Einleitung
Die Menge stürzte sich mit Schreien auf uns: Erschießt sie, die Blutsauger, spießt sie auf die Bajonette usw. Die Menge durchbrach die Wachmannschaft, die einen Kreis um uns gebildet hatte, und wenn Antonow[
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Die siegreichen Bolschewiki waren Gewalttäter, die der Krieg hervorgebracht hatte. Ihre Revolution war der Sieg einer vormodernen Gewaltdiktatur über die Freiheitsversprechen des russischen Liberalismus.
Die Menge stürzte sich mit Schreien auf uns: Erschießt sie, die Blutsauger, spießt sie auf die Bajonette usw. Die Menge durchbrach die Wachmannschaft, die einen Kreis um uns gebildet hatte, und wenn Antonow[
So erinnerte sich der Menschewik und letzte Innenminister der Provisorischen Regierung, Alexej Maximowitsch Nikitin, daran, wie er den Putsch der Bolschewiki am 25. Oktober 1917 erlebte. Warum ist diese Episode für das Verständnis jenes Geschehens, das von den Historikern Revolution genannt wird, von Bedeutung? Weil sie von einer Revolution erzählt, in der nicht die Idee und ihre Repräsentation, sondern die Gewalt der Straße zur Sprache kommt. Sie bringt den Alltag der Revolution zum Vorschein, der in den Resolutionen und Texten der Revolutionäre nicht vorkam. Niemand wird sich darüber wundern, dass die bolschewistischen Sieger die unterlegenen Revolutionäre verhafteten. Nur schienen die Sieger das Volk ebenso zu fürchten wie die Verlierer. Seinem Hass und seiner Wut hatten sie nichts weiter entgegenzusetzen als die Kraft ihrer Worte.
Was im Oktober 1917 auf der Troitzki-Brücke in Petrograd geschah, hätte sich zur gleichen Zeit auch an jedem anderen Ort in Russland zutragen können. Über die Motive der handelnden Menschen können wir nichts Genaues sagen, denn Soldaten und Matrosen haben keine Auskunft gegeben. Wir wissen allenfalls von den Rechtfertigungen und Selbstdarstellungen der politischen Akteure, die solche Gewalttaten in historische Modelle einordneten und rationalisierten. Aber wir können erfahren, was mit Menschen geschieht, wenn sie in Situationen hineingeraten, die sie nicht kontrollieren, und welche Möglichkeiten sie haben, das eine zu tun und das andere zu unterlassen.
Revolutionen haben keine "Ursachen". Wenn wir davon überzeugt sind, dass die menschliche Geschichte eine Geschichte der Emanzipation ist, dann werden wir auch glauben, dass Armut Rebellionen erzeugt. Wenn wir solche Überzeugungen nicht teilen, dann werden wir möglicherweise andere Urteile über die Rebellion fällen. In jedem Fall aber werden die Geschichten vom Ursprung ideologischen Prämissen folgen und Erwartungen entsprechen. Gehorchte die Revolte den Ideen revolutionärer Visionäre und Verführer?
Die Menschen der Vergangenheit aber wussten nicht, dass ihr Leben die Ursache für ein künftiges Ereignis war. Solches Wissen können nur die Nachgeborenen haben. "Vom Ancien Régime sprechen in aller Regel die, die darüber hinweggekommen sind, nicht die, die mit ihm leben." Es gibt nicht nur eine offene Zukunft, sondern auch eine vergangene Zukunft, eine, die "vergeben ist und verspielt sein kann, eher wir ihrer habhaft werden".
Gleichwohl geschehen Ereignisse unter Umständen, die sie ermöglichen. Was waren die Kontexte, in denen sich die Revolution entfaltete? Sie waren so heterogen wie die Revolution selbst. Es gab eine Revolte der Gebildeten gegen die politische Ordnung des zarischen Regimes, eine Erhebung von Bauern und Arbeitern gegen die Gutsherren und die europäischen Eliten, die das Land beherrschten, und es gab eine Revolte der nationalen Bewegungen und Minoritäten gegen die kulturelle Standardisierung und Homogenisierung des Imperiums. Man könnte die Zahl der Revolten noch vermehren: Revolten von Arbeitslosen, Flüchtlingen und vielen anderen. Diese Revolten ergaben sich aus spezifischen Situationen, und sie waren oftmals nicht miteinander verbunden. Die Untertanen des Zaren sprachen nicht mit einer Sprache. Sie lebten nicht einmal in einer Gesellschaft. Deshalb gab es 1917, als die alte Ordnung zusammenbrach, niemanden, der die Gewalt von einem Ort aus unter Kontrolle bringen konnte.
Seit den Reformen Peters I. im frühen 18. Jahrhundert wurde das Imperium von einer europäisierten Elite beherrscht, die mit den leibeigenen Bauern kulturell nicht mehr verbunden war. Denn das Europäisierungsprojekt hatte die Umerziehung des Adels, nicht der Bauern zum Ziel. Diesen kulturellen Dualismus versuchten die aufgeklärten Bürokraten des Zaren Mitte des 19. Jahrhunderts zu überwinden, um das Imperium in einen modernen Anstaltsstaat nach preußischem Vorbild zu verwandeln. Die Bauern sollten Teil der Gesellschaft, das Vielvölkerreich eine Staatsnation, der Staat ein moderner Rechtsstaat werden. 1861 wurden die Bauern aus der Leibeigenschaft befreit, wenige Jahre später führte die Regierung in den Städten und ländlichen Regionen kommunale Selbstverwaltungen, unabhängige Gerichte und rechtsstaatliche Verfahren ein. 1874 kam auch die allgemeine Wehrpflicht nach Russland. Doch die Großen Reformen weckten Ansprüche, die nicht erfüllt werden konnten, weil sie die Kluft zwischen der Gesellschaft und den Bauern nicht überwand, sondern sie im Gegenteil erst sichtbar machte.
Die Agrarreform des Jahres 1861 beendete das System der Leibeigenschaft in Russland. Aber viele Bauern empfanden das, was die Eliten für Befreiung hielten, als Zumutung. Denn sie erhielten nur einen Teil des Landes zur Nutzung, das sie vor der Befreiung bearbeitet hatten. Für die Bauern gehörte das Land in die Hände jener, die es bearbeiteten. Es war ungerecht, dass der Adel es ihnen vorenthielt. Aus diesem Dilemma gab es schon deshalb keinen Ausweg, weil die Welt der Bauern auch nach Aufhebung der Leibeigenschaft von der Gesellschaft der Besitzenden und Gebildeten getrennt blieb. Weil es keine staatlichen Institutionen im Dorf gab, die die Aufsichtsfunktionen der Gutsherren hätten ersetzen können, mussten die Bauern selbst dafür sorgen, dass Steuern und Ablösesummen gezahlt, Rekruten ausgewählt und Polizeiaufgaben erfüllt wurden. Alle Bauern hafteten kollektiv für die Aufbringung der Abgaben und durften ihre Dörfer nur mit Erlaubnis der Obrigkeit verlassen. Das System der kollektiven Solidarhaftung warf die Bauern auf sich selbst zurück, es begründete eine egalitäre Sozialordnung und eine rigide Sozialdisziplin, die abweichendes Verhalten unnachsichtig bestrafte. Vor allem aber blieben die Bauern unter sich, sie wurden an das Land gebunden und von der Gesellschaft, in die sie sich integrieren sollten, rechtlich getrennt.
Zwar wanderten im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts Millionen Bauern auf der Suche nach Arbeit und Auskommen vom Dorf in die Stadt. Aber Russlands Arbeiter wurden in den Städten nicht zu Proletariern. Sie blieben als Bauern dem Lebenszyklus, den Sitten und Gebräuchen und der Sozialdisziplin des Dorfes unterworfen. Denn viele Bauern, die als Wanderarbeiter in die Stadt gekommen waren, kehrten während der Erntezeit und am Ende ihres Arbeitslebens in ihre Heimatdörfer zurück. Auch in den Städten blieben sie unter sich, weil sich ihnen dort nichts bot, was einem Abschied vom Dorf Attraktivität verliehen hätte. Wo sie lebten, gab es keine Infrastruktur, keine Krankenhäuser und Schulen, manchmal auch keine staatlichen Strukturen. Deshalb integrierte nicht die Stadt das Dorf, sondern das Dorf unterwarf die Stadt. So kam es, dass die bäuerliche Konflikt- und Gewaltkultur am Ende auch in den Städten die Oberhand gewann.
Unter diesen Umständen scheiterten die Versuche der zarischen Bürokratie, die bäuerliche Bevölkerung zu erziehen, zu disziplinieren und in moderne Staatsbürger zu verwandeln. Die Verwaltung und Rechtsordnung des Zaren war nichts weiter als das Regelwerk einer fremden Kaste von Eroberern, die sich im Leben der Bauern nicht zu Gehör bringen konnte. Auch die Armee des Zaren überwand die kulturelle Kluft zwischen der Gesellschaft und den Bauern nicht. Sie brachte sie vielmehr wie keine andere Institution zum Ausdruck, weil sie die Gebildeten von den Bauern trennte und Soldaten zu Knechten der Offiziere machte.
Nicht einmal auf die Loyalität der gebildeten Eliten konnte die Autokratie am Ende noch vertrauen. Denn die Großen Reformen Alexanders II. hatten Hoffnungen im intellektuellen Milieu geweckt, die bitter enttäuscht wurden. Die Funktionsträger in der lokalen Selbstverwaltung, Juristen, Freiberufler, Schriftsteller, Journalisten und Professoren, verlangten, dass die neuen Freiräume auch politisch genutzt werden konnten. Zu solchen Zugeständnissen aber war die autokratische Regierung nicht bereit.
Im Revolutionsjahr 1905, als die russische Armee im Krieg gegen Japan stand, mussten die Minister des Zaren erfahren, was es bedeutete, wenn sich Arbeiter, Bauern, nationale Minderheiten und Bürger gegen die bestehende Ordnung erhoben und es niemanden gab, der die Unruhen militärisch beenden konnte. Nur durch den Einsatz überlegener Gewalt und durch politische Zugeständnisse an die Liberalen gelang es der Autokratie am Ende, die Opposition zu spalten und die moderaten Kritiker der Autokratie aus der Revolutionsfront herauszulösen.
Im Ersten Weltkrieg, als Russland in Chaos und Anarchie versank, Millionen Menschen auf der Flucht waren und am Ende auch die bewaffnete Ordnungsmacht zerfiel, blieben dem Regime keine Auswege mehr. Die Agonie der Autokratie dauerte nur wenige Tage, sie verschwand, und es schien, als hätte es sie niemals gegeben.
Die revolutionäre Geschehen des Jahres 1917 brachte sich aus einer Vielzahl von Revolten und Aufständen hervor. Die liberalen Eliten rebellierten gegen die autokratische Ordnung, Arbeiter und Bauern gegen Gutsbesitzer, Fabrikanten und die Gesellschaft von Besitz und Bildung, nationale und religiöse Minderheiten gegen Diskriminierung und Marginalisierung. Das kam nicht zuletzt im Nebeneinander von Provisorischer Regierung und Arbeiter- und Soldatenrat in Petrograd, von Stadtparlamenten und Räten in der Provinz zum Ausdruck, die den Kulturdualismus des alten Russland repräsentierten. Niemand konnte sich noch auf die Armee als bewaffneten Arm des Staates verlassen. Denn im Gegensatz zur ersten russischen Revolution widersetzten sich die Bauern-Soldaten nun der militärischen Disziplin. Sie töteten ihre Offiziere und verließen die Armee, um sich an der Verteilung des Gutslandes zu beteiligen. Die Provisorische Regierung konnte die Zersetzung der staatlichen Ordnung nicht abwenden, weil sie nichts unternahm, um das Gewaltmonopol des Staates wiederherzustellen. Sie hielt den Zerfall nicht auf, sondern beglaubigte ihn, indem sie die Revolution ins Recht setzte.
Das war die Stunde der Bolschewiki. Wie aber kam es, dass ausgerechnet sie im Chaos der Revolutionswirren den Sieg davontrugen? Sie vertraten ein Programm, dessen Sinn kaum jemand verstand, ihre Partei hatte nur wenige Mitglieder, ihre Führung kam aus der Emigration. Kaum jemand kannte sie, als die Revolution begann. Konstantin Tepluchow, ein liberaler Finanzbeamter aus Tscheljabinsk, vertraute seinem Tagebuch im April 1917 an, aus dem Exil seien Mitglieder einer "neuen Partei" mit dem Zug in Petrograd eingetroffen.
Am Anfang war der Krieg. Denn die Revolution wurde durch den Krieg ermöglicht, und sie vollzog sich unter den Bedingungen des Krieges. Die Bolschewiki verstanden es, sich in diesem Ermöglichungsraum auf angemessene Weise zu bewegen. Es konnte nur obsiegen, wer die Sprache der Straße sprach und wer bereit war, Waffen rücksichtslos einzusetzen. Das war gemeint, als Lenin davon sprach, die Macht habe auf der Straße gelegen und man habe sie nur aufheben müssen. Lenins Konkurrenten aber hatten diese Wahrheit nicht begriffen. Als die Provisorische Regierung die Reste der alten Ordnung per Dekret auflöste, beraubte sie sich aller noch verbliebenen Machtressourcen. Noch im Sommer 1917 vertrauten die Liberalen und gemäßigten Sozialisten in der Regierung auf Gesetze und Verfassungen, als die Wirklichkeit sie bereits außer Kraft gesetzt hatte. Sie bestanden darauf, dass nur eine verfassunggebende Versammlung sie dazu legitimieren könne, das Land an die Bauern zu verteilen, die Betriebe in die Hände der Arbeiter zu übergeben und Frieden mit den Mittelmächten zu schließen. Und obwohl sich die nationale Peripherie bereits verselbständigt hatte, sollte über die Zukunft des Vielvölkerreiches nicht in den Regionen, sondern im zukünftigen Parlament entschieden werden. Nur hatte die Revolution der Straße all diese Fragen bereits entschieden.
Die Provisorische Regierung regierte nicht, sie verwaltete allenfalls die Vorzimmer ihrer Minister, während die eigentliche Macht von der Gewalt auf den Straßen ausging, die niemand, nicht einmal die Revolutionäre in den Sowjets, unter Kontrolle bringen konnte. Die Menschewiki und Sozialrevolutionäre traten im Sommer 1917 in die Provisorische Regierung ein und verloren damit ihren ohnehin geringen Einfluss auf das Geschehen. Ihre revolutionäre Rhetorik widersprach ihrem Handeln, das sich auf Verfassungen und Gesetze berief. Damit untergruben sie selbst ihre Autorität.
Einmal an der Macht, standen die Bolschewiki vor den gleichen Schwierigkeiten wie ihre Vorgänger. Sie beanspruchten die Macht, aber sie besaßen sie nicht. Denn den Bauern war es gleichgültig, wer die Bolschewiki waren und wonach ihnen der Sinn stand, solange diese es ihnen erlaubten, Land zu nehmen und Gutsbesitzer zu vertreiben. "Kaum strecken sich aber die kommunistischen Tatzen nach dem Dorf aus, wird der Bauer unangenehm", kommentierte die Lyrikerin Sinaida Hippius das, was im zweiten Jahr der Revolution geschah.
Während des Bürgerkrieges, als sich der Widerstand gegen die Herrschaft der Roten auch militärisch organisierte, standen die Bolschewiki mit dem Rücken zur Wand. Sie waren von Feinden umgeben und wurden der Gewalt nicht mehr Herr, die sie ausgelöst hatten. Und doch entschieden sie den Bürgerkrieg für sich. Wie konnten die Bolschewiki siegen? Warum kam es zu keiner erfolgreichen Erhebung gegen die neuen Machthaber? Hippius gab eine psychologische Antwort: Die Bolschewiki hätten nur überleben können, weil sie angesichts der "schwarzen Unbeweglichkeit" des Volkes, der Apathie der Hungernden und Elenden, jeden Widerstand mühelos hätten brechen können.
Niemand wusste besser als die Bolschewiki selbst, dass ihre Herrschaft ohne Zustimmung auf unsicherem Grund stand. Sie fürchteten das Volk nicht weniger als ihre Vorgänger in der zarischen Regierung, aber sie hatten weniger Skrupel, sich gegen alle Widerstände mit exzessiver Gewalt durchzusetzen. Man könnte auch sagen, dass es ihre Schwäche war, die sie dazu verleitete, Gewalt immerzu und überall einzusetzen. Nur unter den Bedingungen des Krieges konnte eine solche Strategie erfolgreich sein, weil sie den Handlungsgesetzen des Krieges entsprach. Der Krieg war die Lebensform der Bolschewiki. Hätte es ihn nicht gegeben, hätten sie ihn erklären müssen, um zu tun, was sie tun mussten. Denn der Bürgerkrieg war ein Vernichtungskrieg, in dem nur siegen konnte, wer den Gegner vollständig auslöschte. So sahen es nicht nur Lenin und Trotzki, die sich mit der militärischen Niederlage der Weißen und der Bauern nicht zufrieden gaben. In ihrer Skrupellosigkeit und Gewalttätigkeit, ihrer Bereitschaft, der Vernichtungsrhetorik Taten folgen zu lassen, waren die Bolschewiki allen Akteuren des Bürgerkrieges überlegen. Ihr Sieg war ein Vernichtungssieg, der verbrannte Erde, materielle und seelische Verwüstungen hinterließ. Sie gewannen nicht, weil sie über das attraktivere politische Programm geboten, sondern weil sie ihren Widersachern als Gewalttäter überlegen waren und weil sich die hungernde und abgestumpfte Bevölkerung apathisch dem Wahnsinn hingab. "Wir leben", schreibt Hippius, "schon so lange im Strom der offiziellen Worte erdrücken', ersticken', vernichten', zermalmen', ausrotten', im Blut ertränken', ins Grab bringen' usw., daß die alltägliche Wiederholung unflätiger Schimpfworte auf uns keinen Eindruck mehr macht."
Die Bolschewiki profitierten von den Fehlern ihrer Gegner. Die weiße Bewegung war uneinig und zerstritten, ihre Generäle operierten von den multiethnischen Rändern des Imperiums und vertraten die Auffassung, das eine und unteilbare Russland müsse als Zentralstaat wiedererstehen. Den Bauern hatten sie keine attraktive Alternative anzubieten. Solange die Bauern fürchten mussten, dass die Gutsbesitzer zurückkommen könnten, zogen sie die Roten den Weißen vor. Erst nach der Niederlage der Weißen erhoben sich die Bauern gegen die Kommunisten und ihr Terrorregime, denn nun mussten sie die Wiederherstellung der alten Ordnung nicht mehr fürchten. So stand es auch um die nationalen Minderheiten, die sich in den entscheidenden Auseinandersetzungen des Bürgerkrieges auf die Seite der Roten schlugen oder sich neutral verhielten und den Bolschewiki erst im letzten Jahr des Bürgerkrieges entschlossenen Widerstand entgegensetzten.
Erst nach dem Ende des Krieges befassten sich die bolschewistischen Führer mit der Frage, wie sie das Imperium verstaatlichen und unter ihre Herrschaft bringen sollten. Mit Gewalt allein konnte dieser Kraftakt nicht gelingen, denn es kam den neuen Machthabern darauf an, die Bevölkerung nicht nur zu unterwerfen, sondern sie auch zu mobilisieren, sie für sich zu gewinnen und "alte" in "neue Menschen" zu verwandeln. Zu diesem Zweck mussten sie die Untertanen in ihr Ordnungssystem integrieren und sich ihrer Loyalität versichern. Das geschah 1921, als die Regierung den freien Handel wieder zuließ, berechenbare Steuern einführte, kleinere Industriebetriebe privatisierte und den Terror gegen die Bauern vorläufig einstellte.
Zwei Jahre später kam es zur Neuvermessung und Neustrukturierung des Imperiums, das in nationale Republiken und Gebiete eingeteilt wurde. Die Bolschewiki indigenisierten das Vielvölkerreich, indem sie die einheimischen kommunistischen Eliten am Aufbau des neuen Staates beteiligten und sich auf diese Weise Loyalität erkauften. Aber diese Phase der friedlichen Staatsbildung war nur von kurzer Dauer. Am Ende der 1920er Jahre gelangten Stalin und seine Anhänger in der Parteiführung zu der Einsicht, dass die Neue Ökonomische Politik (NEP) und die Indigenisierung des Imperiums den Kontrollbedürfnissen des Zentrums nicht länger entsprach. Sie hatten die Eigenständigkeit der Bauern und der nationalen Republiken gestärkt und das revolutionäre Umgestaltungsprogramm auf unbestimmte Zeit verschoben.
Die bolschewistische Vision vom neuen Staat konnte nur durch den Einsatz von Gewalt und Terror durchgesetzt werden. So sahen es Stalin und seine Gefolgsleute, und sie griffen auf die Gewalttechniken des Bürgerkrieges zurück, um den vermeintlichen Widerstand der Bauern gegen das Projekt des Sozialismus niederzuwerfen.
Die Bolschewiki zerrissen die dünne Schicht der Zivilisation, die sich in nur einem Jahrhundert über das alte Russland gelegt hatte, sie vernichteten das europäische Russland, seine Eliten und Wertvorstellungen und ersetzten sie durch eine barbarische und maßlose Gewaltherrschaft. Miljukow fand dafür bereits unmittelbar nach dem Ende des Bürgerkrieges eine einleuchtende Erklärung. Die Revolution sei nicht durch den Import europäischer und sozialistischer Ideen in die Maßlosigkeit getrieben worden. "Denn bei allen der in dieser Revolution aufgestellten ultramodernen Programme, Etiketten und Losungen eröffnete die Wirklichkeit der russischen Revolution ihre tiefe und untrennbare Verbindung mit der ganzen russischen Vergangenheit. Wie eine mächtige geologische Umwälzung hat sie die dünne Decke der obersten kulturellen Schichten abgeworfen und die lange unter ihnen verborgenen Schichten hervorgebracht (...). Lenin und Trotzki sind Pugatschow, Rasin, Bolotnikow, dem 18. und 17. Jahrhundert unserer Geschichte, viel näher als den letzten Ideen des europäischen Anarchosyndikalismus."
Dr. phil., geb. 1961; Professor für Geschichte Osteuropas an der Humboldt-Universität zu Berlin, Unter den Linden 6, 10099 Berlin.
E-Mail: E-Mail Link: BaberowskiJ@geschichte.hu-berlin.de