitszeiten.“
In der geschilderten frühen Phase erscheint das gesamtwirtschaftliche Nachfragereservoir unerschöpflich und nur vom Angebot begrenzt, so daß eine ideale Konstellation für unternehmerisches Handeln besteht. Entstandene Gewinne werden immer wieder in neue Produktionsanlagen investiert, sei es um vorhandene Kapazitäten zu erweitern, sei es um neue Produkte, für die aufgrund niedriger Güterausstattung der Haushalte eine hohe Aufnahmebereitschaft besteht, auf den Markt zu bringen. Die Absatz-und damit verbunden die Renditeerwartungen werden aufgrund der dynamischen Nachfrage tendenziell erfüllt, so daß in der Regel kein Anlaß besteht, Gewinne nicht immer wieder zu investieren. Das „Akkumulationskarussell“, also die Abfolge von Gewinnerzielung und Investitionen, kommt marktwirtschaftlich initiiert und koordiniert in Fahrt. Von den erzielten hohen Wachstumsraten profitieren die Unternehmer durch hohe Gewinne, die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer durch ein hohes und sich erweiterndes Arbeitsplatzangebot und steigende Realeinkommen und der Staat durch hohe Steuereinnahmen, die er wiederum zur Steigerung Wohlfahrt, Ausbau zum Infra der kollektiven der -
Struktur, zur Absicherung und Erweiterung der sozialen Sicherungssysteme etc. verwenden kann. Diese wirtschaftliche Konstellation beschreibt die Situation Deutschlands und vieler anderer Industrieländer für einen Zeitraum von 20 bis 25 Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg.
Im Zuge der voranschreitenden Investitionstätigkeit und der hiermit verbundenen kontinuierlichen Produktivitätssteigerung, die erhebliche Preissenkungen möglich macht, setzt früher oder später der Wandel in die entscheidende dritte Phase ein. Das Angebot holt gewissermaßen die Nachfrage ein. Wegen abnehmender Konsumdynamik infolge von Sättigungstendenzen auf wichtigen Konsumgüter-märkten werden bislang eindeutige „Nachfragesignale“ immer undeutlicher, uneinheitlicher und schwerer zu kalkulieren, so daß schrumpfenden Märkten keine entsprechend expandierenden mehr gegenüberstehen. Für den einzelnen Unternehmer steigt die Unsicherheit über Möglichkeiten und Richtungen zukünftigen Absatzes. Das Vertrauen in nahezu unbegrenzte Absatzmöglichkeiten, das dem Investitionsverhalten in der deutschen Nachkriegsmangelgesellschaft zugrunde lag, schwindet. Neu-und Erweiterungsinvestitionen nehmen in der Folge an Bedeutung ab, Rationalisierungsinvestitionen an Bedeutung zu. Auch eine wachsende Exportorientierung, die mit hohen Außenhandelsüberschüssen einhergeht, vermag das sich weiter steigernde Produktionspotential nicht dauerhaft auszulasten. In dem Maße, wie die Rentabilitätsaussichten in der realen Wirtschaft sinken, nimmt die Attraktivität von Finanzanlagen zu. Sie werden zu einer zunehmend reizvollen Alternative zur realwirtschaftlichen Investitionstätigkeit, da auf diesem Weg sichere und kalkulierbare Renditen erzielt werden können. Als Konsequenz dieser Entwicklung gerät die Akkumulationsdynamik ins Stocken. Bei nachlassenden Absatzmöglichkeiten wird Kosteneinsparung zum erstrangigen Mittel, um Gewinne bzw. Gewinnspannen halten zu können. Dies führt zu erhöhten Anstrengungen, Arbeit einzusparen oder zumindest niedriger zu entlohnen. Sofern nicht wirtschaftspolitisch gegen-gesteuert wird, ist aufgrund der sinkenden Verhandlungsposition von Arbeitnehmerinnen/Arbeitnehmern und Gewerkschaften hiermit eine Senkung der Lohn-und eine Steigerung der Profit-quote verbunden. Die Polarisierung der Gesellschaft nach Einkommen und Vermögen verstärkt sich, die Arbeitslosigkeit steigt. 3. Die vorherrschende Sicht der Dinge Solange ökologische und vor allem soziale „Grenzen des Wachstums“ nicht als Realität wahr-9 genommen werden und ein anhaltendes (exponentielles) Wachstum als „natürlicher“, „richtiger“ und „angemessener“ Entwicklungsverlauf verstanden wird, muß jede hiervon abweichende Entwicklung als Defizit empfunden werden. Es kann dann weder überraschen, daß die mit sinkendem Wachstumsraten parallel ansteigende Arbeitslosigkeit in direktem Zusammenhang mit dieser Wachstums-abschwächung gesehen wird, noch, daß zur Über-windung der Arbeitsplatzlücke in erster Linie auf eine -wie immer im einzelnen zu erreichende -Stärkung der Wachstumskräfte und damit auf wieder einsetzendes hohes Wirtschaftswachstum gesetzt wird. Solange die Vorstellung dominiert, der Güter-und Dienstleistungsberg müsse und könne zeitlich unbegrenzt und beständig wachsen, da dies unabdingbare Voraussetzung sowohl für die Beseitigung der Massenarbeitslosigkeit als auch für jede weitere Wohlstandssteigerung sei, ist ein konstruktiver Umgang mit zurückgehenden Wachstumsraten grundsätzlich verbaut.
Geringeres oder ausbleibendes Wachstum des Sozialprodukts kann vor diesem Hintergrund nicht als Erfolg und Indikator einer wachsenden Über-windung von Knappheiten und einer steigenden Bedürfnisbefriedigung verstanden werden, wie es Keynes und vor und nach ihm viele andere Ökonomen getan haben, sondern es muß notwendigerweise als das eigentliche Übel erscheinen, das es zu überwinden gilt. Ohne daß dies genauer thematisiert oder begründet wird, beinhaltet die Vorstellung von nicht vorhandenen Wachstumsgrenzen jedoch zwei Bedingungen, die immer fragwürdiger werden: 1. Die Möglichkeiten zu Erfindungen (Inventionen)
und deren Umsetzung in marktfähige Produkte (Innovationen) sind zu allen Zeiten gleich und grundsätzlich unbegrenzt. 2. Bedürfnisse sind ebenfalls unbegrenzt und können im wesentlichen nur materiell befriedigt werden.
Eine Überprüfung dieser Prämissen zeigt, daß sie kaum universelle Gültigkeit beanspruchen können: Die Tatsache, daß auf der Angebotsseite ein immer größerer finanzieller, institutioneller und organisatorischer Aufwand betrieben werden muß, um neue und zusätzliche Produkte auf den Markt zu bringen, spricht dafür, daß die technische Entwicklung selbst einem ertragsgesetzlichen Verlauf folgt Zusätzliches Wachstum erfordert ein immer höheres reales Investitionsvolumen und einen steigenden Forschungs-und Entwicklungsaufwand, so daß davon auszugehen ist, daß das Wachstumspotential der technischen Entwicklung tendenziell abnimmt
Auf der anderen Seite ist auf der Grundlage historischer, soziologischer und ethnologischer Untersuchungen die These von der Unbegrenzbarkeit von Bedürfnissen in Frage zu stellen Zahlreiche Bedürfnisse, die gerade in entwickelten Industrie-gesellschaften relevant werden, in denen materielle Grundbedürfnisse sich mehr und mehr der Sättigungsgrenze nähern oder sie schon erreichen oder sogar überschritten haben, sind grundsätzlich nicht durch (neue) Produkte zu befriedigen. So ist etwa die Befriedigung des Bedürfnisses nach Wohnung, Kleidung oder Mobilität auf mehr materielle Produktion angewiesen als die Befriedigung des Bedürfnisses nach Bildung, Ruhe und Erholung. Ganz besonders wirkt aber das Bedürfnis nach Vorsorge, welches im wesentlichen durch Ersparnisbildung befriedigt wird und in wirtschaftlich unsicheren Zeiten stärker wird, einer ständig absolut steigenden Güter-und Dienstleistungnachfrage entgegen
Die Tatsache, daß die zuletzt genannten Bedürfnisse in entwickelten Industrieländern an Bedeutung zunehmen, erklärt den relativen Rückgang der materiellen Produktion und die gleichzeitige Ausweitung einer immateriellen, weniger wachstumswirksamen Bedürfnisbefriedigung, wozu gerade auch die Nachfrage nach Dienstleistungen zu zählen ist. Die steigenden Aufwendungen zur Absatzsicherung von Produkten durch Marketing lassen sich als unmittelbarer Beleg dafür anführen, daß die Bedürfnisse bzw. Nachfragefaktoren und nicht mehr wie in der Vergangenheit das Angebot der grundsätzlich limitierende Faktor in entwickel-ten industriellen Systemen sind Darüber hinaus ist die Erkenntnis geradezu zwingend, daß die Wirtschaftsdynamik notwendigerweise nach erfolgtem Wiederaufbau und bei abnehmendem Bevölkerungswachstum nachlassen muß, der Wachstumsprozeß also gewissermaßen aus sich selbst heraus seine Grenze erzeugt, die „um so rascher erreicht (wird), je stärker und störungsfreier die Expansion verläuft“
IV. Konsequenzen
Abbildung 4
Schaubild 4: Reales Bruttoinlandsprodukt (BIP) je Einwohner (in Preisen von 1991) und westdeutsches Arbeitsvolumen Quellen: Statistisches Bundesamt, Institut für Arbeitsmarkt-und Berufsforschung.
Schaubild 4: Reales Bruttoinlandsprodukt (BIP) je Einwohner (in Preisen von 1991) und westdeutsches Arbeitsvolumen Quellen: Statistisches Bundesamt, Institut für Arbeitsmarkt-und Berufsforschung.
1. Die überkommene Gleichung:
Wirtschafts-und Arbeitsmarktpolitik = Wachstumspolitik Im Rahmen der heutigen Wirtschaftspolitik und der sie fundierenden neoliberalen Ökonomik werden solche Einwände entweder nicht zur Kenntnis genommen oder als irrelevant und außerhalb des Gegenstandsbereiches der Ökonomik liegend abqualifiziert. Hiervon ist ihre Problemwahrnehmung entscheidend geprägt. Wenn die Überzeugung leitend ist, daß das Inventions-und Innovationspotential unbegrenzt sind und seitens der Nachfrage bzw.der Bedürfnisse grundsätzlich keine Aufnahmegrenzen bestehen, kann dies nicht ohne Folgen für wirtschaftspolitisches Handeln bleiben: Die Krise der Industriegesellschaft muß notwendigerweise primär als Wachstumskrise und damit als Problem nicht ausreichender (Gewinn-) Anreize für unternehmerisches Handeln, Arbeitslosigkeit als letztlich freiwillig gewählt und/oder Ausdruck mangelnder privater Initiative verstanden werden.
So wurde in den vergangenen 15 Jahren mit einem Bündel angebotspolitischer Maßnahmen auf den Rückgang der Wachstumsraten, den kontinuierlichen Anstieg der Arbeitslosigkeit und die mit ihr eng verbundene wachsende Armut reagiert. Erklärtes Ziel war es, der Wirtschaft nach einer als temporär verstandenen wirtschaftlichen Schwächeperiode wieder neue Impulse zu geben, die auf alte Wachstumspfade zurückführen Vor diesem Hintergrund war es ein Kernanliegen der Bundesregierung, eine deutliche Entlastung der Gewinne durchzusetzen. Die Gewinnsteuerbelastung wurde sukzessive auf ein historisches Tief reduziert, gleichzeitig die Lohnsteuerquote auf ein Rekord-hoch gesteigert Mit Blick auf Westdeutschland legten die Unternehmensgewinne zwischen 1980 und 1993 (neuere Zahlen liegen nicht vor) brutto um 185 Prozent und netto sogar um 251 Prozent zu, während die Nettoarbeitseinkommen im gleichen Zeitraum gerade einmal um 63 Prozent stiegen, im Durchschnitt pro beschäftigtem Arbeitnehmer nur um 52 Prozent. Seitdem sind sie sogar leicht gefallen. Unter Abzug der Inflation stiegen die durchschnittlichen Arbeitseinkommen im Zeitraum 1980 bis 1995 insgesamt gerade einmal um 3, 1 Prozent -im Mittel eine Steigerung von lediglich 0, 2 Prozent pro Jahr. Insofern kann bei den Arbeitseinkommen von massiver Lohnzurückhaltung seit nunmehr bereits 15 Jahren gesprochen werden
Ergebnis dieser auf die Entlastung des Unternehmenssektors setzenden Politik war gerade nicht der proklamierte Anstieg der Investitionsdynamik, der zu mehr Wachstum und mehr Arbeitsplätzen führen sollte. Entgegen allen Versprechungen sank die Investitionsquote sogar unter den Stand der sechziger und siebziger Jahre
Dem berechtigten Einwand, daß Löhne und Einkommen nicht nur einen Kostenfaktor für die Wirtschaft darstellen, sondern letztlich das binnen-wirtschaftliche Nachfrageniveau bestimmen, wurde dadurch begegnet, daß die Diskussion um Arbeitsplätze auf die Frage der Wettbewerbsfähigkeit verengt wurde. Für die Exportwirtschaft sind Löhne in der Tat vor allem ein Kostenfaktor, ihre Funktion als der inländische Nachfrage konstituierende und stabilisierende Faktor spielt für sie keine unmittelbare Rolle. So wurde ungeachtet der sich auch nach der deutschen Einheit auf Rekordniveau bewegenden deutschen Exportposition und trotz eindeutiger Ergebnisse führender Wirtschaftsforschungsinstitute immer wieder vor allem von Seiten der Arbeitgeberverbände eine sinkende Wettbewerbsfähigkeit behauptet, auf die mit weiteren (Arbeits-) Kostensenkungen zu reagieren sei. Zu Recht wurde von unterschiedlichen gesellschaftlichen Positionen aus immer wieder nach der grundsätzlichen Berechtigung einer solchen „Standortdebatte“ gefragt, die Massenarbeitslosigkeit als Ergebnis einer mangelnden Exportfähigkeit interpretiert, obgleich das betreffende Land bereits zu den beiden größten Exportnationen der Welt gehört und wieder auf dem besten Wege ist, die Spitzenposition zu besetzen, die es vereinigungsbedingt verloren hat Gerade mit Blick auf den Arbeitsmarkt ist das Exportargument auch noch aus einem anderen Grund brüchig: Seit einigen Jahren ist zu beobachten, daß steigende Exportüberschüsse mit einem erheblichen Anstieg der Arbeitslosigkeit einhergehen 2. Die zeitgemäße Gleichung:
Wirtschafts-und Arbeitsmarktpolitik = Verteilungspolitik Die bisherigen Ausführungen lassen sich dahin gehend zusammenfassen, daß über Wachstum und eine Politik, die auf die Stärkung von Wachstums-kräften setzt, keine Lösung des Problems Massenarbeitslosigkeit zu erwarten ist. Hierfür sprechen nicht nur theoretische Argumente, wie sie im Umfeld der keynesianischen Theorie herausgestellt wurden, sondern auch die empirischen Erfahrungen der achtziger und neunziger Jahre. Die massiven Entlastungen des Unternehmenssektors haben nicht zu höheren Wachstumsraten geführt, die Investitionsquote ist sogar weiter gesunken. Gleichzeitig und zum Teil bedingt durch die vielfältigen Steuerentlastungen ist das staatliche Defizit gewachsen und die Arbeitslosigkeit geradezu explodiert.
Auf der anderen Seite -und dies scheint völlig aus dem Blick geraten zu sein -ist das Sozialprodukt in der Vergangenheit nicht gesunken, sondern bis auf wenige Jahre (1967, 1975, 1982 und 1993) kontinuierlich gewachsen, so daß heute enorme finanzielle Spielräume bestehen. Zwischen 1960 und 1996 hat sich das westdeutsche BIP ungefähr verdreifacht (vgl. Schaubild 3); je Einwohner stieg es hier allein zwischen 1980 und 1996 real um 27, 7 Prozent. Auch wenn es infolge der deutschen Vereinigung für Gesamtdeutschland etwas zurückgefallen ist, ergibt sich immer noch ein Pro-Kopf-Plus von 14, 3 Prozent für den Zeitraum 1980 bis 1996. Das gesamtdeutsche BIP je Einwohner liegt mit durchschnittlich rund 37 500 DM (in Preisen von 1991) 1996 immerhin auf dem Niveau der alten Bundesländer von 1988 -Tendenz steigend (vgl. Schaubild 4).
Dieser Anstieg des BIP -insgesamt wie pro Kopf -bei gleichzeitig abnehmendem gesamtwirtschaftlichem Arbeitsaufwand ist Folge und Ergebnis des Produktivitätsfortschritts, das heißt der Tatsache, daß das Sozialprodukt mit immer weniger menschlicher Arbeit und immer mehr und immer effizienteren Maschinen hergestellt wird. Probleme resultieren vor allem daher, daß ohne verteilungspolitische Korrekturen immer weniger Einkommen den abhängig Beschäftigten aufgrund ihrer Arbeitsleistung und immer mehr den stärker an der Wertschöpfung beteiligten Maschinen und damit deren Besitzern zufließen Nicht der durch die technische Entwicklung ausgelöste Produktivitätsfortschritt selbst ist damit das Problem, sondern nur die in seinem Gefolge sich verändernde Einkommensverteilung, die sich ohne gesellschaftliche Anstrengungen hinsichtlich Reallohnsteigerung und Arbeitszeitverkürzung automatisch zugunsten der Kapitaleigner verbessert. Der Nobelpreisträger für Wirtschaftswissenschaften Wassily W. Leontief hat das dieser Entwicklung zugrundeliegende Problem Anfang der achtziger Jahre folgendermaßen beschrieben: „Die Geschichte des technischen Fortschritts der letzten zweihundert Jahre ist im Grunde die Geschichte der Menschheit, sich langsam aber stetig wieder ein Paradies zu schaffen. Was würde geschehen, wenn wir uns tatsächlich dort wiederfänden? Wenn alle Güter und Dienstleistungen ohne Arbeit zu haben wären, würde niemand mehr gegen Entgelt beschäftigt. Arbeitslos sein hieße aber, ohne Einkommen sein. Folglich würden im Paradies alle so lange Hunger leiden, bis sich eine den veränderten Produktionsbedingungen angepaßte Einkommenpolitik durchgesetzt hätte.“
Aus diesem Zitat wie aus der vorangegangenen Darstellung läßt sich die zentrale Schlußfolgerung ziehen, daß Gesellschaft und Staat zukünftig nicht umhin kommen werden, sich wesentlich stärker auf Verteilungs-statt auf Wachstumsfragen zu konzentrieren. Neben einer veränderten Steuer-und Abgabenpolitik mit dem Ziel, den Faktor „Kapital“ im Gleichklang mit seiner wachsenden Bedeutung im Produktionsprozeß an der Finanzierung staatlicher und sozialer Ausgaben zu beteiligen, und einer Wiederbelebung der in der Vergangenheit erfolgreichen Arbeitszeitverkürzung erscheint vor allem eine verstärkte Arbeitsmarkt-politik bis hin zur Schaffung eines öffentlichen Beschäftigungssektors, der speziell für Langzeitarbeitslose dauerhafte Beschäftigungsmöglichkeiten bieten würde, unumgänglich.
Vor dem. Hintergrund, daß es immer mehr Menschen dauerhaft verwehrt ist, einer geregelten Beschäftigung nachzugehen, kommt einer dauerhaften Förderung, also einer öffentlichen Schaffung von Arbeitsplätzen ohne die für ABM bislang typische zeitliche Befristung, eine wachsende Bedeutung zu. Rückblickend muß es für eine Historikerin bzw. einen Historiker, die oder der in der Zukunft die Geschichte der Erwerbsarbeitslosigkeit in Deutschland im 20. Jahrhundert schreiben wird, geradezu widersinnig erscheinen, daß einerseits große finanzielle Aufwendungen für die passive Finanzierung von Arbeitslosigkeit und deren Folgekosten getätigt wurden und andererseits ein großer Bedarf an gesellschaftlich notwendiger Arbeit bestand. Erklärungsversuche, dies sei an der Finanzierungsfrage gescheitert, dürften angesichts des objektiv vorhandenen enormen Reichtums in dieser Zeit kaum plausibel erscheinen
Bereits heute ist unübersehbar, daß der zurückgehenden privatwirtschaftlichen Nachfrage nach Erwerbsarbeit ein wachsender Bedarf an gesellschaftlich notwendiger Arbeit im Sozial-, Umwelt-, Kultur-und Bildungsbereich gegenübersteht. Daher geht der Gesellschaft auch nicht die Arbeit aus, sondern Arbeiten, die für die Gesellschaft in hohem Maße nützlich sind, werden durch das gewinnorientierte Wirtschaftssystem immer weniger berücksichtigt. Man könnte daher in Anknüpfung an Keynes sagen, daß öffentliche Beschäftigungspolitik in entwickelten industriellen Gesellschaften bei der Koordination von Arbeitsangebot, Arbeitsnachfrage, kollektivem Bedarf und Einkommen eine wachsende Bedeutung erhält
Die Verfolgung einer derartigen Strategie würde eine Kehrtwendung der derzeitigen Wirtschafts-, Finanz-und Arbeitsmarktpolitik bedeuten, die -entgegen allen desillusionierenden Erfahrungen der vergangenen Jahre -weiterhin auf Deregulierung, Flexibilisierung und Privatisierung der Wirtschaft setzt und mittlerweile immer mehr soziale Härten, eine immer stärkere Einkommens-und Vermögenspolarisierung und drastische Einschnitte in den Bereichen Bildung, Familie, Gesundheit, Renten etc. in Kauf zu nehmen bereit ist. Die Frage, die sich aber gleichzeitig mit Nachdruck stellt, ist, wieviel soziale Ungleichheit letztlich eine reiche Gesellschaft verträgt, bevor der Kitt, der sie zusammenhält, brüchig wird. Solange nicht grundsätzliche Fragen der Entwicklungsmöglichkeit fortgeschrittener Industriegesellschaften in den Blick kommen und solange die Wirtschafts-und Arbeitsmarktpolitik sich weiterhin an der Illusion der Machbarkeit ewigen Wachstums orientiert und hiernach ihre Instrumente ausrichtet, sind wir auf dem besten Wege, in diese Grenzbereiche vorzustoßen.
Norbert Reuter, Dr. rer. pol., geb. 1960; Assistent am Lehrstuhl für Volkswirtschaftslehre der Rheinisch-Westfälischen Technischen Hochschule in Aachen; z. Zt. Habilitation zum Thema „Akkumulationsverläufe entwickelter Industriegesellschaften“. Veröffentlichungen zur institutioneilen Ökonomik, Wirtschafts-, Finanz-und Arbeitsmarktpolitik sowie wirtschaftlichen Entwicklung von Industriegesellschaften, u. a.: Der Institutionalismus. Geschichte und Theorie der evolutionären Ökonomie, Marburg 19962; Wirtschaftspolitik zwischen Binnen-und Weltmarkt, in: Gewerkschaftliche Monatshefte, (1996) 6; Die Transformation der Industriegesellschaft, in: Werner Fricke/Volker Oetzel (Hrsg.), Zukunft der Industriegesellschaft, Bonn 1996.
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