Einleitung
Rheinland-Pfalz wird in den nächsten Jahren mit dem Ausbau von Ganztagsschulen (GTS) familien-, frauen-, bildungs- und arbeitsmarktpolitische Schwerpunkte setzen, die einem Paradigmenwechsel in mehreren Bereichen gleichkommen. Nachdem die Ganztagsschule schon bestimmendes Thema des Landtagswahlkampfes im Frühjahr vergangenen Jahres war, ist ihr umfangreicher Ausbau eines der wichtigsten Projekte der sozialliberalen Koalitionsregierung. Die ersten neuen Ganztagsschulen sind im Schuljahr 2002/03 gestartet.
Was ist vorgesehen?
In den nächsten vier Jahren soll an ca. 300 Schulen ein Ganztagsangebot eingerichtet werden. Damit wird man in Rheinland-Pfalz mit den derzeit schon bestehenden 144 Ganztagsschulen (78 verpflichtende Ganztagsschulen, zum größeren Teil Sonderschulen, und 66 in offener Form) ein bedarfsgerechtes und regional ausgewogenes schulisches Ganztagsangebot für alle allgemein bildenden Schularten erreichen (20-25 Prozent aller allgemein bildenden Schulen). Die Ganztagsschule in der neuen Form wird ein freiwilliges Angebot für die Eltern bzw. für die Schülerinnen und Schüler sein. Nach der Anmeldung ist die Teilnahme am Ganztagsangebot allerdings für mindestens ein Schuljahr verpflichtend.
Grundsätzlich haben die neuen Ganztagsschulen an mindestens vier Wochentagen Unterricht bis 16.00 Uhr; sie bieten ein Mittagessen an.
Das unterrichtliche und außerunterrichtliche Angebot ist für die Eltern kostenfrei. Für das Mittagessen wird in der Regel in Ganztagsschulen ein Kostenbeitrag erhoben.
Die neue Ganztagsschule wird ihre Ganztagsangebote ergänzend zum Unterricht gemäß Stundentafel (sog. Halbtagsbetrieb) anbieten. Die Schulen haben hierbei die Möglichkeit, den gesamten Zeitraum von 8.00 bis 16.00 Uhr organisatorisch und pädagogisch neu zu gestalten. Dies wird allerdings nur in Schulen möglich sein, die Ganztagsklassen in mehreren Jahrgangsstufen einrichten können (sog. "Züge"). In den meisten Fällen werden die Schulen zunächst die Ganztagsangebote ergänzend am Nachmittag organisieren (siehe Schaubild).
Jede Schule entwickelt im Rahmen ministerieller Vorgaben ein standortspezifisches Organisationskonzept, das ein vielfältiges schulisches Wahlangebot zulässt.
Die Schulen erhalten ein Personalbudget, das sich nach der Teilnehmerzahl am Ganztagsangebot richtet. Zusätzlich zu einem schulstufenbezogenen Sockelbetrag für eine Mindestschülerzahl erhalten die Schulen 0,5 Lehrerwochenstunden für jede Schülerin oder jeden Schüler über die Mindestschülerzahl hinaus. Dieses Budget ist zum überwiegenden Teil für den Einsatz von dauerhaft vom Land beschäftigten Lehrkräften und pädagogischen Fachkräften vorgesehen.
In Ergänzung ist darüber hinaus - im Sinne der Öffnung von Schule und zur Einbindung in das soziale Umfeld - eine enge Kooperation mit außerschulischen Kooperationspartnern, wie z.B. Musikschulen, Vereinen oder sozialen Organisationen, gewünscht. Zur Einbindung von Fachkräften dieser Kooperationspartner stehen den Schulen verschiedene Vertragsoptionen und im Rahmen des vorgenannten Budgets auch Geldmittel zur Verfügung.
Das "Investitionsvolumen" des Landes, insbesondere für das pädagogische Personal, beträgt in den Haushaltsjahren 2002: 15 Mio. Euro, 2003: 35 Mio. Euro, 2004: 50 Mio. Euro und ab dem Haushaltsjahr 2005: 60 Mio. Euro jährlich. Dies entspricht einem Äquivalent von ca. 1000 zusätzlichen Pädagogenstellen.
Die Schulträger haben die Aufgabe, das Mittagessen zu organisieren und gegebenenfalls die Räumlichkeiten mittelfristig an die Bedürfnisse einer Ganztagsschule anzupassen. Die Landkreise und kreisfreien Städte als Träger der Schülerbeförderung organisieren die veränderten Beförderungsnotwendigkeiten.
Akzeptanzen
Der vorgesehene Ausbau trifft landesweit auf breite Zustimmung.
In Rheinland-Pfalz stehen annähernd 70 Prozent der Frauen im arbeitsfähigen Alter in einem Beschäftigungsverhältnis. Auch hier müssen viele Alleinstehende Beruf und Erziehungsaufgabe miteinander vereinbaren.
Die Arbeitgeber argumentieren mit Standortattraktivität; dabei ist ihre Sorge, dass sich Investitionen in die Ausbildung und Weiterqualifizierung insbesondere von Frauen im Falle von Erziehungsauszeiten als unökonomisch erweisen könnten, sicherlich nicht zu kritisieren.
Familien erhoffen sich Entlastung bei der Erziehungsaufgabe, suchen eine kostenlose vertiefte individuelle (schulische!) Förderung. Gerade die Freiwilligkeit in der Angebotswahrnehmung trägt dabei zur hohen Akzeptanz im familiären Bereich bei.
Die Kommunen sehen insbesondere im Bereich der Jugendsozialarbeit Kooperationsmöglichkeiten und eine Ergänzung ihrer eigenen Bemühungen, z.B. in der Präventionsarbeit in sozialen Brennpunkten.
Ein Problem wird allerdings zum Teil in der erwarteten Konkurrenz von für die Eltern kostenpflichtigen Krippen und Horten und den kostenfreien Ganztagsschulen gesehen. Dort Beschäftigte befürchten Personalabbau. Der eine oder die andere Finanzressortleiter/in spekuliert vielleicht auch auf eine finanzielle Entlastung.
Aus der Sicht des zuständigen Bildungsministeriums sehen wir jedoch vor allem Chancen: Schulen können den Betreuungsbedarf nur in einem beschränkten Zeitausschnitt decken. Gerade deshalb brauchen wir mehr und erweiterte Betreuungsmöglichkeiten für Schulkinder (aber auch für noch nicht schulpflichtige Kinder) mit Betreuungszeiten nach 16.00 Uhr und in den Schulferien. Bei den Standortentscheidungen für Ganztagsschulen wird darauf zu achten sein, wie sich das neu eingerichtete schulische Ganztagsangebot zu den Angeboten der Jugendhilfe verhält. Synergieeffekte können sowohl durch enge Kooperation (z.B. Personalaustausch) als auch durch die Abdeckung unterschiedlicher Zeiten erreicht werden.
Im Übrigen wurde in Rheinland-Pfalz gerade das Kindertagesstätten-Gesetz u.a. mit dem Ziel geändert, die Zahl der Ganztagsplätze in Kindergärten, Krippen und Horten bis zum Jahr 2006 auf ca. 50 000 zu verdoppeln. Dies geschieht durch Anreizsysteme, die vorsehen, dass sich die Finanzierungsanteile der Träger bei Einrichtung von Ganztagsplätzen mindern. Auch hierfür wird das Land erhebliche Mittel aufbringen.
Die Lehrerverbände, die seit vielen Jahrzehnten den Ausbau von Ganztagsschulen fordern, stimmen dem Konzept in allen Grundzügen zu. Sie bemühen sich, ebenso wie die gesamte Schulverwaltung einschließlich der pädagogischen Serviceinstitute, die Akzeptanz in den Lehrerkollegien weiter zu erhöhen. Diese ist nicht schlecht - haben sich doch in den letzten Jahren viele Schulen im Rahmen "offener" Ganztagsangebote, finanziert von den Schulträgern, schon "auf den Weg gemacht". Insbesondere Grund- und Hauptschullehrkräfte haben erkannt, dass mit einem "vollgestopften" Schulvormittag bei im 50- oder 45-Minuten-Takt ständig wechselnden Unterrichtsfächern für viele Schülerinnen und Schüler keine idealen Lernvoraussetzungen vorliegen. Schule braucht heute oftmals mehr Zeit, damit für alle die Chancengleichheit gewahrt werden kann.
Die Kirchen sowie soziale Einrichtungen und kulturelle Organisationen bieten sich in großer Zahl als außerschulische Kooperationspartner der Ganztagsschulen an. Das Land hat z.B. mit den beiden großen Kirchen und ihren Untergliederungen, mit der Liga der freien Wohlfahrtsverbände, mit dem Landesverband der Musikschulen, dem Landesmusikrat, dem Landessportbund, der Landeszentrale der privaten Rundfunkveranstalter, der Landwirtschaftskammer Rheinland-Pfalz und den Landfrauenverbänden oder der Landesforstverwaltung Rahmenvereinbarungen getroffen, welche die Schulen und außerschulischen Partner vor Ort in ihrer Zusammenarbeit rechtlich absichern. Die Schulbehörde unterstützt die Partner bei der Vertragsabwicklung und veranlasst die Vergütung. Die Rahmenvereinbarungen mit außerschulischen Partnern
Diese Rahmenvereinbarungen enthalten folgende wesentliche Bestimmungen:
1. Der Kooperationspartner bietet einer neuen Ganztagsschule selbstverantwortete und eigenständig durchgeführte Ganztagsangebote an.
2. Der Kooperationspartner stellt das für den Einsatz in der Schule geeignete Personal zur Verfügung. Diese Personen bringen entsprechende fachliche Qualifikationen mit und müssen pädagogisch für die Übernahme einer Tätigkeit in der Ganztagsschule geeignet erscheinen.
3. Die Schule schließt einen Vertrag mit dem Kooperationspartner, nicht mit einer einzelnen Person.
4. Auf der vertraglichen Ebene wird der Einsatz des Personals geregelt. In der Regel bieten sich hierfür der Dienstleistungsvertrag oder ein Kooperationsvertrag an.
Im Rahmen eines Dienstleistungsvertrages arbeiten vom Vertragspartner fest angestellte und hauptamtlich beschäftigte Fachkräfte (z.B. eine Musikschullehrkraft) an den neuen Ganztagsschulen. Für die Dienstleistung dieser Fachkräfte erhält der Vertragspartner Kostenersatz (Erstattung von Vergütung und Zusatzkosten). Da er auch Ausfallzeiten abdeckt, das heißt Vertretungskräfte im Verhinderungsfall zur Verfügung stellt, erhält er einen Kostenzuschlag. Der Dienstleistungsvertrag wird unbefristet geschlossen, kann aber zum Ende des Schuljahres gekündigt werden. Der außerschulische Kooperationspartner bestimmt die Angebotsinhalte und ist für die sachgerechte Ausführung verantwortlich. Er bleibt Arbeitgeber, ein Leiharbeitsverhältnis wird nicht gegründet.
Bei einem Kooperationsvertrag organisiert der Kooperationspartner, z.B. eine kirchliche Jugendgruppe, eigenständig mit einer oder mehreren Personen (z.B. ein/e Jugendleiter/in) ein Projekt; es wird ein Stundenkontingent pro Woche für mindestens ein Schulhalbjahr vereinbart. Für dieses Projekt erhält der Kooperationspartner eine Zuwendung, die sich orientiert an den Vergütungen für nebenamtliche/nebenberufliche Beschäftigungsverhältnisse. Denn in der Regel werden bei solchen Kooperationsverträgen nebenamtlich/nebenberuflich tätige Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter eines Kooperationspartners, aber auch ehrenamtlich Tätige eingesetzt.
Wenn der Abschluss von Dienstleistungs- oder Kooperationsverträgen nicht möglich ist, kann die Schule auch Arbeitsverhältnisse mit einzelnen Fachkräften begründen. Für die Vergütungsregelung gilt die Richtlinie der Tarifgemeinschaft deutscher Länder. Ein schulisches Ganztagskonzept
Eine Schule gewinnt ein anspruchsvolles schulisches Ganztagsprofil, wenn
sie sich ihres Bildungsauftrages in seiner schulartspezifischen Ausprägung vergewissert;
sie die Eltern und altersgemäß auch die Schülerinnen und Schüler bei den Überlegungen zum pädagogisch-organisatorischen Konzept einbezieht und bei der Umsetzung aktiv beteiligt;
sie erweiterte Kompetenzen und das Engagement ihrer Lehrkräfte nutzt;
sie ergänzende Kompetenzen durch geeignetes pädagogisches Fachpersonal gewinnt;
sie geeignete außerschulische Partner aus der Region gewinnt, welche die Ganztagsschule durch interessante und pädagogisch wertvolle Angebote bereichern;
sie die erweiterten pädagogischen Möglichkeiten der Ganztagsschule positiv und werbend in der (Schul-)Öffentlichkeit darstellt und dadurch dauerhaft einen Großteil ihrer Schülerschaft zur Nutzung gewinnt;
sie ihr Ganztagskonzept als weiteren Schritt einer kontinuierlichen Schulentwicklung versteht.
Das Ganztagskonzept einer Schule soll folgende Gestaltungselemente aufweisen:
unterrichtsbezogene Ergänzungen,
themenbezogene Vorhaben und Projekte,
Förderung,
Freizeitgestaltung.
Kein Element ist verzichtbar; vielmehr sollten die Elemente gleichgewichtete Anteile haben. Die unten stehenden Angebotsbeispiele mit den vier verbindlichen Gestaltungselementen sollen beispielhaft für eine Grundschule, eine Sekundarstufen-Schule und eine Schule mit dem Förderschwerpunkt Lernen (Sonderschule) Angebote benennen. Je nach Schulart, Schulstandort und vor allem auch je nach konkreten Umsetzungsmöglichkeiten wären die Angebote im Einzelfall zu füllen.
Unterrichtsbezogene Ergänzungsangebote sollten dabei keinesfalls den "normalen" Unterricht verlängern oder gar die Halbtagsstundentafel erweitern. Vielmehr besteht gerade innerhalb aller Ganztags-Angebote die Chance, durch schüleraktivierende Methoden "mit allen Sinnen" zu lernen. Schülerinnen und Schüler entscheiden sich innerhalb der auch für sie verbindlichen Elemente gemäß dem vorgegebenen Zeitplan der Schule. In bestimmten Fällen sollte überlegt werden, ob Förderangebote - z.B. bei nicht ausreichenden Deutschkenntnissen - in Abstimmung mit den Eltern verbindlich sein können. Auch die Hausaufgabenbetreuung ist ein grundständiges Element der Ganztagsschule, das sich in besonderer Weise nicht nur fördernd auf die Schülerinnen und Schüler, sondern auch entlastend im familiären Beziehungsgeflecht auswirkt.
Das pädagogische Konzept und die Angebote einer Ganztagsschule müssen offen für Weiterentwicklungen bleiben. Wichtig ist, dass die "Grundlinien" eines pädagogischen Konzepts dauerhaft verankert bleiben, Attraktivität aber auch durch Aktualität und Einbindung in das schulische Umfeld gewonnen wird.
Aktueller Stand der Umsetzung
Die Einrichtung neuer Ganztagsschulen soll in der laufenden Legislatur in vier Schritten umgesetzt werden. Zum ersten Antragstermin mit sehr kurzem Vorlauf lagen dem Bildungsministerium 168 Anträge vor. 81 hiervon (28 Grundschulen, 27 Hauptschulen, 11 Regionale Schulen, 7 Sonderschulen, 6 Realschulen, 1 Duale Oberschule und 1 Gymnasium) wurden ausgewählt. Die Schulen werden sowohl in der Vorbereitungs- als auch in der Aufbauphase von den pädagogischen Serviceeinrichtungen informiert, beraten und fortgebildet. Dabei erproben sie zum ersten Mal ein zusätzliches, selbst verantwortetes finanzielles Fortbildungsbudget. Die Schulbehörden versorgten die Schulen mit den erforderlichen zusätzlichen Lehrkräften und unterstützten sie bei der Einstellung des sonstigen Fachpersonals. Die Schulen erhielten die Möglichkeit, Stellen "schulscharf" für diesen Zweck auszuschreiben; für die Veröffentlichung von Stellenanzeigen in der regionalen Presse stand jeder Schule ein Budget zur Verfügung. Außerschulische Kooperationspartner machten mit zentralen Informationsveranstaltungen und Broschüren auf ihr Angebot für die Schulen aufmerksam. Unabhängig von der Zuständigkeit der Schulträger für die Sachausstattung stand jeder Schule ein Landeszuschuss zur Erstausstattung von 5 000,- Euro zur Verfügung.
Die Einrichtung der neuen Ganztagsschulen wird wissenschaftlich unter verschiedenen Aspekten begleitet werden. Die ersten beiden Forschungsvorhaben begannen gemeinsam mit den Schulen.
Am 19. August dieses Jahres starteten 81 neue Ganztagsschulen mit über 9 000 am Ganztagsangebot teilnehmenden Schülerinnen und Schülern voller Engagement in eine neue Schulform, welche die Chance hat, unsere fast insuläre zentraleuropäische Sichtweise von Schule nachhaltig zu verändern.
Die rheinland-pfälzische Ganztagsschule in neuer Form bietet einen erweiterten verlässlichen Zeitrahmen, in dem die hier professionell Tätigen die Chance haben, vertieftes schulisches Lernen neu zu gestalten, individuelle Begabungen zu fördern, verstärkt zur Persönlichkeitsbildung, Werteerziehung und demokratischen Schulkultur beizutragen und die Schule wahrhaft gegenüber ihrem Umfeld sowie für das "reale Leben" zu öffnen, kurz: die Schule ein Stück weit neu zu erfinden.
Im gesamten Land wird von allen Beteiligten - lange vor PISA - in unzähligen Veranstaltungen und Gremiensitzungen eine sehr konstruktive Bildungsdiskussion, letztlich eine gesellschaftspolitische Diskussion geführt mit positivem Leitbild. Wann hatten Bildungsreformer in Deutschland einen solchen Rückenwind?