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Das Amerikanisch-Russische Verhältnis | APuZ 49/1954 | bpb.de

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APuZ 49/1954 Das Amerikanisch-Russische Verhältnis Gedenkrede zum 20. Juli 1944

Das Amerikanisch-Russische Verhältnis

George F. Kennan

Mit Genehmigung der DEUTSCHEN VERLAGSANSTALT GMBH, Stuttgart, setzen wir in dieser Ausgabe mit dem zweiten Vortrag „Die Beziehungen während des ersten Weltkrieges" den Abdruck der Vorlesungen des ehemaligen amerikanischen Botschafters in Moskau, George F. Kennan über das Amerikanisch -Russische Verhältnis fort.

Die Beziehungen während des ersten Weltkrieges

George F. Kennan: Max Braubach: (S. 646) INHALT DIESER BEILAGE: Die Beziehungen während des ersten Weltkrieges Gedenkrede zum 20. Juli 1944

In der ersten Vorlesung haben wir die ameri-kanisch-russischen Beziehungen bis zum Ausbrudi der bolschewistischen Revolution im November 1917 verfolgt. Diese Revolution ereignete sich — wie Sie sich erinnern werden — genau ein Jahr vor dem Ende des ersten Weltkrieges. Das erste Jahr der sowjetrussisch-amerikanischen Beziehungen deckte sich also genau mit dem letzeen Kriegsjahr. Heute möchte ich etwas von den Vorgängen erzählen, die sich in diesem Jahre zwischen den Vereinigten Staaten und der neuen Sowjetmacht abspielten.

Drei wichtige Umstände unterlagen der Entwicklung der Beziehungen in dieser Zeit. Der erste — und für die Vereinigten Staaten der wichtigste — war die Tatsache, daß der Krieg eben noch im Gange und Amerika daran beteiligt war. Aufs engste damit verbunden war die weitere Tatsache, daß die Bolschewikenführer entschlossen waren, Rußland aus dem Kriege herauszulösen und Frieden mit den Deutschen zu schließen — womöglich einen Generalfrieden, aber wenn notwendig auch einen Separatfrieden.

Eine zweite bestimmende Tatsache war die ideologische Voreingenommenheit der Bolschewikenführer gegen die kapitalistische Welt im allgemeinen. Diese Voreingenommenheit fand ihren Ausdruck in einer herausfordernden und feindlichen Haltung seitens der Bolschewiki gegenüber allem, was mit dem Namen Amerikas verbunden war.

Der dritte Umstand, der 1917 und 1918 die Verhältnisse zwischen den beiden Systemen beeinflußte, war die Anwesenheit einer amerikanischen Botschaft und einer ziemlich großen amtlichen und nichtamtlichen amerikanischen Kolonie in der russischen Hauptstadt und in den größeren Provinzstädten. Eine ähnliche amtliche russische Kolonie befand sich zur Zeit der Revolution natürlich auch in den Vereinigten Staaten, spielte aber nachher längst nicht dieselbe Rolle. Ihre Mitglieder verhielten sich fast ausschließlich loyal zum alten Regime, wollten also von den Bolschewiki nichts wissen, ihnen nicht dienen und wurden auch von ihnen nicht verwendet. Da die Vereinigten Staaten das Bolschewikenregime nicht anerkannten, blieben diese russischen Beamten zum größten Teil außerhalb des Bereiches, in dem sich die amerikanisch-sowjetischen Beziehungen abspielten.

Der damalige amerikanische Botschafter in Petersburg, Mr. David Francis, war ein bemerkenswerter alter Herr. Er war kein Berufsdiplomat, sondern ein Politiker der damals an der Macht befindlichen demokratischen Partei. Er war früher nicht nur ein erfolgreicher Geschäftsmann. sondern auch Gouverneur des Staates Missouri, sechsmal Bürgermeister der Stadt St. Louis und 1899 Direktor der Weltausstellung in St. Louis gewesen. Auf seine schwere diplomatische Aufgabe in Petersburg durch keine Tätigkeit seines bisherigen Lebens vorbereitet, war er für seine Mitarbeiter und diplomatischen Kollegen ein Gegenstand wechselnder Heiterkeit und besorgter Unruhe. Seine Gewohnheiten und sein Geschmack waren die der robusten Gesellschaft des Missisippitales um die Jahrhundertwende. Er war als Bonvivant so berühmt, daß er in einer Erzählung des bekannten amerikanischen Schriftstellers O’Henry höchst persönlich als Beispiel eines sagenhaften Gourmets erscheint. In seiner Petersburger Zeit kaute er immer noch mit Vorliebe Tabak und soll als Hilfsmittel für dieses Vergnügen einen eleganten metallenen Spucknapf gehabt haben, den er überall mit sich herumtrug und dessen Deckel mit dem Fuß zu öffnen und zu schließen war. Seine aristokratischen Kollegen im Petersburger diplomatischen Korps waren manchmal darüber erstaunt — so wird wenigstens erzählt —, wie der Botschafter seine ohnehin energisch ausgedrückten Meinungen damit bekräftigte, daß er aus großer Entfernung akkurat in dieses Gefäß spuckte und als Finale dieser Vorstellung den Deckel lärmend zufallen ließ.

Die Mitglieder der amerikanischen Kolonie in Rußland gingen in ihren Anschauungen über die neue Sowjetmacht weit auseinander. Einige, wie der Moskauer Generalkonsul und der Propagandachef in Petersburg, wurden bald leidenschaftlich antibolschewistisch, zum Teil, weil sie in dem Irrtum befangen waren, die Bolschewiki seien bloß deutsche Agenten, zum Teil aber aus tieferen und besser fundierten Gründen. Diese Herren befürworteten ein scharfes Vorgehen ge-gen die Bolschewiki und eine energische Unterstützung der antibolschewistischen politischen Kräfte in Rußland. Der Chef der amerikanischen Rote-Kreuz-Delegation dagegen, ein energischer und in vieler Hinsicht bemerkenswerter Mann, Raymond Robins, geriet bald in persönlichen Kontakt mit den bolschewistischen Führern, traf oft mit Trotzki und später mit Lenin und anderen führenden Bolschewiki zusammen und überzeugte sich bald davon, daß es sich mit diesen Leuten vortrefflich zusammenarbeiten ließ. Um ihn gruppierten sich die wenigen anderen Amerikaner — vor allem der Militärattache —, die seinen Glauben an die Möglichkeit einer fruchtbaren Zusammenarbeit mit den russischen Kommunisten teilten. Auf diese Leute schienen die feindliche Haltung und die gehässige Propaganda der Bolschewiken keinen Eindruck zu machen. Von Anfang an gab es also eine gewisse politische Spannung innerhalb der Kolonie, die zu vielen scharfen Auseinandersetzungen führte.

Die erste Periode der sowjetisch-amerikanischen Beziehungen

Die Zeit von der Novemberrevolution 1917 bis zur Brest-Litowsker Krise Ende Februar 1918 kann man gut als eine erste Periode der sowjetisch-amerikanischen Beziehungen bezeichnen. In dieser Zeit war die Festigkeit und Dauerhaftigkeit des bolschewistischen Regimes noch gar nicht bewiesen. Es wurde allgemein bezweifelt, daß die Bolschewiki sich lange an der Macht halten könnten — ein Zweifel, den selbst Lenin geteilt zu haben scheint. Die Bolschewikenführer spür-ten auch ursprünglichkeinen besonderen Wunsch, sich mit den westlichen kapitalistischen Ländern in diplomatische Beziehungen einzulassen. Sie bildeten sich ein, daß auf die feurigen und aufreizenden Aufrufe hin, die sie sofort nach der Revolution an das Weltproletariat zu richten begannen, die Revolution bald in einer Reihe von führenden kapitalistischen Ländern ausbrechen würde. So maßen sie am Anfang ihren Beziehungen zu den westlichen kapitalistischen Regierungen keine große Bedeutung bei. Als zum Beispiel Trotzki in seiner Eigenschaft als erster sowjetischer Außenkommissar das alte zaristische Auswärtige Amt seiner Verwaltung angliederte, nahm er seine neue Aufgabe nicht sehr ernst.

„Was für diplomatische Arbeit werden wir denn schon haben?" fragte er einen Bekannten. „Ich werde einige revolutionäre Proklamationen an die Völker erlassen und dann die Bude schließen.“ Anstatt eine ernsthafte diplomatische Auseinandersetzung mit den Westmächten zu suchen, hat die Sowjetregierung als erste außen-politische Handlung sich dem Abschluß des Waffenstillstandes und dann eines Friedens mit Deutschland zugewendet. Dieser Versuch, der in die langen deutsch-russischen Verhandlungen zu Brest-Litowsk mündete, wurde von den Westmächten natürlich mit tiefstem Mißtrauen und Mißvergnügen verfolgt, schon deshalb, weil zu erwarten war, daß nach dem Austritt Rußlands aus dem Kriege dreißig bis vierzig deutsche Divisionen im entscheidenden Kriegswinter frei würden, die dann auch später tatsächlich an die Westfront verlegt wurden.

Ich sagte vorhin: — „anstatt eine ernsthafte diplomatische Auseinandersetzung zu suchen“. Da müßte ich vielleicht hinzufügen: Die Sowjetregierung richtete schon in diesen ersten Wochen einige diplomatische Noten an die westlichen Regierungen, in denen diese aufgefordert wurden, gemeinsam mit der Sowjetregierung die Möglichkeiten eines allgemeinen Friedens zu prüfen. Dabei wurden diese Noten unter Umstän-den überreicht, die kaum erwarten ließen, daß die westlichen Regierungen sich ernstlich mit diesen Anregungen befassen oder gar auf sie antworten würden.

So kam es, daß die amerikanische Regierung in diesen ersten Monaten von einer Anerkennung der Bolschewiki absah und sich darauf beschränkte, tief besorgt den Gang der Brest-Li-towsker Verhandlungen aus der Feme zu folgen. Die Botschaft wurde zwar vorläufig in Peters-burg belassen, der Botschafter aber ermahnt, sich nicht amtlich mit den Bolschewiki einzulassen — was ja auch seinen eigenen Neigungen aufs tiefste entsprach. Diese Zurückhaltung nahm ihm Trotzki bald übel; „sie ließe sich nicht", sagte Trotzki, „mit der Würde der Revolution vereinbaren.“ Trotzki griff den alten Herrn wiederholt öffentlich an, und zwar mit schweren persönlichen Verdächtigungen und Drohungen. Dieser Sir Francis", sagte er einmal höhnisch bei einer öffentlichen Rede im Dezember 1917, „wird sein goldenes Schweigen aufgeben müssen." Der alte Botschafter beharrte aber hartnäk-kig auf seiner Position. Er wolle verdammt sein, sagte er, wenn er je mit so einem verfluchten Bolschewiken zu tun haben würde, ein Vorsatz, dem er, abgesehen von ein paar bemerkenswerten Ausnahmen, treu geblieben ist.

Ende Februar kam dann die Krise der Brester Verhandlungen, die — wie Sie sich erinnern werden — zunächst zur Wiederaufnahme der FeindSeligkeiten seitens der Deutschen, dann zu einer schweren inneren Krise der Sowjetmacht und schließlich zur völligen russischen Kapitulation und zur Unterzeichnung des Vertrages durch die sowjetischen Unterhändler am 3. März 1918 führte. Der Vertrag wurde von den Kommunisten nur mit äußerstem Widerstreben unterzeichnet. Die sowjetischen Unterhändler, die den Vertrag auf Befehl der Sowjetregierung zu unterschreiben hatten, weigerten sich sogar, den endgültigen Entwurf durchzulesen. Sie behaupteten, es mache keinen Unterschied, ob sie ihn durchläsen oder nicht, sie müßten ihn ja sowieso unterzeichnen, denn das sei kein Vertrag, sondern ein Diktat. Es ist vielleicht nützlich, in Erinnerung zu bringen, daß diese Episode der Unterzeichnung des Versailler Vertrages, die unter ähnlichen Umständen stattfand, anderthalb Jahre voranging.

Eine nebensächliche, aber sehr wichtige Folge dieser Krise war der etwas panikartige Umzug der Sowjetregierung nach Moskau, der ebenfalls in den ersten Märztagen stattfand.

Schwierige Entscheidungen

Diese ganze Entwicklung, die vielen ausländischen Beobachtern die Einnahme Petersburgs durch die Deutschen und den endgültigen Sturz der Sowjetregierung in unmittelbare Nähe zu rücken schien, stellte die alliierten diplomatischen Vertretungen in Petersburg vor eine schwere Entscheidung. Was sollten sie nun machen? In Petersburg zu warten, war gefährlich, da der Krieg an der Ostfront scheinbar wieder auflebte und die Deutschen — nur ein paar hundert Kilometer entfernt — jederzeit in die Stadt einrücken konnten. Es hatte ja auch deshalb keinen weiteren politischen Sinn, zu bleiben, weil der Sitz der russischen Regierung eben aus Petersburg wegverlegt wurde. Den Weg nach Westen über Schweden versperrte der in Finnland eben ausgebrochene Bürgerkrieg. So verließ der Botschafter mitsamt seinem Botschaftspersonal Petersburg am 28. Februar 1918 im Sonderzug und fuhr nach Osten in Richtung Wladiwostok ab. Einige andere alliierte Missionen taten dasselbe. In der 500 Kilometer von Petersburg entfernten Provinzstadt Wologda beschloß der Botschafter aber haltzumachen und dort den weiteren Gang der Dinge abzuwarten. Es folgten ihm in diesem Entschluß eine Reihe von anderen alliierten Missionschefs. Der örtliche Herrenklub wurde dem alten Herrn als Wohnung zugeteilt. In diesem Gebäude, zusammen mit den brasilianischen, siamesischen und italienischen Geschäftsträgern, wohnte er fast fünf Monate in aller Ruhe und Bequemlichkeit, wenn auch die Herren einander mit der Zeit etwas auf die Nerven gingen. Die kleine stille Provinzstadt war als Wohnort vom strategischen Standpunkt aus nicht ungeschickt gewählt. Sie lag an der Kreuzung zweierEisenbahnen: derOst-West-Linie von Petersburg nach Sibirien und der Nord-Süd-Linie von Moskau nach Archangelsk am Weißen Meer. Von Wologda aus konnte der Botschafter also — wenn sich die Dinge günstig entwickelten — bequem entweder nach Petersburg zurück oder nach der neuen Hauptstadt Moskau fahren; oder auch — wenn sie sich ungünstig entwickeln sollten — schleunigst über Sibirien oder über das Weiße Meer das Land verlassen.

An dieser Stelle muß ich hinzufügen, daß der sowjetfreundliche Rote-Kreuz-Delegierte Robins nicht mit der Botschaft nach Wologda übersiedelte, sondern der Sowjetregierung nach Moskau folgte. In Moskau unterhielt er einen noch regeren Kontakt mit den Sowjetführern, die ihn als den eigentlichen amerikanischen Botschafter betrachteten, als welcher er wenigstens einmal in der sowjetischen Presse erwähnt wurde. Das führte natürlich zu einer starken Spannung zwischen ihm und dem dortigen amerikanischen Generalkonsul, der seine Ansichten gar nicht teilte und dem seine Beziehungen zur Sowjetregierung äußerst unliebsam waren.

Der Brest-Litowsker Vertrag

Mit Abschluß des Brest-Litowsker Vertrages, der erst am 14. März 1918 nach erregten und heftigen Debatten von dem Sowjetkongreß in Moskau ratifiziert wurde, begann für die Alliierten eine Zeit, in der sie das Bedürfnis spürten, jetzt endlich ihre Einstellung zu den Bolschewiki festzulegen. Dabei muß man bedenken, daß am 21. März die große letzte deutsche Offensive an der Westfront begann und am Anfang erheblichen Erfolg hatte. Die Alliierten standen jetzt am dunkelsten und gefährlichsten Punkt des Krieges. AIs dann, am 25. April, der neue deutsche Botschafter, Graf Mirbach, in Moskau eintraf und seine Tätigkeit aufnahm, erhöhte dies die schon tiefe Besorgnis, mit der die alliierten Regierungen die Entwicklung der Dinge in Ruß-land beobachteten. Sie befürchteten eine rege Zusammenarbeit zwischen der deutschen Regierung und den russischen Kommunisten und zerbrachen sich den Kopf darüber, wie sie dieser Zusammenarbeit entgegenwirken könnten.

Diese schwierigen Umstände steigerten die Spannungen zwischen den zwei entgegengesetzten Auffassungen im alliierten Lager bis zum äußersten. Robins und die ähnlich Denkenden wollten jetzt erst recht die bolschewistische Karte ausspielen und wurden in dieser Ansicht dadurch unterstützt, daß die Bolschewiki selber, von der Entwicklung der Dinge tief erschrocken, ab und zu mit dem Gedanken spielten, alliierte Hilfe gegen die Deutschen — wenn auch unwillig und zähneknirschend — anzunehmen. Die Anhänger dieser politischen Linie unter den Amerikanern empfahlen, daß man sowohl von jedem Kontakt und Zusammenwirken mit den antibolschewistischen Gruppen in Rußland als auch von jeder gewaltsamen Handlung den Bolschewiki gegenüber Abstand nehmen sollte. Sie verlangten wirtschaftliche Hilfe für die Bolschewiki — auch militärische, wenn sie verlangt werden sollte — und versprachen sich von dieser Politik auf längere Sicht trotz des deutsch-russischen Friedensvertrages einen energischen bolschewistischen Widerstand gegen den deutschen Einfluß. Sie wiesen auf die Unlust und Erbitterung hin, mit der die Bolschewiki auf diesen Vertrag eingegangen waren, und behaupteten, daß die Kommunisten ihn nicht lange einhalten würden.

Diese Ansicht hatte eine gewisse Berechtigung, jedenfalls was die Einhaltung des Vertrages betrifft. Das ergibt sich aus folgender Geschichte, die mir irgendwie in Erinnerung geblieben ist. Da kam drei Tage nach der Ratifizierung des Vertrages ein Genosse zu Lenin und machte ihm Vorwürfe, daß man den Vertrag unterzeichnet habe und bemerkte außerdem, er hoffe, daß man diesen unglückseligen Vertrag wenigstens nicht einhalten werde. Darauf antwortete Lenin — und das ist für die Psychologie der Bolschewiki ganz bezeichnend — dem Sinn nach: „Ja um Gottes willen, für was halten Sie uns denn? Wir haben den Vertrag schon vierzigmal verletzt.“

Auf der andern Seite standen alle diejenigen, die die Bolschewiki einfach für deutsche Agenten hielten und die das bolschewistische Regime mit Hilfe der antibolschewistischen Elemente in Rußland stürzen wollten. Da es im Frühling 1918 immer weniger wahrscheinlich erschien, daß die Sowjetmacht bloß von den in Rußland wirkenden antisowjetischen Parteien und Persönlichkeiten ohne aktive Unterstützung von außen gestürzt werden könnte, forderten diese antikommunistisch eingestellten Kreise unter den Alliierten eine militärische Intervention der Westmächte mit dem Ziel, eine neue, nach Westen orientierte russische Regierung ins Leben zu rufen und auf diese Art die zerrüttete Ostfront gegen Deutschland wiederherzustellen. An führender Stelle unter den Verfechtern solcher Ansichten standen die Franzosen, welche die Bolschewiki mit Verbissenheit haßten und zu allem bereit waren, was der erfolgreichen Kriegführung gegen Deutschland irgendwie dienlich sein konnte. Obwohl in englischen Regierungskreisen in bezug auf diese Frage keine richtige Einig-keit bestand, neigten auch die Engländer im allgmeinen zu einer solchen Lösung. Da aber weder Franzosen noch Engländer, noch beide zusammen an diesem schwierigen Punkt des Krieges für eine solche Intervention die notwendigen Truppen und Waffen und Nachschub aufbringen konnten, kam alles darauf an, ob auch die Amerikaner für ein solches Unternehmen gewonnen werden könnten.

Die Vorschläge zu einer solchen Intervention bezogen sich hauptsächlich auf zwei Möglichkeiten: erstens, eine Landung alliierter Truppen in Wladiwostok am Stillen Ozean; zweitens, eine ähnliche Landung in den nördlichen Häfen von Murmansk und Archangelsk. Da die beiden Unternehmungen ganz verschiedene Probleme stellten und nach verschiedenen Rücksichten behandelt werden mußten, lohnt es sich vielleicht, sie einzeln anzuschauen. Befassen wir uns zuerst mit dem sibirischen Schauplatz.

Die Geschichte der alliierten Intervention in Sibirien

Die Geschichte der allierten Intervention in Sibirien ist eine derart verwickelte Angelegenheit, daß man sie im Rahmen eines einzelnen Vortrags nicht annähernd erschöpfend behandeln kann. Wenn ich trotzdem versuche, die Vorgänge zu schildern, nehme ich bewußt die Gefahr auf mich, die Sache zu sehr zu vereinfachen, und ich bitte Sie, das zu berücksichtigen.

Der Zusammenbruch des russischen Reiches im ersten Weltkrieg gab den Japanern faktisch die Möglichkeit, nicht nur im nordmandschurischen Raum den schon lange gefürchteten russischen Einfluß auszuschalten, sondern auch auf die Lage in Sibirien selbst Einfluß zu nehmen. Solange Rußland noch als Verbündeter der anderen Ententemächte am Kriege beteiligt war, konnten die Japaner, die ja auch zu der Entente gehörten, von dieser günstigen Gelegenheit keinen Gebrauch machen. Als dann aber die Bolschewiken zur Macht kamen, die alten sogenannten imperialistischen Bündnisverträge annullierten und den Krieg mit Deutschland beendeten, da sahen sich die Japaner von ihren Bündnisverpflichtungen entbunden und bekamen freie Hand, in Sibirien so vorzugehen, wie es ihnen gefiel. Gleich mit der kommunistischen Revolution entstand also die Gefahr, daß die Japaner unter irgendeinem Vorwand einfach in Sibirien einmarschieren würden. Von den ersten Tagen der Revolution an waren die Bolschewiki sich dieser Gefahr im höchsten Grade bewußt: und sie befürchteten, daß die Alliierten aus Rache für den Austritt Rußlands aus dem Kriege die Japaner zu einem solchen Überfall auf Sibirien aufhetzen würden.

Den Franzosen und Engländern lag diese Idee tatsächlich nicht fern. Schon Anfang 1918 fingen sie an, in alliierten Regierungskreisen für eine japanische Intervention in Sibirien Stimmung zu machen und von der amerikanischen Regierung zu verlangen, daß auch sie ein solches Unternehmen billigen sollte. Als dies von der amerikanischen Regierung, die sich über die wahren japanischen Absichten in Sibirien ihre eigenen Gedanken machte, entschieden abgelehnt wurde. hieß es, man sollte eine gemeinsame alliierte Expedition unter Beteiligung der Amerikaner nach Sibirien entsenden.

Sechs Monate dauerte die geheime Debatte, die sich über diese Frage in den alliierten Kanzleien entspann. Die Engländer und die Franzosen befürworteten andauernd die fernöstliche Intervention; die Amerikaner wollten nichts davon wissen. Die amerikanischen Staatsmänner, an erster Stelle der Präsident selbst, wollten nichts unternehmen, was vom russischen Volk als eine Verletzung seiner Hoheitsrechte oder als eine feindliche Geste betrachtet werden konnte. Die Japaner, die eine für sie höchst günstige Konstellation entstehen sahen, machten sich vorläufig klein und nahmen selbst an der Debatte kaum teil.

In der Bemühung, die amerikanische Regierung für die sibirische Intervention zu gewinnen, führten Engländer und Franzosen die verschiedensten Gründe an. Sie deuteten auf die großen Mengen des um Wladiwostok herum aufgestapelten Kriegsmaterials, das vorher von den Alliierten an die russische Regierung geliefert, aber noch nicht bezahlt worden war, und behaupteten, daß, wenn die Alliierten nicht intervenierten, diese Vorräte leicht von den Bolschewiki weggeschafft und an die Deutschen ausgeliefert werden könnten. Aus französischen Kreisen wurde andauernd das Gerücht verbreitet, daß deutsche Kriegsgefangene in Sibirien von den Bolschewiki massenweise auf freien Fuß gesetzt und bewaffnet würden und, wenn ihnen nicht die Alliierten zuvorkämen, bald ganz Sibirien in Besitz nehmen würden. Schließlich wurde darauf hingewiesen, daß, da die Japaner, was man auch täte, am Ende sowieso einmarschieren würden, die Beteiligung Amerikas an dem Unternehmen einen mäßigenden Einfluß auf die Japaner ausüben, sie an der Ausübung ihrer imperialistischen Pläne hindern und damit eigentlich den Russen einen großen Dienst erweisen würde.

Diese Argumente waren, wie man jetzt feststellen kann, entweder gegenstandslos oder stark übertrieben, und sie genügten auch damals nicht. die Amerikaner von ihrem Standpunkt abzubringen. Aber im Spätfrühling 1918 traten noch neue Momente hinzu, die den amerikanischen Widerstand erschütterten. Erstens erlitt im Monat April, nach dem Brester Frieden und der Eröffnung der deutschen Offensive im Westen, die prosowjetische Seite unter den in Rußland weilenden Amerikanern eine bedeutende Niederlage. Dies geschah unter etwas dramatischen Umständen. Es kam nämlich in Moskau zu einer äußerst heftigen Auseinandersetzung zwischen dem sowjetfreundlichen Robins und dem sowjet-feindlichen Generalkonsul, worauf der Konsul in seine Wohnung zurückging, sich hinlegte und sofort an einer Gehirnerschütterung starb. Er war fest überzeugt, daß er von den Kommunisten vergiftet worden war, wofür allerdings keine Anhaltspunkte bestehen, aber gleich darauf — ob ausschließlich auf Grund dieses Vorfalls oder auch aus anderen Gründen, das weiß man nicht — wurde Robins abberufen und entlassen. Zu gleicher Zeit schloß sich der Botschafter in Wologda endlich denjenigen an, die für eine militärische Intervention plädierten.

Die tschechischen Truppen

Aber noch wichtiger für die Bestimmung der amerikanischen Politik war eine andere höchst eigenartige Entwicklung, die jetzt vielfach in Vergessenheit geraten ist. Ich spreche hier von dem sich im März und April 1918 entwickelnden Konflikt zwischen den Bolschewiki und den damals in Rußland stehenden tschechischen Truppen. Diese Streitkräfte bestanden aus etwa 60 000 Tschechen, ausnahmlos ehemaligen Mitgliedern des österreich-ungarischen Heeres, die in den ersten Jahren des Weltkrieges aus politischen Gründen zu den Russen übergelaufen waren und dort in Rußland, hauptsächlich durch den Einfluß des großen tschechischen Politikers Ma-

saryk, Erlaubnis bekommen hatten, ihre Waffen und ihre eigene militärische Organisation zu behalten und am Kriege gegen Österreich und Deutschland teilzunehmen. Als im Jahre 1917 die russische Armee einfach auseinanderlief und der Krieg an der Ostfront zu Ende kam, blieben diese Tschechen ohne jegliche militärische Aufgabe. Da sie sich aber zunächst von der in den russischen Streitkräften herrschenden Demoralisation nicht anstecken ließen, sondern treu zueinander hielten und die militärische Disziplin bewahrten, befanden sie sich schon im Frühling 1918 in der merkwürdigen Lage, vorläufig die stärkste militärische Macht in dem ganzen enormen russischen Reich zu sein. Diese Tatsache erregte natürlich das schärfste Mißtrauen bei den von Natur aus sehr mißtrauischen Bolschewiki. Im Monat März wurde ein Abkommen zwischen den Tschechen und den russischen Kommunisten abgeschlossen, wonach die Tschechen die Erlaubnis erhielten, über Sibirien und Wladiwostok Rußland zu verlassen. Die Russen drängten aber immer darauf, daß die Tschechen zuvor ihre Waffen abliefern sollten, was die Tschechen angesichts der chaotischen und höchst gefährlichen Lage begreiflicherweise nicht tun wollten. Dabei kam es dann im April 1918 zu einem ernsten Konflikt zwischen den Tschechen und den Bolschewiki, woraufhin die Tschechen zu den Waffen griffen und sich anschickten, den Weg nach Osten einfach zu erkämpfen. Zu ihrer eigenen Überraschung gelang es ihnen bald ohne Schwierigkeiten, fast die ganze sibirische Bahn bis nach Irkutsk in Besitz zu nehmen. Dieses phantastische militärische Unternehmen erreichte Ende Juni mit der Übernahme Wladiwostoks durch die Tschechen und mit dem Sturz der dortigen bolschewistischen Stadtverwaltung seinen Höhepunkt.

Nun waren die Tschechen in der Lage, ohne besondere Schwierigkeiten über Sibirien das Land zu verlassen. Es fehlten ihnen nur die Schiffe. Wie es aber der Zufall wollte, ließen sie sich von den Engländern und Franzosen in diesem Moment überreden, im Lande zu bleiben, ja, umzukehren und im Wolga-Uralgebiet weiter gegen die Bolschewiki zu kämpfen. Von dieser Abänderung der tschechischen Pläne erfuhren die Staatsmänner in Washington erst viel später, und das Argument, das jetzt im Mai und Juni in der amerikanischen Hauptstadt angeführt wurde — nämlich, daß man nach Wladiwostok Truppen schicken sollte, um den Tschechen bei ihrer Ausreise Hilfe zu bringen —, machte in Washington einen großen und entscheidenden Eindruck. Für die kleinen Völker im allgemeinen und die Tschechen insbesondere hatte Präsident Wilson eine gewisse Schwäche. Er dachte, daß es sich bloß darum handelte, den Tschechen bei der Ausreise und der späteren Verlegung an die Westfront behilflich zu sein. Die Tatsache, daß Wladiwostok sich schon seit Anfang Juli in tschechischen Händen befand und daß ein friedlicher, von der örtlichen Behörde bewilligter und gewünschter Einmarsch der alliierten Truppen jetzt dort möglich war, erleichterte ihm auch die Entscheidung. Masaryk erschien gerade zu dieser Zeit in Washington und forderte persönlich beim Präsidenten amerikanische Hilfe für seine Truppen. So gab der Präsident schließlich am 4. Juli 1918 nach langen und qualvollen Gewissens-kämpfen seine Einwilligung zur amerikanischen Beteiligung an einer gemeinsamen alliierten Expedition nach Sibirien — allerdings nur unter der Voraussetzung, daß die Expedition aus ungefähr 7000 Amerikanern und 7000 Japanern bestehen sollte. Die amerikanischen Truppen hatten nur Befehl, die Tschechen mit Nachschub zu unterstützen und der sibirischen Bevölkerung womöglich materiell behilflich zu sein. Es wurde ihnen strengstens verboten, sich irgendwie in die innerpolitischen russischen Verhältnisse einzumischen. Als die Truppen aber im Frühherbst in Wladiwostok einrückten, erwies es sich, daß die Japaner schon mit dem Zehnfachen der vereinbarten Zahl in Sibirien standen und Ziele ver folgten, die mit denen, die Wilson vorschweb-ten, herzlich wenig zu tun hatten. Die amerikanische Zustimmung war von den Japanern nur zur Tarnung eingeholt worden. Als sie jetzt gegeben war, kümmerten sie sich wenig um die Einstellung der Amerikaner. So kann man also dem Präsidenten wohl seine Naivität vorwerfen, aber man kann ihn nicht des bösen Willens den Russen gegenüber beschuldigen.

Die nördliche Intervention

Nicht minder verworren ging es mit dem Zustandekommen der nördlichen Intervention zu. Im Murmansker Hafen lagen schon vor dem bolschewistischen Umsturz englische Flotteneinheiten, die bis dahin mit der russischen Marine zusammengearbeitet hatten. Bei der Novemberrevolution wurde die Macht im Murmansker Gebiet durch einen Arbeitersowjet übernommen, wie in vielen anderen Teilen Rußlands. Dieser Sowjet bestand aber nur zum Teil aus Bolschewiki und verhielt sich nach wie vor freundlich gegenüber den Alliierten. Das ganze, weit vom russischen Zentrum entlegene Gebiet war sowieso für seine Lebensmittelversorgung auf überseeische Einfuhr, und das hieß faktisch auf die Engländer angewiesen. Die englischen Kriegsschiffe blieben also weiterhin’ im Murmansker Hafen, und zwischen den englischen Marineoffizieren und den Leitern des Murmansker Sowjets herrschten enge und freundschaftliche Beziehungen. Als dann im Frühling 1918 die Deutschen in Finnland einrückten und die Murmanskbahn von den mit den Deutschen verbündeten Weißfinnen zeitweilig bedroht wurde, nahmen englische Marinetruppen Seite an Seite mit Anhängern des Murmansker Sowjets an der Verteidigung der Bahn teil.

Dieses enge Verhältnis zwischen den Murmanskern und den Alliierten erregte natürlich sofort bei den Deutschen Anstoß, und der neue deutsche Botschafter protestierte beim sowjetischen Außenkommissar in Moskau heftig dagegen. Den Bolschewiki wurde der Zustand auch mit der Zeit immer ungemütlicher, da sie die Ausdehnung des englischen Einflusses auf den ganzen russischen Norden befürchteten.

Mittlerweile wiesen die Engländer in Washington auf die deutsch-finnische Bedrohung der Murmanskbahn und auf die Gefahr hin, daß de Deutschen in den Besitz des wichtigsten Kriegshafens Murmansk kommen könnten, und verlangten wiederum von den Amerikanern, daß sie — als Kriegsmaßnahme — Truppen für eine gemeinsame alliierte militärische Expedition zur Verfügung stellen sollten, welche das Gebiet gegen die Deutschen verteidigen und dafür sorgen sollten, daß das in den Häfen von Murmansk und Archangelsk ähnlich wie in Wladiwostok aufgestapelte, von den Alliierten gelieferte Kriegsmaterial nicht in deutsche Hände geriete. Auch hier, wie bei der sibirischen Frage, sträubte sich am Anfang und für längere Zeit die amerikanische Regierung gegen ein solches Unternehmen. Im Monat Juni kam es dann zu einer Krise, sowohl in den Beziehungen zwischen den Moskauer Bolschewiki und dem Murmansker Sowjet als auch in den Beratungen unter den Alliierten. Die Beziehungen zwischen Murmansk und Mos-kau spitzten sich derart zu, daß es am 2. Juli zu einem heftigen und dramatischen Telefongespräch zwischen Trotzki in Moskau und dem Leiter des Murmansker Sowjets kam. Trotzki verlangte den sofortigen vollständigen Abbruch der Beziehungen zu den Alliierten, worauf der Murmansker unmöglich eingehen konnte. Am Schluß schrie Trotzki, schon schäumend vor Wut: „Ich nehme an, daß der englische General Poole hinter Ihnen steht und Ihre Aussagen diktiert." Worauf der Murmansker ohne weiteres erwiderte: „Und ich nehme an, daß hinter Ihnen der deutsche Botschafter Graf Mirbach steht und Ihre Aussagen diktiert.“ Da brüllte Trotzki: „Ich breche diese Unterredung ab und erkläre Sie und Ihre Gesinnungsgenossen im Namen des Sowjets und des Genossen Lenin außerhalb des Gesetzes.“ So kam es zu einem völligen Bruch der politischen Beziehungen nicht etwa zwischen Murmansk und den Alliierten, sondern zwischen Murmansk und Moskau. Von dem Augenblick an war der Murmansker Sowjet eigentlich ein antisowjetischer Sowjet.

Jetzt war in Murmansk — genau wie in Wladiwostok, wo drei Tage vorher die Stadtverwaltung von den Tschechen übernommen worden war — zum ersten Male der friedliche, mit der lokalen Behörde vereinbarte Einmarsch einer alliierten Expedition möglich.

Marschall Foch, der in seiner Eigenschaft als Oberkommandierender der alliierten Streitkräfte in Europa vom amerkanischen Präsidenten um seine Meinung über die militärische Notwendigkeit einer Intervention im Norden befragt wurde, bestätigte Wilson, daß die Entsendung alliierter Truppen nach Murmansk und Archangelsk vom Standpunkt der Kriegführung militärisch notwendig war. So lenkte schließlich auch hier die amerikanische Regierung ein. Die Entsendung amerikanischer Truppen nach dem russischen Norden wurde vom Präsidenten gleichzeitig mit den entsprechenden Maßnahmen in Sibirien am 4. Juli 1918 gebilligt.

Der Putsch in Archangelsk

Sofort nach der amerikanischen Einwilligung, sogar ohne auf das Eintreffen der amerikanischen Truppeneinheiten zu warten, wurde von den Engländern ein Expeditionskorps von anderthalb tausend Mann, fast ausschließlich englische und französische Soldaten, nach Archangelsk abkommandiert. Das alles geschah streng geheim — wie auch der Beschluß zu intervenieren noch nicht an die Öffentlichkeit gelangt war. Gleichzeitig wurde in Archangelsk, das immer noch unter der Herrschaft Moskaus stand, von englischen und französischen Agenten eifrig intrigiert und ein Putsch gegen die örtliche bolschewistische Stadtverwaltung vorbereitet. Der Putsch sollte unmittelbar vor dem Eintreffen der Expedition ausbrechen und den alliierten Truppen einen kampflosen Einmarsch in die Stadt sichern. Von diesen Plänen wurden Botschafter Francis und der englische Geschäftsträger, die beide noch in Wologda saßen, diskret in Kenntnis gesetzt. Die beiden Herren kamen auf diese Weise in eine etwas heikle Situation. Wie würden die Bolschewiki auf den Einmarsch in Archangelsk reagieren? Was würden sie dann mit den hilflosen Diplomaten in Wologda machen? Sollte man nicht lieber versuchen, irgendwie früher wegzukommen, damit man nicht sofort nach der Landung etwa als Geisel von den Bolschewiki in Haft genommen würde? Wie aber so etwas machen, ohne das Mißtrauen der Bolschewiki zu erregen und ihnen die Pläne im voraus zu verraten?

Der Zufall wollte es, daß gerade in dieser Zeit die Bolschewiki selber anfingen, sich über die Anwesenheit der Diplomaten äußerst zu beunruhigen. Am 6. Juli wurde der deutsche Botschafter Graf Mirbach in Moskau von Anhängern der sogenannten linkssozialrevolutionären Partei in seiner eigenen Botschaft ermordet. Diese Partei opponierte damals gegen die Kommunisten, und das Attentat stand mit einem Versuch in Zusammenhang, die neue bolschewistische Regierung überhaupt zu stürzen. Die sowjetischen Führer waren über diese Vorfälle heftig erschrocken.

Sie befürchteten eine Wiederaufnahme der Kriegshandlungen seitens der Deutschen. Sie vermuteten die alliierte Hand hinter dem Komplott und fragten sich, ob nicht das lange Verbleiben der Diplomaten in Wologda mit einem solchen Komplott in Zusammenhang stünde. So kamen sie zu dem Schluß, daß es gefährlich sei, die Diplomaten weiter in Wologda sitzen zu lassen. Man sollte sie lieber nach Moskau lok-ken, wo sie unter scharfe Aufsicht gestellt und im Notfall als Geiseln zurückbehalten werden könnten. Dazu muß in Betracht gezogen werden, daß die Bolschewiki die alliierten Intervention auch schon witterten, obwohl sie nicht genau wußten, was los war.

So begannen die Sowjets Mitte Juli, den alten Botschafter in einer geradezu lächerlichen Weise zu hofieren. Der neue Außenkommissar, Tschitscherin, schickte ihm eine Reihe von Telegrammen und Briefen, in denen die Vorteile eines Umzugs nach Moskau auseinandergesetzt wurden. Die Schönheiten und Herrlichkeiten der von Krieg und Revolution damals schon arg zugerichteten Hauptstadt wurden auf das verlockendste gepriesen. Der Botschafter aber witterte eine Falle und antwortete auf Tschitscherins liebens-würdige Briefe mit Schreiben, die an diplomatischer Tücke den russischen in nichts nachstanden. Er gab zu, daß es in der Tat für die Diplomaten an der Zeit wäre, von Wologda wegzufahren, sagte aber nicht, in welcher Richtung sie fahren wollten. Schließlich kam es dazu, daß die Diplomaten für ihren Sonderzug, der jetzt schon fünf Monate am Bahnhof von Wologda wartete, eine Lokomotive verlangten. Nicht ohne eine gewisse Unruhe erwarteten sie die Stunde der Abreise. „Was dann“, fragte ein nervöser Kollege des Botschafters-„wenn die Kommunisten die Lokomotive nicht an das nördliche Ende des Zuges, sondern an das südliche stellen? Morgen wachen wir in Moskau auf und sind Gefangene.“ Die Lokomotive wurde aber an das richtige End« des Zuges rangiert, und am 24. Juli fuhren die Diplomaten nach Archangelsk ab.

Die englischen und amerikanischen Vertreter erwarteten, daß die Landung der alliierten Truppen ungefähr gleichzeitig mit ihrer eigenen Ankunft in Archangelsk stattfinden würde. Der Tag der Abreise aus Wologda war ja offensichtlich nach diesem Gesichtspunkt gewählt worden. Die Landung verzögerte sich aber um einige Tage.

So kamen die Diplomaten in einem immer noch von Bolschewiken beherrschten Archangelsk an. In Erwartung der nahe bevorstehenden Ankunft der alliierten Flotte wollten sie nicht weiterfahren und baten, vorläufig bleiben zu dürfen. Die bolschewistischen Stadtväter aber, die auch schon merkten, daß etwas in der Luft lag, und denen es gerade in diesen Tagen ein bißchen unheimlich wurde, wollten nichts davon wissen. So wurden die armen Diplomaten mehr oder weniger gezwungen und ohne viel Umstände auf ein sowjetisches Schiff verladen und nach einem anderen, jenseits des Weißen Meeres gelegenen Hafen geschickt. Zwei Tage später fand der erfolgreiche Putsch in Archangelsk statt, worauf die Alliierten in den Hafen einliefen und die Stadt ohne Schwierigkeiten in Besitz nahmen. Die Diplomaten aber, die schon weg waren, kreuzten lange im hohen Norden herum. Erst nach einigen abenteuerlichen Wochen kehrten sie wieder nach Archangelsk zurück, wo sie die damals schon bis zum Chaotischen verwirrte politische Situation, die sich aus der alliierten Landung er geben hatte, mit ihrer Anwesenheit noch weiter komplizierten.

Ende der amtlichen Beziehungen

Die Interventionen in Wladiwostok und in Archangelsk begannen am gleichen Tage — dem 3. August 1918. Die ersten amerikanischen Einheiten trafen erst später ein — am 18. August in Sibirien, Anfang September im russischen Norden.

Die Sowjetregierung reagierte natürlich aufs schärfste. Innerhalb von drei Tagen wurden mehr als 200 Engländer und Franzosen auf sowjetischem Gebiet von den kommunistischen Behörden in Haft genommen, einschließlich der Konsuln in Moskau und ihrer Mitarbeiter. Die Amerikaner, die mit Recht als weniger schuldig an der ganzen Sache betrachtet wurden, wurden zwar nicht auf diese Weise belästigt; aber auch ihnen wurde jetzt der weitere Aufenthalt auf sowjetischen Boden unmöglich. Die Ausreise begann schon im August. Am 18. September verließ als letzter der Moskauer Generalkonsul das von der Sowjetregierung beherrschte Gebiet. Nach seiner Ausreise über die finnische Grenze sollten fünfzehn Jahre vergehen, bis wieder ein Vertreter der amerikanischen Regierung seinen Fuß auf sowjetisches Territorium setzte.

Es waren nicht nur die alliierten Diplomaten, die im Sommer 1918 Moskau verließen. Die Mitglieder der deutschen Botschaft waren schon Anfang August abgereist. Die Ermordung ihres Chefs hatte sie tief getroffen, und sie wußten sehr gut, daß ihre eigene Sicherheit bloß auf der militärischen Stärke Deutschlands beruhte und

Fussnoten

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