Von der „Solidarität“ zum Kampf um die Macht. Elitenbildung und Intelligenz in Polen
Helmut Fehr
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Zusammenfassung
Untersuchungen zum politischen Elitenwandel in der ersten Phase der Transformation Polens unterstreichen mehrere Sachverhalte. Erstens-. Es handelte sich bei der Zäsur von „ 1989“ um einen Eliten-austausch, dessen Vorbedingungen bis zu den Studentenprotesten vom März 1968 zurückgehen. Zweitens: Die Intelligenz als Gruppe nimmt in der ersten Phase der Transformation integrierende Aufgaben wahr, die sie stellvertretend für die politisch nicht handlungsfähigen neuen „Mittelklassen“ ausübt. Krisensymptome und Spaltungstendenzen sind für die Herausbildung neuer (partei-) politischer Eliten kennzeichnend. Zwei Befunde sind von Bedeutung: Artikulierte Interessenpositionen treten hinter symbolischen Themen des Eliten-Machtkampfes zurück. Sozialstrukturelle Differenzierungslinien spielen für die Herausbildung neuer politischer Parteien und Eliten in der ersten Phase der Transformation keine Rolle. Bestrebungen für eine „neue“ Übereinkunft im Spektrum der Post-Solidarnosc-Eliten sind nur in Ansätzen zu erkennen.
Die kulturelle und politisch engagierte Intelligenz hat in Polen vor 1989 eine maßgebliche Rolle für neue politische Denkweisen und Mobilisierungsstrategien gespielt. Der konzeptionelle Einfluß der intellektuellen Gegeneliten auf die demokratische Opposition war während der zweiten Hälfte der siebziger Jahre vor der Gründung von Solidarnosc und vor den Rund-Tisch-Gesprächen vom Frühjahr 1989 besonders groß. Auch in der ersten Phase der Transformationsprozesse bis 1993 nahm die kulturelle und politische Intelligenz in neu gebildeten Institutionen eine strukturbildende Rolle ein. Die politische Beteiligung der oppositionellen Intelligenz reichte vom Engagement als Berater und (Gegen-) Experten bis zur Übernahme von Schlüsselpositionen in demokratischen Institutionen. Im ersten Teil meines Beitrags gehe ich auf zeitgeschichtliche Rahmenbedingungen des Elitenwandels in Polen ein. Sie betreffen kulturelle und politische Rahmenbedingungen, die sich mit dem Wendepunkt „ 1968“ innergesellschaftlich abzeichneten und bis zum Rund-Tisch-Dialog Wandlungen erfuhren. Im zweiten Abschnitt behandele ich Entwicklungstendenzen, die für den Elitenwandel in der ersten Phase der Transformationspolitik in Polen typisch sind. Im Mittelpunkt steht hierbei eine Typologie von Elitenkonflikten im Spektrum der Post-Solidarnosc-Parteien (die postkommunistische Allianz bleibt hier als Sonderfall außer Betracht). Im dritten Abschnitt werden ausgewählte Probleme des Rollenwandels der neuen politischen Führungsgruppen und der Intelligenz als Gruppe behandelt.
I. Voraussetzungen des Elitenwechsels von 1989: Die Herausbildung von politischen Gegeneliten
Für die Herausbildung politischer und kultureller Gegeneliten in Polen ist das Jahr 1968 entscheidend „ 1968“ markiert den Niedergang der reformkommunistischen Strömungen und war mit dem Bruch zwischen Intelligenz und Partei verbunden: „Zwischen 1968 und der Einführung des Kriegsrechts (am 13. Dezember 1981, H. F.) trennten sie sich von der Partei und traten zur offenen Opposition über.“ In Polen wurde die Studenten-revolte vom März 1968 zum Ausgangspunkt für sich neu kristallisierende politische Identitäten, die für die nachfolgenden Gegeneliten im Spektrum von Solidarnosc und der demokratischen Opposition grundlegend waren. Welche Dimensionen dieser Wandel für das politische Denken von Akteuren der „weltlichen“ („laikalen“) und linken Intelligenz hatte und worin die Bedeutung von Dialog -als einem Schlüsselwort für die sich neu-bildenden intellektuellen Gegeneliten -lag, resümiert Jacek Kuron selbstkritisch: „Wir mußten begreifen, daß die Front des Kampfes gegen den Totalitarismus, für Freiheit und Demokratie quer durch die Linke und Rechte verlief . . . daß unsere ideelle Zugehörigkeit und damit unsere Identität mit dieser Teilung nichts zu tun hatte, die im Polen von heute und vielleicht im sowjetischen Lager unzeitgemäß war. Wir mußten uns also ideologisch-politisch noch einmal definieren, und das war nur möglich im Dialog mit Leuten außerhalb unseres Kreises, von denen wir fanden, daß sie uns nahestünden.“ Nach 1968 kam es zur schrittweisen Annäherung zwischen früher unterschiedlich und getrennt agierenden Milieus der Intelligenz und der demokratischen Opposition (Arbeiter, Wissenschaftler, Künstler, Studenten).
Eine Einstellungsänderung der polnischen Intelligenz zeichnete sich in der zweiten Hälfte der siebziger Jahre ab. Gruppen der kulturellen und wissenschaftlichen Intelligenz nahmen in Denkschriften und offenen Briefen zu Problemen des politischen und öffentlichen Lebens Stellung. Es bildeten sich Netzwerke, informelle Institutionen und soziale Milieus unter oppositionellen Intellek-tuellen und Arbeitern, in denen Ansprüche und Erwartungen auf eine Erneuerung der politischen Öffentlichkeit in Polen artikuliert werden konnten. Dabei war es kennzeichnend für die Rolle der politisch engagierten Intellektuellen, daß sie die Bemühungen um die Gestalt des Bewußtseins als grundlegend für die Wirksamkeit eines „authentischen“ politischen und sozialen Handelns sahen. Dieses Engagement drückte sich am Anfang der Selbstorganisationsbestrebungen aus („Denkschrift der 59“ Schriftsteller und Wissenschaftler zur neuen Verfassung vom 5. Dezember 1975, „Brief der 101“ Vertreter aus Kultur und Wissenschaft zur Frage der Wahrnehmung von Bürger-rechten 1976), lag der praktischen Rechtsberatung für streikende Arbeiter und Betriebsbelegschaften zugrunde (KOR: Komitee für gesellschaftliche Selbstvert Dezember 1975, „Brief der 101“ Vertreter aus Kultur und Wissenschaft zur Frage der Wahrnehmung von Bürger-rechten 1976), lag der praktischen Rechtsberatung für streikende Arbeiter und Betriebsbelegschaften zugrunde (KOR: Komitee für gesellschaftliche Selbstverteidigung) und ging in die Bildungsarbeit der Untergrundverlage, der „fliegenden“ Universität und der „Gesellschaft für wissenschaftliche Kurse“ ein 4.
Nach einem Urteil von Jan Jozef Lipski, einem Literaturwissenschaftler und Mitbegründer des „Komitees für gesellschaftliche Selbstverteidigung“, bestand die Wirkung des Bürgerrechtskomitees gerade darin, daß eine besondere Idee des sozialen Handelns mit einem bestimmten Stil des Handelns begründet werden konnte 5. Das KOR bildete ethische Prinzipien aus, die eine Grundlage für politische Forderungen nach Bürgerrechten und gesellschaftlicher Selbstorganisierung boten. In dieser „moralischen Atmosphäre“ (Jan Jozef Lipski) des KOR und anderer informeller Gruppen erfolgte eine Wiederaneignung von politischen Wertorientierungen, kulturellen Symbolen und geschichtlichen Traditionen (u. a. aus der Zeit des polnischen Untergrundstaates während der deutschen Besatzung 1939-1944/45), die im Bereich der „offiziellen“ Institutionen in Polen ausgespart wurden. Es ging den Akteuren aus den unabhängigen Initiativen darum, eine Grundeinstellung zu verdeutlichen: nämlich Denken und Handeln in Einklang zu bringen Dieser Maßstab sollte nicht als idealisierte Vorstellung moralischen Handelns in der Politik gelten. Vielmehr ging es um eine Haltung, die -nach einem Urteil Adam Michniks -offizielle Ehrungen und materielle Vorteile ablehnt, „um in Wahrhaftigkeit leben zu können“ Damit ist der Typus des „ungebeugten Intellektuellen“ gekennzeichnet, der in der Geschichte der polnischen Intelligenz einen zentralen Platz einnimmt.
Vor diesem Hintergrund sind auch noch Überlegungen von Tadeusz Mazowiecki einzuordnen, die er 1977 im Rahmen eines öffentlichen Vortrags vor dem Warschauer Klub der katholischen Intelligenz formuliert hat. Mazowiecki formulierte die Schlüsselfrage: „In welchem Sinne und in welchem Maße respektiert die gesellschaftliche Ordnung die personalen Möglichkeiten des Menschen und setzt sie zugleich frei -des Menschen, der aktives Mitglied der Gesellschaft ist, in der er lebt?“ Mazowieckis Ausführungen gipfeln in zwei Annahmen, die für den politischen Diskurs über die Grundlagen der zivilen Gesellschaft in Polen eine fokusbildende Bedeutung erhielten: die schrittweise Erweiterung von Freiheitsräumen des Bürgers und der Aufbau der „Subjekthaftigkeit“ der Gesellschaft Der Terminus „Subjekthaftigkeit der Gesellschaft“ und seine Verbreitung in der „zweiten Öffentlichkeit“ waren Ausdruck einer erfolgreichen politischen Diskursstrategie von Gruppen der kulturellen und politischen Intelligenz, die auf diesem Weg mit der offiziellen, ritualisierten politischen Sprache der kommunistischen Partei konkurrierten. In der Perspektive eines „Neuen Evolutionismus“ (Adam Michnik) wurde eine Verbindung von Elementen der Treuhandverantwortung der polnischen Intelligenz als Gruppe und eines erweiterten Konsenses der demokratischen Opposition gefunden, der auf gewaltlosen Aktionsformen und evolutionären Zielen gründete
In diesem Zusammenhang erhielt Öffentlichkeit einen veränderten Bedeutungsgehalt. Die Möglichkeiten und die Pflicht, am öffentlichen Leben teilzunehmen, wurden für die oppositionelle Intelligenz hervorgehoben (Leszek Kolakowski, Adam Michnik), der kulturelle Protest und die Bildung unabhängiger Initiativen gefordert. Ansätze der Selbstorganisierung in exemplarischen Gemeinschaften und Aktions-Komitees standen am Anfang dieses Weges; in der Gründung von Soli-darnosc kumulierte diese Entwicklung: in der Allianz zwischen politisch engagierter Intelligenz, Arbeitern, Studenten und Bauern. Das Ethos von Solidarnosc beruhte auf dem Programm der Transformation in eine demokratische Gesellschaft, für die neben bürgerlichen Grundfreiheiten ethische Maßstäbe des Handelns wie Würde, Leben in Wahrhaftigkeit, Solidarität und Überwindung der Angst entscheidend waren
Ein Ausdruck des veränderten Verhältnisses zwischen polnischer Intelligenz und Arbeitern war das Ersuchen des überbetrieblichen Streikkomitees im August 1980 an Warschauer Intellektuelle, sich als Berater für die Verhandlungen mit der Regierung zur Verfügung zu stellen. Die enge Zusammenarbeit einer Expertenkommission aus Ökonomen, Juristen, Soziologen, Journalisten und Schriftstellern mit dem Streikkomitee der Danziger Lenin-Werft offenbarte die veränderten Rollen von Intellektuellen und Arbeitern: Das Engagement der intellektuellen Experten in der Gründungsphase der Solidarnosc beruhte auf dem Verzicht, eine hervorgehobene Rolle zu spielen -weder im Sinn eines privilegierten Anspruchs auf Wahrheit noch auf Macht und Einfluß Die integrierende Leistung der kulturellen und (sozial-) wissenschaftlichen Intelligenz für die Politik von Solidarnosc und die demokratische Opposition prägte die gesamte legale Periode (1980/81) und die achtziger Jahre bis zu den Rund-Tisch-Gesprächen. Dieser Sachverhalt bleibt festzuhalten trotz gegenläufiger Tendenzen -es gab auch Meinungsunterschiede, Animositäten zwischen einzelnen Führungszirkeln und zeitweilig auftretende interne Konflikte im Verhältnis von Beratern und Solidarnosc-Funktionären (im Verlauf des Jahres 1981). Punktuell wandte sich die Kritik an der Rolle der Intellektuellen auch gegen Ausdrucksformen informeller Hierarchien und des „Elitismus" in oppositionellen Milieus (wie dem KOR)
II. Veränderte Rahmenbedingungen und politische Initiativen während der achtziger Jahre
Eine Elitisierung „ideeller“ Natur zeichnete sich während des „Kriegsrechts“ in der ersten Hälfte der achtziger Jahre in oppositionellen Milieus ab.
Mit Initiativen des Liberalismus wurden neue Akzente im politischen Diskurs von intellektuellen Gegeneliten gesetzt: (Wirtschafts-) Liberale Ideen erhielten einen Stellenwert Einen Wendepunkt für (wirtschafts-) liberale Strömungen in Milieus « der Intelligenz markiert die Bildung einer Gruppe junger wissenschaftlicher Mitarbeiter, Unternehmer und Journalisten, die sich 1983/84 in Danzig um die Zeitschrift „Przeglad Polityczny“ versammelten. Diese Zeitschrift integrierte zwei Strömungen der oppositionellen Milieus in Danzig. Zum einen waren dies Redakteure, junge Journalisten und Herausgeber von Untergrundzeitschriften aus dem Umfeld von Solidarnosc. Zum anderen verband diese Zeitschrift eine Gruppe von Ökonomen der Danziger Universität um Jan Lewandowski, nach 1990 Minister für Privatisierung, und Jan Krzysztof Bielecki, den Premier der zweiten post-kommunistischen Regierung von 1991.
Ein höheres Niveau der organisatorischen und politischen Entwicklung wurde in den Jahren von 1986 bis 1988 erreicht. Es entstand ein Netz von Wirtschaftsgesellschaften (in Danzig, Warschau, Krakau und in anderen Städten Polens), in denen überwiegend Ökonomen und Kleinunternehmer aktiv wurden. Die seit 1987 rechtlich zugestandene formale Registrierung von unabhängigen (früher: „illegalen“) politischen Gruppen (Klub „Dziekania“ im August 1988; ökonomische Studiengesellschaft in Warschau) und von Verlagen bzw. Zeitschriften („Res Publica“ 1987) bot Raum für Initiativen, die im Unterschied zu den Selbstverwaltungsforderungen der (Untergrund-) Solidarnosc liberale Marktmodelle betonten -im konzeptionellen und politischen Sinn. Außerdem wurden praktische Initiativen unternommen: Als Teil der ökonomischen Studiengesellschaften in Warschau, Krakau und Danzig wurden zum Beispiel Privatunternehmen gegründet. Teilweise vermischten sich Leitideen des Liberalismus mit Reformentwürfen unabhängiger katholischer Initiativen, teilweise richteten sie sich gegen damals einflußreiche Orientierungen der Solidarnosc-Berater und der „linken“ Opposition. Punktuell grenzten sich einflußreiche Sprecher der Neoliberalen wie der Krakauer M. Dzielski vor 1989 gleichermaßen kritisch von der Politik der kommunistischen Partei und der (Untergrund-) Solidarnosc ab. Die Gründung zahlreicher Zeitschriften mit programmatischen Erklärungen des Liberalismus (Res Publica z. B.) und die Verbreitung von Büchern mit liberalen Ideen im Untergrund ist für die Spätphase des „Real-Sozialismus“ in Polen kennzeichnend. Die ökonomisch-liberalen Modelle lieferten die begrifflichen Rahmenbedingungen, die es Gruppen der gesellschaftlichen Eliten und Gegeneliten erlaubten, sich von bis dahin einflußreichen Denkmodellen zu lösen
Auch das 1980/91 begründete Austauschverhältnis von intellektuellen Beratern und Solidarnosc erfuhr Wandlungen, die unter politischen und inhaltlichen Gesichtspunkten betrachtet werden können: dem der politisch engagierten Intelligenz als auch dem der konstruktiven Rolle der kulturellen und (sozial-) wissenschaftlichen Intelligenz in den Diskussionen über Grundlagen einer Verständigungslösung und eines „Anti-Krisen-Pakts“ (Bronistaw Geremek) Dem entsprachen auf organisatorischer Ebene informelle Institutionen und interorganisatorische Netzwerke, die Ende der achtziger Jahre in den Milieus der demokratischen Opposition gebildet wurden. Das wichtigste dieser Netzwerke war das 1987 von Lech Walesa einberufene „Bürgerkomitee“. Am Dezember 1989 trat das „Bürgerkomitee beim Vorsitzenden von Solidarnosc“ -von 1987 bis 1989 als Vorbereitungs-und Koordinierungsgremium der demokratischen Opposition für die Rund-Tisch-Gespräche -mit einer programmatischen Erklärung an die Öffentlichkeit: „Im öffentlichen Leben auftretende Konflikte sollen Gegenstand einer öffentlichen Debatte in den Massenmedien sein. Die Polen müssen sich ihrer Identität bewußt werden, mit dem ganzen Reichtum pluralistischer Inhalte polnischer Tradition. Die polnische öffentliche Meinung läßt es schon nicht mehr zu, Lüge Wahrheit und Knechtschaft Freiheit zu nennen.“ 18 Nach dem X. Plenum des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei Polens schwenkten im Januar 1989 die'kommunistischen Machteliten auf Leitideen der intellektuellen Gegeneliten aus dem Umfeld von Solidarnosc ein. Neben Pluralismus und Versammlungsfreiheit wurde die zivile Gesellschaft als Ziel gefordert
Der Verlauf der Rund-Tisch-Gespräche bewirkte eine Annäherung von kommunistischen Macht-und oppositionellen Gegeneliten, die sich sowohl in einer vermittelnden politischen Sprache als auch im konsensorientierten Stil manifestierten (Medium der Verhandlungssprache). Diese Besonderheiten prägten nicht nur das Gesprächsklima, sondern auch eine veränderte politische Wirklichkeitsauffassung, die für den graduellen System-wechsel in Polen von zentraler Bedeutung waren: Der „Eliten-Kompromiß“ am Runden Tisch kann weder von den Rahmenbedingungen noch von den Ergebnissen her unabhängig von der kreativen Rolle der intellektuellen Berater und Experten betrachtet werden. Dies gilt auch noch für die Wahlkampagne der „Bürgerkomitees Solidarnosc“ vor den ersten Wahlen vom 4. und 18. Juni 1989 und die Bildung des von Solidarnosc geprägten ersten postkommunistischen Kabinetts unter Leitung von Tadeusz Mazowiecki -eine Regierung, in der prominente Akteure aus den Milieus der intellektuellen Gegeneliten mitwirkten (Mazowiecki, Balcerowicz, Kurön, Onyszkiewicz, Hall) und zahlreiche Angehörige der (sozial-) wissenschaftliChen Intelligenz als Experten engagiert waren
III. Elitenwandel und neue politische Spaltungen nach 1989
Mit der Regierungsübernahme der (Bürgerkomitees) Solidarnosc im Spätsommer 1989 wird in Polen schrittweise ein Elitenaustausch eingeleitet, der durch zwei Merkmale gekennzeichnet ist: Erstens werden Schlüsselpositionen der politischen Eliten neu besetzt, und zweitens wird der konsensorientierte Stil aus der Phase der Rund-Tisch-Gespräche beibehalten und auf eine breitere Grundlage gestellt. Die Einleitung wirtschaftlicher Reformen (Balcerowicz-Programm) durch die neuen Eliten basiert auf einer weit verbreiteten Zustimmung von Seiten der Bevölkerung. Die Politik der Kooperation und Übereinkunft sollte erst im Verlauf des Jahres 1990 -durch den „Krieg an der Spitze“ von Solidarnosc und die Kampagnen vor den Präsidentschaftswahlen -aufgegeben werden. Kampagnen im Verlauf des „Kriegs an der Spitze“ im Vorfeld der Präsidentschaftskampagne und der Dekommunisierungskampagnen in Polen 1991/92 bezeichnen den Wechsel in der politischen Auseinandersetzung: Statt Verständigung und der Suche nach Bedingungen für eine Übereinkunft zwischen alten und neuen politischen Eliten werden der Kampf um die ganze Macht und Strategien der Konfrontation in die parteipolitische Arena getragen.
Seit 1990 zeichnet sich im „nachrevolutionären“ politischen Kräftefeld Polens der Übergang von „Verständigungseliten“ zu „Konfrontationseliten“ ab, ohne daß dieser Wechsel als Stufenfolge anzunehmen ist. Die Konzeption „Verständigungselite“ die auf der Annahme eines Konsenses und von Verhandlungslösungen als Grundlage der Kooperation zwischen moderaten Vertretern konkurrierender Eliten-Fraktionen beruht, kann m. E. zur Interpretation für die erste Phase der Transformation -1989 bis 1993 -herangezogen werden. Die ausschließlich um die Macht konkurrierenden neuen Elitefraktionen lassen sich als Gegentyp zu den an Prinzipien der zivilen Gesellschaft orientierten „Verständigungseliten“ (Mazowiecki-Regierung, „Demokratische Union“ und „Kongreß der Liberal-Demokraten“; seit 1994: „FreiheitsUnion“) bestimmen. Für einzelne Parteien wie die Zentrums-Allianz (PC) und Jan Olszewskis „Bewegung für den Aufbau Polens“ (ROP) ist das Selbstbild der Gegenelite zentral -eine Orientierung, die unter politisch-kulturellen und strategischen Gesichtspunkten die Kampagnenführung von den ersten Präsidentschaftswahlen des Jahres 1990 bis zu den zweiten im Herbst 1995 prägte.
Die angeführten Unterscheidungskriterien lassen sich noch genauer bestimmen. Für das veränderte politische Kräftefeld in Polen ist eine durchgängige politische Unterscheidung im Sinn einer Typologie angemessen: Die neuen politischen Parteien und Eliten unterscheiden sich in den von ihnen angestrebten Ordnungsmodellen zum einen nach Positionen, die reformorientiert sind und auf „(zivile) Gesellschaft“ hinauslaufen, und zweitens nach solchen, die populistisch sind und auf die (nationale, patriotische oder katholische) „Gemeinschaft“ abstellen. Diese Unterschiede zwischen den neuen Parteien und Eliten drückten sich seit 1990 im Gegensatz zwischen politischen Rahmendeutungen des Transformationsprozesses wie evolutionärer Wandel (Reformen, „Zurück nach Europa“) und „revolutionärer“ Wandel („Bruch“, radikaler Elitenaustausch) aus. Bei letzteren handelt es sich um Konfrontationseliten, die sich teilweise ausdrücklich als nur sich selbst verantwortliche Gruppierungen begreifen und Aufgaben der Mediatisierung des politischen Willens der Bevölkerung zurückweisen
Mobilisierende Losungen, die aus dem Spektrum der neuen Machteliten vertreten werden, sind dementsprechend auch in „volkstümliche“ Slogans gefaßt wie vermeintliche Appelle an die „einfachen Leute“: „Beschleunigung“ (Zentrums-Allianz in der Präsidentschaftskampagne 1990), „KryptoKommunisten“ (Polemik von J. Kaczynski u. a. in der Kampagne vor den Parlamentswahlen vom Oktober 1991), „radikale Dekommunisierung" (Kampagne vor den Parlamentswahlen vom 19. September 1993), „rotes Spinnennetz“ (Waesa in der Präsidentschaftskampagne November 1995) oder „Kommunisten“ (als polemische Umschreibung der postkommunistischen Allianz durch Akteure der „Wahlaktion Solidamosc“ [AWS] vor den jüngsten Wahlen vom 21. September 1997). „Verständigungseliten“ sind jedoch im Verlauf der vergangenen Jahre im Parteienspektrum nicht untergegangen, wie sich an der Rolle der „Demokratischen Union“ (UD), der „Freiheits-Union“ (UW) und intellektueller Gegeneliten im Umfeld der „gesellschaftlichen Komitees für ein Referendum“ zeigen läßt. In diesen Zusammenhang gehören auch informelle Gruppen und interorganisatorische Netzwerke, die sich nach 1990 neu bildeten, an Traditionen der Solidamosc der Intelligenz anknüpften und im Verlauf von Mobilisierungskampagnen außerhalb der Arena parteipolitischer Eliten Grundprobleme der Transformationspolitik „von unten“ erörterten. Die ideellen Anstöße von unabhängigen Frauengruppen oder von Gruppen wie „Neutrum“ und anderen Initiativen aus den Milieus der städtischen Intelligenz kumulierten in den „Gesellschaftlichen Komitees für ein Referendum“. Eine Besonderheit läßt sich festhalten: Die „Verständigungseliten“ erfahren organisatorische und politische Umwandlungen, die im Unterschied zu denen der in der Regel durch Machtambitionen der Führungszirkel geprägten „Milieu-Parteien“ auf innerorganisatorischen und thematischen Aus-differenzierungen beruhen, wie die Neubildung der „Freiheits-Union“ -ein Zusammenschluß der UD und des „Kongresses der Liberal-Demokraten“ (KLD) -am 23. /24. April 1994 dokumentiert. In der Tabelle oben fasse ich Elemente des politischen Stils, der politischen Sprache, der politischen Orientierungen und der Transformationspolitik der neuen (partei-politischen) Eliten zusammen, die eine Typologie des Elitenhandelns im post-kommunistischen Polen erlauben.
IV. Neue Eliten und soziale Gruppen zwischen Mentalitäten und Interessen
Aus den bisherigen Überlegungen läßt sich eine Schlußfolgerung ziehen: Die neuen politischen Eliten konkurrieren nicht auf der Grundlage organisierter Interessen. Den in der (partei-) politisehen Landschaft angesprochenen Interessen mangelt es an einer Verankerung in der sozialen Struktur. Für Polen urteilte ein Senatsmitglied der Solidarnosc im Sommer 1989 zutreffend über die Blockierung der gesellschaftlichen Entwicklung auf der Grundlage einer unzeitgemäßen sozialen Struktur: „Die polnische soziale Struktur ist von der Arbeiterklasse und der Nomenklatur dominiert. Und vom Verhalten dieser beiden großen Gruppen hängt alles ab, was sich in Polen abspielt(e) .. . Grundlage der Veränderung muß die Umformung der sozialen Struktur sein.“ Es fehle eine differenzierte Schichtungsstruktur wie in demokratischen Gesellschaften Westeuropas oder Nordamerikas: Weder die Intelligenz noch eine andere soziale Gruppierung der polnischen Gesellschaft identifiziere sich selbst mit der Mittelklasse. „Mittelklasse“ oder „Mittelstand“ spielen im Urteil von politischen Akteuren und Wählern in Polen bis zu den jüngsten Sejm/Senatswahlen vom 21. September 1997 keine Rolle. Politische Parteien, die in ihrem Selbstbild direkt an neue soziale Interessenpositionen anzuknüpfen versuchten, wie der „Kongreß der Liberal-Demokraten“, standen vor einem Dilemma: Sie appellierten an Positionen und Haltungen der aufsteigenden Mittelschichten und „Yuppies“ als potentielle Träger des ökonomischen Transformationsprozesses, konnten aber nicht ohne weiteres von den neuen Mittelschichten als ihrer Anhängerschaft ausgehen
In vergleichenden Überlegungen zur Herausbildung der Mittelklasse wird zutreffend hervorgehoben, daß „non-manual workers“ in Polen keine Haltungen zeigen, die mit der vergleichbaren Position der Mittelklasse in westlichen Gesellschaften charakterisiert werden kann. Die dominante Mentalität wurde bis in die Gegenwart in Polen durch die Intelligenz entwickelt. Das ist Ausdruck der (bis Anfang der neunziger Jahre) weit verbreiteten Vorstellung von der Intelligenz als hervorgehobener Gruppe mit einer besonderen Treuhandverantwortung gegenüber Gesellschaft, Kultur und Nation, die sich qualitativ vom „Ethos“ der Mittel-klasse unterscheide
Eng verbunden mit den angeführten Dimensionen der sozialstrukturellen Entwicklung und Kontinuitäten der Umwandlungen von kulturellen Mentalitäten ist eine andere Problemlage: die mangelnde Bestimmung von Interessenpolitik im Spektrum der neuen Eliten.
Das Dilemma von Interessenorientierungen für die polnischen Eliten und Parteipolitiker besteht in einem Sachverhalt, der sich auch in der Wahrnehmung ihrer eigenen Rolle als neue Abgeordnete im Sejm niederschlägt: Viele Abgeordnete wissen nicht, ob sie eher Gruppeninteressen oder allgemeine Interessen im Parlament vertreten sollen Unter dem Gesichtspunkt von Gruppeninteressen können dies die Interessen von Beschäftigten aus staatlichen Großunternehmen, von Berufsverbänden oder Schutzinteressen der Bevölkerung ländlicher Regionen sein Im Hinblick auf allgemeine Interessen kann die Rolle des Abgeordneten darin bestehen, daß er oder sie sich als Repräsentant des „Geistes der Nation“ definiert. Dabei können sich Elemente patriotischer und „volkstümlicher“ Selbstbilder, kulturelle Traditionen und katholische Wertprämissen mit partikularen Interessenorientierungen verbinden Gemeinsam ist den gespaltenen Eliten in Polen, daß ihre partikulare Zielorientierung die Möglichkeit der Repräsentation von Gruppeninteressen ausschließt
Dementsprechend hoch ist die Verbreitung symbolischer Themen und globaler Slogans. So bevorzugen gerade auch Repräsentanten der „Wahlaktion Solidarnosc“ Muster politischer Rhetorik, in der sich das Bekenntnis zum „Freiheitswillen unseres Volkes“ (M. Jankowski) und dem Selbst-bild „rechts“ (Premier Buzek) mit Forderungen nach einem Bestandsschutz, von „Interessen der Arbeiter“ und Maßstäben wie „mehr Eigenverantwortlichkeit“ und „internationale Wettbewerbsfähigkeit“ verbinden Der Rückgriff auf alte und neue Gegenstereotypen aus der Entkommunisierungsdebatte ist unter Politikern der Wahlaktion Solidarnosc ebenso häufig verbreitet wie im Milieu der national-konservativen „Bewegung für den Aufbau Polens“. In den politischen Orientierungen von Repräsentanten dieser beiden Parteiallianzen aus dem katholisch-nationalen Spektrum wurden die intellektuellen Eliten aus dem KOR/KIK (Klub der katholischen Intelligenz) einer Vergangenheitsaufrechnung unterzogen, die Affekte gegen die „laikale“ und liberale Intelligenz erzeugen soll. In dieser polemischen Sichtweise bleibt unberücksichtigt, worin der Beitrag der politisch engagierten Intelligenz als Gruppe für die Institutionalisierung demokratischer Strukturen liegt: die Intellektuellen als Initiatoren öffentlicher Debatten über demokratische Verfahrensregeln und Wertorientierungen. Das soll im folgenden am Fallbeispiel informeller Gruppen und gesellschaftlicher Sammlungsinitiativen gezeigt werden, die außerhalb der Arena (partei-) politischer Eliten Grundprobleme des Transformationsprozesses aufwarfen und intermediäre Aufgaben im Verhältnis von Bürgern und Staat in Polen übernehmen.
V. Unabhängige Initiativen und politische Öffentlichkeit
Eine unabhängige Initiative -die Gruppe „Neutrum“, die an früher vertretene Konsensgrundlagen der gesellschaftlichen Selbstorganisation und Widerstandserfahrungen der „zivilen Gesellschaft“ gegenüber der totalitären „Staatsmacht“ in Polen anknüpft -trat bereits frühzeitig 1990 im Konflikt über die Abtreibungsgesetzgebung in Polen an die Öffentlichkeit. Es bildeten sich lokal und überregional Bürgergruppierungen, Komitees und Initiativen, die von 1990 bis zum Höhepunkt der Auseinandersetzung über die neue Abtreibungsgesetzgebung (Winter 1992/93) zur Mobilisierung der öffentlichen Meinung beizutragen suchten
Am Fallbeispiel der Gesetzgebung über Religion als Schulpflichtfach und des strafrechtlich verschärften Verbots von Abtreibungen wurde von der Gruppe „Neutrum“ unter anderem ein zentrales Problem der Institutionalisierung demokratischer Strukturen in Polen aufgeworfen: das Prinzip der weltanschaulichen Neutralität des Staates, eine fundamentale Norm der „Bürgergesellschaft“. Die Gruppe „Neutrum“ und die „Gesellschaftlichen Komitees für ein Referendum“ trugen vor allem zur politischen Problemformulierung über Grundlagen der Bürgergesellschaft in Polen bei. Sie überschritten durch Informationsarbeit, öffentliche Stellungnahmen, Flugblattaktionen und Proteste ein Tabu der politischen Diskursbildung im post-kommunistischen Polen: Jede Kritik an der expansiven Rolle der katholischen Kirche in Polen nach 1989 wurde als „Attacke“ auf die Kirche umgedeutet. Dabei ging es gar nicht zuerst um einen Angriff gegen die katholische Kirche, sondern um eine prinzipielle Frage: Recht oder Naturrecht als Grundlagen. Die politische und kulturelle Dimension der Forderung nach einem weltanschaulich und konfessionell neutralen Staat erschließt sich durch einen Vergleich mit den Positionen der neuen politischen Parteien in Polen: Die „laikale“ (weltliche) Option wurde -abgesehen von der postkommunistischen Allianz (SLD) -nur teilweise von Parteien aus dem früheren Solidarnosc-Lager vertreten („Demokratische Union“, „Kongreß der Liberal-Demokraten“ bzw.seit 1994: die „Freiheits-Union“ und die „Arbeits-Union“ (UP)
Die informellen Gruppen und Netzwerke im Spektrum von den „Gesellschaftlichen Komitees für ein Referendum“, die Gruppe „Neutrum“ und seit 1989 in Polen neu entstehende unabhängige Frauengruppen (z. B. „Pro Femina“) setzten die Schwerpunkte der politischen Auseinandersetzung auf Informationsverbreitung, Aufklärung, Dialog und Meinungsbildung durch öffentliche Diskussion über politische Themen, Verfahrensfragen und Grundsatzerörterungen wie Fragen nach politischer Beteiligung („Bürgersinn“).
Im Unterschied zum Konkurrenzkampf der neuen politischen Parteien, der sich häufig an symbolischen Ersatzthemen entzündet („Entkommunisierung“), übernehmen die informellen Gruppen und Bürgerrechtskomitees auch integrative Aufgaben. So wurden in den „Gesellschaftlichen Komitees für ein Referendum“ im Unterschied zur parteipolitischen Arena bereits 1992/93 Versuche unternommen, alte Feindbilder abzubauen („Gegen die Roten!“, „Gegen die Nomenklatura!“) und „Sinn“ -Fragen der Transformationspolitik zuzuspitzen: Toleranz und Pluralismus als Wert-prämissen und Verfahrensregeln für den Aufbau der Bürgergesellschaft; Kontrolle der politischen Entscheidungsträger durch Öffentlichkeit.
VI. Intelligenz und Elitenwandel im Post-Kommunismus
Für die erste Phase des Transformationsprozesses kann in Polen von integrierenden Leistungen der politisch engagierten Intelligenz im öffentlichen und politischen Leben ausgegangen werden Die Intellektuellen spielten eine so entscheidende Rolle, daß einige Sozialwissenschaftler von einer „Revolution der Intellektuellen“ nach 1989 ausgehen Diesen Befunden widersprechen auf den ersten Blick Entwicklungen, die in den Debatten über die „Vergangenheitsbewältigung“ („Dekommunisierung“) im Umfeld der Post-Solidarnosc-Eliten in den vergangenen Jahren aufbrachen. Dabei wurden alte politische und ideologische Stereotypen wiederbelebt, die in der Zeit vor der Annäherung zwischen den unter-schiedlichen Milieus der politisch engagierten Intelligenz von Bedeutung waren: die Feindbilder „weltliche“ Linke gegen das „katholische Polen“ zum Beispiel. In populistischen Slogans wurden hierbei alte und neue Motive der Intellektuellen-Kritik vermengt. Sie gipfelten in der Polemik gegen die „KOR/KIK-Eliten" und den „Mythos der polnischen Intelligenz“. Die Kritik an dem „Mythos der polnischen Intelligenz“ stand im Mittelpunkt des „Krieges an der Spitze“ der Solidarnosc-Eliten im Sommer 1990, der durch Verstöße Waesas und seiner damaligen politischen Gefolgsleute aus der „Zentrums-Allianz“ (PC) ausgelöst worden war.
Die veränderte Stellung der Intellektuellen in der postkommunistischen Gesellschaft war außerdem Gegenstand fachinterner und teilöffentlicher Debatten. Von mehreren Sozialwissenschaftlern, Historikern, Publizisten und Philosophen wurde diese Problematik nach 1989 mehrfach aufgegriffen: Wie ist der Rollenwandel und Funktionsverlust der Intelligenz im öffentlichen Leben zu bestimmen? In den letzten Jahren wurde die Stellung der kulturellen Intelligenz und der politisch engagierten Intellektuellen noch durch andere Entwicklungen relativiert, nämlich durch die Herausbildung der Gruppe der „neuen Reichen“. Dabei handelt es sich um Menschen, die in erster Linie Gemeinsamkeiten im Lebens-und Konsumstil, weniger hingegen übereinstimmende Interessen und eine gemeinsame soziale Lage aufweisen. Das unpolitische Milieu der „neuen Reichen“ -an gesellschaftlichen Problemen desinteressierte Einzelne -konkurriert auf der kulturellen Ebene mit der „alten“ Intelligenz: Der Konflikt der „neuen Reichen“ mit der kulturellen Intelligenz erstreckt sich in symbolischen Kämpfen über die Angemessenheit von Konsum-und Lebensstilen, „Ge-schmack“ und Kultur. Die Strategie der „neuen Reichen“ läuft nicht darauf hinaus, wie Steven Sampson für die postkommunistischen Gesellschaften zeigt die „Konkurrenten“ im Feld der kulturellen Neubestimmung -die Intelligenz -zu eliminieren. Vielmehr geht es um die teilweise Nachahmung der kulturellen Regeln, Stile und „Gebräuche“ der Intelligenz. Es handelt sich bei den „neuen Reichen“ um eine Klasse, die gerade entsteht und die sich dabei (noch) herkömmlichen sozialstrukturellen Analyserastern entzieht
VII. Politische Eliten: Zwischen Polarisierung und Professionalismus
Neben Anzeichen für eine „Krise der Intelligenz“ wird noch eine andere Vorstellung fach-intern und öffentlich diskutiert: die empirisch und theoretisch begründete Beobachtung verstärkter Fragmentierungstendenzen im Spektrum der Post-Solidarnosc-Eliten. Diese Auffassung steht im Gegensatz zum Selbstbild prominenter Angehöriger der neuen politischen Führungsgruppen, die den Grad der (eigenen) Professionalisierung betonen. Für die Diagnose zunehmender Fragmentierung können die immer wieder aufbrechenden Fraktionskämpfe, Spaltungen, Umwandlungen und die auf rivalisierende Führungszirkel zurückgehenden Machtkämpfe angeführt werden. Bei den politischen Elitenkämpfen in Polen handelt es sich um Konflikte, in denen symbolische Themen wie Dekommunisierung und „Moralgesetzgebung“ überwiegen. So läßt sich für die Gegenwart auch nicht von einem funktionierenden „wettbewerbsorientierten“ Parteiensystem in Polen ausgehen. Die Grundlagen für Parteienwettbewerb sind noch unbestimmt Die neuen politischen Parteien in Polen können demnach nicht nach Analyserastern der vergleichenden Parteienforschung als Konkurrenzparteien bestimmt werden. Die Wettbewerbsfähigkeit der neuen politischen Eliten hängt auch davon ab, daß und ob die Parteien zur Vertretung unterschiedlicher Positionen in bezug auf zentrale Probleme des Transformationsprozesses fähig sind Dies gilt insbesondere für Voraussetzungen der politischen Konsens-und Kompromißbildung:
Ideen und Verfahrensregeln wie Pakt, Übereinkunft und Kompromiß. Die ideellen Grundlagen zur Bildung von Kompromissen müssen im Parteienspektrum Polens erst noch gebildet werden Es gibt Elemente einer pluralistischen Parteienlandschaft. Die neuen Parteien fungieren jedoch nicht als stabile intermediäre Organisationen in der öffentlichen Meinungs-und politischen Willensbildung.
Unter den ungefähr 270 neuen politischen Parteien in Polen dominiert der Typ „Mini“ -und „Milieu-Partei“. Die Fraktionen der neu entstehenden Machteliten sind in Polen häufig mit Milieu-Parteien identisch. Die Merkmale der „Milieu-Parteien“ entsprechen teilweise der Funktion als „Mini-Parteien“, einer Bestimmung, wonach die Tendenzen der politischen Fragmentierung in der partei-politischen Szene Polens zutreffend festgehalten werden: Milieu-Parteien betonen exklusive Prinzipien wie die katholische Gemeinschaft und/oder „wirkliches Polentum" als Basis nationaler Identität und lehnen in der Regel das Aushandeln von Interessenkompromissen ab wie J. Olszewskis „Bewegung für den Aufbau Polens“. Ansätze für eine Professionalisierung politischer Parteien finden sich am Beispiel der „Freiheits-Union“. Dieser zweitgrößten Regierungspartei um Balcerowicz, Geremek, Mazowieki, Suchocka und Kurori ist es während der Wahlkampagne vor den Sejm/Senats-Wahlen vom 21. September 1997 gelungen, das Stereotyp der „Partei von unpraktischen Intellektuellen“ abzulegen und Wähler über ihre bisherige Klientel -die städtische Intelligenz -zu gewinnen. Programmatisch vereinigt die „Freiheits-Union“ Grundlagen, die für die Bewältigung von Transformationsproblemen entscheidend sind: eine Mischung aus Konsens-und Kompromißbildung mit Ideen aufgeklärten politischen Handelns
VIII. Schlußbemerkungen
Der Mangel an praktizierten zivilgesellschaftlichen Ideen und Verfahrensweisen in der parteipolitischen Arena blockiert eine Entwicklung: die Herausbildung repräsentativer Eliten in Polen. Diese Problematik ist um so schwerwiegender, als politische Parteien und Führungsgruppen als Träger für den schrittweisen Aufbau der Bürgergesellschaft in der postkommunistischen Phase notwendig sind. Eine Bedingung für die Bewältigung der Fragmentierungstendenzen im Spektrum der Post-Solidarnosc-Parteien wäre: Die politische Unreife der neuen Eliten muß überwunden werden. Dazu ist es erforderlich, daß die politischen Führungsgruppen selbstzerstörerische Tendenzen der „neuen“ politischen Kultur auflösen, die in allen ost-mitteleuropäischen Ländern und in Polen nach 1990 verbreitet sind: „Der politische Kampf, bei dem es mehr um die Vernichtung des Gegners als um die Mobilisierung von Anhängern für sich selbst ging .. ."
Helmut Fehr, Dr. phil. habil., Privatdozent, geb. 1945; Projektleiter am Sozialwissenschaftlichen Forschungszentrum (SFZ) der Universität Erlangen -Nürnberg. Veröffentlichungen u. a.: Unabhängige Öffentlichkeit und soziale Bewegungen. Fallstudien über Bürgerbewegungen in Polen und der DDR, Opladen 1996; Dekommunisierung und symbolische Politikmuster in Polen, in: Krisztina Mänicke-Gyöngyösi (Hrsg.), Öffentliche Konflikt-Diskurse um Restitution von Gerechtigkeit, politische Vergangenheit und nationale Identität, Frankfurt am Main 1996; Eliten, Gegen-Eliten und Generationenkonflikte, in: Arnd Bauerkämper u. a., Gesellschaft ohne Eliten?, Berlin 1997.
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