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Amerika first -aber wohin? Die Außenpolitik der USA an der Schwelle zum 21. Jahrhundert | APuZ 19/1998 | bpb.de

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APuZ 19/1998 Amerika first -aber wohin? Die Außenpolitik der USA an der Schwelle zum 21. Jahrhundert Aspekte sicherheitspolitischer Kultur der Vereinigten Staaten von Amerika Die Gemeinschaft und ihre Verbrecher Neue Wege der Kriminalitätskontrolle in den USA Die Sozialpolitik der USA: ein Weg für die Zukunft?

Amerika first -aber wohin? Die Außenpolitik der USA an der Schwelle zum 21. Jahrhundert

Christian Hacke

/ 23 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Trotz vielfachen Wandels in der amerikanischen Außenpolitik der vergangenen Jahrzehnte ist folgendes Kontinuitätsmerkmal herausragend: Alle amerikanischen Präsidenten des 20. Jahrhunderts haben ihre außenpolitischen Ambitionen auf den globalen Führungsanspruch der USA abgestellt. Dabei wurden die außenpolitischen Doktrinen zu individuellen Stilmitteln, mit denen sie gegenüber dem Kongreß, der Bevölkerung und der Welt ihren Führungswillen verdeutlichten. Nach dem 2. Weltkrieg wirkte bis 1989 die Eindämmungsdoktrin von Henry Trumann maßgeblich auf alle außenpolitischen Ordnungsentwürfe seiner Nachfolger. Erst Präsident Clinton verkörpert einen neuen Paradigmenwechsel zur Ökonomisierung der Außenpolitik; er schlägt damit die Brücke für Amerikas Weltmachtrolle im 21. Jahrhundert.

I. Präsident und Außenpolitik

Außer den USA kann kein Land auf eine vergleichbare jahrhundertealte Tradition von außen-politischen Werten und Interessen verweisen, die im übrigen von den Präsidenten gern in außenpolitische Doktrinen gegossen werden Im 20. Jahrhundert haben vor allem drei Präsidenten mit ihren außenpolitischen Doktrinen die Grundlagen für den Aufstieg der USA zur Weltmacht gelegt:

1. Woodrow Wilson wollte mit seinen 14 Punkten von 1917 das nationale Selbstbestimmungsrecht, die Beseitigung aller Handelsschranken und einen Völkerbund verwirklichen

2. Franklin D. Roosevelt verpflichtete die USA durch die „vier Freiheiten“ der Atlantik-Charta von 1941 zu weltweitem Engagement gegen die Achsenmächte

3. Harry Truman rief nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges die USA zum weltweiten Kampf gegen Totalitarismus und zum Kampf gegen Kommunismus auf. Seine Doktrin der Eindämmung bildete von 1947 bis 1989 die Grundlage der amerikanischen Außenpolitik Historisch gesehen, haben alle außenpolitischen Doktrinen der Präsidenten von George Washingtons Neutralitätserklärung bis zur Ökonomisierung der Außenpolitik unter Bill Clinton den USA ein Gefühl von Kontinuität und Sinngebung vermittelt, das in der modernen Geschichte beispiellos ist. Trotz berechtigter Einzelkritik spiegeln die Doktrinen die Außenpolitik einer Weltmacht wider, die sich ihre Verantwortung für Frieden und Freiheit in der Welt nicht leicht gemacht hat. So wurden außenpolitische Doktrinen zu Antriebs-kräften, die den Führungswillen des Präsidenten gegenüber dem Kongreß, der eigenen Bevölkerung und gegenüber der Welt ausdrückten:

-John F. Kennedy zeigte die USA als angespannte, aber auch als entspannungsbereite Großmacht.

-Lyndon B. Johnson personifizierte den Verfall in außenpolitische Ohnmacht und Verbitterung.

-Richard M. Nixon zeigte den Weg aus der außenpolitischen Krise, versäumte es aber, sein Land in demokratischer Tradition zu regieren.

-Gerald R. Ford bemühte sich, außenpolitische Schocks und innenpolitische Verwirrungen zu klären.

-James E. Carter zeigte gute Absichten, aber Unvermögen, die außenpolitischen Krisen zu meistern.

-Ronald W. Reagan personifizierte den amerikanischen Optimismus, weltpolitische Rivalitäten durch eigene Anstrengungen und Stärke zu bewältigen.

-George H. Bush handelte beim Niedergang des Sowjetimperiums mit Vorsicht und zupackend bei der deutschen Vereinigung.

-William J. Clinton verkörpert den Paradigmen-wandel zur Ökonomisierung der Außenpolitik, um für Amerikas Weltmachtrolle die Brücke ins 21. Jahrhundert zu schlagen

Der Präsident ist der mächtigste Politiker der Vereinigten Staaten, weil er „verschiedene Hüte trägt“: Er ist Oberbefehlshaber der Streitkräfte, Leiter und wichtigster Repräsentant der Außenpolitik, hauptverantwortlich für das Funktionierendes Regierungssystems. Er hat ein Vorschlags-, Mitsprache-und Einspruchsrecht. Vor allem liegt beim Präsidenten die vollziehende Gewalt, die ihm große Gestaltungsmöglichkeiten in der Außenpolitik gewährt.

Seit dem Zweiten Weltkrieg tragen die amerikanischen Präsidenten zwei weitere außenpolitische „Hüte“, die sich nicht aus der Verfassung, sondern aus der außenpolitischen Entwicklung des 20. Jahrhunderts ergeben haben. Sie wurden nach 1945 zu Führern der freien Welt. Wie im delisch-attischen Seebund die griechischen Stadtstaaten zunächst freiwillig auf außenpolitische Souveränität verzichteten, so übertrugen europäische Staaten angesichts kommunistischer Bedrohung verteidigungspolitische Kompetenzen an die NATO, die von den USA geführt wird. Neben dem nationalen Interesse der USA schützen also alle Nachkriegspäsidenten die „atlantische Zivilisation“

Schließlich tragen amerikanische Präsidenten einen dritten „Hut“, der den Schutz des weltweiten amerikanischen Imperiums symbolisiert und der von besonderer Machart ist: Man sieht ihn kaum, und jeder Präsident würde abstreiten, daß er ihn überhaupt trägt. Der amerikanische Präsident ist deshalb der Führer eines global angelegten „informellen Reiches der Freiheit“, dessen Grenzen freilich ebenso schwer zu bestimmen sind wie die Herrschaftstechniken. Antriebskräfte und Wirkungsfaktoren Zur Analyse der amerikanischen Außenpolitik darf nicht nur das nationale Interesse, sondern es muß auch die Rolle der USA als Führungsmacht des atlantischen Bündnisses und als Zentrum eines globalen Imperiums herangezogen werden. Das nationale Interesse, die atlantischen Demokratien und das informelle weltweite Imperium bilden also die drei zentralen Bezugspunkte des außenpolitischen Selbstverständnisses der USA. Sie spiegeln sich in den außenpolitischen Doktrinen der Präsidenten wider. Sie begründen also außenpolitische Ideale, Werte und Interessen der USA im Zuge der strukturellen und dynamischen Veränderungen der Weltpolitik. Auch dienen sie der außenpolitischen Profilierung des Präsidenten, sie reflektieren Anspruch und Vision amerikanischer Außenpolitik; schließlich spitzen sie außenpolitische Krisensituationen zu, um innenpolitische Zustimmung zu erreichen, wie im Falle der Truman-Doktrin. Im amerikanischen Selbstverständnis genügt es nicht, daß eine Außenpolitik richtig ist, sie muß auch immer gut sein, sie muß dem moralischen Sendungsbewußtsein der Amerikaner entgegenkommen.

Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde die antikommunistische Ausrichtung zentral, so daß alle außenpolitischen Doktrinen der Präsidenten nach Harry Truman im Kern Variationen seiner Eindämmungsdoktrin waren. Erst Bill Clinton leitete den zweiten Paradigmenwechsel in der amerikanischen Außenpolitik ein. Er hat die Ökonomisierung zum zentralen Antriebsmoment von Außen-und Innenpolitik erklärt. Insgesamt gesehen geben die außenpolitischen Doktrinen der Präsidenten also wichtige Aufschlüsse, aber zur vollständigen Analyse der amerikanischen Außenpolitik reichen sie nicht aus. Außenpolitische Veränderungen richten sich nicht nach den Gezeiten der Präsidenten-wahlen oder nach dem Anspruch von Doktrinen, sondern haben politische, ja krisenspezifische Ursachen.

II. Das Problem von Kontinuität und Wandel

Die Nachkriegsgeschichte zeigt, daß sechs der elf amerikanischen Präsidentschaftswahlen nach dem Zweiten Weltkrieg zu einem Wechsel im Weißen Haus führten. Dreimal lösten die Republikaner die Demokraten ab (1952, 1968 und 1980), und dreimal traten die Demokraten an die Stelle der Republikaner (1960, 1976, 1992). In jedem Wahlkampf versprach der letztlich siegreiche Kandidat außenpolitischen Wandel. Nach der Amtsübernahme jedoch verblaßte dieser Anspruch, vielmehr trat der neue Präsident in die Fußstapfen seines Vorgängers, wahrte außenpolitische Kontinuität und bemühte sich vor allein um eine von beiden Parteien getragene Außenpolitik. Dies zeigte sich schon am Ende der Regierung Truman. Noch im Wahlkampf 1952 hatte der republikanische Präsidentschaftskandidat Dwight D. Eisenhower die Politik der Eindämmung als reaktiv kritisiert und neuen Aktivismus gefordert, um die Sowjetunion aus Osteuropa und Asien zurückzudrängen. Nach Amtsantritt war Eisenhower jedoch gezwungen, die Eindämmungspolitik seines Vorgängers weiterzuentwickeln. Am Ende der fünfziger Jahre wurden Eisenhowers entspannungspolitische Ansätze sogar als fortschrittlich gewürdigt. Sein demokratischer Herausforderer Kennedy kritisierte Eisenhower zunächst als zu weich gegenüber der Sowjetunion. Zwar vergrößerte Kennedy die militärische Stärke der USA und trat Revolutionsbewegungen in der Dritten Welt entschiedener entgegen, als es Eisenhower getan hatte, doch nach der Kubakrise 1962 verstärkte er seine Entspannungsbemühungen mit der Sowjetunion und trat damit in die Fußstapfen der späten Eisenhower-Jahre.

Als der Republikaner Richard Nixon 1968 im Wahlkampf gegen den damaligen demokratischen Vizepräsidenten Hubert Humphrey antrat, versprach er der Bevölkerung einen ehrenhaften Frieden im Vietnamkrieg, nachdem er sich von der Vietnampolitik Johnsons distanziert hatte. Als jedoch Nixon Präsident wurde, setzte er im Kern die von Johnson entwickelte Politik der „Vietnamisierung“ fort. Auch Nixons Entspannungspolitik gegenüber der Sowjetunion und das Auftauen der Beziehungen zur Volksrepublik China sowie der Beginn des Friedensprozesses zwischen Arabern und Israelis baute auf Initiativen der Regierung Johnson auf. 1976 gewann der Demokrat Jimmy Carter die Präsidentschaftswahlen, weil er die Vernachlässigung der Menschenrechte durch Kissinger und dessen Dritte-Welt-Politik kritisierte. 1977 und 1978 widmete die Regierung Carter den Entwicklungsländern und den Menschenrechten mehr Aufmerksamkeit. Aber nach der sowjetischen Invasion in Afghanistan mußte Carter genau die Politik der Stärke praktizieren, die er bei seinen Vorgängern kritisiert hatte: Er sorgte sogar für den größten Zuwachs der Verteidigungsausgaben seit 20 Jahren. Hatte Carter die Eindämmungspolitik seiner Vorgänger kritisiert, so mußte er schließlich als letzter demokratischer Präsident des Kalten Krieges selber die Eindämmung der Sowjetunion zur außenpolitischen Doktrin erheben. Carter war im übrigen der einzige Präsident, der zwei völlig gegensätzliche außenpolitische Doktrinen entwikkelte. Seine erste, die Menschenrechtsdoktrin, mußte er im wesentlichen aufgeben, als er im Zuge sowjetischer Machtausweitung dann die Golf-Doktrin als Variante der Trumanschen Eindämmungsdoktrin verkündete.

Ronald Reagan entwickelte die Politik von Präsident Carter fort und forcierte als Präsident schließlich den Antikommunismus. Doch mit Michail Gorbatschow engagierte sich Reagan im Zuge seiner zweiten Amtsperiode für Entspannung und Abrüstung. Einen revolutionären Wandel leitete er allerdings ein, als im Dezember 1987 das INF-Abkommen (INF = intermediate ränge nuclear forces) in Washington unterzeichnet und damit die nuklearen Mittelstreckenraketen auf beiden Seiten vollständig abgerüstet wurden. Legendär wurde Reagans Berliner Rede vom 12. Juni 1987, als er an die sowjetische Führung appellierte: „Generalsekretär Gorbatschow, wenn Sie nach Frieden streben, wenn Sie Wohlstand für die Sowjetunion und für Osteuropa wünschen, wenn Sie die Liberalisierung wollen, dann kommen Sie hierher zu diesem Tor. Herr Gorbatschow, öffnen Sie dieses Tor, reißen Sie diese Mauer nieder!“

Präsident Bush setzte im Prinzip die Außenpolitik seines Vorgängers fort. Im Zuge der Invasion Iraks in Kuwait entwickelte er die Idee einer neuen Weltordnung, eine Pax Americana, die allerdings wenig Raum für die Berücksichtigung der Interessen anderer Staaten bot, sondern eine Anpassung der Staatenwelt an die Interessen der USA verlangte Bush wollte die außenpolitische Führung der USA im Rahmen der neuen Weltordnung ausbauen, scheiterte aber aus innenpolitischen Gründen, weil er die drängenden Probleme ebenso verkannte wie die neuen globalen Probleme an der Schwelle zum 21. Jahrhundert.

Die Nachkriegsjahre seit 1945 zeigen also, daß die Präsidenten zwar deklaratorisch Wandel postulieren, in der Realität jedoch oft mehr außenpolitische Kontinuität praktizieren, als ursprünglich zu erwarten war. Lediglich wenn tiefe strukturelle Krisen im Innern und in der Außenpolitik auftreten, wie unter Truman und Clinton, und wenn die jeweiligen Präsidenten angemessen darauf reagieren, kommt es zu grundsätzlichem Wandel. Verkennen sie die Lage, wie Präsident Johnson oder Präsident Bush, werden sie abgewählt oder resignieren.

Kontinuität und Wandel der amerikanischen Außenpolitik entsteht also im Verhältnis Präsident -Kongreß -öffentliche Meinung -internationale Politik. Das zeigt sich auch unter Präsident Clinton: Im Wahlkampf 1992 hatte Clinton die Gleichgültigkeit gegenüber den Menschenrechtsverletzungen in China und die Zurückhaltung Bushs in Jugoslawien kritisiert. Als Präsident trat er aber in Bushs Fußstapfen: Er entwickelte freundschaftliche Beziehungen zur Volksrepublik China und schreckte zunächst ebenfalls vor einer Militärintervention in Bosnien zurück Erst später unter dem Eindruck der Kriegsereignisse auf dem Balkan und der Unfähigkeit der Europäer, auf ihrem eige-nen Kontinent für Ordnung und Frieden zu sorgen, wurde die Regierung Clinton aktiv. Das Abkommen von Dayton und Clintons Eintreten für die NATO-Osterweiterung signalisierten dynamischen Wandel

III. Die neuen außenpolitischen Fragen nach Ende des Kalten Krieges

Nach Ende des Kalten Krieges hat sich das innenpolitische Bindemittel des Antikommunismus weitgehend aufgelöst. Folglich ist die politische Meinungsvielfalt in der amerikanischen Bevölkerung größer geworden, auch außenpolitisch. Es gibt keinen überparteilichen Konsens mehr für internationales Eingreifen wie zu Zeiten des Kalten Krieges. Jeder Präsident muß außenpolitisches Engagement von Fall zu Fall gegen einen zunehmend innenpolitisch orientierten Kongreß und gegen wachsenden Neoisolationismus durchsetzen. Diese Charakterisierung ist allerdings nicht ganz richtig, denn seit den achtziger Jahren wurde deutlich, daß die Bevölkerung zwar eine deutliche Reduzierung der Auslandshilfe wünscht, andererseits aber nach wie vor eine international engagierte Ausrichtung der Außenpolitik begrüßt, wenn diese die neuen Gefahren und Sorgen angemessen beantwortet. Amerikas Bevölkerung ist bereit, die internationale Führungsrolle mitzutragen, aber nur wenn die USA stärker mit anderen Staaten gemeinsam handeln. Diese nuancierte Einstellung der amerikanischen Bevölkerung wurde von Bush verkannt.

Die Verringerung der äußeren Bedrohung nach Wegfall des Sowjetimperiums und die wachsende Bedeutung der Wirtschaft haben die Führungsrolle der USA verändert. Dabei setzt die Regierung Clinton auf eine Strategie der Erweiterung der außenpolitischen Interessenlage! Clintons Außenpolitik zielt vor allem auf die Stärkung der Gemeinschaft der marktwirtschaftlichen Demokratien, wobei die Führungsrolle der USA ausgebaut wird. Vergrößerung der Wirtschaftskraft und die Erweiterung der sicherheitspolitischen Handlungsfähigkeit der USA stehen an oberster Stelle. Die Erweiterung der NATO und die Bildung der Nordamerikanischen Freihandelszone (NAFTA) wurden zu Clintons persönlichem Anliegen. Vieles spricht dafür, daß die NATO den amerikanischen Einfluß in Europa bis an die russische Grenze vorschieben wird. „Von der Eindämmung zur Erweiterung“ -diese von Anthony Lake formulierte Leitidee prägt das neue sicherheitspolitische Konzept: „Uns aktiv in der Welt zu engagieren, um unseren Wohlstand zu erhöhen, unsere Sicherheitsvorkehrungen zu modernisieren und die Demokratie in der Welt zu fördern.“

Die Streitkräfte dienen nicht mehr der Abwehr einer übermächtigen Gefahr, wie der Sowjetunion, sondern sollen jetzt die Fähigkeit vermitteln, Macht jederzeit global und vielfältig einsetzen zu können. Trotz aller Kürzungen bleibt der Verteidigungshaushalt überproportional groß, weil dies der Weltmachtanspruch erfordert: Der Abstand zu rivalisierenden Großmächten wie der Volksrepublik China und Rußland soll gewahrt bleiben. An der amerikanischen Sicherheits-und Rüstungspolitik und der Politik der Erweiterung der NATO bleiben Ungereimtheiten, doch der von Präsident Clinton eingeleitete außenpolitische Paradigmenwechsel zur Weltwirtschaftsmacht ist eindrucksvoll: Er und seine Mitarbeiter haben die dominante Position der USA im Welthandel, in der Industrieproduktion und in der weltweiten Wert-schöpfung wiederhergestellt. Clinton hat vor allem die gigantische Verschuldung des Staatshaushaltes völlig beseitigt. Mit innen-und sozialpolitischen Reformvorhaben unterstützt er auch eine aggressivere Handelspolitik. Handelsminister Brown ökonomisierte wie kein anderer seit Herbert Hoover die amerikanische Außenpolitik mit dem Ziel der Vergrößerung der Märkte für amerikanische Güter und Dienstleistungen. Während Clintons Vorgänger die ökonomischen Probleme der USA unter den Teppich kehrten, betonte Clinton ganz bewußt zu Beginn seiner Amtszeit den drohenden wirtschaftlichen Niedergang, um den Reform-druck zu erhöhen. „We must compete, not retreat“ (Wir müssen uns dem Wettbewerb stellen, nicht davor weglaufen), wurde zur wirtschaftspolitischen Losung. Gleichzeitig machte er durch die Schaffung neuer regionaler Wirtschaftsgroßräume den Amerikanern Mut zur Globalisierung.

Clintons dynamische, zum Teil aggressive Welt-wirtschaftspolitik symbolisiert an der Schwelle zum 21. Jahrhundert eine außenpolitische Schwerpunktverschiebung, mit der die USA wieder zum Motor der Weltpolitik werden: „Clintons Haupterkenntnis hinsichtlich der Art und Weise, wie sich die Welt verändert hat, ist die, daß das geopolitische und geostrategische System des Kalten Krieges einer Ära der Geo-Ökonomie und des Geo-Finanzwesens Platz gemacht hat .... An die Stelle von Raketen, die jeden Punkt auf der Erde erreichen konnten, waren Exporte getreten, die sowohl harte wie sanfte Macht verkörperten, vom JumboJet zur Computer-Software und CNN.“

In dieser unipolaren Welt werden die USA vielleicht noch mehr Einfluß entwickeln als im Kalten Krieg. Venedig zur Zeit der Renaissance oder Großbritanniens Weltreich im 19. Jahrhundert sind historische Vorläufer. Diese kooperativ-ökonomische Perspektive für den „Welthandelsstaat“ USA könnte allerdings konfrontativ durch eine Bipolarität zwischen den USA und der Volksrepublik China verhindert werden. Athen und Sparta zur Zeit des Perikies sowie die amerikanisch-sowjetische Bipolarität von 1945 bis 1989, aber auch die amerikanisch-britische Wirtschaftsrivalität seit Ende des Ersten Weltkrieges bis Anfang der fünfziger Jahre bilden historische Vorbilder für solche Konstellationen. Auch könnte die Triade USA -Westeuropa -Japan an wirtschaftlicher Bedeutung gewinnen, von ihr können kooperative, aber auch konfrontative Impulse ausgehen. Vorstellbar ist aber auch, daß Welt-und Großmächte gemeinsam ein globales Machtgleichgewichtssystem analog zum Europa des 19. Jahrhunderts entwickeln Der Frieden würde gesichert, wenn die Mächte sich gemeinsam in den Dienst regionaler und globaler Gemeinschaftsinstitutionen stellten. Doch diese Perspektive eines hegemonial-multilateralen Altruismus ist zu schön, um wahr zu werden. Statt dessen könnten hierarchische Systeme in autoritären wie auch in demokratischen Formen (wieder-) entstehen -analog zum Sowjetimperium und zur westlichen Allianz inklusive Japan vor 1989. Während das amerikanische Hegemonialsystem nach dem Zweiten Weltkrieg Elastizität und Vitalität zeigte, führten Starrheit, überproportionale Militarisierung und wirtschaftlicher Kollaps zum Zusammenbruch des sowjetischen Hegemonialsystems. Nach dem Ende der amerikanisch-sowjetischen Bipolarität und angesichts der derzeitigen überlegenen Stärke der USA arbeitet Washington an der Schwelle zum 21. Jahrhundert auf eine unipolare Welt unter der Führung der USA hin. Unter Clinton halten die USA ihren Anspruch aufrecht, auch im 21. Jahrhundert Nummer 1 zu bleiben, Clinton setzt einen vergrößerten Fächer von Mitteln und Instrumenten, vor allem die Wirtschaft, ein. Doch wird im 21. Jahrhundert nicht allein eine unipolare Welt denkbar, sondern andere Formen von Hegemonie können auftauchen, denn „Isolierung, Beschützung und Repräsentation eines Staaten-kreises (als) wesentliche Stücke der Handhabung einer Hegemonie“ bleiben vorrangig. Die USA werden auch im 21. Jahrhundert ihr „informelles Imperium“ weltweit zu sichern suchen, dies könnte aber von anderen aufsteigenden Mächten in Frage gestellt werden. Die Volksrepublik China steht jetzt schon an der Schwelle zur Weltmacht und könnte im 21. Jahrhundert ein eigenes globales Hegemonialsystem entwickeln, so daß eine neue bipolare Welt nicht auszuschließen ist

Die Weltmachtstruktur der USA ergibt sich also aus der Summe der regionalen Großmachtrollen und Großmachtinteressen, aus ihrer Fähigkeit zur globalen Machtprojektion. Die USA bleiben die wichtigste Welthandelsmacht. Noch besitzen sie allein die militärischen, ökonomischen und politischen Ressourcen und Eliten, die auf jahrhundertealte Erfahrung weltweiter Diplomatie aufbauen. Neben diesen strukturellen Voraussetzungen lassen auch dynamische Faktoren darauf schließen, daß die USA auch im 21. Jahrhundert die führende Macht der Welt bleiben werden: Der Wille der politischen, militärischen und wirtschaftlichen Elite mag zwar hier und da gelähmt erscheinen, aber aufs Ganze gesehen, befürworten und tragen sie die aktive Weltmachtrolle. Nur die USA zeigen den Willen zum Einsatz von Truppen, Flugzeugen, Schiffen und Raketen zur Erhaltung von Regeln und ethnischen Normen sowie der Herrschaft des Rechts. Daß dabei die Sicherung der wirtschaftlichen Macht für das eigene Wohlergehen und für die Dominanz bei Welthandel. Weltwirtschaft und Weltfinanzen nicht zu kurz kommt, liegt im Interesse jedes Staates. Von den USA ist deshalb auch in Zukunft zu erwarten, daß Machtmittel und Ressourcen entwicklungs-bzw. ausbaufähig bleiben, wie die Bemühungen Washingtons um die Erweiterung der NATO zeigen. Vor allem glänzen die USA durch Innovationsfähigkeit und können sich deshalb auf außenpolitische Veränderungsprozesse besser einstellen bzw. diese im eigenen Interesse stärker beeinflussen als andere Staaten. Die beeindruckende Geschichte von weltpolitischer Verantwortung der USA im 20. Jahrhundert läßt also eine entsprechende Dynamik auch für das 21. Jahrhundert erwarten.

Aber reicht das aus? Wohin steuern die USA? Sind neue Ideen und Interessen für das 21. Jahrhundert erkennbar? Die USA müssen mehr sein als nur reich, mehr als nur wirtschaftspolitischen Wandel anstoßen können. Ihre Institutionen und ihre Politik müssen wieder vorbildlich werden. Dann werden die USA wieder als „sanfter Hegemon“ weltweit überzeugen. Eine neue attraktive zivilisatorische Leitidee für das 21. Jahrhundert, die den globalen Führungsanspruch der USA untermauern könnte, ist derzeit nicht auszumachen. Dazu erschweren innenpolitische Hemmnisse eine neue aktive Weltmachtrolle.

Nach Ende des Kalten Krieges handeln die Abgeordneten des Kongresses außerdem verstärkt unter innenpolitischen Prämissen. Das außenpolitische Desinteresse im Kongreß ist stark angestiegen. Die außenpolitischen Krisen der vergangenen Jahre haben gezeigt, daß es für den amerikanischen Präsidenten schwerer geworden ist, im Kongreß außenpolitische Unterstützung zu gewinnen. Während der Kongreß bis Mitte der sechziger Jahre dem Präsidenten außenpolitisch fast blindlings folgte, hat sich das amerikanische Regierungssystem außenpolitisch gesehen vom „presidential" zum „congressional government“ gewandelt.

Der Wegfall einer überragenden Bedrohung hat die Rückkehr zur traditionellen Konzentration auf die Innenpolitik beschleunigt. Ärger über die Unfähigkeit der europäischen Partner, für Sicherheit und Frieden auf dem eigenen Kontinent zu sorgen oder globale Lasten mit den USA zu teilen, haben neoisolationistische Tendenzen gefördert. Die traditionelle Abneigung der Amerikaner gegen außenpolitische Einbindung in multilaterale Institutionen und neoisolationistische Neigungen erschwert ein kooperatives und multilaterales Verständnis der außenpolitischen Rolle der USA als „Primus inter pares“, das die internationalen und regionalen Gemeinschaftsinstitutionen stärken würde.

IV. Bilanz und Perspektiven

Ohne klare militärstrategische Bedrohung, ohne ideologische Herausforderung, bei gesunkener innenpolitischer Bereitschaft für außenpolitisches Engagement, bei weniger Solidarität der Bündnis-partner und schwindender zivilisatorischer Attraktivität ist die globale Führungsrolle der USA keine feste, berechenbare Größe mehr. Die USA bleiben zwar an der Schwelle zum 21. Jahrhundert die letzte Weltmacht, füllen diese Rolle aber nur widerstrebend aus. Dieser Widerspruch durchzieht die derzeitige Außenpolitik der USA. Aber auch die Entwicklungslinien in der internationalen Politik sind widersprüchlich: Einerseits nehmen die Abhängigkeiten zu, andererseits sind die Gefahren von Konfrontation und Krieg gewachsen. Die USA als Führungsmacht müssen auf beide Entwicklungstendenzen eingestellt sein, weil sie als alleinige Ordnungsmacht mit zivilisatorischem Anspruch gefordert sind. Denn noch sind die anderen potentiellen Groß-oder Weltmächte wie Westeuropa, Rußland, Japan und die Volksrepublik China primär mit sich selbst beschäftigt. Auch deshalb verschärfen sich die globalen Probleme. Darüber hinaus zeigen die Krisen und Kriege der vergangenen Jahre, daß das Vorbild des „Handelsstaates“ zu kurz greift. Die Durchsetzung von Recht, Ordnung, Frieden und guter Nachbarschaft erfordert mehr als wirtschaftliche Stärke. Vor allem müssen sich die USA intensiver um die großen strukturellen Veränderungen in der Weltpolitik kümmern: Die rapide Ausbreitung globaler Probleme wie Umweltverschmutzung, Drogenhandel, Bevölkerungswachstum, Kriminalität und Energieersparnis erfordert weltpolitische Führung und Vorbild. Das gilt vor allem für die Rolle der USA in der UNO.

Die Vereinten Nationen bedürfen der Unterstützung der großen Mächte, vor allem der USA. Die UNO darf aber nicht zum Instrument amerikanischer Machtpolitik verkümmern, sondern muß als zentrales multilaterales Forum auch von den USA anerkannt werden, das sie selbst nicht nur finanziell stärker mittragen müssen. Allerdings kam die jüngste Irakkrise vom Februar 1998, die von UNO-Generalsekretär Annan in letzter Sekunde gelöst werden konnte, erst deshalb zustande, weil die USA mit einem neuen Militärschlag drohten. Erst vor diesem Hintergrund lenkte Saddam Hussein ein.

Kraftvolle und verantwortungsbewußte Außenpolitik bedarf nicht nur der klugen politischen Führung, nicht nur entsprechender außenpolitischer Institutionen und demokratischer Kontrollen, sondern sie braucht vor allem einen innenpolitischen Resonanzboden, der zeigt, daß die Bevölkerung die Rolle der USA in der internationalen Politik trägt. Außenpolitische Kultur, außenpolitische Eli-ten und eine aufgeklärte Öffentlichkeit sind Voraussetzung für eine nationale Interessenpolitik, die auch internationale Verantwortung übernimmt. Die zweihundertjährige Geschichte der Vereinigten Staaten zeigt eine eindrucksvolle Entwicklung zu verantwortungs-und machtbewußter Größe Bei Schlüsselentscheidungen haben die USA auch geirrt und Fehler gemacht; aber der offene und selbstkritische Charakter dieser Debatten hat ihnen auch in schweren Zeiten Sicherheit zurückgegeben. Ihre Ideale und Interessen wirkten wie Fixpunkte, zu denen das Land, selbst wenn es außenpolitisch abgetrieben schien, immer wieder zurückkehrte. Die Kraft der außenpolitischen Erneuerung, der Wille zum Aufbruch und zur Kursänderung machen die USA zur Weltmacht. Diese Kraft der Erneuerung und der Wille, das Ruder herumzureißen, sind es, die Amerika auch in der Außenpolitik stark gemacht und die Weltmachtrolle moralisch und realistisch begründet hat. Amerikas außenpolitische Geschichte zeigt Größe und Tragik, die durch Interessenkalkül, Ideale, aber auch durch Irrtümer und Fehler bestimmt wurde. Doch es ehrt bis heute die amerikanischen Gründungsväter, daß sie im Wissen um menschliche Schwächen alles taten, um durch Kontrolle, durch „Checks and Balances“ und durch Zwang zur Zusammenarbeit den Mißbrauch von Macht auch außenpolitisch in Grenzen zu halten. Dank demokratischen Bewußtseins und Zivilcourage decken Amerikaner ihre Irrungen auf und korrigieren Fehler selbstkritisch. Andere Verfassungen mögen effizienter sein, aber die amerikanische Verfassung reflektiert die Furcht vor der Übermacht der Exekutive. Daß diese Beschränkung außenpolitischer Macht in der Verfassung, zusammen mit dem isolationistischen Grundgefühl der Amerikaner, den Aufstieg zur Weltmacht teilweise behinderte, macht den Reiz und die Würde der amerikanischen Außenpolitik aus.

Natürlich handeln die USA nicht altruistisch. Aber nur wenige Länder haben ihre eigenen Interessen mit denen der übrigen Welt verknüpfen können wie die USA. Ja, die Welt hat sich an Amerikas weltpolitisches Eingreifen gewöhnt. Es wird sogar erwartet, denn wenn die USA nicht eingreifen, dann versagt auch der Rest der Welt. Das hat das vergangene Jahrhundert mehrfach bewiesen. Der Erste Weltkrieg und der Zweite Weltkrieg und nicht zuletzt der Kalte Krieg wären ohne Amerikas Eingreifen anders verlaufen. Daran erinnert auch nach 50 Jahren die Berliner Luftbrücke. Seit den Veränderungen von 1989/90 hat sich hieran nichts geändert. Aggression, Massen-flucht, Völkermord, Hilflosigkeit oder feiges Beiseitestehen der anderen Staaten zwingen die USA immer wieder, auch gegen ihren Willen, die Bürde der Weltmachtrolle zu übernehmen.

Amerika hatte Glück, daß es sich frei und kontinuierlich zu einer Weltmacht entwickeln konnte und seit der Gründung demokratische Eliten die Politik bestimmt. Bis Anfang des Jahrhunderts dominierte in den USA eine kleine Schicht vermögender und kultivierter Farmer aus den Südstaaten zusammen mit der Handelsaristokratie des Nordens und der neuenglischen Staaten 19. Dabei sorgte der Austausch zwischen Wirtschaft, Politik, Wissenschaft, Militär und Jurisprudenz für neue Ideen und konstruktive Konkurrenz im Kreislauf der demokratisch gewählten Eliten. Wer in Europa bzw. in Deutschland die Nase über die angebliche Geschichtslosigkeit der USA rümpft und das Geschichtsbewußtsein der Europäer und Deutschen dagegenhält, übersieht, daß die Vereinigten Staaten auf eine stolze demokratische Tradition und auf einen Fundus von eindrucksvollen Ideen und kompromißfähigen Interessen zurückblicken können, die Achtung verdienen. Kein europäisches Land kann auf eine vergleichbare Wertetradition und Interessenstruktur verweisen.

Es gibt keine andere Macht, die weltweit für menschenwürdige, tolerante und fortschrittliche Werte und Interessen einsteht. Europa scheint weltpolitisch abgedankt zu haben, seine Wirtschaftskraft hat kein entsprechendes politisches Verantwortungsbewußtsein entstehen lassen. Europa ist zum gemeinsamen politischen Handeln in der Welt unfähig. Für Amerikas globale Führung gibt es also keinen Ersatz, wenn auch die Mittel geringer, der Wille schwächer und die Welt unübersichtlicher geworden sind. Auch „ist das amerikanische Volk äußerst unwillig, für irgendein Ziel einen größeren Krieg zu riskieren, geschweige denn zu führen. Es toleriert von den USA im Alleingang oder im Namen der UNO durchgeführte Militäraktionen nur, wenn möglichst kein amerikanischer Soldat getötet wird und die wirtschaftlichen Kosten begrenzt bleiben. Diese Grundstimmung konfrontiert die Regierung Clinton mit einem Dilemma: Während die täglich durch das Fernsehen frei Haus gelieferten Bilder von Kriegen, Hungersnöten und Unterdrückung ein Meinungsklima erzeugen, wonach die Regierung irgend etwas tun müsse, fehlt auf der anderen Seite jede Bereitschaft, die Opfer einer kriegerischen Intervention auf sich zu nehmen. Nach den Erfahrungen der US-Außenpolitik im Jahrhundert wird sich diese Lage erst ändern, wenn ein großer gemeinsamer Feind das Land eint, die USA erneut von einem zivil-religiösen Feuer der Freiheit ergriffen werden, sich wieder eine Großmacht zum Reich des Bösen entwickelt und in die Falle des amerikanischen Sendungsbewußtseins gerät“ 20.

Vor diesem Hintergrund verwundert es nicht, daß nach wie vor junge Amerikaner in dem Glauben erzogen werden, daß den Vereinigten Staaten eine besondere Rolle in der Welt zukommt. Dabei wirkt ein Mythos von politischer Unschuld, Kraft und Sendungsbewußtsein als Fixpunkt fort. So erklärte Clinton am 4. Juli 1996 anläßlich der Feiern zum 220. Jahrestag der Unabhängigkeitserklärung: „Heute durchleben wir wieder eine Zeit tief-greifenden, historischen Wandels im Hinblick darauf, wie wir arbeiten, leben, wie wir miteinander und mit der übrigen Welt verbunden sind. Die in unserer Unabhängigkeitserklärung niedergelegten Wahrheiten sind jedoch unabänderlich und weisen uns weiterhin unseren Weg zu den Herausforderungen und Chancen der Zukunft. Gleichberechtigung, Rechte des einzelnen, Freiheit, Chancen -wir halten diese Werte immer noch in Ehren und müssen sie auch in Zukunft jeden Tag erneut bekräftigen. Amerika entwickelt sich immer noch weiter, und während Jahrzehnten der Herausforderungen waren wir bestrebt, das zu verwirklichen, was sich unsere Gründerväter an unserem ersten Unabhängigkeitstag vorstellten. Auch bei unseren weiteren Bestrebungen wollen wir zusammenarbeiten, um ein Amerika zu schaffen, das weltweit die stärkste Kraft für Frieden, Gerechtigkeit und Freiheit bleibt.“ Diese selbstbewußte und bisweilen selbstgerechte Sicht des „American Way of Life“ wird aber durch Selbstkritik aufgelockert.

Die Zeitenwende von 1989 brachte auch eine unpolitische Dynamik. Die Freiheitsrevolution wird von der Medien-und Computerrevolution überrollt. Allerdings ist die „soft power“ der Computertechnologie heute zum Schlüsselbegriff für Politik und amerikanische Alltagskultur geworden. Über die millionenfachen Kanäle des Technologie-und Kommunikationszeitalters wird die

Welt stärker denn je mit amerikanischen Produkten, Ideen und Unterhaltung überschwemmt. Diese „soft power“ ist kein Teil der amerikanischen Außenpolitik, aber sie schwimmt in den Wellen des Nachrichtensenders CNN, Popkultur und Hollywood. Wird deshalb eines Tages die Unterhaltungsindustrie die Politik auflösen? Wohl kaum, aber die Botschaft von Individualität, Freiheit, Glück und Wohlstand ist seichter geworden. Die Reichweite des „Amerikanismus“ hat einen neuen Schub erhalten, doch die Inhalte sind dürftiger geworden. Der „American Way of Life“ gelangt jetzt zwar in die letzten Winkel der Welt, aber was hat er noch zu bieten? Clinton personifiziert auch diese unpolitische Seite des „Amerikanismus“, der wirtschaftlich aggressiver geworden ist. Beide Tendenzen entpolitisieren den Kern des „Amerikanismus“. Erlebt die individuelle Werteethik der klassischen amerikanischen Version deshalb ihren Niedergang? Haben die USA sich nicht nur politisch und militärisch überdehnt, sondern gleichzeitig ihren kulturell-zivilisatorischen Anspruch verwässert? Materielle Gier und Hedonismus wurden schon unter Reagan freigesetzt. Clintons Wirtschaftspolitik hat diese Untugenden -zum Teil unbewußt -wiederbelebt. Dabei ist die Kluft zwischen Arm und Reich auch in den USA größer geworden. Zugleich verblaßt das republikanische Leitbild, das den Bürger an gemeinsame ethische Werte und an das Gemeinwohl gebunden hat. Während die „Weltunordnung“ die USA zur Weltmacht verdammt, droht im Innern die Spaltung zwischen Arm und Reich und der Abstieg der Mittelklasse. Die immer wieder aufflammenden Unruhen in den Großstädten, zwischen den Rassen und die Feudalisierung der Reichen könnten zu Konflikten führen und die Gesellschaft der USA erschüttern, wenn das Land keine anderen Entwicklungsmöglichkeiten mehr bereithält

Mag sein, daß die Freiheitsideale verwelken, aber die Wirtschaftsinteressen könnten im Bewußtsein der Amerikaner die Führungsrolle in der Welt aktivieren. Clinton wird weiter globale Politik betreiben, dabei hat er erkannt, daß er Amerikas wirtschaftspolitische Ziele durch weltweite Strategien abstützen muß. Diese Wechselwirkung zwischen Sendungsbewußtsein und wirtschaftlicher Stärke wird Amerikas Weltmachtrolle dynamisch halten. Ob strategische Handelspolitik oder wirtschaftliche Ausweitung der Interessen mit weiterführenden strategischen Zielen bestimmend bleiben -wer kann das entscheiden? Clinton wird die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts in Kooperation mit den Partnern und Freunden meistern, aber ihnen gegenüber auch die Führung behaupten wollen. Clinton versteht bündnispolitische Führung in der Tradition der großen außenpolitischen Präsidenten seit dem Zweiten Weltkrieg. Bisweilen scheint es sogar, als ob nach dem Ende des Kalten Krieges die USA ihre Interessen in Europa noch tatkräftiger durchsetzten als je zuvor. Global gesehen könnte Clinton folgendes Diktum von Theodore Roosevelt erneuern, weil es auch heute noch zum „American Dream" gehört: „Ich predige Euch“, hatte Theodore Roosevelt 1899 erklärt, „daß unser Land nicht zu einem Leben des Müßiggangs, sondern zu einem Leben harter Arbeit aufgefordert ist. Das 20. Jahrhundert und damit das Schicksal vieler Nationen steht vor der Tür. Falls wir untätig beiseite stehen ... falls wir vor dem harten Wettkampf zurückschrecken ... dann werden uns die kühneren und stärkeren Völker überholen.“

Ob Bill Clinton diese puritanische Ethik persönlich übernommen hat und ob sie auf die USA heute zutrifft, ist fraglich. Aber solange er Präsident bleibt, wird er, wie alle seine Vorgänger, dafür Sorge tragen, daß Amerika auch beim Eintritt in das 21. Jahrhundert das bleibt, was es im vergangenen Jahrhundert war: Second to None.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Cecil Crabb, The Doctrines of American Foreign Policy, Baton Rouge 1982.

  2. Vgl. N. Gordon Levin, Woodrow Wilson and World Politics: America’s Response to War and Revolution, London -Oxford -New York 1968; August Heckscher, Woodrow Wilson. A Biography, New York 1991.

  3. Vgl. James MacGregor Burns, Roosevelt: The Lion and the Fox, New York 1956; Robert Dallek, Franklin D. Roosevelt and American Foreign Policy, 1932-1945, New York 1995.

  4. Vgl. Melvyn P. Leffler, A Preponderance of Power, National Security, The Truman Administration and the Cold War, Stanford, Cal. 1992.

  5. Vgl. Christian Hacke, Zur Weltmacht verdammt. Die amerikanische Außenpolitik von Kennedy bis Clinton, Berlin 1997.

  6. Zur historischen und politischen Bedeutung des Begriffes „atlantische Zivilisation“ vgl. Hannah Arendt, Über die Revolution, München 1986, S. 278 f.

  7. Vgl. George Liska, Imperial America, Baltimore 1967; Robert W. Tucker, Nation or Empire? Baltimore 1968; Geir Lundestad, The American Empire, London 1990.

  8. Vgl. William Schneider, The Old Politics and the New World Order, in: Kenneth Oye/Robert Lieber (Hrsg.), Eagle in a New World, New York 1992, S. 65 ff.

  9. Vgl. Thomas Paulsen, Jugoslawienpolitik der USA 1989-1994, Baden-Baden 1995.

  10. Vgl. Chr. Hacke (Anm. 5), S. 561 ff.

  11. Vgl. Herbert Dittgen, Amerikanische Demokratie und Weltpolitik: Außenpolitik in den Vereinigten Staaten, Paderborn 1998, S. 291 ff.

  12. Anthony Lake, From Containment to Enlargement. Ad-dress at the School of Advanced International Studies, Johns Hopkins University, Washington, D. C. vom 21. September 1993, zit. nach U. S. Department of State Dispatch vom 27. September 1993, S. 658 ff.

  13. Martin Walker, The President We Deserve: Bill Clinton, His Rise, Falls and Comebacks, New York 1996, S. 285 ff.

  14. Vgl. Peter Fliess, Thucuydides and the Politics of Bipolarity, Nashville 1966; Russell Meiggs, The Athenian Empire, Oxford 19925.

  15. Vgl. Christian Hacke, Die großen Mächte, in: Karl Kaiser/Hans-Peter Schwarz (Hrsg.), Die neue Weltpolitik, Baden-Baden 1995, S. 316 ff.

  16. Heinrich Triepel, Die Hegemonie. Ein Buch von führenden Staaten, Stuttgart 1943, S. 299.

  17. Vgl. Zbigniew Brzezinski, Die einzige Weltmacht. Amerikas Strategie der Vorherrschaft, Berlin 1997, S. 221-249.

  18. Vgl. Stefan Fröhlich, Amerikanische Geopolitik: Von den Anfängen bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs, München 1998.

  19. Vgl. Hans-Ulrich Wehler, Grundzüge der amerikanischen Außenpolitik. 1750-1900, Frankfurt am Main 1984, S. 21.

  20. Detlef Junker, Von der Weltmacht zur Supermacht. Amerikanische Außenpolitik im 20. Jahrhundert, Mannheim 1995, S. 112.

  21. Präsident Clinton am 4. Juli 1996 anläßlich der Feier zum 220. Jahrestag der Unabhängigkeitserklärung.

  22. Vgl. Christian Tenbrock, Amerika wohin?, Stuttgart 1996, S. 200 f.

  23. Theodore Roosevelt, zit. nach Jeffrey E. Garten, Der Kalte Frieden. Amerika, Japan und Deutschland im Wettstreit um die Hegemonie, Frankfurt am Main -New York 1992, S. 246.

Weitere Inhalte

Christian Hacke, Dr. phil., geb. 1943; seit 1980 Professor für Politikwissenschaft/Internationale Politik an der Universität der Bundeswehr in Hamburg. Zahlreiche Veröffentlichungen zur amerikanischen und deutschen Außenpolitik sowie zur Theorie der internationalen Beziehungen; zuletzt: Zur Weltmacht verdammt. Die amerikanische Außenpolitik von Kennedy bis Clinton, Berlin 1997.