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Migrantenkinder, ihr Leserisiko und ihre Medienumgebung

Ben Bachmair

/ 15 Minuten zu lesen

Das Beispiel des elfjährigen Erkan zeigt, welche Lesekompetenz im Medienalltag erworben werden und wie Schulen daran anknüpfen können.

Einleitung

Erkan, ein 11 Jahre alter Türke, ist in der Bundesrepublik Deutschland geboren und aufgewachsen. Seine Schulkarriere ist weitgehend gescheitert. Seine Eltern sprechen sehr gut deutsch, unterstützen auch alle schulbezogenen Aktivitäten ihrer Kinder; so hatten sie etwa bei der Wohnungswahl die Schule im Blick. Dennoch ist es nicht gelungen, ein Bildungsbündnis mit der Schule zu knüpfen: Erkan soll in die Sonderschule wechseln, weil er in der Regelschule nicht mehr mitkommt. Er ist vermutlich nie in das deutsche Bildungssystem "eingestiegen".


Er lässt auch keine Alternative dazu aufkommen, etwas anderes sein zu wollen als sein Großvater, nämlich ein Türke. So verwundert es nicht, dass er kein deutsches Wort mit einem redet, wenn man bei ihm zu Hause im Wohnzimmer sitzt. Er konzentriert sich auf den Fernseher. Es läuft Formel I, das Autorennen auf RTL - eine der von Jungen seines Alters favorisierten TV-Sendungen. Als sein Vater von der Arbeit nach Hause kommt, fasst Erkan in Windeseile die Ergebnisse des Rennens zusammen. Er hat bei Formel I offensichtlich genau zugesehen und sich die Ergebnislisten gemerkt, die er für seinen Vater versprachlicht und interpretiert, selbstverständlich auf Deutsch.

Der Bildungsrahmen für Lesen und Medien

Wie kommt es zu diesem merkwürdigen Widerspruch: Im Alltag und im Rahmen von Medien funktioniert das Lesen, in der Schule scheitert ein Kind wie Erkan daran. Lesen und Schreiben sind Schlüsselkompetenzen für alle Schulleistungen, für eine erfolgreiche Berufsausbildung und spätere Berufstätigkeit. Eine aktuelle Bestandsaufnahme zur Lesesozialisation fasst die heute bekannten wesentlichen Bedingungen für eine erfolgreiche Lesesozialisation zusammen. Eine davon ist die soziale Erwünschtheit. Die renommierte schweizer Fachfrau für Mediensozialisation schreibt:

"Während das Lesen heutzutage im Bewusstsein bildungsnaher Schichten einen Höchststand an sozialer Erwünschtheit erreicht hat, sind kritische Stimmen gegenüber den neuen Medien in unserer Zeit fester Bestandteil der Debatte um Bildung und Kultur. Die Kritik hebt auf einen so genannt oberflächlichen und ausufernden Medienkonsum ab und weiter auf den Verfall der bekannten und vertrauten Sozialformen, sie interessiert sich kaum dafür, welche neuen Zugänge zu Texten und Informationen und welche spezifischen Kompetenzen im Umgang mit neuen Medien zu gewinnen sind."

Lehrerinnen und Lehrer sind bildungsbewusst, sie nehmen publikumswirksame Debatten wie die des Niedersächsischen kriminologischen Forschungsinstitutes und deren Ergebnisse - türkische Jungen sehen zu viel fern, spielen gehäuft Computerspiele undweisen ein hohes Gewaltpotenzial auf - wahr, haben jedoch in der Regel keinen offenen oder geschulten Blick für die spezifische Lesekompetenz eines Jungen aus einer türkischen Familie. Zudem haben sich das Medienangebot und seine Nutzung in den vergangenen Jahren stark gewandelt, und zwar in Richtung multimedialer Systemangebote, die zweckorientiertes Lesen erforderlich machen. Untersuchungen wie die des Schweizers Heinz Bonfadelli von 1992 zeigen, dass viele lesende Kinder und Jugendliche keineswegs fernsehabstinent sind, dass sie das Fernsehen gezielt einsetzen, spezielle Sendungen oder Sendungsteile auswählen und in ihren Wissens- und Erfahrungsschatz einbinden. Multimedia verlangt zunehmend mehr an medialen Integrationsleistungen.

Zudem durchdringen sich in unserer Kultur Mündlichkeit und Schriftlichkeit (Parlando-Phänomen). Zwar ist die Lust am Lesen immer noch sehr wichtig, aber sie hat doch einen erheblichen Wandel erfahren. Sie konzentriert sich heute nicht mehr selbstverständlich auf das Buch, sondern darauf, was zum individuell gelebten Alltag passt. Für Erkan sind das Autorennen und Sport - und damit der Bildschirm und die passenden gängigen Druckmedien, die Kommunikationsstoff liefern. Das Stichwort hierzu lautet Anschlusskommunikation. Ein Buch wie Harry Potter wird dann erfolgreich, wenn man sich darüber mit den Freunden unterhalten kann. Wenn die Buchhandlung zudem den Event liefert, sich mitternachts verkleidet zu treffen und die stark beworbene neue Auflage mit den vielen anderen Fans in den Händen zu halten, dann wird gelesen. Wie die erwähnte schweizer Studie zeigt, tun sich Migrantenkinder und -jugendliche schwer, mit Erwachsenen und in deutscher Sprache diese Anschlusskommunikation zu führen. Sie bleiben mit ihrer Mediennutzung vor allem in ihrer Freundesgruppe allein - und auf Deutsch eher sprachlos.

Die deutsche Leseforscherin Bettina Hurrelmann weist auf die soziale Einbindung durch das Lesen hin. Lesesozialisation ist immer Teil des sozialen Systems, in dem die Kinder aufwachsen. Dabei spielt es eine große Rolle, was in der Familie gelesen und geschätzt wird: die abonnierte Zeitung, das kostenlose Werbeblatt mit Lokalinformationen, Bücher, Magazine zu Freizeitaktivitäten usw. Wie die schweizer Leseforscherin Andrea Bertschi-Kaufmann betont, entwickelt sich Lesen im komplexen sozialen System der Familie mit einem spezifischen sozioökonomischen Status, mit unterschiedlicher Bildungsnähe, typischem Umgang mit Büchern oder anderen gedruckten Texten oder Multimedia-Angeboten, je nach Erziehungsstil und Familienform usw.

Bei Erkan stehen Mündlichkeit, also die Unterhaltung, und Fernsehen im Vordergrund. Anstelle von Büchern gibt es zu Hause DVDs. In Abhängigkeit von der spezifischen Sozialisation der Kinder, hier des Jungen Erkan, muss die Schule erst die Motivation zum Lesen wecken - wenigstens für einen Teil der Bandbreite der heutige vorfindlichen Texte -, bevor bildungstypische Texte wie etwa geschlossene Erzählungen überhaupt eine Rolle spielen können. Das bedeutet beispielsweise, die Verteiler lokaler Werbezeitungen zu bitten, diese auch vor der Schultür abzulegen.

So wie Mündlichkeit und Schriftlichkeit beim erfolgreichen Lesen und auch Schreiben zusammenwachsen, so spielt auch die medientypische Art und Weise der Nutzung beim Lesen eine Rolle. In Familien wie der von Erkan haben PC und Internet einen wesentlich höheren Stellenwert als Bücher. Hier tritt jedoch eine zusätzliche Schwierigkeit auf. Die Studie zum Mediengebrauch schweizer Migrantenkinder, deren Ergebnisse weiter unten zusammengefasst werden, verweist auf eine "Unwucht" beim Internetzugang dieser Gruppe. Zwar ist die Ausstattung der Zimmer von Migrantenkindern mit elektronischen Medien hoch - sogar höher als die von schweizer Kindern -, aber es gibt eine digitale Trennung, einen digital divide: Die Kinder von Migranten verfügen vielfach nicht über einen Internetzugang, und das bei zugleich geringerer Ausstattung mit Printmedien im Verhältnis zu den schweizer Familien.

Zudem ist das Fernsehen mit seinen zahllosen Programmen das Leitmedium. Zwischen Programmen mit unterschiedlichen Genres hin und her zu springen, ist eine Medienkompetenz, die im unmittelbaren Umfeld Erkans niemand auch nur andeutungsweise negativ bewertet. Es sei an dieser Stelle angemerkt, dass die Kompetenz des Zappens oder Switchens eine wesentliche Voraussetzung für das Surfen im Internet ist. "Wie wird Lesen zum Erfolg?":

Erstens: Die "literalen Sozialisationsfelder" Schule und Familie müssen zusammenpassen: "Die lebendige literale Praxis im familiären Umfeld unterstützt die literale Praxis und Motivation in der Schule ganz eindeutig. Die motivierte literale Praxis in der Schule wirkt demgegenüber kaum oder nur sehr bedingt auf die literale Praxis in einem lese- und schreibabstinenten familiären Umfeld."

Zweitens: Das schulische Lesen reicht zwar als Anregung für eine Ausbildung "vergleichsweise weniger anspruchsvoller literaler Kompetenzen". "Für die Entwicklung komplexerer literaler Kompetenzen ist die motivierte außerschulische literale Praxis unverzichtbar."

Drittens: Neben der Motivation ist die Lesepraxis im Feld der alltäglichen Mediennutzung förderlich, um vom Lesen auch zum Schreiben zu kommen.

Entscheidend ist also das Zusammenspiel von Schule und Familie, das die alltägliche Lesepraxis in der jeweiligen Alltagskultur akzeptiert und fördert, um von der Lesemotivation für einfache Texte in Medienumgebungen wie Jugendmagazinen zu anspruchsvolleren geschlossen Texten zu kommen.

Risiken auf dem schulischen Weg zum kulturellen Kapital des Lesens

Bei der heute in der Schule vermittelten Lesekompetenz gibt es eine Risikogruppe, die bei diesem Bildungsprozess außen vor bleibt. Es sind Jungen aus Migrantenfamilien, aus Familien mit einfacher Bildung und aus dem unteren sozialen Viertel.

Die 15-jährigen Schülerinnen und Schüler deutscher Schulen schneiden bei den Schulleistungen im internationalen Vergleich (Ergebnisse der internationalen Schulleistungsstudie PISA) unterdurchschnittlich gut ab. Dieses Ergebnis wurde in den vergangenen Jahren breit diskutiert. Was mich als Pädagogen daran bedrückt, ist nicht in erster Linie das festgestellte Mittelmaß, sondern die Zusammensetzung der Gruppe mit geringer oder schlechter Lesekompetenz. Ein Fazit der PISA-Studie lautet: "Deutschland gehört zu den Staaten, in denen die potenzielle Risikogruppe schwacher und extrem schwacher Leser relativ groß ist. Ihr Anteil an der Alterskohorte beträgt in Deutschland rund 23 %."

"Risikofaktoren, die die Wahrscheinlichkeit der Zugehörigkeit zu dieser Gruppe erhöhen", sind die "Stellung der Familie im unteren Viertel der Sozialstruktur, ein Bildungsniveau der Familie mit maximal einem Sekundarstufe-I-Abschluss ohne Berufsausbildung, die Zuwanderung mindestens eines Elternteils und schließlich - ein Junge zu sein."

Dieses Bündel von Risikofaktoren ist ein hausgemachtes Schulproblem. Die Ursache für Defizite in der Lesekompetenz ist also nicht nur die Konsum- und Mediensituation der heutigen Kindergeneration. Es geht auch um die Frage, wie institutionalisierte Bildung mit den diversen Alltagskulturen in einer auf Individualisierung setzenden Gesellschaft korrespondiert.

Woraus und was Menschen lesen, macht die feinen Unterschiede dafür aus, ist es doch verantwortlich dafür, wie nahe sie an das Lesen als eine Schlüsselkompetenz mit sozialer Prägekraft herankommen. Möglicherweise verschieben sich aber jetzt die Gewichte langsam zugunsten Erkans und seiner Fähigkeit, Listen vom Bildschirm zu lesen: PISA hat mit der Operationalisierung von Lesekompetenz der Schule auch dringend nahegelegt, diskontinuierliche Texte didaktisch ernst zu nehmen und in den Lesekatalog der Schule aufzunehmen. Damit gelangen auch andere Trägermedien als die des gedruckten Textes in den didaktischen Horizont.

Erkans Schulprobleme sind kein Einzelfall. Sie haben etwas mit der Bildungsbeteiligung und der sozialen Lage der Familie eines Kindes bzw. Jugendlichen zu tun. Die PISA-Daten legen nahe, den "Löwenanteil der ungleichen Bildungsbeteiligung" dem "gemeinsamen Einfluss von kognitiven Grundfähigkeiten, Lesekompetenz und Sozialschichtzugehörigkeit" zuzuschreiben. In diesem Gefüge hat Erkan schlechte Karten, insbesondere weil die Bildungsbeteiligung für ein Migrationskind von dessen Sprachkompetenz abhängt: "Für Kinder aus Zuwandererfamilien ist die Sprachkompetenz die entscheidende Hürde in ihrer Bildungskarriere. Bei gleicher Lesekompetenz machen Kinder aus Zuwandererfamilien vom Übergang in einen mittleren oder höheren Bildungsgang tendenziell häufiger Gebrauch als die Altersgleichen, die aus deutschsprachigen Familien stammen."

Die Sprache ist das "kulturelle Kapital", das für eine aufwärtsführende Bildungskarriere unabdingbar ist. Das ist alles andere als eine neue Erkenntnis, hat doch der französische Kultursoziologe Pierre Bourdieu diesen Zusammenhang schon in den 1960er Jahren empirisch aufgezeigt. In den 1970er Jahren war sich die Pädagogik der Schulrelevanz der vom Briten Basil Bernstein beschriebenen elaborierten und restringierten Codes der Sprache wohl bewusst.

In dieser Gemengelage gibt es, wie gesagt, feine Unterschiede. So beschäftigt sich Erkan zwar kompetent mit einer kleinen Auswahl diskontinuierlicher Texte, jedoch nicht mit Gedrucktem. Noch wichtiger ist, dass diese Texte nicht die Darstellungsform des Buches haben. Dem Buch wird Erkan mit viel Abwehr begegnen. Wenn der Bildschirm mit dem Unterhaltungsprogramm des Fernsehens oder der Bildschirm der Spielkonsole nicht kompatibel mit der Schule sind, dann wird auch diese schwache Verbindungsbrücke zum Lesen diskontinuierlicher Textewegbrechen. Mediale Alltagskompetenz auch in der Schule zuzulassen und in den Erwerb der Lesekompetenz einzubinden - dem kommt vor diesem Hintergrund große Bedeutung zu. Lesen außerhalb der Schule trägt erheblich zur "Habitualisierung der Lesetätigkeit" und zum "Erwerb von Leseexpertise" bei, weshalb dieselbstverständliche Lesekompetenz und nichtdidaktische Leseförderung des Alltagslebens einerseits wichtige kulturelle Ressource sein kann, andererseits die Bildungsbeteiligung erheblich zu stören in der Lage ist. Wichtig wird hier sein, Texte in den verschiedenen medialen Darstellungsformen in die Förderung der Lesekompetenz aufzunehmen. Diskontinuierliche Texte in die Prüfung schulischer Lesekompetenz einzubeziehen, kann helfen, einen der feinen kulturellen Unterschiede in der alltäglichen Lesepraxis von Kindern und Jugendlichen zu verringern. Die heute üblichen medialen Darstellungsformen von Texten, vom Fernsehbildschirm bis zum Internet, neben den gedruckten Text zu stellen, fällt den mit dem Buch professionalisierten Pädagoginnen und Pädagogen sicher schwer. Die persönlich erworbene und geschätzte eigene Literalität zu relativieren, ist sicher auch kein einfacher Prozess.

Ressourcen des Alltagslebens

Den Weg zum Lesen in der Schule über ein Unterhaltungsmedium und dessen Formate vorzubereiten, war der Weg, den die Sesame Street in den USA vor bald 40 Jahren beschritt. Heute stellt in Deutschland eigentlich niemand die Frage, welche Lernchance beispielsweise Handy plus MP3-Player in sich tragen. Alltagsmedienkompetenz ist hierzu das Schlüsselwort. Vor etwa zwei Jahren wollten Kinder und Jugendliche nicht nur ihr persönliches Handy, sondern dazu auch den eigenen Klingelton haben, nicht zuletzt, weil dafür heftig geworben wurde. Wie nun mit den attraktiven Werbebotschaften für Klingeltöne umgehen?

Wenn die Kinder und Jugendlichen (oder deren Eltern) nicht durch die über das Handy per SMS abgeschlossenen Verträge finanziell bluten wollen, dann kommen sie nicht umhin, das Kleingedruckte zu lesen oder andere differenzierte Informationsstrategien zumeist in Kooperation mit der Freundesclique zu nutzen. Dafür ist Lesen nach der Definition der internationalen Leseleistungsstudie PISA notwendig. Ebensogut ist es möglich, Erkans Fernseh- und Genrekompetenz als Kompetenz nach PISA einzustufen und festzustellen, in welchem Maße Erkan in einem diskontinuierlichen Text Informationen ermitteln und interpretieren kann.

In einer gerade veröffentlichte Studie des renommierten schweizer Soziologen, Medien- und Bildungsforschers Heinz Bonfadelli und Priska Bucher wird die Mediennutzung schweizer Jugendlicher mit und ohne Migrationhintergrund untersucht, nicht zuletzt mit dem Ziel, die Beziehung zu Bildungserfolgen zu klären. Wie lauten die wesentlichen Botschaften dieser Studie? "Jugendliche sind vor allem Jugendliche, nicht vorrangig Schweizer, eingewanderte Türken usw." Sie haben die für ihr Alter typischen Vorlieben. Es gibt jedoch auch Unterschiede, die weniger mit den Medieninhalten als dem Umgang mit Medien zu tun haben, mit der "Mediennutzungssprache sowie (...) der Anschlusskommunikation".

Die Daten sind hilfreich, weil sie kulturell gerahmt und aktuell sind. 1 468 12- bis 16-jährige Schülerinnen und Schüler aus 88 Schulklassen wurden differenziert nach ihrer vielfältigen Mediennutzung im sozialen und kulturellen Umfeld sowie zu ihrer "kulturellen Orientierung" befragt. Die Studie zeichnet ein recht differenziertes Bild zu folgenden Bereichen, wobei nicht nur Vielseher und starke Mediennutzer eine Rolle spielen:

  • "Medienzugang, Mediennutzung, Freizeitaktivitäten" einschließlich der Mediennutzungssprache;

  • "Soziales Umfeld: Mediale und nichtmediale Interaktionen in Familie und Peergroup";

  • kulturelle Orientierung: Verhältnis zur Herkunftskultur und zur schweizer Kultur;

  • Persönliche Werte und Einstellungen wie Zukunftspläne oder politische Einstellungen.

    34 Prozent dieser Kinder und Jugendlichen weisen einen typischen schweizer Lebenszusammenhang auf, 66 Prozent haben einen Migrationshintergrund. Dabei handelt es sich um Kinder und Jugendliche, von denen mindestens ein Elternteil in einem anderen Land als der Schweiz (Ex-Jugoslawien, Türkei und Italien) geboren und aufgewachsen ist. Geringere formelle und informelle Bildungschancen:

    Auch in der Schweiz ist es für Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund schwieriger als für die Stammbevölkerung, zu Schulerfolg und zum Abitur zu gelangen. Wenn man Bildungschancen weiter sieht als nur den Bereich der Schule, wenn man die beiläufigen, informellen Lernprozesse von Kindern und Jugendlichen betrachtet, dann spielt dabei das soziale Umfeld eine wichtige Rolle. Hier zeigt sich, dass Migrantenkinder bzw. -jugendliche im Nachteil sind. Sie reden mit ihren Eltern weniger über das, was sie gelesen haben, als die schweizer Kinder. Auch für den Bereich der neuen Medien haben sie - anders als die gleichaltrigen Schweizer, deren Väter auf diesem Gebiet kompetente Gesprächspartner sind - kaum die Möglichkeit des Austausches. Mit den Gleichaltrigen reden die Migrantenkinder jedoch in gleichem Maße wie die gleichaltrigen Schweizer. Weniger Printmedien, mehr elektronische Medien und ein "digital divide":

    In Migrantenhaushalten gibt es weniger Printmedien. Stattdessen stehen den Kindern mehr elektronische Medien einschließlich eines PCs und Internetzuganges zur Verfügung. Es gibt allerdings - wie oben schon erwähnt - innerhalb von Migrantenfamilien eine deutliche Trennung zwischen solchen, die keinen PC und Internetzugang haben und solchen, in denen die Kinder mehr oder weniger selbstständig darüber verfügen dürfen. Medien-Zeitbudget und genutzte Medien- Inhalte:

    Jugendliche mit Migrationshintergrund hören deutlich seltener und weniger lang Radio, verbringen jedoch mehr Zeit vor dem Fernseher. Migrantenkinder sehen mehr "Kurzinformationen auf Privatsendern" als Schweizer Kinder.

    "Alle Schüler lesen im Schnitt 1 Stunde 30 Minuten Zeitung pro Woche. Schweizer Schülerinnen und Schüler mit Migrationhintergrund unterscheiden sich in der Zeit, in der sie lesen nicht, jedoch bei dem, was sie lesen. Die Schüler mit Migationshintergrund lesen nämlich wesentlich mehr Gratiszeitungen. Schweizer Schüler lesen pro Woche mehr Bücher; schweizer Schüler 3 Stunden 10 Minuten, Migranten im Schnitt 2 Stunden 40 Minuten, wobei Kinder und Jugendliche mit türkischem Hintergrund wöchentlich fast so lange lesen wie die mit schweizer Eltern, nämlich im Schnitt 3 Stunden. In den schweizer Haushalten gibt es häufiger große Tageszeitungen, Regional- und Lokalzeitungen gibt es gleich häufig in schweizer und Migrantenhaushalten. Nur 9 % der Migrantenhaushalte haben Zeitungen in ihrer Muttersprache." Mediennutzungssprache:

    Printmedien werden in deutscher Sprache genutzt, TV dagegen von bis zu 50 % der Migrantenkinder auch in der Herkunftssprache. Kulturelle Orientierung:

    Eine der großen Stärken der Untersuchung ist die Frage nach der "kulturellen Orientierung" der Migrantenfamilien. Es ist nicht nur wichtig, welche Unterschiede oder Gemeinsamkeiten bei Medienausstattung und Mediennutzung vorliegen. Wesentlich ist auch deren Einbettung in kulturelle Wünsche und Hoffnungen. So gibt es Familien mit einer Orientierung hin zu ihrer schweizer Umgebung oder zu ihrem Herkunftsland. Es gibt aber auch Familien, die sich als "Dualisten" oder "kulturell Ungebunde" fühlen. Es zeigen sich Unterschiede zwischen den Generationen und zwischen den Migranten aus unterschiedlichen Herkunftsländern (Vgl. Tabelle der PDF-Version).

    Die Differenz in der kulturellen Orientierung ist bei Migrantenfamilien und ihren Kindern recht groß, was wir meist nicht bewusst wahrnehmen: "Der Anteil an Schweiz-Orientierten ist mit 41 % über alle ausgewerteten Nationalitäten-Gruppen hinweg sehr stabil und macht jeweils die größte Gruppe aus."

    Es liegt auf der Hand, dass die kulturelle Orientierung auf die Sprache der Mediennutzung ausstrahlt. Mit der Ausrichtung auf die neue kulturelle Umgebung steigt die Mediennutzung in deutscher Sprache. Zudem gibt es eine Konvergenz bei der Mediennutzung hin zur schweizer Umgebung. Trotzdem statten auch die an der Schweiz Orientierten wie alle anderen Migrantenfamilien die Kinderzimmer deutlich stärker mit elektronischen Medien aus. Recht unabhängig von der kulturellen Orientierung bevorzugen Kinder und Jugendliche aus Migrantenfamilien Fernsehen, PC, Internet und Radio, wobei der oben erwähnte digital divide zu beachten ist.

    Ein differenzierender Blick lohnt sich: Dualisten "lesen gar länger als die schweizer Jugendlichen und unterscheiden sich somit deutlich von Herkunfts- oder Schweiz-Orientierten jugendlichen Migranten". Die Herkunftsorientierten dagegen lesen kaum.

    Einige pädagogische Anmerkungen



    Erkan hat sich sein Bildungsleben mit seiner kulturellen Orientierung an seinem türkischen Großvater reichlich kompliziert gemacht. So ist die klare kulturelle Orientierung seiner Eltern an der deutschen Sprache und der deutschen kulturellen Umgebung für ihn eher ein Stressfaktor und Ursache für emotionale Unordnung. Erkan bleibt in der deutschen Bildungswelt allein und fühlt sich wahrscheinlich auch so. Wie die schweizer Untersuchung deutlich macht, kann er in seinem Kinderzimmer eigenständig über elektronische Medien verfügen. Im Gegensatz zur Mehrzahl anderer Migrantenkinder hat er einen Vater, mit dem er seine Medienerlebnisse besprechen kann. Vater und Sohn haben ein gemeinsames Thema: Autos. Und diese Anschlusskommunikation läuft interessanterweise auf Deutsch.

    Es ist bedauerlich, dass keine Lehrerin und kein Lehrer das entdeckt haben. Vermutlich ist Erkan in seiner Bildungsbiographie vor allem auf jene Lehrer und Lehrerinnen gestoßen, für die das erzählende oder informierende Buch der Königsweg und das einzig wahre Ziel von Literalität sind. Deshalb bleibt es letztlich bei Erkan, selbst die Passung von Schul-Lesen und Familien-Lesen herzustellen, eine Passung, die die Lesesozialisationsforschung heute für so wichtig hält. Das kann und will er jedoch nicht. Hier schlägt die Unterausstattung von Migrantenfamilien mit Printmedien negativ zu Buche. Das gilt auch für jene Familien, die sich an der schweizer bzw. der deutschen Umgebung orientieren. Wenn zu Hause beispielsweise eine Zeitung verfügbar ist, dann ist das eine kostenlose Werbezeitung.

    Lehrerinnen und Lehrer werden, wenn sie auch die Kinder von Migranten erreichen wollen, nicht umhinkommen, die Präferenzverschiebung von den Print- zu den elektronischen Medien in Migrationsfamilien anzuerkennen und die Werbeblätter als Leseanlass zu akzeptieren. Zudem werden sie lernen müssen, ernst zu nehmen, dass Migrantenkinder die Verfügungshoheit über die elektronischen Medien im Kinderzimmer besitzen, und dass in der Regel kein Erwachsener mit ihnen über ihre Medienerlebnisse spricht. Erkans Vater ist hier ein Ausnahme.

    Schule kann eine Brückenfunktion zum Medienkinderzimmer und zum gedruckten Text in der Schule übernehmen. Dafür bietet sich vor allem die Anschlusskommunikation zum Medienkonsum an. Auch Migrantenkinder reden über das, was sie in den Medien sehen und hören, jedoch tun sie das vor allem mit Gleichaltrigen. Diese Gespräche gehören in die Schule, und zwar als Teil der Motivationsphase für Recherchen oder um Geschichten weiter zu spinnen und von dort zum Schreiben zu kommen. Lehrer sind aufgefordert, die zugrunde liegenden Themen der Kinder und Jugendlichen aufzugreifen und die dazu passenden Bücher und Jugendmagazine in die Schulbibliothek zu stellen. Dann könnte Erkan zu Hause mit seinem Vater über Sport- und Autosendungen auf Deutsch sprechen und dieses Fachwissen und seine persönliche Expertenkompetenz beim Lesen von Ergebnislisten in der auf einen 11-jährigen zugeschnitten Fachliteratur der Schule vertiefen. Dieser Prozess beginnt mit Bildern und führt über Listen zu kürzeren geschlossenen Texten.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Andrea Bertschi-Kaufmann/Wassilis Kassis/Peter Sieber (Hrsg.), Mediennutzung und Schriftlernen, München 2004.

  2. Horst Heidtmann und Ulrike Bischof haben voreinigen Jahren festgestellt, dass Fernsehangebote wie Soaps zum Nachlesen auch gedruckter Bücher und Fotobände anregen.

  3. Vgl. A. Bertschi-Kaufmann u. a. (Anm. 1), S. 101.

  4. PISA steht für "Programme for International Student Assessment". Vgl. Deutsches PISA-Konsortium (Hrsg.), PISA 2000. Basiskompetenzen von Schülerinnen und Schülern im internationalen Vergleich, Opladen 2001 (im Folgenden zitiert als Band 1); Deutsches PISA-Konsortium (Hrsg.), PISA 2000 - die Länder der Bundesrepublik Deutschland im Vergleich, Opladen 2002 (im Folgenden zitiert als Band 2).

  5. PISA 2000, Band 1, S. 401.

  6. Ebd., S. 399 und S. 401.

  7. Vgl. Jürgen Baumert/Gundel Schümer, Familiäre Lebensverhältnisse, Bildungsbeteiligung und Kompetenzerwerb im nationalen Vergleich, in: PISA 2000 (Anm.4), S. 159 - 202.

  8. Vgl. Pisa 2000, Band 2, S. 168.

  9. J. Baumert/G. Schümer (Anm. 7), S. 199.

  10. Ebd., S. 174.

  11. Hierbei kommt folgender Begriff der Lesekompetenz zu Anwendung: "Lesen ist eine universelle Kulturtechnik und ermöglicht die Teilhabe am sozialen und kulturellen Leben einer modernen Gesellschaft. Eine erfolgreiche Lesesozialisation beginnt bereits im Vorschulalter in der Familie. Im Einklang mit der Forschungsliteratur wird Lesen in PISA als aktive Auseinandersetzung mit Texten gesehen. Die Verstehensleistung stellt eine Konstruktionsleistung des Lesers bzw. der Leserin dar, bei der der Inhalt des Textes aktiv mit bereits vorhandenem Wissen in Beziehung gesetzt wird." (PISA 2000, Band 1, S. 78).

  12. Vgl. Priska Bucher/Heinz Bonfadelli, Jugendliche mit und ohne Migrationshintergrund. Gemeinsamkeiten und Unterschiede im Umgang mit Medien, in: Lothar Mikos/Dagmar Hoffmann/Rainer Winter (Hrsg.), Mediennutzung, Identität und Identifikationen. Die Sozialisationsrelevanz der Medien im Selbstfindungsprozess von Jugendlichen, Weinheim-München 2007.

  13. Ebd., S. 244.

  14. Ebd., S. 238.

Dr. phil; geb. 1943; Professor für Erziehungswissenschaft und Medienpädagogik an der Universität Kassel; FB Erziehungswissenschaft/Humanwissenschaften, Nora-Platiel-Str. 5, 34109 Kassel.
E-Mail: E-Mail Link: bachmair@uni-kassel.de