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Vom Tal auf die Insel? | Inseln | bpb.de

Inseln Editorial Laboratorien der ökologischen Moderne? Umwelt, Wissen und Geschichte (auf) der kleinen Insel Klimawandel auf Hallig Hooge: Wahrnehmungen, Maßnahmen, Kontroversen Vom Tal auf die Insel? Vom kalifornischen Liberalismus zur Sozialutopie Seasteading Rausch und Rebellion im Südatlantik. St. Helena und das Zeitalter der Revolutionen Kampf der Narrative. Inseln im Fokus geopolitischer Konflikte "Insularisches Denken" und das Problem der Kulturbegegnung. Eine xenologische Skizze Guam als Archipel? Einführung in die Island Studies Eine Welt für sich. Die Insel als literarischer und sprachlicher Grenz- und Denkraum John Donne: Meditation XVII

Vom Tal auf die Insel? Vom kalifornischen Liberalismus zur Sozialutopie Seasteading

Julian Dörr Olaf Kowalski

/ 16 Minuten zu lesen

Künstliche Inseln werden vom Silicon Valley als Lösung für Armut, Hunger und Verschwendung propagiert. Die Idee ist nicht neu, sondern steht im größeren historischen und ideologischen Kontext.

Mangelnden Mut kann man dem umtriebigen Investor und Gründer von Paypal, Peter Thiel, nicht vorwerfen: Er unterstützt das kühne Vorhaben, künstliche, auf internationalen Gewässern schwimmende Inseln zu errichten, mit denen unabhängige Nationen erschaffen werden sollen, um "die Menschheit von Politikern zu befreien." Die Idee dahinter: Erst abseits einer zu umfangreichen und strikten staatlichen Regulierung könnten sich die Menschen wahrhaft frei entfalten und eine bessere Gesellschaft bilden. Gegenwärtig nimmt dieses Gedankenexperiment konkrete Formen an. So plant das Start-up Blue Frontiers, bis 2022 in einer geschützten Lagune von Französisch-Polynesien schwimmende, künstliche Inselgruppen mit bis zu 300 Häusern zu errichten. Zwar liegen diese nicht auf Hoher See, jedoch wurde mit dem "Gastland" vereinbart, diesem Gebilde de facto Autonomie – nebst eigener "Kryptowährung" – zu gewähren. Das Konzept steht nicht alleine: Es hat sich eine Bewegung des sogenannten Seasteading etabliert, die neue Welten auf den Meeren erbauen will.

Dabei ist es ist kein Zufall, dass diese Projekte insbesondere von Visionären des Silicon Valley wie Thiel so vehement vorangetrieben werden. Denn gerade die in diesem Tal der San Francisco Bay Area angesiedelten Denker und Unternehmen wie Google, Apple oder Facebook vereinen einen philanthropischen Ansatz der Weltverbesserung und eine spezifische Ordnungsvorstellung der Gesellschaft mit dem Glauben an die emanzipatorische Kraft von Technologie. In der Absicht, "die Welt besser zurückzulassen, als wir sie vorgefunden haben", wie Apple-Vorstand Tim Cook formuliert, entwickeln sie eine Kultur mit universellem Gültigkeitsanspruch, die die Kraft hat, global auf unseren Alltag zu wirken. Längst beeinflusst die vom Silicon Valley ausgehende Digitalökonomie Wirtschaft und Gesellschaft, wie Kontroversen über Hasskommentare bei Facebook, die Sammlung und Monopolisierung von Daten durch Google oder die Geschäftstätigkeit von Airbnb in deutschen Städten zeigen.

Der Weg vom Tal auf die Weltmeere – wie auch der in den Weltraum, von dem der Investor und Tesla-Geschäftsführer Elon Musk mit seiner Vorstellung von Kolonien auf dem Mars träumt – erscheint so als logischer Schritt zur Verwirklichung der kalifornischen Weltanschauung: Hier bietet sich die vermeintliche Chance, gänzlich neu anzufangen und außerhalb aller Hoheitsgewässer eine bessere Welt nach eigenen Vorstellungen zu schaffen. Dass sich libertäres Denken und der Technikoptimismus des Silicon Valley gerade im Topos der Insel kumulieren, kann ebenfalls nicht verwundern, waren Inseln in der Kultur- und Geistesgeschichte der Menschheit doch schon immer Sehnsuchtsort, Fluchtpunkt und Projektionsfläche. Wie reihen sich die jüngsten Ideen aus Kalifornien hier ein?

Die Vision des Seasteading

Seasteading – ein Kunstwort aus sea und homesteading (Inbesitznahme, Besiedlung) – bezeichnet die Idee der künstlichen Erschaffung von dauerhaftem Wohn- und Lebensraum auf dem Meer. Diese Stätten (seasteads), meist modifizierte Schiffe und Plattformen, sollen außerhalb von Gebieten, die von Staaten beansprucht werden, schwimmen oder verankert werden. Verwandt sind sie mit Unternehmungen wie Women on Waves, einer Nichtregierungsorganisation, die auf Schiffen jenseits staatlicher Hoheitsgewässer Frauen bei Schwangerschaftsabbrüchen unterstützt, oder Radio Veronica, einem Piratensender, der in den 1960er und frühen 1970er Jahren aus internationalen Gewässern in der Nordsee sein Radioprogramm verbreitete. Gemeinsamer Nenner solcher Unternehmungen und Kerngedanke der "Seenahme" ist, dass sie keinerlei Gesetzen außer den selbst aufgestellten Regeln unterliegen. Die Motive reichen von der Befreiung der Wirtschaft von Regularien und Steuern (und darin Sonderwirtschaftszonen ähnlich) bis zu umfassenden gesellschaftspolitischen Zielen. Besonders prominent werden sie vom 2008 gegründeten Seasteading Institute vertreten, das auch mit Blue Frontiers zusammenarbeitet. Dessen ehemaliger Vorstand Patri Friedman – Enkel des Wirtschaftsnobelpreisträgers Milton Friedman und mittlerweile wieder bei Google tätig – sieht das Potenzial von solchen Inseln insbesondere darin, "die Leistung von Regierungen durch einen Wettbewerb um mobile Bewohner zu verbessern."

Die simple Idee ist somit die Übertragung des Wettbewerbs auf die Ebene der Staaten: Die Regierungen konkurrieren in Form der Ausgestaltung von Institutionen und der Bereitstellung öffentlicher Güter wie Schulbildung und Infrastruktur um die Gunst mobiler Bürger, und im Idealfall führt dieser Wettbewerbsdruck zu effizienterer Verwaltung und weniger Verschwendung. Sollten den Bewohnern die Verhältnisse nicht länger passen, können sie ihre Wohnplattform von den anderen abkoppeln und an eine andere Mikronation wieder andocken – eine Abstimmung mit den Füßen, oder passender, mit den Flößen. Hier kann im doppelten Sinne von einer New Frontier gesprochen werden: Nach der Erkundung der letzten unbekannten Flecken Land steht mit dem Seasteading nicht nur die Grenzverschiebung zwischen Zivilisation und Wildnis auf das Wasser an, sondern auch eine gesellschaftliche Neuvermessung. Die Metapher der New Frontier, mit der John F. Kennedy im US-Präsidentschaftswahlkampf 1960 die Bekämpfung von Armut, Diskriminierung und Kriegen bezeichnete, dient nun wieder dem Ziel einer besseren Ordnung des menschlichen Zusammenlebens und – zeitgenössisch aktualisiert – ebenso einer nachhaltigen, ressourcenschonenden und energieeffizienten, kurz: einer lebenswerteren und grüneren "schönen neuen Welt".

Utopisten unter sich

Das Denken und Reden der "Seevangelisten" erinnert so, bei aller visionären Progressivität, an die Tradition staatsphilosophischer Entwürfe der Utopisten. Die augenfälligste Ähnlichkeit besteht schon im Topos der Insel, geht doch bereits der Begriff der Utopie auf die fiktive Insel "Utopia" (1516) des englischen Humanisten Thomas Morus zurück. Als "Nicht-Ort", so der griechische Wortursprung, befreit sie den kritischen Blick auf die bestehenden Verhältnisse, entwirft eine radikal andere Gesellschaftsordnung und "schickt die Vorstellungskraft auf Reise". Von Morus’ unmittelbaren Nachfolgern, den Philosophen Tommaso Campanella ("Der Sonnenstaat", 1623) und Francis Bacon ("Nova Atlantis", 1627), die ihre Entwürfe ebenfalls auf Inseln situierten, geht über die Jahrhunderte eine ungebrochene Faszination utopischen Denkens aus, die ihren Anfang und markanten Ideengeber in Platons "Politeia" hat, das allerdings auch bis zu den totalitären Umsetzungen nationalsozialistischen oder kommunistischen Gedankenguts im 20. Jahrhundert reicht. Angesichts dessen lautete der grundsätzliche antiutopische Einwand des Philosophen Karl Popper: "Die Hybris, die uns versuchen läßt, das Himmelreich auf Erden zu verwirklichen, verführt uns dazu, unsere gute Erde in eine Hölle zu verwandeln". Mit anderen Worten: "Die verwirklichte Utopie ist eine Diktatur." In deren Untergang wurde dann das Heranbrechen eines "post-utopischen Zeitalters" erkannt, in dem die Unterordnung individueller Freiheit unter kollektive Ideale überwunden schien.

Im Reich der Gedanken jedoch lotet die Utopie Horizonte des Möglichen aus. Dabei sind bereits in den drei genannten Inselmodellen grundlegende Gemeinsamkeiten, aber auch Varianten utopischen Denkens ausgebreitet, die sich nicht in einem gemeinsamen Nenner – allenfalls in dem der Insel – erschöpfen. Neben den umfassenden institutionellen Entwürfen einer sozialistisch-kommunistischen Gesellschafts- und Eigentumsordnung bei Morus oder religiös-paradiesischer Zustände bei Campanella wird vor allem die Utopie Bacons von der Idee einer wissenschaftlichen Unterwerfung der Natur durch den Menschen (dessen eigene Natur inbegriffen) dominiert und begründet eine Kontinuitätslinie, in der sich auch die technologisch optimistischen kalifornischen Projekte wiederfinden. Mehr noch schließen sie mit der Idee eines flexiblen Minimalstaates und geringer Regulierung aber an einen libertär-anarchistischen Strang utopischen Denkens an, wie er sich im Romanzyklus "Gargantua und Pantagruel" (1532) des Humanisten und Arztes François Rabelais zeigt, und der sich mit einem "Tu, was Dir gefällt!" gerade gegen die regelbasierten Institutionen der anderen Klassiker wendet. Auch die Vertreter des Seasteading wollen erklärtermaßen Ernst machen und ihre neuen Welten realisieren. In der Betonung technologischer Möglichkeiten weisen sie also einerseits Elemente klassisch-utopischen Denkens auf, unterscheiden sich jedoch andererseits durch die Abkehr von dessen totalitären Zügen. Denn den kalifornischen Visionären geht es um eine grundlegende Minimierung gesellschaftlicher Regeln und um Modellvielfalt im Wettbewerb.

Kalifornischer Liberalismus

Im Silicon Valley sind solche libertären Ordnungsvorstellungen weit verbreitet. Von Larry Page, Vorstandsvorsitzender von Alphabet, dem Mutterkonzern Googles, ist ein eindrückliches, das negative Staatsverständnis offenbarende Zitat überliefert: "Es gibt eine Menge Dinge, die wir gerne machen würden, aber leider nicht tun können, weil sie illegal sind. Weil es Gesetze gibt, die sie verbieten. Wir sollten ein paar Orte haben, wo wir sicher sind. Wo wir neue Dinge ausprobieren und herausfinden können, welche Auswirkungen sie auf die Gesellschaft haben." Obwohl angesichts der Bandbreite an Weltanschauungen eine Generalisierung zu einem einzelnen Paradigma schwerfällt, kann unter den führenden Vertretern des Silicon Valley dennoch eine Tendenz der Staatsskepsis festgestellt werden, sodass zumindest von einem Liberalismus kalifornischer Prägung ausgegangenen werden kann.

Diese Ordnungsidee rückt das Individuum und den Markt ins Zentrum, zielt auf weniger und zugleich klügere Regulierung und weist eine tief sitzende Ablehnung gegenüber Einschränkungen persönlicher Freiheit auf. Wie weit die kalifornische Spielart von der kontinentaleuropäischen Tradition des Liberalismus entfernt ist, die die freie Entfaltung des Menschen in einem Ordnungsrahmen sucht und entsprechend dem wirkungsmächtigen Staat eine ganz entscheidende Funktion beimisst, zeigt der Umgang mit neuen Technologien und Geschäftsmodellen: Aus Sicht der kalifornischen Ordnungsidee gilt es, zunächst für Zukunftsfelder (künstliche Intelligenz oder autonomes Fahren) Restriktionen möglichst zu beseitigen und erst im Nachhinein gegebenenfalls regulativ einzuschreiten. Somit müssen Verbote und Beschränkungen, denen ihre Geschäftsmodelle gerade in Europa unterliegen, den Unternehmen des Silicon Valley unverständlich erscheinen.

Hier klingt ein weiteres Kennzeichen der kalifornischen Ideologie an. Für das High-Tech-Tal ist ein Denken charakteristisch, das mit Blick auf soziale Probleme wie Armut, Ungleichheit oder Korruption Lösungen nicht in politisch-institutionellen Maßnahmen, sondern vorrangig in der Entwicklung und Anwendung neuer Technologien sucht. Die totale Durchdringung der Welt durch die geeignete Technik ermöglicht die Selbstermächtigung des Menschen mittels Vernetzung, Transparenz und Effizienz: Verwirklichungen hiervon können in Konzepten der "liquid democracy" oder "Kryptowährungen" gefunden wenden. Es überrascht kaum, dass die Vertreter des Silicon Valley aus dieser tiefen Überzeugung des "Solutionismus" einen Selbstanspruch zur Weltverbesserung ableiten. Denn sie sind es, die als Technologietreiber vorangehen: "Die Welt steht vor vielen wirklich großen Herausforderungen, und unser Unternehmen liefert die Infrastruktur dafür, diese Herausforderungen zu meistern."

Oft betreiben solche Unternehmen also nicht nur ihr Geschäft, sondern verfolgen darüber hinaus eine Agenda der Sozialreform. Neben der Inszenierung von über reine Kaufprozesse hinausgehenden sozialen Erlebnisräumen finden sich bezeichnende Unternehmensmotti wie "Don’t be evil" bei Google und etwa bei Alphabet mit dem "Project Loon" das Vorhaben, mittels smarter Ballons das Internet in die entlegensten Ecken der Welt bringen. Dieses Sendungsbewusstsein ist auch auf die Entstehungsbedingungen des Silicon Valley in den 1990er Jahren zurückzuführen, die diese Californian Ideology als das "bizarre Mischmasch aus anarchistischer Hippie-Weltanschauung und ökonomischem Liberalismus, angereichert mit einem Schuss technologischem Determinismus" hervorgebracht haben. Während die Technikgläubigkeit in der Überzeugung von den emanzipatorischen Möglichkeiten eines neuen Zeitalters, mit einem virtuellen Ort der Freiheit ohne staatliche Überwachung sowie uneingeschränktem Zugang zu Informationen für alle Menschen wurzelt, verweist das libertäre Element auf die Traditionslinie der Hippie-Bewegung mit ihrem Impetus, verschiedene Lebensstile zu erproben und jeden bedingungslos sein individuelles Glück suchen zu lassen.

Unabhängig von der Frage, ob es sich bei der philanthropischen Rhetorik möglicherweise bloß um cleveres Marketing handelt, lässt sich der wirtschaftliche Erfolg des kalifornischen Liberalismus, um den die Welt das Tal beneidet, nicht bestreiten – auch wenn paradoxerweise der Staat in der Frühphase maßgeblich dazu beigetragen hat. Auch kulturell übt das kalifornische Narrativ eine hohe Anziehungskraft aus. Nicht nur locken die Unternehmen als Gegenmodell zur "Old Economy" Arbeitskräfte aus der ganzen Welt an, für die der dort ausgeprägte Lebensstil attraktiv ist. Auch auf Veranstaltungen wie dem "Burning Man Festival", dessen Ursprünge ebenfalls in San Francisco liegen, versammeln sich Tausende von Besuchern auf einem Provisorium in der Wüste von Nevada, um gemeinsam Kunst zu produzieren und der menschlichen Kreativität ihren Lauf zu lassen. Wesentliches Anliegen dabei ist die Regellosigkeit: Alles ist erlaubt, solange es niemandem schadet – eine Reminiszenz an die Parole Rabelais’. Ein ähnliches Konzept liegt dem Kunst- und Kulturfestival "Ephemerisle" zugrunde, das seit 2009 am und auf dem Wasser des San Joaquin River Deltas stattfindet. Hinter dem Gedanken des Seasteading, neues, unberührtes Territorium in Besitz zu nehmen und das soziale Zusammenleben strukturell neu zu ordnen, steckt also die größere Ideologie des kalifornischen Liberalismus. Auf der Insel kann in Reinform all dies umgesetzt werden: "Eine Kolonialisierung von Meeres- und Inselräumen als Modelle idealisierter libertärer Gemeinschaften."

Seeluft macht frei?

Dank des technologischen Fortschritts reicht das utopische Denken des Tals allerdings über seine historischen Vorbilder hinaus. Erstmals scheinen die Inselträume nun umsetzbar; das Seasteading Institute verlautete: "Wir sind keine verträumten Utopisten." Aber besteht jenseits technischer Fragen auch die rechtliche Möglichkeit einer Insel? Künstliche Inseln sind hier ein Lehrbuchfall, seit sich das Verwaltungsgericht Köln anlässlich des 1967 auf einer verlassenen britischen Flakstellung in der Nordsee gegründeten "Fürstentums Sealand" mit der Frage der Staatlichkeit kleinster künstlicher Gebilde auseinandersetzen musste.

Die erste rechtliche Frage ist die, ob es möglich ist, sich einer zuvor bestehenden – etwa US-amerikanischen – Staatsangehörigkeit und damit dem staatlichen Zugriff, beispielsweise der Besteuerung, aber auch der Strafgewalt zu entziehen. Das Völkerrecht sucht die mit der Staatenlosigkeit von Individuen verbundene Rechtsunsicherheit zu vermeiden, indem die Aufgabe einer Staatsangehörigkeit im Regelfall an die Annahme einer neuen Staatsbürgerschaft geknüpft wird. Das setzt voraus, dass es sich bei der Körperschaft, deren Angehöriger man zu sein wünscht, ebenfalls um einen Staat handelt. Auch für die als niedrigschwellige Form des Seasteading diskutierten Schiffe gilt mit dem Flaggenstaatsprinzip (es gelten die Gesetze des Landes, unter dessen Flagge ein Schiff fährt) grundsätzlich nichts anderes. Und so wird erklärterweise für die insularen seasteads auf lange Sicht die Begründung eigener Staatlichkeit als Mittel zur umfassenden Autonomie angestrebt.

Nach der klassischen und bis heute maßgeblichen "Drei-Elemente-Lehre" des Staatsrechtlers Georg Jellinek ist ein soziales Gebilde (erst) dann ein Staat, wenn es über eine auf einem bestimmten Gebiet lebende Bevölkerung Herrschaft ausüben kann ("Staatsgebiet, Staatsvolk, Staatsgewalt"). Während sich für natürliche Inselstaaten mit steigenden Meeresspiegeln angesichts ihres schwindenden Territoriums die Existenzfrage stellt, funktioniert der Praxistest für die seasteads umgekehrt: Die entscheidende Frage ist schon die Legalität der Errichtung künstlicher Inseln als potenzielles Staatsgebiet auf Hoher See, dann erst deren rechtliche Bewertung und etwaige Anerkennung als Staat.

Diese Frage richtet sich an das Seevölkerrecht. Die Hohe See ist alles andere als ein rechtsfreier Raum, vielmehr spätestens seit dem 1994 in Kraft getretenen Seerechtsübereinkommen der Vereinten Nationen (SRÜ) ein "Raum rechtlich geordneter Freiheit". So werden die Räume des Seevölkerrechts als Sphären abnehmenden staatlichen Einflusses von der Küstenlinie eines Landes aus kartiert, woraus schließlich die Hohe See übrig bleibt. Während die ersten 24 Seemeilen vor der Küste der Hoheitsgewalt des Anrainerstaates unterliegen, hat dieser auch in seiner ausschließlichen Wirtschaftszone und auf dem Festlandsockel die volle Jurisdiktion über künstliche Inseln – zur Errichtung und Genehmigung, bei Steuer-, Gesundheits-, Sicherheits- und Einreisebestimmungen – sowie, für den Anspruch der seasteads auf Autarkie entscheidend, das Monopol der Ausbeutung von Wind- und Sonnenenergie.

Nur auf Hoher See bleibt also Raum für die utopischen Unternehmungen des Seasteading. Erst dort, außerhalb der Rechtssphäre eines bestimmten Staates, verbürgt das SRÜ umfassende Freiheitsrechte und verbietet jedwede staatliche Aneignung. Dieses Verbot bedeutet aber umgekehrt, dass die Anerkennung, ja schon die Begründung eigener, neuer Staatlichkeit – und damit von Gebietshoheit – auf Hoher See ausgeschlossen ist. Die Formel "Die Hohe See steht allen Staaten (…) offen" ist Freiheitsgarant gerade für Staaten gegenüber Staaten, verhindert aber ein wortwörtliches nation building auch durch private seasteads und damit deren völkerrechtlichen "Aufstieg" zum Staat auf Hoher See.

Allerdings hat im SRÜ auch die – nur scheinbar paradoxe – Erlaubnis der Errichtung künstlicher Inseln von staatlicher Seite auf Hoher See ihren Platz. Sie sind jedoch in Abgrenzung zu natürlich entstandenen Inseln im völkerrechtlichen Sinne und in Einklang mit dem Aneignungsverbot gerade keine Gebiete, die eine eigene Staatlichkeit und damit räumliche Rechte an der See haben können. Auch hier entstehen und operieren künstliche Inseln nicht ohne Schranken, sondern "gemäß den Bedingungen dieses Übereinkommens und den sonstigen Regeln des Völkerrechts", sie sind "nach dem Völkerrecht" zu beurteilen. Es bleibt hier indes "fragmentarisch". Private Unternehmungen finden ihre Grenzen also nur indirekt in den Möglichkeiten, die das SRÜ den Staaten zur Einschränkung derartiger Aktivitäten eröffnet – und vor allem in dem politischen Entschluss, diese auch auszuüben. Der Umkehrschluss aus der Einschränkung staatlicher Aktivitäten, dass nicht-staatliche Akteure ungehindert tätig werden können, erscheint freilich trügerisch und widerspräche dem Bild des bereits konturierten Raums "rechtlich geordneter Freiheit". Zudem reguliert die Internationale Meeresbodenbehörde zumindest die Nutzung des Tiefseebodens als "gemeinsames Erbe der Menschheit", worunter auch die dortige Verankerung von künstlichen Inseln fallen könnte. Insgesamt erscheinen diesseits der Frage eigener Staatlichkeit die Möglichkeiten des Seasteading letztlich, wie so oft im Völkerrecht, eher politisch-praktischen Vorbehalten unterworfen.

Inseln der Glückseligkeit?

Auch wenn noch offen ist, wann und wie solche Inseln tatsächlich umgesetzt werden können, wäre es doch zu einfach, sie als weltfremde Träumereien einer Handvoll High-Tech-Millionäre und "Degradation" der Utopie abzutun. Angesichts der Herausausforderungen des 21. Jahrhunderts, wie einer wachsenden Weltbevölkerung, eines steigenden Ressourcenverbrauchs und des Klimawandels, stellt sich die grundsätzliche Frage, inwiefern sie hierzu eine tragfähige Lösung anbieten. Gerade für insulare Mikronationen wie Tonga, Mikronesien oder Tuvalu im Pazifik werden Lösungen immer dringlicher.

Jedenfalls konzeptuell, ganz in der Tradition der utopischen Klassik, können sie Grenzen aufzeigen und überwinden – möglicherweise stellt gerade dies den Kern des Denkens der Insel dar: "Weniger echte Inseln, sondern vielmehr die Idee der Insel ist die Quelle westlicher Islomania." Offen bleibt aber, ob für die Suche nach zeitgemäßen Lösungen die Feststellung H.G. Wells’ gilt, der zufolge jenseits aller Utopien "der Weg der Vernunft (…) unten im Tal" verläuft.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Joe Quirk/Patri Friedman, Seasteading. How Floating Nations Will Restore the Environment, Enrich the Poor, Cure the Sick, and Liberate Humanity from Politicians, New York 2016.

  2. Zit. nach Lisa Eadicicco, Tim Cook Summed up Apple’s Mission in One Simple Sentence, 21.10.2015, Externer Link: http://www.businessinsider.com.au/tim-cook-apple-mission-2015-10.

  3. Der Begriff geht zurück auf Ken Neumeyer, Sailing the Farm, Berkeley 1981.

  4. Siehe etwa die Schiffsprojekte "Freedom Ship" oder "Blueseed".

  5. Weitere Beispiele bei O. Shane Balloun, The True Obstacle to the Autonomy of Seasteads: American Law Enforcement Jurisdiction over Homesteads on the High Seas, in: U.S.F. Maritime Law Journal 2/2011, S. 410–463.

  6. Patri Friedman/Brad Taylor, Seasteading: Competitive Governments on the Ocean, in: Kyklos 2/2012, S. 218–235, hier S. 218; Übersetzungen durch die Verfasser.

  7. In eine ähnliche Richtung zielt die auf dem Festland verortete Idee funktionaler, überlappender und konkurrierender Körperschaften. Vgl. etwa Bruno S. Frey, Ein neuer Föderalismus für Europa: Die Idee der FOCJ, Tübingen 1997.

  8. Vgl. The Seasteading Institute, Externer Link: http://www.seasteading.org/videos/the-eight-great-moral-imperatives.

  9. Als Selbstzuschreibung bei Externer Link: http://www.blue-frontiers.com/de/about.

  10. Vgl. Otfried Höffe, Ethik. Eine Einführung, München 2013, S. 102.

  11. Vgl. Reinhold Zippelius, Geschichte der Staatsideen, München 200310, S. 76.

  12. Vgl. Johann Braun, Einführung in die Rechtsphilosophie, Tübingen 20112, S. 85ff.

  13. Karl Popper, Das Elend des Historizismus, Tübingen 19744, S. VIII.

  14. Das einordnend Braun (Anm. 12), S. 162.

  15. Vgl. Richard Saage, Keine ideale Gesellschaft mehr, nirgends. Die Zukunft der politischen Utopie, in: Indes 2/2012, S. 70ff., hier S. 70.

  16. Zum anti-individuellen Zug utopischen Denkens vgl. Braun (Anm. 12), S. 95ff., S. 103ff.

  17. Rüdiger Voigt, Utopisches Staatsdenken, in: ders. (Hrsg.), Staatsdenken. Zum Stand der Staatstheorie heute, Baden-Baden 2016, S. 231–234, hier S. 233.

  18. Siehe z.B. Otfried Höffe (Hrsg.), Politische Utopien der Neuzeit, Berlin–Boston 2016; Thomas Schölderle (Hrsg.), Idealstaat oder Gedankenexperiment? Zum Staatsverständnis in den klassischen Utopien, Baden-Baden 2014.

  19. Vgl. Richard Saage, Das Ende der politischen Utopie?, Frankfurt/M. 1990, S. 26ff. Beispielhaft auch Robert Nozick, Anarchie, Staat, Utopia, München 1976.

  20. Zit. nach Mathias Döpfner, Warum wir Google fürchten, 16.4.2014, Externer Link: http://www.faz.net/-12897463.html.

  21. Im US-amerikanischen Sprachraum werden Liberale oft als "libertarians" bezeichnet, weil "liberals" linkspolitisch konnotiert ist.

  22. Siehe z.B. Walter Eucken, Grundsätze der Wirtschaftspolitik, Tübingen 1952.

  23. Eindrücklich zugespitzt wird dies in der Dystopie "The Circle" von Dave Eggers, London 2014: Dort verhindert eine Heerschar von Kameras, die von den Nutzern überall aufgestellt werden und auf die die gesamte Community in Echtzeit zugreifen kann, jegliche Kriminalität, da alles transparent und überwacht ist.

  24. Vgl. Evgeny Morozov, Smarte neue Welt: Digitale Technik und die Freiheit des Menschen, München 2013.

  25. Vgl. Mark Zuckerberg, Facebook’s Letter from Mark Zuckerberg – Full Text, 1.2.2012, Externer Link: http://www.theguardian.com/technology/2012/feb/01/facebook-letter-mark-zuckerberg-text.

  26. Ein gutes Beispiel hierfür ist das Unternehmen Airbnb, dessen Mitgründer Brian Chesky postulierte: "Wir wollen Reisen das Magische wiedergeben.", Externer Link: http://www.wiwo.de/14949408-all.html.

  27. Richard Barbrook/Andy Cameron, The Californian Ideology, in: Science as Culture 6/1996, S. 44–72, hier S. 59.

  28. So ging die Basisinnovation des Internets aus dem Projekt Arpanet des US-Militärs hervor, vgl. z.B. John Naughton, The Evolution of the Internet: from Military Experiment to General Purpose Technology, in: Journal of Cyber Policy 1/2016, S. 5–28.

  29. Zur Bedeutung von Leiterzählungen für das Verständnis der Marktwirtschaft siehe Jens Beckert, Imaginierte Zukunft. Fiktionale Erwartungen und die Dynamik des Kapitalismus, Berlin 2018.

  30. Philip Steinberg/Elizabeth Nyman/Mauro Caraccioli, Freedom, Capital, and Floating Sovereignties in the Seasteading Vision, in: Antipode 4/2012, S. 1532–1555, hier S. 1532.

  31. Patri Friedman/Wayne Gramlich, Seasteading: A Practical Guide to Homesteading the High Seas, 9.6.2009, pdfsecret.com/download/seasteading-a-practical-guide-to-homesteading-the-high-seas_59f70cb9d64ab20a7512d243_pdf, S. 4.

  32. Siehe Urteil v. 3.5.1978 – 9 K 2565/77, in: Deutsches Verwaltungsblatt 1978, S. 510ff.

  33. Vgl. Torsten Stein/Christian von Buttlar/Markus Kotzur, Völkerrecht, München 201714, S. 84f.

  34. Deren Legalität diskutiert entsprechend Balloun (Anm. 5), S. 427ff.

  35. Artikel 92 SRÜ, vgl. Rüdiger Wolfrum, Kapitel 4. Hohe See und Tiefseeboden (Gebiet), in: Wolfgang Graf Vitzthum (Hrsg.), Handbuch des Seerechts, München 2006, S. 287–345, hier S. 300ff. Kritisch zur Option mobiler Seasteads, ohne Flagge zu segeln: Balloun (Anm. 5), S. 452ff.

  36. Georg Jellinek, Allgemeine Staatslehre, Berlin 19143, S. 394–434.

  37. Vgl. hierzu Nina Bergmann, Auswirkungen des Klimawandels auf die Staatlichkeit kleiner Inselstaaten, Berlin 2016.

  38. Letztere behandelt Ryan H. Fateh, Is Seasteading the High Seas a Legal Possibility: Filling the Gaps in International Sovereignty Law and the Law of Seas, in: Vanderbilt Journal of Transnational Law 2013, S. 899–931.

  39. Alexander Proelß, Raum und Umwelt im Völkerrecht, in: Wolfgang Graf Vitzthum/Alexander Proelß (Hrsg.), Völkerrecht, Berlin–Boston 20167, S. 361–454, hier S. 401; einführend Wolff Heintschel von Heinegg, Internationales öffentliches Seerecht (Seevölkerrecht), in: Knut Ipsen (Hrsg.), Völkerrecht, München 20146, S. 860ff.

  40. Vgl. Art. 60 Abs. 1 Buchstabe a, Abs. 2, 80 sowie 56 SRÜ.

  41. Vgl. Art. 87 und 89 SRÜ.

  42. So auch Fateh (Anm. 38), S. 912.

  43. Art. 87 Abs. 1 Satz 1 SRÜ.

  44. Vgl. Art. 87 Abs. 1 Satz 3 Buchstabe d SRÜ.

  45. Art. 121 und 60 Absatz 8 Satz 2 SRÜ, vgl. Alexander Proelß/Rainer Lagoni, Kapitel 3. Festlandsockel und ausschließliche Wirtschaftszone, in: Graf Vitzthum (Anm. 35), S. 161–286, hier S. 277 und S. 255ff.

  46. Art. 87 Abs. 1 Satz 2, Satz 3 Buchstabe d SRÜ.

  47. Wolfrum (Anm. 35), S. 324.

  48. Vgl. dazu Fateh (Anm. 38), S. 912, 918f.; Megan Binder, Taking to the Sea: The Modern Seasteading Movement in the Context of Other Historical Intentional Communities, in: Indiana Journal of Global Legal Studies, 2/2016, S. 765–794, hier S. 790f.

  49. Vgl. Fateh (Anm. 38), S. 914f.

  50. Art. 136 SRÜ; vgl. Wolfrum (Anm. 35), S. 324; Proelß/Lagoni (Anm. 45), S. 250ff.

  51. China Miéville, Floating Utopias: Freedom and Unfreedom of the Seas, in: Mike Davis/Daniel Bertrand Monk (Hrsg.), Evil Paradises. Dreamworlds of Neoliberalism, New York–London 2007, S. 251–261, S. hier S. 254.

  52. Vgl. Bergmann (Anm. 37), S. 22ff.

  53. John Gillis, Islands of the Mind. How the Human Imagination Created the Atlantic World, New York 2004, S. 1.

  54. Vgl. H.G. Wells, A Modern Utopia, London 1905, S. 60.

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ist promovierter Ökonom und Politikwissenschaftler an der Universität Siegen, Geschäftsführer der Aktionsgemeinschaft Soziale Marktwirtschaft und Fellow am Forschungskolleg normative Gesellschaftsgrundlagen (FnG) der Universität Bonn. E-Mail Link: doerr@wiwi.uni-siegen.de

ist studierter Jurist sowie Doktorand und Geschäftsführer am FnG der Universität Bonn. E-Mail Link: olafkowalski@uni-bonn.de