Hartz IV – Gesetz, Grundsätze, Wirkung, Reformvorschläge
Reformoptionen
Die aktuell kursierenden Vorschläge zur Reform der Grundsicherung für Arbeitsuchende können den beiden Leistungssträngen des SGB II zugeordnet werden: Zum einen beziehen sie sich auf Veränderungen bei den Hilfen zum Lebensunterhalt und zum anderen auf Anpassungen bei der Aktivierung und damit der Intensität des Förderns und Forderns erwerbsfähiger Hilfebedürftiger.Hilfen zum Lebensunterhalt
Die Forderung nach einer besseren sozialen Absicherung langjährig Berufstätiger im Falle von Arbeitslosigkeit, durch eine längere Bezugsdauer des Arbeitslosengelds oder durch befristete Zuschläge auf die Regelleistung, bewegt sich an der Schnittstelle von SGB III und SGB II. Sie zielt auf die Anerkennung von Lebensleistungen und damit einhergehender Gerechtigkeitsvorstellungen. Beide Varianten sind jedoch systemfremd. Die Arbeitslosenversicherung ist nicht als Kapitalversicherung mit Ansparkonten konzipiert, die Grundsicherung sichert in finanziellen Notfällen das Existenzminimum.
Unabhängig davon stellt sich die Frage, ob aus Gründen der sozialen Gleichbehandlung Besserstellungen für die Zielgruppe der langjährig Berufstätigen wirklich gut zu begründen sind. Denn unter sonst gleichen Bedingungen dürfte der "bessergestellte" Personenkreis verglichen mit denjenigen, die bestenfalls kurze Beschäftigungsepisoden aufweisen, durch seine mehrjährige Erwerbsarbeit materiell deutlich besser abgesichert sein und durch seine Berufserfahrung zumeist auch eine bessere Wettbewerbsfähigkeit am Arbeitsmarkt aufweisen. Schließlich spricht gegen eine materielle Besserstellung dieser Zielgruppe auch das belegbare Risiko, dadurch die Arbeitslosigkeit zu verlängern.[19]
Eine mögliche Alternative ist die Überprüfung der aktuellen Regelungen zum "Schonvermögen". Eine großzügigere Ausgestaltung im Sinne einer Ausweitung des Schonvermögens ist gerade mit Blick auf langjährig Berufstätige eine interessante Gestaltungsoption, da negative Arbeitsmarkteffekte an dieser Stelle weniger wahrscheinlich sind. Ähnlich könnte auch bei der Schonung von selbst genutztem Wohneigentum verfahren werden. Doch auch bei Umsetzung solcher Vorschläge bedarf es einer sorgfältigen Güterabwägung, denn es stehen sich Anreize in Richtung einer individuellen Vorsorge, beispielsweise eines Wohneigentums, und das soziale Gleichbehandlungsgebot unter Berücksichtigung der individuellen Leistungsfähigkeit gegenüber.
Anrechnungsregelungen zum Hinzuverdienst bei gleichzeitigem Bezug bedürftigkeitsorientierter Leistungen wie der Grundsicherung können zwei Ziele verfolgen, die potenziell im Konflikt stehen können. Zum einen können solche Regelungen durch einen anrechnungsfreien Freibetrag auf einen leichten Zugang in den Arbeitsmarkt zielen, zum anderen auf starke Anreize zu einer Ausweitung der Arbeitszeit und damit günstigeren Voraussetzungen für eine möglichst schnelle Beendigung der Hilfebedürftigkeit. Technisch geht es um die Frage nach der Höhe der "Transferentzugsrate" für hinzuverdiente Einkommen.
Forschungsbefunde legen nahe, dass eine Senkung der Transferentzugsrate gegenüber dem Status Quo den Anreiz, mehr zu arbeiten, stärken und damit ein Hinauswachsen aus dem Leistungsbezug begünstigen würde.[20] Bei Reformen stellt sich aber nicht nur die Frage nach verbesserten Anrechnungsregelungen. Vielmehr geht es um eine weitergehende Neuordnung des Niedrigeinkommensbereichs. Hier sind viele Interaktionen zwischen Grundsicherung, Wohngeld, Kindergeld, Sozialversicherung und Steuerrecht zu bedenken und weitere Anreize zu einer Ausweitung der Beschäftigung zu generieren. Ein vom IAB ins Spiel gebrachter Erwerbszuschuss, der in Verbindung mit verbesserten Anrechnungsregelungen Wohn- und Kindergeld obsolet machen würde, würde Kosten von zwei bis drei Milliarden Euro verursachen, läge aber weit unter den potenziellen Mindereinnahmen anderer fiskalpolitischer Maßnahmen.[21] Durch den Erwerbszuschuss würden nicht nur die Arbeitsanreize gestärkt, sondern auch die Nettoeinkommensposition vieler Niedrigeinkommenshaushalte verbessert. Einen kostenneutralen Vorschlag mit einer ähnlichen Stoßrichtung legte zuletzt das Ifo-Institut vor.[22]
Die Gewährung von Hilfen zum Lebensunterhalt würde durch Vereinfachungen bei ihrer Administration profitieren. So könnte etwa die Komplexität des Grundsicherungssystems durch stärkere Pauschalisierungen (Kosten für Warmwasser und Heizung oder im Bereich von Bildung und Teilhabe) reduziert werden. Pauschalierte Leistungen dürften dabei aber nicht zu gering angesetzt werden, weil ansonsten mögliche Öffnungsklauseln bei besonderen Bedarfen zu häufig in Anspruch genommen werden müssten und damit die gewünschten Verwaltungsvereinfachungen nicht zu realisieren wären.
Ein weiterer Schlüssel zur Verbesserung der materiellen Lebenssituation von Grundsicherungsempfängern und anderen Menschen im unteren Einkommensbereich ist eine Ausweitung der sozialen Grundversorgung und das Angebot öffentlicher Güter. Dies schließt bezahlbaren Wohnraum, ein gutes und kostengünstiges Angebot an öffentlichem Nahverkehr, niedrigschwellige und kostengünstige Freizeit-, Bildungs- und Informationsangebote sowie Betreuungseinrichtungen für Kinder und Pflegebedürftige sowie Vergünstigungen für kulturelle und sportliche Veranstaltungen ein.
Intensität des Forderns und Förderns
Die Kritik an der Grundsicherung macht sich oftmals an der Intensität des Forderns fest. Dabei reichen die Vorschläge von moderaten Änderungen über eine sanktionsfreie Grundsicherung bis hin zu einem bedingungslosen Grundeinkommen. Während sich eine sanktionsfreie Grundsicherung nur durch den Wegfall der bestehenden Sanktionsregelungen im SGB II vom Status Quo unterscheiden würde, sehen Ansätze eines bedingungslosen Grundeinkommens zumeist ebenso den Verzicht auf eine Bedürftigkeitsprüfung und eine Integration weiterer Elemente wohlfahrtsstaatlicher Sicherung in die vorgesehene ebenfalls sanktionsfreie und allen zustehende Mindestsicherung vor.
Bei einer Abschaffung von Sanktionen würde man sich vom Leitmotiv der Grundsicherungsreform von 2005, nämlich der aktivierenden Arbeitsmarktpolitik, verabschieden. Die Befürworter sanktionsfreier Sozialleistungen sehen durch ein Laissez-faire im Sozialstaat mehr Chancen, durch Freiräume individuelle Kreativität anzuregen. Die Protagonisten des Status Quo wollen dagegen durch eine aktive Mitwirkung der Hilfebedürftigen an der "fürsorglichen Belagerung" weniger gut situierter Personen festhalten und damit gängige Arbeits- und Sozialnormen wahren.
Bei Ansätzen, die auf sanktionsfreie Sozialleistungen abzielen, gingen vermutlich Arbeits- und Bildungsanreize verloren und dies gerade bei Personen, die sich selbst nur schwer helfen können. Bei Grundeinkommensansätzen, die ohne Sanktionen auskommen wollen und deutlich höhere Leistungen vorsehen, ist mit weiteren negativen Begleiterscheinungen zu rechnen. Sie implizieren ein sehr weitgehendes Staatsverständnis als "Kümmerer in allen Lebenslagen", begünstigen Trittbrettfahrerverhalten und führen damit zu einer Übernutzung des Sozialsystems mit insgesamt erheblichen fiskalischen Zusatzaufwänden.
Damit ist aber noch nicht gesagt, dass die bestehenden Sanktionsregeln und damit auch das Fordern im Status Quo gut justiert wären. Sanktionen müssen spürbar und sozial sichtbar sein, sollten aber nicht zu scharf ausfallen. Weitreichende Sanktionen, wie etwa die nach mehreren Pflichtverletzungen drohenden "Totalsanktionen", beeinträchtigen nicht nur in massiver Weise die materiellen Lebensbedingungen der Sanktionierten, sondern gefährden dadurch auch die Grundlage einer auf Wiedereingliederung zielenden Mitwirkung der Hilfebedürftigen.
Neben weniger Sanktionen wird häufig gefordert, Fördermaßnahmen für Grundsicherungsempfänger drastisch auszuweiten. Solange damit verbesserte Eingliederungswirkungen auf individueller Ebene zu erzielen sind, kann dies aus Sicht der Arbeitsmarktforschung nur befürwortet werden. Jedoch wird in diesem Zusammenhang oftmals einer starken und vergleichsweise undifferenzierten Ausweitung der öffentlich geförderten Beschäftigung das Wort geredet. Ein prominentes Beispiel hierfür ist die Einführung eines "solidarischen Grundeinkommens".[23] Die Befürworter streben mit einer solchen Strategie einen substanziellen Ersatz für die aus ihrer Sicht fehlende Beschäftigung an. Sie beachten aber dabei zu wenig, dass ein nicht zielgerichteter und massiver Einsatz solcher Instrumente wenig zielführend ist. So könnten Personen fälschlicherweise zugewiesen werden, die auch ohne eine solche Maßnahme beschäftigt werden könnten. Hierdurch könnte es nicht nur zu unerwünschten Einsperreffekten kommen, sondern zudem zu Verdrängungseffekten zulasten nicht subventionierter Beschäftigung.
Zuletzt zeigte sich immer deutlicher, dass das Maßnahmenspektrum im SGB II nicht der Heterogenität der Leistungsbezieher Rechnung trägt. Es fehlten Maßnahmen zur Stärkung der sozialen Teilhabe, die sich insbesondere an Personen mit den allergeringsten Integrationschancen richten. Die Bundesregierung hat mit dem Teilhabechancengesetz auf diese "Maßnahmenlücke" reagiert. Seit Anfang 2019 können nach §16i SGB II Personen, die in den vergangenen sieben Jahren mindestens sechs Jahre Leistungen nach dem SGB II bezogen haben, durch einen bis zu fünfjährigen Lohnkostenzuschuss gefördert werden. Hervorzuheben ist, dass durch die angestrebte Ausgestaltung im §16i SGB II den Erkenntnissen der Forschung zur Teilhabeförderung Rechnung getragen wurde. So zeigen Forschungsergebnisse, dass reguläre Arbeitsverhältnisse mit einem angemessenen Lohn, in Vollzeit, mit einer längeren Vertragsdauer das Teilhabeempfinden der Geförderten stärken können.[24]