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Echoraum, nicht Pulverfass | Jugoslawien | bpb.de

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Echoraum, nicht Pulverfass

Andreas Ernst

/ 16 Minuten zu lesen

Bedenkliche Befunde zum postjugoslawischen Raum häufen sich. Aber ist die Warnung vor der brennenden Lunte am Pulverfass gerechtfertigt? Um das beurteilen zu können, ist es sinnvoll, zunächst zu klären, inwiefern von diesen Staaten überhaupt als Region gesprochen werden kann.

Die Rede vom Balkan als Europas "Pulverfass" hat in jüngster Zeit wieder Konjunktur. Dem westlichen Publikum, das seit dem kriegerischen Zerfall Jugoslawiens in den 1990er Jahren eher wenig aus der Region erfahren hat, wird vermittelt, im "weichen Unterleib" des europäischen Kontinents rumore es wieder.

Unbestreitbar sind viele Bürgerinnen und Bürger in den Nachfolgestaaten Jugoslawiens mit ihrem Los unzufrieden, wobei die schlechte wirtschaftliche Lage, eine mangelhafte Gesundheitsversorgung und ungenügende Bildungseinrichtungen die größten Sorgen bereiten. Überall verbreitet ist ein Gefühl der Distanz und Entfremdung gegenüber der politischen Klasse. Die Frustration hat in den meisten Fällen zum apathischen Rückzug ins Private geführt, bei jungen Gutausgebildeten oft zur Emigration, und nur selten und meist kurzfristig zu politischer Mobilisierung.

Ebenso trifft zu, dass die Zeiten vorbei sind, in denen allein die EU im Verbund mit Washington ihren Einfluss in der Region geltend machte und als Ordnungsmacht auftrat. Die Zahl der Akteure, die Interessen anmelden, hat mit Russland, der Türkei, aber auch China und den Golfstaaten zugenommen – und mit ihnen auch Spannungen, wie in jüngster Zeit das Wiederaufleben der Rhetorik aus dem Kalten Krieg zeigt.

Diese Befunde sind zwar bedenklich, aber rechtfertigen sie die Warnung vor der brennenden Lunte am Pulverfass? Um diese Frage zu beantworten, ist es sinnvoll, zunächst zu klären, inwiefern von "den" postjugoslawischen Staaten überhaupt als Region gesprochen werden kann. Der Begriff "Westbalkan", den die EU 1998 für die Nachfolgestaaten Jugoslawiens plus Albanien übernahm, impliziert zwar eine regionale Identität, macht diese aber lediglich daran fest, dass diese Länder EU-Beitrittskandidaten sind. Entsprechend zählen im EU-Jargon Kroatien und Slowenien, die mittlerweile EU-Mitgliedsstaaten sind, nicht mehr dazu.

Ist der postjugoslawische Raum eine Region?

Im postjugoslawischen Raum selbst ist es durchaus üblich, von den Ländern, die aus der Konkursmasse des untergegangenen Staates hervorgegangen sind, als "Regija" (Region) zu sprechen. Bezeichnenderweise wird der Begriff groß geschrieben, als würde es sich um einen Eigennamen handeln. Und tatsächlich gibt es auf den ersten Blick Argumente, die dafür sprechen, diese Länder mit ihren 20 Millionen Einwohnerinnen und Einwohnern als Region zu betrachten.

So gibt es nicht nur mannigfaltige politische, wirtschaftliche und kulturelle Austauschbeziehungen, sondern auch die Öffentlichkeiten der postjugoslawischen Gesellschaften überlappen sich vielfach. Vor einigen Jahren hat der britische Journalist Tim Judah dieses Phänomen als "Jugosphäre" bezeichnet. Deren Voraussetzung ist natürlich die gemeinsame Sprache, die in Serbien, Kroatien, Bosnien-Herzegowina und Montenegro gesprochen und von vielen Menschen in Slowenien und Mazedonien verstanden wird. Medienunternehmen wie N1, Al Jazeera oder auch Pink betrachten den gesamten Sprachraum als einen Markt, gleiches gilt für die Musik-, Film- und Buchbranche und einen Teil der Unterhaltungsindustrie. Eine parallele Entwicklung findet seit 1999 – dem Jahr des Abzugs der serbischen Truppen aus Kosovo – in der albanischen Sprachregion statt.

Was die einzelnen Staaten – scheinbar paradoxerweise – ebenfalls miteinander verbindet, sind die immer wieder aufbrechenden Differenzen und Konflikte, die gerade deshalb so intensiv werden, weil man sich – sprachlich – so gut versteht. Die Gegenstände dieser medial aufgeheizten Auseinandersetzungen reichen von Grenzfragen und Handelshemmnissen über Abhörskandale bis zu Erinnerungskultur und Geschichtspolitik. Die mitunter fast schon neurotische Fixiertheit auf die Nachbarn – am meisten ausgeprägt in Kroatien und Serbien – ist zweifellos eine Erbschaft aus der Zeit des gemeinsamen Staates und seines tragischen Zerfalls.

Auch wirtschaftlich sind die Länder stark miteinander verflochten, und es gibt eine Reihe multinationaler Unternehmen wie die kroatische Großhandelsfirma Atlantic Grupa oder die slowenisch-kroatische Handelskette Mercator, die regional aktiv sind. Im Rahmen des "Berlin Prozesses" gibt es Bestrebungen, einen gemeinsamen regionalen Wirtschaftsraum zu schaffen. Doch zurzeit ist der Austausch der einzelnen Länder mit der EU noch deutlich größer als jener zwischen den postjugoslawischen Staaten selbst.

Ähnlichkeiten zwischen den Ländern gibt es auch, wenn wir den Blick auf den gesellschaftspolitischen Konservatismus richten, die umfassende Rolle der Familie, den breiten Raum, den Religionen in der Öffentlichkeit einnehmen oder die klientelistisch geprägten Parteiensysteme. Diese Strukturmerkmale sind aber keineswegs gleichmäßig über die Region verteilt und finden sich auch in Ländern wie Italien, Polen oder Ungarn.

Bei näherer Betrachtung der politischen Systeme, der governance und des Stands der inneren Staatsbildung zeigen sich allerdings markante Unterschiede zwischen den postjugoslawischen Staaten. Drei Gruppen lassen sich unterscheiden: Erstens die stabilen gelenkten Demokratien Serbien und Montenegro, zweitens die "unvollendeten", mit Legitimitätsdefiziten kämpfenden Staaten Bosnien-Herzegowina, Kosovo und Mazedonien sowie drittens Kroatien und Slowenien, an der EU-Peripherie gelegen und über Traditionen und Konflikte mit ihren südlichen Nachbarn verbunden.

Serbien und Montenegro – gelenkte Demokratien

Die politischen Systeme Serbiens und Montenegros zeichnen sich in der Praxis durch die weitgehende Abwesenheit institutioneller checks and balances aus. Die Macht konzentriert sich bei der Exekutive (im Fall Serbiens verfassungswidrig im Präsidialamt). Die Regierungsparteien dominieren die staatlichen Institutionen und funktionieren als Klientelsysteme, die Pfründe gegen Loyalität tauschen, sodass mit gutem Grund von einem captured state gesprochen werden kann. Das Parlament ist entsprechend machtlos. Es finden kaum echte Debatten in den Ausschüssen statt und schon gar nicht im Plenum. Gesetze werden oft im Eilverfahren durchgewinkt. Die Justiz ist ineffizient und beeinflussbar und eignet sich wenig zur raschen Lösung von Rechtshändeln.

Ein Großteil der Medien ist personell und finanziell von der Regierung abhängig und betreibt entsprechend eine gouvernementale Berichterstattung. Die landesweiten Fernsehkanäle, über die sich das Gros der Bevölkerung informiert, dienen als Plattformen für propagandistisch anmutende Auftritte der Exekutive. Dazu gehört die mediale Inszenierung von Krisen und Bedrohungen: Ein angeblicher Putschversuch mit russischen Hintermännern in Montenegro am Wahltag im Oktober 2016, die Entdeckung eines Waffenlagers beim Wochenendhaus des serbischen Ministerpräsidenten Aleksandar Vučić im selben Monat oder ungeklärte Geheimdienstaktivitäten rund um die serbische Botschaft in Skopje im August 2017. Das Muster ist immer dasselbe: Die Exekutive beschwört mit aktiver Beihilfe der Medien eine Krise herauf, die dank dem beherzten Eingreifen der Staatsspitze wenig später gelöst wird. Das Risiko, dass kritische Medien den Bluff aufdecken, ist vernachlässigbar. Damit befindet sich der politische Diskurs permanent im Wahlkampfmodus und ist gekennzeichnet von Polemik, Personalisierung und Dramatisierung.

Es wäre aber falsch, diesen krisenhaften Diskurs als Ausdruck von Instabilität zu "lesen". Im Gegenteil ist er Teil einer bewährten Herrschaftstechnik, die als "gelenkte Demokratie" bezeichnet werden kann. In diesem System finden zwar regelmäßig freie Wahlen statt, aber die Erfolgschancen der Wettbewerber sind extrem einseitig verteilt. Weil die Regierungsparteien den öffentlichen Sektor kontrollieren, verfügen sie über ein quasi "garantiertes" Potenzial an Stimmen, das sich leicht mobilisieren lässt. Hinzu kommt die absolute Dominanz in der medialen Öffentlichkeit, die auch jenseits des abhängigen Klientels für Zustimmung sorgt. Oppositionelle Politiker haben unter diesen Umständen einen schweren Stand. Ihre mediale Präsenz ist viel geringer als jene der Regierenden, und es ist fast unmöglich, eine kohärente Kampagne zu führen. In diesen freien, aber nicht fairen Wahlen werden die Regierenden immer wieder von Neuem im Amt bestätigt.

Diese Kontinuität lässt sich auch außenpolitisch nutzen. Sowohl Präsident Aleksandar Vučić in Serbien als auch Milo Ðukanović, die graue Eminenz der montenegrinischen Politik, haben sich über die Jahre als verlässliche Partner des Westens erwiesen. Vučić zeigt sich gegenüber Kosovo im Dienste eines Normalisierungsprozesses zu Konzessionen bereit. In Bosnien-Herzegowina bremst er die separatistischen Bestrebungen in der Republika Srpska. Ðukanović steuerte Montenegro noch in den 1990er Jahren aus Miloševićs Orbit und gegen den erbitterten Widerstand der Hälfte der Bevölkerung jüngst in den Hafen der Nato. Dieses Wohlverhalten wird von westlicher Seite belohnt: mit EU-Beitrittsverhandlungen, mit zurückhaltender Kritik am autoritären Führungsstil und durch die Aufwertung der kooperativen Politiker, die sich im Schein westlicher Spitzenpolitiker sonnen und daraus innenpolitisches Kapital schlagen.

Mazedonien, Bosnien-Herzegowina, Kosovo – unvollendete Staaten

In ähnlicher Weise sind state capture, Klientelismus und eingeschränkte Medienfreiheit auch Strukturmerkmale von Mazedonien, Bosnien-Herzegowina und Kosovo. Aber bei diesen drei Staaten kommt ein entscheidendes Kriterium hinzu: Sie werden von einem relevanten Teil ihrer politischen Elite beziehungsweise ihrer Bevölkerung nicht oder nur mit Vorbehalten als legitim betrachtet. Das hängt auch damit zusammen, dass ihre Verfassungen stark von außen definiert wurden: in Bosnien-Herzegowina durch das Dayton-Abkommen 1995, in Mazedonien durch das Ohrider Rahmenabkommen von 2001 und in Kosovo durch den Ahtisaari-Plan von 2007. Die im Westen gehegte Hoffnung, dass diesen Verfassungen und ihren Institutionen mit der Zeit die Zustimmung der Gesellschaften entgegenwachsen würde, hat sich nicht erfüllt, wohl auch deshalb, weil die drei Staaten bei der Bereitstellung öffentlicher Güter in weiten Teilen versagen. Denn es fehlen ihnen Institutionen, die in der Lage wären, Rechenschaft (accountability) von den Mächtigen einzufordern.

In Bosnien-Herzegowina, das 1995 mit dem Abkommen von Dayton als stark föderalisierter multiethnischer Staat neu gegründet wurde, befürwortet eine knappe Mehrheit, nämlich die muslimischen Bosniaken, den Gesamtstaat, während seine Legitimität im Landesteil der Republika Srpska systematisch infrage gestellt wird. Immer wieder gelangt dort die Forderung nach einem Unabhängigkeitsreferendum aufs Tapet, das mit der drohenden Majorisierung der Serben begründet wird. Mit analogen Argumenten gibt es in der Herzegowina Bestrebungen, eine dritte, kroatisch dominierte Entität zu gründen. Würden solche Autonomie- und Sezessionsbestrebungen aus Belgrad und Zagreb unterstützt, könnte das für die Staatlichkeit Bosnien-Herzegowinas sehr schnell gefährlich werden. Der überall geltende ethnische Proporz hat die Volkszugehörigkeit zur zentralen politischen Kategorie im Land werden lassen und zudem eine aufgeblähte staatliche Verwaltung geschaffen. Deren Ineffizienz untergräbt zusätzlich die Legitimität des Staates.

Auch in Mazedonien ist das Verhältnis zwischen der mazedonischen Mehrheit, die 65 Prozent der Bevölkerung ausmacht, und dem albanischen Viertel der Bevölkerung angespannt. Viele Albaner bemessen die Legitimität des mazedonischen Staates daran, ob er in der Lage ist, sie zu EU-Bürgern zu machen. Innerhalb der EU, so die verbreitete Vorstellung, würden die Grenzen zu Kosovo und Albanien so stark relativiert, dass dem freien Austausch innerhalb der "Albanosphäre" nichts mehr im Wege stünde. Diese "Loyalität auf Zusehen" schürt das Misstrauen der mazedonischen Mehrheit. Es wird noch gesteigert durch das gewachsene nationale Selbstbewusstsein der Albaner, seit Kosovo unabhängig ist. Die Verunsicherung der Mazedonier hat einen weiteren Grund: Ihre eigenständige Identität wird von bulgarischen und serbischen Nationalisten infrage gestellt, und Griechenland erkennt den verfassungsmäßigen Namen des Landes nicht an.

Gefangen in einem defensiven Ressentiment verpasst es die mazedonische Bevölkerungsmehrheit regelmäßig, von sich aus Schritte zu unternehmen, um die Teilhabe der albanischen Minderheit am gemeinsamen Staat zu stärken. Der mazedonische Widerstand gegen den Einbezug ethnisch-albanischer Symbole in das Staatswesen ist Ausdruck dieser Haltung. Seit dem Rahmenabkommen von Ohrid hat zwar die Teilhabe der Albaner an der Regierung und Verwaltung zugenommen, nicht aber deren Integration. Im Gegenteil bildeten sich zwei politische Sphären heraus – eine mazedonische und eine albanische –, die interessengeleitet nur an der Spitze durch eine interethnische Regierungskoalition zusammengehalten werden. Die ethnische Segregation betrifft auch die Zivilgesellschaft. Allerdings führten die Proteste gegen das zehnjährige Regime von Nikola Gruevski 2015 erstmals zu multiethnischen Gruppenbildungen. Ob sich daraus stabile Strukturen bilden, bleibt abzuwarten. Die Segregation der beiden Bevölkerungsteile werden sie kaum überwinden können.

Kosovo, maßgeblich dank amerikanischer Hilfe und gegen dessen Willen seit 2008 unabhängig von Serbien, genießt als Staat hohe Legitimität bei der albanischen Mehrheit, die über 90 Prozent der Bevölkerung ausmacht, aber nicht bei den rund fünf Prozent Serben, die Kosovo nicht als ihren Staat anerkennen, auch wenn sie sich pragmatisch damit arrangieren. Die verbliebenen Serben spielen trotz ihrer geringen Zahl politisch eine wichtige Rolle im jungen Staat. Die Verfassung, die sich im Wesentlichen auf den Ahtisaari-Plan von 2007 stützt, garantiert der serbischen Minderheit zehn Parlamentssitze im 120-köpfigen Parlament.

Die mit Abstand stärkste Partei der Serben in Kosovo, die "Serbische Liste", pflegt enge Beziehungen zur Regierung in Belgrad und ist finanziell und personell von ihr abhängig. Insofern hat Serbien weiterhin eine Mitsprache in Kosovo, die durch den 2013 zwischen Belgrad und Pristina vereinbarten serbischen Gemeindeverband noch verstärkt werden soll. Gegen diese neue Körperschaft, die den Serben zusätzliche Autonomie einräumen soll, gibt es allerdings heftigen Widerstand in der kosovarischen Gesellschaft. Es handle sich dabei um ein "trojanisches Pferd" Belgrads, sagen Kritiker, oder schlimmer, um einen "Staat im Staat". Umgekehrt ist der serbisch besiedelte Norden des Landes institutionell noch immer erst halbwegs in den kosovarischen Staat integriert. Die Staatsbildung ist also sowohl nach innen als auch nach außen nicht abgeschlossen. Wohl anerkennen mehr als die Hälfte der Mitgliedsstaaten der Vereinten Nationen Kosovos Unabhängigkeit, aber im UN-Sicherheitsrat wird sie von Russland und China abgelehnt, in der EU von Spanien, Rumänien, Griechenland, der Slowakei und Zypern.

Slowenien und Kroatien – die EU-Peripherie

Verglichen mit ihren südlichen Nachbarn haben Slowenien und Kroatien, die seit 2004 beziehungsweise 2013 der EU angehören, gefestigte Demokratien, und die Justizapparate sind deutlich unabhängiger. Dennoch sind Vetternwirtschaft und Parteipatronage ernsthafte Probleme und führen regelmäßig zu großen politischen und wirtschaftlichen Skandalen. Die in Kroatien vor dem EU-Beitritt gehegte Hoffnung, als Mitgliedsstaat schnell einen großen Wohlstandssprung zu machen und die ungeliebte balkanische Nachbarschaft ein für alle Mal gegen das respektablere Mitteleuropa zu tauschen, hat sich nicht erfüllt.

Slowenien hat ein vergleichsweise entspanntes Verhältnis zu den Ländern des westlichen Balkans und betrachtet sie in erster Linie als Absatzmärkte für heimische Produkte. Das hängt zweifellos damit zusammen, dass die Loslösung aus dem jugoslawischen Verbund schnell und relativ unblutig verlief. Weniger entspannt ist das Verhältnis zum direkten Nachbarn Kroatien, mit dem es seit Jahren um den Grenzverlauf in der Bucht von Piran streitet.

Kroatien – und vor allem dessen konservatives Milieu – betont anstelle der jugoslawischen Tradition lieber das österreichisch-ungarische Erbe. Entsprechend sucht Zagreb in der EU Anschluss an die Visegrád-Gruppe. Und doch bleibt es über eine konfliktreiche Vergangenheit sowohl mit Serbien als auch mit Bosnien-Herzegowina fest verbunden. Die in Bosnien-Herzegowina ansässigen Kroaten besitzen zu einem großen Teil neben der bosnischen auch die kroatische Staatsbürgerschaft. In Serbien und Kroatien bestehen nach der Befreiung kroatischen Territoriums von serbischen Truppen 1995 und der Vertreibung eines Großteils der dort lebenden Serben ("Operation Oluja") heute diametral entgegengesetzte Erinnerungskulturen. Die Kroaten gedenken ausschließlich der Befreiung, die Serben nur der Vertreibung, was jedes Jahr zu ritualisierten Konflikten führt.

Auch die periodisch aufbrechenden Debatten über die Geschichte des Zweiten Weltkrieges verbinden und entzweien die kroatische und serbische Öffentlichkeit. Aber auch die kroatische Gesellschaft selbst ist diesbezüglich in ein säkular-fortschrittliches und ein katholisch-konservatives Milieu gespalten: Die Linke betrachtet das faschistische Regime der Ustascha als von außen gesteuerten Fremdkörper im kroatischen Volk. Die "guten Kroaten" kämpften mit Tito – und sicherten so die Existenz der kroatischen Teilrepublik. Für die Rechte ist die jugoslawische Idee die eigentliche Bedrohung, denn sie erblickt darin "die Fratze des Großserbentums". Dem Ustascha-Regime hält sie zugute, den Willen zum eigenen Staat verkörpert zu haben.

Zwischen Interessen und Realitäten

Im Lichte dieser Ausführungen ist für die Beantwortung der Frage, ob die postjugoslawischen Staaten eine Region bilden, eine Unterscheidung aus der marxistischen Theorie hilfreich. Dort spricht man von der "Klasse an sich" und der "Klasse für sich". Die "Klasse an sich" definiert sich über das objektive Kriterium des Zugangs zu den Produktionsmitteln. Die "Klasse für sich" bestimmt sich dagegen subjektiv durch ihr Bewusstsein, eine Klasse zu sein. Cum grano salis kann man sagen, dass diese Ländergruppe zwar nicht "an sich", also strukturell eine Region bildet, "für sich" hingegen schon: als vielfältig verwobener gemeinsamer Kommunikationsraum mit einer schwierigen Geschichte, aus der es scheinbar kein Entrinnen gibt.

Eine solche differenzierte Betrachtung des postjugoslawischen Raums ist in der Berichterstattung über das "Pulverfass" Europas selten. Umso mehr sollten die dramatisierenden Beschreibungen der Lage in der Region kritisch hinterfragt werden. Sie lassen sich oft besser mit den Interessen der Sprecher erklären als mit tatsächlichen Veränderungen in den Gesellschaften selbst. Im Kampf um Aufmerksamkeit haben viele professionelle Beobachterinnen und Beobachter ein handfestes Interesse, die Lage möglichst dramatisch zu schildern. Nur so können sie hoffen, als Korrespondenten ihre Berichte ins Blatt zu bringen, als Experten konsultiert zu werden, als Vertreter von Nichtregierungsorganisationen Unterstützung zu erhalten und als Diplomaten nicht als "abgeschoben" zu gelten.

Aber auch politische Akteure in der Region wissen die Krisen- und Konfliktrhetorik für sich zu nutzen. Sie malen die Gefahr vor Feinden im Inneren und Äußeren an die Wand, drohen mit radikalen Schritten und spielen sich damit gegenseitig den Ball in die Hände. Dabei haben sie weder ein Interesse an einem offenen Konflikt noch die Mittel dazu. Ihre Rhetorik soll vielmehr die Bürgerschaft beunruhigen. Gelingt dies, schart sie sich hinter die politische Führung und sieht darüber hinweg, dass deren Engagement maßgeblich darin besteht, Privilegien und Pfründe zu sichern. Wenn dann internationale Medien und Nichtregierungsorganisationen noch von neu aufflammendem Nationalismus und altem ethnischen Hass schreiben, geht die Rechnung für alle Beteiligten auf.

Trotz all dieser Vorbehalte gibt es Risiken einer Destabilisierung im postjugoslawischen Raum. Sie haben ihren Ursprung aber weniger in der Region selbst, sondern kommen von außen. Nach über zehn Jahren "Erweiterungsmüdigkeit" ist die EU als Ordnungsmacht geschwächt. Die Zugkraft, die das Beitrittsversprechen für die Transformation der Kandidatenländer zu demokratischen Rechtsstaaten einst entfaltete, hat nachgelassen. Stattdessen sind die divergierenden Einflüsse einiger Hauptstädte wichtiger geworden: Nicht nur, als es um die Migrationspolitik entlang der sogenannten Balkanroute ging, erwarteten Berlin, Wien und Budapest Widersprüchliches von den Balkanstaaten.

Und dann sind da freilich noch die alt-neuen Akteure im great game um den Balkan. Russland hat – wenn auch erfolglos – versucht, die Integration Montenegros in die Nato zu verhindern. In weiten Teilen der serbischsprachigen Bevölkerung, aber auch im deep state der serbischen Geheimdienste, genießt der Kreml große Sympathien. Die türkische Regierung exportiert den Konflikt zwischen ihrem Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan und dem Geistlichen Fethullah Gülen nach Bosnien-Herzegowina, Mazedonien, Kosovo und Albanien, indem sie diese Staaten ultimativ auffordert, Gülen-Schulen zu schließen. Aber Sympathisanten und Angehörige des religiösen Netzwerks sind längst Teil der lokalen Eliten. Schließlich erschwerten die vielen Unbekannten zu Begin von Donald Trumps US-Präsidentschaft das Kalkül über die Zukunft der Region. Die Kosovo-Albaner fürchteten, dass die langjährige Protektorin USA ihre schützende Hand über dem ungefestigten Staatswesen zurückziehen könnte, während manche Serben hofften, eine Rückkehr der abtrünnigen Provinz sei möglich.

Fazit

Der Balkan als Pulverfass ist ein schiefes Bild. Die Region ist vielmehr ein Echoraum, der die Krisen in seinem Umfeld reflektiert und manchmal auch verstärkt. Das ist nicht neu: Die Balkankriege 1912/13 waren eine direkte Reaktion auf den Zerfall des Osmanischen Reiches, das seine Rolle als Ordnungsmacht verloren hatte. Der anschließende Konflikt zwischen Serbien und der österreichischen Kolonialmacht in Bosnien war 1914 lediglich die Zündschnur, die das Pulverfass Europa zur Explosion brachte. Und auch der Zusammenbruch des sozialistischen Jugoslawien in den 1990er Jahren lässt sich nicht ohne den Fall der Mauer, das Ende der Sowjetunion und den Triumph des Westens erklären. Jugoslawien hatte seine geopolitische Rolle als blockfreie Führungsmacht verloren, die Krise des Sozialismus und Brüssels Attraktivität als Zentrum eines gesamteuropäischen Projekts untergruben die ideologische Basis von Titos Vielvölkerstaat.

Bisher kompensierten Bosnien-Herzegowina, Mazedonien und Kosovo ihre Legitimitätsprobleme mit der Perspektive auf eine EU-Mitgliedschaft und die damit assoziierten Gewinne an Wohlstand und Sicherheit. Zerschlagen sich diese Hoffnungen, werden alternative Projekte zur Ordnung der Region wieder attraktiv: "Groß-Albanien" oder "Groß-Serbien".

Aber auch wenn der Einfluss der EU abgenommen hat, hält sie doch immer noch die besten Karten in der Hand. Ihre Krise ist auch eine Chance für den Westbalkan. Die sich abzeichnende institutionelle Vertiefung der Eurozone wird das Modell eines "Europa der verschiedenen Geschwindigkeiten" akzentuieren. Die Hürden für einen Beitritt in eine Zweiklassenunion dürften für die postjugoslawischen Staaten überschreitbarer werden. Zudem gewinnt in Brüssel und den interessierten Hauptstädten die Betrachtung der Region als Ganze an Bedeutung. Da und dort wird auch schon über die Aufgabe des Regattaprinzips nachgedacht, dem zufolge die Annäherung an die EU ausschließlich aufgrund der Reformleistungen eines Staates stattfindet. Eine Abkehr von diesem Prinzip scheint durchaus sinnvoll, wenn man in Rechnung stellt, dass der individuelle EU-Beitrittsprozess in manchen Staaten und Gesellschaften viel weniger verändert hat, als es sich die Vertreter der Transitionsideologie einst erhofft hatten – man blicke nur nach Bulgarien oder Rumänien. Dagegen würde ein gemeinsames europäisches Dach über den postjugoslawischen Staaten unbestreitbar ein Beitrag zur Sicherheits- und Friedensarchitektur des Kontinents bedeuten. Denn diese Länder werden sich auch in Zukunft verbunden bleiben – sei es durch Konflikt oder Kooperation.

ist promovierter Historiker und Südosteuropa-Korrespondent der "Neuen Zürcher Zeitung". E-Mail Link: andreas.ernst@nzz.ch