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Die politische Verantwortung der Erziehung in der demokratischen Massengesellschaft des technischen Zeitalters Erzieherische Verwirklichung Zweiter Teil | APuZ 4/1958 | bpb.de

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APuZ 4/1958 Die politische Verantwortung der Erziehung in der demokratischen Massengesellschaft des technischen Zeitalters Erzieherische Verwirklichung Zweiter Teil

Die politische Verantwortung der Erziehung in der demokratischen Massengesellschaft des technischen Zeitalters Erzieherische Verwirklichung Zweiter Teil

HEINRICH WEINSTOCK

Fortsetzung Theodor Litt, der nicht nur der Erziehung ihre politisch e Verantwortung immer wieder einschärfte, sondern vor allem selber damit zeitlebens Ernst machte, auch als dies lebensgefährlich war, zugeeignet.

Die Verantwortung der Erziehung für die heutige Lebenswelt Die Natur hat dem Menschen weder eine passende Umwelt hergerichtet noch den sicheren Leitfaden mitgegeben, sich im Leben zurechtzufinden; hat ihn vielmehr, die böse Stiefmutter, in die Wildnis ausgesetzt mit dem einzigen Zuspruch: Hilf dir selbst, so hilft dir Gott! Daher leidet der Mensch in der Welt stets Not und läuft ständig Gefahr. Das ist die lebenslängliche Buße für seine Freilassung, das glänzende Elend seiner Freiheit. Umkommen aber muß er darin oder besser: sich selber umbringen, wenn er, vom Glanz der Freiheit geblendet, die Augen vor ihrem Elend schließt und sich anmaßt, mit ihr „alles zu machen“, wie die Griechen das nannten (panurgia), und was die jungen Amerikaner heute mit ihrem Schlagwort „it can be done“ wörtlich wiederholen.

Für die Lebenshilfe der Erziehung folgt daraus, daß ihr Dienst immer Notwehr und Gefahrenschutz zu sein hat. Das kann sie nur leisten, wenn sie Not und Gefahr kennt, insbesondere in Gestalt jenes Selbstmordes der Menschlichkeit, mit dessen Sucht die Freiheit erblich belastet ist. Nun paßt sich aber das Virus, welches das anfällige Gewebe der Freiheit bösartig wuchern läßt, dem Lauf der Zeit an, der den Menschen in stets andere Notlage und Gefahr bringt. Daher ist das Zeitverderben immer von neuem aufzuspüren, und nur auf Grund solcher Diagnose der Zeit, die der pädagogischen Theorie obliegt, vermag die Therapie der erzieherischen Praxis jeweils heilsam zu werden.

Wieder ist es Pestalozzi, der diese Zeitverpflichtung der Pädagogik richtig erkannt hat: „Das beste, das vorgeschlagen werden kann, muß seiner Natur nach dem Zeitverderben und allen seinen Ansprüchen ans Herz greifen, sonst taugt es nichts.“

Nun hat uns bereits das letzte Kapitel jenes Herzleiden aufgedeckt, an dem unser „Weltteil“ seit Pestalozzis Tagen krankt und das sich inzwischen zur Krise auf Leben und Tod der Menschlichkeit verschärft hat. Es ist die Entpersönlichung. Sie durchwuchert die drei großen Lebensbahnen, in denen das Herzblut des politischen Lebewesens Mensch kreist: seine Arbeitswelt, seine Gesellschaftsordnung, seine Staatsverfassung. Dabei entzündet sich das Fieber heutzutage an der Überhitzung dieser Gebilde durch die Technik, die Masse, die Macht.

Ehe wir aber die drei Kreise abschreiten, müssen wir uns einschärfen, daß sie nicht sauber geschieden nebeneinander liegen, sondern, als vom selben Zeitgeist oder -Ungeist gezogen, miteinander vermittelt, ineinander — etwa wie konzentrisch — um einen Mittelpunkt geschlagen sind. Aber die Gedankenordnung zwingt uns, sie nacheinander abzuhandeln. So bedarf es eines Schlusses, der sie wieder ineinanderfügt und die zeugende Mitte sichtbar macht.

I. Die Verantwortung der Erziehung für unsere Arbeitswelt

INHALTSVERZEICHNIS

Mensch und Technik Da der Mensch bei seinem Auftreten auf der Erde mit natürlichen Waffen für den Lebenskampf nicht oder mindestens nicht genügend ausgestattet war, mußte er sich künstliche machen. So ist das menschliche Dasein von Anfang an auf Technik angewiesen. Ja, wenn die Wissenschaft von unserer Stammesgeschichte Recht behält, hatte schon der Vorfahr des heutigen Menschen sich im symmetrisch bearbeiteten Faustbeil ein Universalinstrument für alle möglichen Bedürfnisse ge-schaffen. Als dann dieser homo faber unser homo sapiens wurde, wendete der seinen Verstand vor allem daran, eine immer reichere Vielfalt von Spezialwerkzeugen zu erfinden, um die Widerstände der Natur immer leichter und besser zu überwinden. Das war nur möglich mit Hilfe des geistreichen Prinzips der Arbeitsteilung, das der Zivilisation überhaupt erst die Bahn brach und die endlose Aussicht auf Fortschritt öffnete.

Dessen Motor also der technischen Arbeitsteilung erhielt einen ganz neuen und unerhört mächtigen Treibstoff, als, zu Beginn unserer Neuzeit, in der abendländischen Menschheit sich der Wille durchsetzte, naturam parendo vincere, wie Francis Bacon um 1600 vorschrieb, — der Natur dadurch Herr zu werden, daß man ihren Gesetzen gehorchte, die es mithin zuvor zu erforschen galt. So brachte der Herrschaftswille die empirische Naturwissenschaft, diese wiederum die Maschinentechnik hervor; die schließlich die Industrialisierung der Erde zustande, die Natur-wie Kulturlandschaften in Fabrikreviere verwandelte.

Die Technik ist das Erzeugnis des abstrahierenden und generalisierenden Vermögens der Ratio. Daß die aber von ihrer Natur aus zur totalen Rationalisierung des Daseins drängt, ist heute allgemein ruchbar geworden, da ihre Reglementierungssucht bereits auf die gesamte Lebensordnung der modernen Arbeitsgesellschaft Übergriff und sie in allen öffentlichen Bereichen bürokratisierte und zentralisierte, ja nicht einmal das Privatleben ungeschoren ließ.

Da diese Welt das Kunstwerk des Menschen ist, steht sie unter dem Gesetz von dessen Verfassung aus Widersprüchen, trägt also Segen und Fluch in sich. Das Tragische daran ist, daß die Fluchwirkung der Entmenschlichung aus der Segenskraft der Vermenschlichung höchst-selbst kommt und so wiederum, rückwirkend, diese mit ihrem Erfindungs-, Schöpfungs-und Gestaltungsgeiste zu ersticken droht, der doch allein von der heilen Person zu entbinden ist.

So kommt es, daß der Schöpfer und Herr der Maschine ihr Werkzeug und Knecht wird. Doch erst von da an konnte der geistreiche Vernunft-sinn der Arbeitsteilung zu solcher Unsinnsplage werden, als der Mensch in rücksichtsloser Durchführung des Prinzips der Rationalisierung Kopf-und Handarbeit ganz auseinander nahm. Der junge Marx hatte völlig recht, als er in dieser Trennung den Sündenfall der Gesellschaft erkannte.

Eine Erziehung, die sich im Dienst von Menschenbildung für die heile Person, ihre Freiheit und Würde verantwortlich weiß, muß sich mithin zu allererst über dieses Verhängnis im klaren sein, das unsere Bundesgenossin Technik bedroht: daß wir ohne die Handhaben ihres immer weiter zu treibenden Fortschritts nicht mehr human (ja nicht einmal animalisch) am Leben bleiben können; daß aber eben diese selbe technische Entwicklung unser Menschentum auszuzehren, infolgedessen unsere Erfindungskraft zu lähmen und derart schon unsere nackte Existenz zu untergraben droht. *

Daher wird die Erziehung, nach unserem alten dialektischen Grundsatz, die Jugend für und gegen die Technik zugleich zu bilden haben.

Technologie und Menschenbildung Es ist keine Frage: die Lebenskämpfe der Völker werden von nun ab, ob im kalten, ob im heißen Kriege, ob im wirtschaftlichen Wettstreit, technisch entschieden. Die Sorge für den technischen Fortschritt ist also ein Gebot schon der nackten Selbsterhaltung. Linser Volk insbesondere, ja sein neuer Schicksalsbund der Vereinigten Staaten von Europa, wird zwischen den beiden technischen Riesen Nordamerika und Rußland zerdrückt werden, wenn wir uns nicht vor allem andern technisch so stark machen, daß wir uns neben den beiden Weltmächten zu behaupten vermögen.

Wenn aber die letzthin bekannt gegebenen Vergleichszahlen über Bedarf und Angebot an Technikern aller Art sowie über den Nachwuchs und die dafür bestehenden Bildungseinrichtungen stimmen (und daran ist nicht zu zweifeln), so muß die Schulpolitik heutzutage hierzulande jedes andere Bildungsanliegen zurückstellen und rücksichtslos alle vorhandenen Mittel und verfügbaren Kräfte für die Ausbildung von Technikern aller Arten und Grade einsetzen. Wenn irgendwo und irgendwann, so gilt hier und heute: primum vivere, deinde philosophari. Da es brennt und eilt, müßten dann solche gewaltig zu vermehrenden Bildungsstätten auch ihre ganze Kraft und Zeit auf das sammeln, was unmittelbar der technischen Ausbildung dient, also, wie die Realisten des 18. Jahrhunderts — wir erinnern uns — forderten, auf „Realkenntnisse und -fertigkeiten bezüglich der Werke Gottes in der Natur und solcher Maschinen, welche in der Welt täglich Nutzen prästieren.“ Alles andere insbesondere die leeren „speculationes" der sogenannten Humaniora, hätte in den Lehrplänen nichts zu suchen. Die müßten sich also auf angewandte Naturwissenschaften, Technologie, Wirtschaftslehre und höchstens noch Sozialkunde beschränken. Neben solcher Vermittlung des notwendigen Sachwissens bliebe als bildende Aufgabe nur die: den Sachverstand mit seinen Tugenden von Denkzucht, geduldigem Fleiß, Genauigkeit der Beobachtung, Sachlichkeit des Verhaltens zu formen, also das zu bewirken, was Nietzsche die Überwindung des Subjekts mit seinen Gefühlen, Wünschen, Beliebigkeiten nennt, und welche unentbehrliche Selbstzucht nirgendwo so zwingend und überzeugend zugleich in Gang gebracht wird wie im Arbeitsdienst an den technischen Aufgaben.

Ein solches oder ähnliches Programm mit seiner Grundabsicht einer frühen und entschiedenen Ausrichtung aller Schullehre auf technisches Wissen und Können ist nun in der Tat von den beiden technokratischen Vormächten durchexerziert worden. Indes: in Nordamerika schon seit längerem, aber sogar in Rußland neuerdings (wofern die Nachrichten stimmen, womit man sich hier ja immer einschränken muß) melden sich immer mehr Bedenken gegen solche Schulung von Spezialisten. Dabei sehen wir von den rein humanistischen Einwänden in den Vereinigten Staaten ab, wie sie etwa R. Hutchins mit seinem Studium generale der klassischen Werke verficht, und hören lediglich auf die Gegenstimmen aus dem technischen Lager selbst.

Deren ebenso überraschende wie durchschlagende Begründung lautet: Der technische Fortschritt bringt heutzutage so rasche und gründliche Veränderungen mit sich, daß jede spezielle Ausbildung schon gegenstandslos geworden ist, wenn der so Geschulte ins Berufsleben tritt. Daraus folgt zunächst die Notwendigkeit einer allgemeinen technischen Grundschulung. Denkt man aber folgerichtig weiter, so kommt man auf eine naturwissenschaftliche Grundbildung. Und von hier ist dann nur noch ein Schritt zur Forderung nach einer vollständigen, alle Sinnes-und Geisteskräfte ans Werk setzenden Menschenbildung.

Wir unterstreichen: Diese Kettenreaktion wird schon vom Anspruch der Sache, der Technik selber, äusgelöst; dazu bedarf es keineswegs der Rücksicht etwa auf das Gemütsleben oder irgend sonst einer humanen Sorge. Hier könnte man, ein schon berichtetes Pestalozziwort verallgemeinernd, zu der Meinung kommen: Die Sachen (er spricht dort besonders vom Eigentum) regieren besser als der Mensch!

Wir dürfen hinzufügen: Sie regieren nicht nur ihren eigenen Bereich, sondern auch den Menschen besser als dieser zu allen Sprüngen aufge-legte Narr des Lebens sich selber. Wollte er doch nur immer auf das hören, was die Vernunft der Dinge von ihm verlangt, wenn sie ihm dienen sollen!

Zwar behält Marx mit seiner Behauptung immer Recht, daß Ideen, hinter denen keine Leidenschaften stehen, sich in der Geschichte zu blamieren pflegen. Die reine Idee der Naturerkenntnis an und für sich wäre seit der Renaissance nicht so geschichtsmächtig geworden, daß sie eine ganze neue Welt hervorbrachte, wenn nicht der Herrschaftswillen den Wissensdrang befeuert hätte. Aber dieser Machtwille wäre auch sehr bald am Widerstand der Sachen erlahmt, wofern nicht der Erkenntniswille seinerseits in den Herzen der „reinen“ Naturforscher zu jener eigenen, „faustischen“ Leidenschaft sich begeistert hätte, der es ohne Rücksicht auf praktische Zwecke allein darum ging, zu erkennen, „was die Welt im Innersten zusammenhält“. So war es in der Tat die reinste Sachlichkeit der Theorie, die die mächtigste technische Praxis zustande brachte.

Den langen Atem solchen geduldigen Sachdienstes aber, der sich durch keine Rückschläge von seinem Fernziel abbringen läßt und nicht der Anfeuerung durch schnelle Erfolge und greifbaren Nutzen bedarf, bringt nur die ganze Person im Reichtum all ihrer sinnlichen und geistigen Kräfte auf. Wem es also wirklich um den technischen Fortschritt geht, der kommt mit dem bloßen Sachverstand nicht aus, sondern muß ganze Menschenbildung betreiben.

Wir dürfen uns daher, wenn wir zuletzt und mithin am besten lachen wollen, durch die raschen und großen Erfolge bloßer technischer Zweck-ausbildung, wie die Neue Welt, der kommunistische Osten und neuestens auch schon farbige Völker sie aufweisen, nicht beirren lassen. Vergessen wir auch nicht, daß sie alle noch vom alten Erbe abendländischer Menschenbildung zehren. Jedenfalls bleibt die Frage noch offen, ob man auch das unerhört Neue schöpferisch hervorzubringen im Stande sein wird, wenn man nicht die Quelle erschließt, die allein die Lebenswasser der Forschung unversiegbar hervorzusprudeln vermag.

Diese Überlegungen, die allein den Sachanspruch berücksichtigen, erhalten nun ein doppeltes Gewicht, wenn wir bedenken, daß der Techniker es ja niemals bloß mit Sachen zu tun hat, sondern immer auch unmittelbar mit Menschen, mit jenen nämlich, die seine technischen Absichten duichzuführen haben. Er muß also nicht nur mit Maschinen, sondern auch mit Menschen umzugehen verstehen. Aber da diese unmittelbare humane Rücksicht in alle drei Lebenskreise hineinspielt, sei sie dem zusammenfassenden Schlußkapitel dieses Teiles vorbehalten.

Die Versöhnung von Realismus und Humanismus Auch der pädagogische Klassenkampf, zwischen Humanisten und Realisten, geht um das Privateigentum — an Unterrichtsstunden im Lehrplan. Nun wäre es zwar allzu billig, diesen Zahlenstreit so als platten Materialismus verächtlich zu machen, wie das die bürgerliche Ideologie immer noch mit der Marxischen Geschichtslehre tut. Gewiß kommt es in der Bildung vor allem auf den „Geist“ an, aber der braucht auch Raum, in dem er wehen kann. Ein „reiner" Humanismus aber, der der weltbewegenden Tatsache der Technik, den sie hervorbringenden Naturwissenschaften und ihrem Weltbilde keinen oder nur unzureichenden Raum gönnt, muß vermöge seiner Weltfremdheit in Bildungsohnmacht fallen. Eine grober Realismus umgekehrt, der, von den Sachproblemen besessen, die Sorge um den Menschen vergißt, ja nicht einmal bedenkt, daß die Technik Menschenwerk und mithin selbst eine geschichtliche, gesellschaftliche, personale Leistung ist, die ihrerseits wieder auf diese menschlichen Bezüge zurückwirkt, — ein solcher Fetischismus erliegt, mit dem Reisetagebuch des Grafen Keyserling zu sprechen, der possierlichsten aller Arten von Aberglauben, dem an die „Tatsachen“. Eine wahre Menschenbildung, eine solche also, die den Menschen in seiner Weltlichkeit besorgt, wird also Person und Umstände in einem bedenken, derart die Erbfeindschaft zwischen Realisten und Humanisten für grundlos erklären und den Klassenkampf um die Stundentafeln in allen Schularten und -stufen durch einen von Fall zu rall und beiderseits vernünftig auszuhandelnden Friedenschluß beenden.

Danach aber — und nun kommt erst die Hauptsache, der Geist der Lehre, zu seinem Recht — ist eine innere Überwindung des Gegensatzes von realistischer und humanistischer, natur-und geisteswissenschaftlicher Bildung mit der Aufhebung ihres Nebeneinander in ein Miteinander so anzustreben, daß die Humana realistisch, die Realia humanistisch gelehrt werden, so daß nun die gesamte Bildung unter das heilende Zeichen eines Realen Humanismus gestellt wird. Dessen ganzes methodisches Geheimnis besteht darin, daß er seine Fragen immer und überall radikal macht; das heißt: sie an die Wurzel treibt, die nach einem schönen Wort des jungen Marx von allem der Mensch ist; der Mensch in seiner Wahrheit, deren ewiges Wort aber nur im Hier und Jetzt seiner Zeit und seiner Welt Fleisch wird.

Diese lebensvolle Gegenwartsnähe jeder Schulbildung hängt nicht erstlich von der Aktualität ihrer Gegenstände, sondern von der Modernität ihrer Lehrer ab. Nur wer an den Sorgen und Kämpfen seiner Zeit mit innerer Leidenschaft teilnimmt, ist berufen, die Jugend dieser Zeit zu bilden. Da aber zeigt sich die schlimmste pädagogische Not unserer Zeit, daß sie, vom Willen zur technischen Sachbemeisterung besessen, immer weniger Freude zum Dienst aller Art am Menschen macht und daher auch dem pädagogischen Eros nicht hold ist. Droht er nicht immer seltener gerade in starke Naturen von Eigenprägung und Gestaltungswillen einzukehren, die auf der Höhe der Zeit sind? Indes: eben solche brauchte unsere Gegenwart für die Aufgabe der Menschen-bildung dringender als je, da wir soeben über die Schwelle des Atomzeitalters in eine unvorstellbare Zukunft treten, die aber jedenfalls die Menschlichkeit auf eine so schwere Probe stellt wie noch nie.

Der Geist eines Realen Humanismus würde auch die falsche Alternative von Berufs-oder Allgemeinbildung beseitigen, und zwar durch den Begriff einer konkreten Grundbildung. Die Dreischichtung des so-genannten allgemeinbildenden Schulwesens in elementare, mittlere, höhere nebst hoher Schule, die dem Aufbau der modernen Arbeitsgesellschaft entspricht, gibt der gemeinsamen Aufgabe einer menschlichen Grundbildung dadurch jeweils ihre bestimmte Gestalt, daß jede dieser drei Grundschulen das, was sie lehrt und wie sie es lehrt, von daher bestimmt, was die zukünftige Berufsschicht ihrer Zöglinge von diesen verlangt, wenn sie den Ansprüchen ihrer späteren Lebensaufgaben vollständig, also als ganze Menschen gerecht werden sollen. Damit wären „die Narrenpossen“ einer universalen Bildung erledigt und Menschen-bildung in der einzig wirksamen Weise in Gang gebracht, daß, mit Pestalozzi zu sprechen, die Humanität eines jeden in seiner Individuallage bedacht und er auf sie hin humanisiert würde. So wären auch diese „allgemeinbildenden“ Schulen Berufsschulen in dem weiteren Sinne, daß sie zwar nicht für einen Spezialberuf da wären, wohl aber für je eine der drei großen Schichten der theoretischen, der praktischen und der vermittelnden Berufe die erforderliche Grundbildung zu veranstalten hätten, auf die unmittelbar die spezifische Berufslehre oder erst noch eine besondere Berufsschule aufbauen könnte.

Das gilt nun insbesondere auch für die Hochschule. Die sogenannte Universitas litterarum muß sich dadurch wieder ehrlich machen, daß sie sich ihre tatsächliche Verfassung, die sie als wissenschaftliche Bildungsstätte für bestimmte Berufe verpflichtet, endlich eingestehe und die vergeblichen Versuche eines Studium generale aufgebe; nun aber ihre Fachwissenschaften so treibe, daß diese Menschenbildung wirken. Was aber an dem Bedürfnis der Hochschule nach einem Studium generale berechtigt und auch zu verwirklichen ist, gehört in die höhere Schule. Es ist ein pädagogischer Widersinn, daß die heutzutage in mancherlei Bestrebungen zur Auflockerung der Oberstufe diese ihre eigenste Verantwortung zugunsten einer vorzeitigen Spezialisierung aufgibt.

Was von der Hochschule zu sagen ist, gilt in entsprechender Abwandlung auch von der Berufsschule wie der Erwachsenenbildung, diesen beiden Brennpunkten der pädagogischen Front heutzutage. Sie müssen, wenn sie dem Unheil der Spezialisierung und Funktionalisierung entgegenwirken wollen, in allem, was sie an Sachkunde vermitteln und zur Schulung des Sachverstandes betreiben, Menschenbildung im Auge haben. Technik als Bildungsaufgabe Heutzutage braucht die Schule sich keine methodischen Kunstgriffe auszudenken, um das Interesse ihrer Zöglinge für die Lebensmacht Technik zu gewinnen. Daraus ziehen dann ebenfalls die mathematischen Naturwissenschaften ihren Vorteil, falls sie nur Diltheys pädagogische Weisheit sich zunutze machen, daß sie „eine falsdie Übertreibung der formalen Vorbildung“ vermeiden und die daraus „stammende Langeweile, die sich über die höheren Schulen verbreitet, sowie die Ungeduld, sie zu verlassen", überwinden, indem sie„schon dem Sdrüler die Natur aufschließen“.

So wird es der Schule auch nicht schwer fallen, an den gewaltigen Leistungen der Technik und den großartigen Entdeckungen der Naturwissenschaften jene Leidenschaft zu entzünden, die dem Geiste Kraft und Mut zur Überwindung des Subjekts, zur Geduld des Forschens und zur Unterwerfung unter das Gesetz verleiht.

Aber auch die entgegengesetzte pädagogische Leistung, ohne die der so bestärkte Geistesmut in den Hochmut eitler Allwissenheit und Allmacht zu entarten droht, das Eingeständnis also und die Achtung der Grenze alles menschlichen Sinnens und Trachtens, wird dem naturwissenschaftlichen Unterricht heutzutage nicht schwer gemacht, wofern nur der Lehrer sich auf der Höhe seiner Wissenschaft hält. Denn es ist ja die Atomphysik selber, die sich an solche unüberschreitbare Grenze gebracht und die letzte Säule einer absoluten „Objektivität“ mit der Ungenauigkeitsrelation gestürzt, derart die unausrottbare „Subjektivität“ des forschenden Menschengeistes an den Tag gebracht hat.

Wieder also ist es das dialektische Ja und Nein, das im unauflöslichen Miteinander den heilsamen Geistesmut bestärkt und zugleich den unheilvollen Übermut dämpft, indem es Größe und Grenze des Menschen in einem sichtbar macht. An welcher Tatsache läßt sich heutzutage die Zweideutigkeit und Zwiespältigkeit alles menschlichen Sinnens und Trachtens so unwidersprechlich wie handgreiflich aufzeigen wie an der modernen Technik, diesem Werk des rechnenden und berechnenden Verstandes, der mit der Herrschaft über das Atom sich unermeßliche Kräfte humanen Segens erschloß, aber auch jene Macht zur totalen Vernichtung des Lebens auf der Erde in die Hand bekam, die wie ein Albdruck der Todesangst auf der Menschheit lastet.

Aber nicht nur der drohende Blitztod durch die Wasserstoffbombe muß dem heutigen Menschen Angst vor sich selbst und seiner Geisteskraft machen, sondern nicht minder die schleichende Auszehrung seiner Person und ihres Freiheitswillens durch die Mechanisierung seiner Arbeit, die Funktionalisierung seines Denkens und Tuns, die totale Rationalisierung, also Versachlichung aller seiner Lebensäußerungen und Daseinsbezüge; am Modell dieser Welt zu veranschaulichen: die Verkehrung des Schöpfers und Herrn der Maschine zu ihrem Werkzeug und Sklaven.

Gegen dieses ganze Unheil hat die Erziehung den Sachverstand zu jener Vernunft zu rufen, die nach der Lehre ihres bedeutendsten Anwaltes Kant zur Achtung fürs Sittengesetz, zur verantwortlichen Freiheit, zur Wahrung der Menschenwürde nötigt. Was aber kann die Erziehung gegen jene nun erst allerunheimlichste Gefahr tun, die sich die Vernunft selbst heraufbeschwört, falls sie auf ihrer eigenen unbedingten Wahrheit und Güte besteht? falls sie, alles in Frage stellend, sich selbst außer Frage steht? also meint, es bedürfe nur eines human gesinnten guten Willens, damit die Menschheit zur Vernunft, die Menschenwelt in Ordnung komme? Aber die Geschichte der modernen Naturwissenschaften und der von ihnen hervorgebrachten Technik lehrt doch, daß dieser Wille allein den Lauf der Dinge nicht bestimmt; daß hier vielmehr ein unheimliches Verhängnis waltet, das man dann mit dem geheimnisvollen Wort von der „Dämonie der Technik“ bezeichnet hat. Ist das nur ein Schreckwort ängstlicher Gemüter, die von der Technik nichts verstehen, oder hat es einen wirklichen Grund?

Dämonie Technik? der Daß im technischen Mittel so etwas wie ein eigener Wille waltet, der dem Menschen über den Kopf wachsen, also das Verhältnis Mensch-Technikum auf den Kopf stellen kann, zeigen nicht erst die'* Machtinstrumente der modernen Maschinentechnik, sondern das lauen bereits im Werkzeug des homo faber. Ja, dieser wußte sogar schon um die Bosheit des von ihm gemachten Zeugs, wie etwa das in Goethes Zauberlehrling benutzte Märchenmotiv lehrt. Dabei handelt es sich nicht bloß um die einfache Tatsache, daß dasselbe Messer, das dem Arzt das Geschwür aufschneiden und das Leben retten hilft, ebenso willig dem Bösewicht als Mordinstrument dient. Vielmehr ist hier etwas viel Vertrackteres als die bloße Amoralität der Technik im Spiel. Der kaltblütige Mörder beschafft sich den Dolch und überträgt auf ihn seinen Mordwillen; aber den Jähzornigen macht erst die Axt, die ihm gerade in die Hand kommt, zum Totschäger. Die ins technische Zeug gebannte Kraft verführt. Wenn wir aber schon sagen, daß Gewehre losgehen wollen, welche Versuchung bedeuten dann erst die modernen Zerstörungsmittel für den machtgierigen Geist!

Lind nun befeuern sich die Dämonien gegenseitig. Denn wie ungeheuerlich hat sich das Machtbewußtsein des Menschen eben durch die immer gewaltigeren Möglichkeiten gesteigert, die die Maschine ihrem Herrn in die Hand gab! Lind das vermehrt sich noch einmal millionenfach dadurch, daß dieselbe Maschine ihren Sklaven jener menschlichen Kräfte immer mehr beraubt, die aus der Freiheit stammen und die Freiheit befördern. Damit sind wir dort angelangt, wo der Teufel diesen ganzen Wust von Unheil mit dem Bündnis von Technik, Vermassung und Gewaltherrschaft besiegelt. Die Maschine, der Apparat oder welches Gebilde der Technokratie auch immer, das jedem Beliebigen dient, wofern er nur die Gewalt hat, es in Besitz zu nehmen, macht zugleich die Masse der Gewaltlosen diesem Gewaltigen, sei er Diktator oder Manager, nach seinem Belieben verfügbar. So treibt die teuflische Dialektik hi immer unmenschlicheres Unheil hinein: Die Ohnmacht der vielen Schwachen und die Macht der Wenigen oder gar des einen Gewaltigen fördern sich gegenseitig. Aus dem Geiste der Macht zwar entstanden, kommt die Maschine nicht ebenso leicht in die Macht des Geistes wie in die brutalen Fäuste der Gewalthaber.

Wer hilft uns wider der Titanen Übermut?

Gerade an diesem, technischen, Brennpunkt der modernen Menschen-bildung erweist sich aber, wie recht wir hatten, die Pädagogik auf Anthropologie als ihren letzten Grund zu stellen. Läßt sich die Erziehung davon überzeugen, dann kann gerade die Technik, diese Vorliebe der heutigen Jugend, der Jugenderziehung den packendsten und überzeugendsten Anschauungsstoff für jenes — man staune! — religiöse Moment bieten, ohne das alle Mcnschenbildung in eitle Einbildung zu entarten droht und das allein auch den Techniker aller Arten und Grade zu bilden vermag, der, im Wissen um den dämonischen Willen der Technik, ihn zu behexen, sich nicht übermächtigen läßt, sondern ihr freier Herr bleibt.

Ein Tor, wer den Maschinensturm der industriellen Frühzeit wiederholen und die Technik irgendwie, und sei es auch nur im Wunschdenken, bestreiten wollte. Ein blinder Tor auch, wer über all dem Unheil ihren unermeßlichen Segen vergäße, ja schon die nackte Tatsache, daß wir zum Beispiel ohne die Technik der chemischen Bodenpflege verhungern müßten. Ein verblendeter Tor aber, wer das Unheimliche nicht wahrhaben will, das in der Zweideutigkeit lauert, die die Technik von der Fragwürdigkeit ihres Schöpfers, des Menschen, hat; wer, wie noch Hegel, aus dem Glauben an die absolute Vernunft die hier waltende Dialektik für gutmütig hält und der Maschine zutraut, sie werde „dem Menschen schließlich von der Arbeit wegzutreten“ gestatten, ihn also von der Arbeitsfron ganz freimachen, was ja die Technikgläubigen heute in allem Ernst von der Automation erwarten. Nein, die im Menschenwerk der Technik arbeitende Dialektik ist nicht harmlos, sie bedroht den Menschen in der Tat dämonisch.

Wer aber rettet uns vor der Dämonen Tücke, die im Herzen der Technik wühlt und das Vehikel des Fortschritts immer schneller an den Abgrund der Unmenschlichkeit reißt und Vermassung wie totale Zwingherrschaft befördert? Offenbar allein der gute Wille der sittlichen Vernunft, die Technik human zu halten? Aber wie, wenn gerade dieses Vertrauen auf die sittliche Kraft uns für die Zweideutigkeit all unseres, auch des besten Sinnens und Trachtens blind machte, so daß dieses sittliche Selbstbewußtsein den Dämonen sehr zupaß käme?

Wer — so muß also die letzte Frage lauten — hilft uns gegen der Titanen Übermut, der im Herzen des Technikers selber (der jeder von uns modernen Menschen ist) aufsteht und im Rausch der Erfolge keinen Zweifel des Menschen an sich selbst und seinem Tun aufkommen läßt? Welche Macht zertrümmert das Atom des modernen Selbstbewußtseins, das die unerhörten positiven Leistungen der Technik hervorbrachte, aber auch so unbekümmert ihr Unheil hat wuchern lassen, daß es alles Heil zu überwuchern droht? Nur das Bewußtsein selbst kann sich zu der totalen Sinnesänderung, die hier notwendig ist, verhelfen, indem es in sich geht und erkennt, was der Mensch wirklich ist. Zu dieser Metanoia eines falschen in das wahre Bewußtsein, welches Grenzund Schuldbewußtsein ist, kann uns die Lehre von der Erbsünde behilflich sein, oder — wenn die dem modernen Ohr zu ärgerlich klingt — die griechische Lehre von der tragischen Verfassung des Menschen und seiner Welt, oder — wenn das dem modernen Ohr zu fremdartig tönt — die Einsicht der modernen Anthropologie in die Fragwürdigkeit des Menschen und alles Menschlichen, welche drei Fassungen im humanen Verständnis auf dasselbe hinauslaufen.

Eigentlich sollte der moderne Mensch indes solcher Belehrung aus zweiter Hand nicht bedürfen, da das Leben selber ihn so rücksichtslos wie noch nie in die Lehre genommen hat, um seine Hybris zu brechen. Gerade die Techniker, von denen sich die Geschichte ja für diese Schule die wirkungsmächtigsten Lehrmittel herstellen ließ, können diese Lehre doch gar nicht überhören oder schon wieder vergessen haben. Wenn aber doch, sollten sie den Anthropologen dankbar sein, wenn die sie daran erinnern.

Das gilt nun aber ganz besonders den Erziehern und wiederum vornehmlich jenen, die es unmittelbar oder mittelbar mit der Technik zu tun haben. Es wäre unverzeihlich, wollten sie diese großartige Gelegenheit zu wahrer Menschenbildung nicht mit aller Kraft und aller Kunst nutzen.

II. Die Verantwortung der Erziehung für unsere Gesellschaftsordnung

Person und Masse Seit die rationalisierte Heilkunde mit ihren Techniken der Sterilisierung und Immunisierung die Säuglingssterblichkeit so erfolgreich bekämpft hat, nimmt die Zahl der Erdbewohner gewaltig zu. Das führt, zusammen mit der Industrialisierung, zur Ballung von Menschenmassen in enge Räume, was wieder eine immer genauere Regelung ihres Verkehrs durch zentrale Stellen erforderlich macht. Dies aber engt die Bewegungsfreiheit des Einzelnen immer mehr ein, entzieht, da stets neue Regelung stets weiterer Lebenskreise und -bezüge nötig wird, dem Individuum einen Spielraum der Freiheit nach dem anderen und nimmt ihm damit einen Anlaß nach dem andern, nach seinem eigenen Willen zu verfahren, zwingt vielmehr zu einer Regelmäßigkeit, die allgemein, also „ohne Ansehen der Person“ gilt. Rationalisierung schert alle über einen Kamm und macht, da sie jeden gleich behandeln muß, auch tatsächlich alle gleich; egalisiert sie.

Hier wird schon deutlich, was am Schluß noch eingehend zu begründen ist, daß all diese Bestrebungen, die im Zuge der Zeit sind: Technisierung, Mechanisierung, Regulierung, Organisierung, Bürokratisierung, Zentralisierung — eines Geschlechtes sind und ein und denselben UrSprung im Prinzip der Rationalisierung haben; daher auch dessen Willen teilen, sich zu totalisieren und zu radikalisieren; daher auch unter dessen LIr-und Erbschuld stehen und sein tragisches Verhängnis durch ihre Taten mitbefördern: daß dasselbe Prinzip, das erdacht wurde, um das Individuum am Leben zu halten, ihm es immer schwerer macht, am Leben zu bleiben; daß dieselben Unternehmen, die das Dasein für den Einzelnen immer leichter, reicher, glücklicher machen wollen, zugleich diesem Einzelnen immer mehr die Hände binden, nach seiner Eigenart zu leben und auf seine Weise glücklich zu werden.

Man hat diese Vorgänge, seit Le Bon seine Psychologie der Masse schrieb und besonders neuerdings, seit Ortega y Gasset den Aufstand der Massen anzeigte, unter den Begriff der Vermassung gebracht Dagegen wenden sich nun allerneuestens manche Soziologen mit dem Nachweis, der Einzelne sei keineswegs in die Masse untergegangen, sondern setze sich vielmehr von ihr ab. Dafür weist man auf die Widerstandskraft der Familie, den Rückzug ins Privatleben, die Pflege von Steckenpferden hin. Gewiß trifft das alles zu, aber es scheint mir doch nur die Wahrheit zu bestätigen, daß der Freiheitsdrang der Person das unzerstörbare Siegel unseres Menschentums ist, daher mit jedem Neugeborenen neu zur Welt kommt und selbst in den Kerkern der Tyrannen und den Straflagern des totalen Staates noch Schlupfwinkel sucht und findet, sich zu regen. Solche Winkel bieten in der kalten Diktatur der total rationalisierten Massengesellschaft die Familie, das Privatleben überhaupt, persönliche Liebhabereien. Hurra! rufen jene Soziologen, das Persönliche ist nicht umzubringen.

Nochmals: ganz richtig. Aber bringt das Individuum auf diese Weise seine Freiheit in der Tat zur Welt und verwirklicht sie, mit Hegel zu sprechen, als „Freiheit i m Dasein“? Sind dies nicht vielmehr Musterbeispiele für „Freiheit vom Dasein“? Ermannt das Individuum so seinen dumpfen oder spielerischen Freiheitsdrang zum bewußten und entschiedenen Freiheitswillen und bildet derart seine Eigenart zur selbständigen Person, die doch erst Halt gewinnt, wenn sie in der Welt Stand faßt, und deren Eigensinn doch erst zur Selbstverantwortung sich durcharbeitet, wenn der Einzelne sich mitverantwortlich für die Welt seiner Gesellschaft macht?

Die Abspaltung des Privaten vom Öffentlichen, des Besonderen vom Allgemeinen, der Innen-von der Außenwelt schafft erst den üppigsten Nährboden für den Bazillus der Schizophrenie, dieser epidemisch gewordenen Geisteskrankheit der Asozialität in unserer Zeit. Natürlich kann der Mensch auch „in Ketten geboren“ sich freimachen. Aber dazu braucht er einen ungemeinen Freiheitswillen, den der „aus Gemeinem Gemachte“ (Schillers Idealismus der Freiheit mit Schillers anthropologischem Realismus zu widerlegen) gemeinhin nicht aufbringt. So kann man auch nicht wie Guardini die Verfassung der Welt auf sich beruhen lassen, weil der Mensch immer als Person vor Gott stehen könne. Läuft das nicht auf einen theologischen „Idealismus“ hinaus? Ist nicht gerade der Christ für die Welt verantwortlich, die der Herr der Geschichte ihm aufgegeben hat, und dafür, diesem Herrn dadurch die Wege in dieser Welt zu bereiten, daß er sich zum Hüter seiner Brüder bestellt?

Der Glaube an die allgemeine Meinung Brechen wir ab und halten wir fest: Mit ihrem geistreichen Zirkel der totalen Rationalisierung hat die moderne Menschheit sich in jenen Teufelskreis gebannt, den von außen die Kette der Organisationen und Apparate so lückenlos abschließt, daß der Einzelne nur noch auf Gefahr seiner Existenz ausbrechen kann; dessen Innenraum aber — und das ist nun erst das Mörderische an dem ganzen Verhängnis — von Stickluft so erfüllt ist, daß der Freiheitswille der Person darin keinen Atem mehr bekommt. Der Stickstoff, das ist die allgemeine Meinung, von der der scharfsinnigste und weitblickendste Kritiker der demokratischen Gesellschaft vor hundert Jahren, der französische Staatsmann und Soziologe Alexis des Tocqueville, voraussah, „sie werde zu einer Art von Religion werden, deren Prophet die Mehrheit ist.“ Seltsamerweise hat Tocque-ville bei seinen Analysen unseres Zeitalters der Gleichheit die Macht der Technik mit ihrem Willen zur Mechanisierung nicht mit ins Auge gefaßt, obwohl die doch bereits für so viele Zeitkritiker — Herder, Humboldt, Goethe, Pestalozzi, Hegel — bedenklich geworden war.

Was aber würde Tocqueville erst sagen, hätte er erlebt, wie diese alles konformierende allgemeine Meinung mit Hilfe der technischen Massenbeeinflussungsmittel — Rotationspresse, Rundfunk, Fernsehen, Film, Illustrierte, Schundhefte, comic strips — fast unwiderstehlich, nämlich allgegenwärtig geworden ist und dem modernen Menschen schon von früher Jugend an erst mittelbar (über die Eltern, die Älteren überhaupt), dann unmittelbar das eigene Denken, Fühlen, Wollen so hartnäckig abgewöhnt, daß der verantwortungsbewußte Jugenderzieher gegen diese „anonymen Miterzieher“ nicht mehr ankommt.

Die Bedrohung des Wachstums der selbständigen Person wird nun noch dadurch verschärft, daß die Abwehr-und Heilkräfte der Familie zunehmend versagen. War der Täuschungsraum mit seiner keimfreien Luft schon in Pestalozzis Tagen durch das Zeitverderben des „Wohnstubenraubes“ bedroht, so haben heute zahllose Kinder überhaupt keine Familie mehr oder nur noch einen Rest davon oder wohl zwar eine Wohnung, aber ohne die Nestwärme jener wahren Liebe, „die auf Gehorsam und Furcht gepfropft ist“. Damit fällt weithin auf die Schultern insbesondere der Schule die Aufgabe, die aber eigentlich alle Erziehungsmächte einmütig betreiben sollten: die Jugendlichen gegen das Gift der allgemeinen Meinung zu immunisieren. Das muß in einem zweifachen Verfahren, negativ und positiv, geschehen. Im negativen ist die Glaubwürdigkeit dieser allgemeinen Meinung zu zersetzen mit ihren vorgekauten Begriffen, zurechtgemachten Vorstellungen, blödsinnigen Schlagworten und Redensarten, vor allem aber, in Bildzeitungen, auf der Filmleinwand und in den Schundheften, mit ihren Götzenbildern, sei es im sentimentalen, sei es im brutalen Stile, am schlimmsten und häufigsten in einer Mischung aus beidem. Die wirksamste pädagogische Weise der Zersetzung ist die Diskussion. Sehr gut sagt schon Le Bon: „Ein diskutierter Nimbus ist kein Nimbus mehr.“ Der zum Fußballgott ausgerufene Herr Turek, die göttliche Garbo, der Rummel um einen Operettenfürsten und seine Filmprinzessin büßen ihre Faszination ein, wenn der Erzieher die Zöglinge dies alles auf seinen Gehalt hin kritisch untersuchen läßt. Gegen diese Räusche ist also die Ratio aufzubieten, daß sie ihre Ernüchterungskur betreibe.

Erziehung zur Ehrfurcht Damit aber die Heilung vollständig werde, muß die Erziehung zugleich ihr zweites, positives, Verfahren ansetzen. Daß die falschen Bilder so leicht Anklang bei Kindern, Jugendlichen, aber auch nicht minder Erwachsenen finden (weswegen sich hier auch für die Erwachsenenbildung eine wichtige Aufgabe stellt), ist nur zu verstehen, wenn solche Bilder ein mächtiges Bedürfnis des Menschen ansprechen. Es ist die Einbildungskraft, die aber heutzutage von einer vordringlich intellektuellen oder voluntativen Pädagogik recht stiefmütterlich bedacht zu werden pflegt.

Da kommt uns die musische Bildung mit all ihrer Segenskraft gegen unser Zeitverderben des Götzenbilderdienstes zu Hilfe, indem sie den Bilderhunger der Einbildungskraft mit solchen Gebilden stillt, die in Wort, Farbe, Stein, Ton, auch im Leitbild des heilen Leibes, wie es eine musische Gymnastik vermittelt, echte Vorbilder wahren Menschentums sind. Dieser musischen Bildung ist jedoch nicht genügt, wenn im Lehrplan auch Musik, Kunstunterricht, Leibeserziehung ihren Platz bekommen. Der ganze Unterricht vielmehr, ja der ganze Raum des Schullebens muß an dem Segen teilhaben, den die Musen spenden. Audi in die Arbeitsräme muß er fließen; das propagandistisch mißbrauchte Wort „Schönheit der Arbeit“ hat sein Recht und seine Wahrheit.

All dies aber nicht bloß, weil die Musen jene Heiterkeit schenken, die nach Platon „dem wahren Ernst verschwistert ist“, und so diesen davor bewahren, tierisch zu werden; auch nicht nur, weil sie den Sinn für die Form bilden, die den gesellschaftlichen Verkehr so sehr zu humanisieren vermag. Aber das kann auch in leere, ja falsche Konvention entarten und tut es, falls die Form nicht eine innere Haltung ausdrückt. Die aber ist Ehrfurcht, in der Goethe die Krone von Menschen-bildung sah, und von der er wußte, daß sie dem Menschen nicht von der Natur mitgegeben sei sondern ihm an-, nun eingebildet werden müsse Das aber ist nun das eigentliche Wunder der Musen. Denn dies unterscheidet ja doch das Schöne vom Nützlichen, sogar noch vom Begriff des Wahren und Guten, daß man sich seiner Gestalten nicht bemächtigen kann, sondern daß man sie, mit Platon zu sprechen, „stehen lassen muß auf ihrem geheiligten Grunde“. Das bedingt aber Ehrfurcht, die mithin vom Schönen zugleich gefordert und geschenkt wird.

Selbst-und Mitverantwortung Ist der Sinn für Ehrfurcht erschlossen, dann ist der Mensch gestimmt, die dreifache Verantwortung, die er zu übernehmen hat, auf humane Weise wahr zu nehmen: für die Sachen, über die er zwar zu verfügen hat, die er aber in ihrem Eigensein achten muß, wenn er sie nicht zerstören will (Beispiel: der Raubbau an der Natur); für die Menschen, die er zwar in Dienst zu nehmen hat, deren Eigenrecht er aber ehren muß, wenn er sie nicht mißhandeln will; für sein Selbst, das er zwar an die Gesellschaft hingeben muß, aber daran nicht aufgeben darf, wenn er dessen höchsten Wert gerade für das wahre Gemeinwohl nicht preisgeben will: nämlich die Selbstverantwortung, die allein alle Mitverantwortung wirklich verantwortlich macht.

Daher ist denn auch die Bildung zur selbständigen Person das höchste Ziel aller Erziehung zur Gesellschaft. Diese Einsicht bricht den Anspruch auf Allein-oder auch nur Vorherrschaft einer Anpassung an die Gesellschaft, einer Erziehung zur Partnerschaft, zur Gemeinschaftsarbeit, zum Gruppenwerk. Idi betone: Allein-oder Vorherrschaft! Denn daß der junge Mensch lernen muß, sich in die Verkehrsregeln, die Gesetze und Sitten.der Gesellschaft zu fügen, schreibt ihm schon seine gesellige Natur vor, und unser Lehrmeister Pestalozzi nahm diese Aufgabe ja so ernst, daß er nicht einmal vor Verstümmelung des kindlichen Eigensinns zurückschreckte. Aber hoch über dieser gesellschaftlichen Rücksicht stand ihm noch die Sorge für die Selbständigkeit der Person und deren Kraftquelle, das selbstverantwortliche Gewissen, und zwar auch, nein gerade um der Gesellschaft willen. Denn, im Bilde des Platonischen Seelengleichnisses zu sprechen: Bloße Anpassungserziehung spannt zwar den Eigensinn heilsam unter das gesellschaftliche Joch, gibt ihm aber nicht die Peitsche, die ihn stachelt, das Gefährt über Stock und Stein bergan zu ziehen; läßt ihn vielmehr in den allgemeinen Trott fallen, der es in ausgefahrenen Gleisen aufs bequemste bergab zuckelt.

Wir können noch tiefer blicken. Jenes Gebot, das die Zeitenwende unserer Geschichte herbeiführte und dessen Verwirklichung in der Tat die Gesellschaft heil machen könnte (was freilich in dieser argen Welt nie rein zu verwirklichen ist, aber doch, redlich erstrebt, sie vor dem schlimmsten Unheil bewahren würde), — Jesu zweites Liebesgebot also, lehrt uns, daß die Selbstliebe sich nur in der Nächstenliebe wahr macht, daß diese aber allein von der wahren Selbstliebe, also von der gewissenhaft selbständigen Person zu verwirklichen ist. So sind die beiden Grundgestalten unseres Menschentums, die Person und der Nächste, auf Gedeih und Verderb wechselweis aufeinander angewiesen. Wo die eine stirbt, geht es auch mit der anderen zu Ende. Auf diese Vernichtung der Menschlichkeit in ihren beiden Gestalten hat es nun aber, wie wir erkannten, die total und radikal rationalisierte Verfassung unserer Gesellschaft abgesehen. Gegen dieses Zeitverderben haben wir uns um Heilkräfte für die Gesellschaft bemüht.

Fragen wir aber, wo die Krankheit ihren Ursprung hat und wie wir sie also genau benennen müssen, so lautet die Diagnose: Auszehrung der Freiheit. Das aber ist ein vornehmlich politisches Thema.

III. Die Verantwortung der Erziehung für unsere Staatsverfassung

Menschenrecht und Staatsmacht Naturrecht?

Seit der Verkündigung der allgemeinen und selbstverständlichen Menschenrechte herrscht gemeinhin die Auffassung, der Staat sei einzig dazu da, mit seiner Macht diese Rechte zu sichern. Zwar weiß man, daß nur allzu gern Macht vor Recht geht; aber man begehrt gegen solches Unrecht auf und sagt, der Mensch sei nicht für den Staat, der Staat vielmehr für den Menschen da. Indes: wie anders kann der Staat diese Fürsorge in die Tat umsetzen als dadurch, daß er die Menschen in seinen Machtdienst nimmt? So geht es also auch hier nicht einfach, sondern wiederum dialektisch zu. Der Staat kann nur für den Menschen da sein, wenn der auch für den Staat da ist. Will der Bürger das nicht wahr haben, kümmert er sich nicht um den Staat oder lehnt ihn verdrossen ab, verweigert ihm gar den Dienst, so kommt er nur vom Regen der Macht in die Traufe der Gewalt. Denn der Staat läßt sich nicht aus der Welt schaffen. Solange das Recht zwar ewig in den Sternen geschrieben steht, aber in der argen Welt kein selbstverständliches Dasein hat, ruft es nach der Macht, daß sie es durchsetzte. Also gibt es kein Naturrecht? Nein und doch ja, meint Pestalozzi. Nein, weil einmal in der Natur draußen das Recht des Stärkeren, welches Unrecht ist, herrscht; zum anderen, weil in der widerspruchsvollen Natur drinnen die individuelle Selbstsucht auf ihrem Recht besteht, auch dem andern wohlwollend Recht gibt, aber doch nur solange, als dies dem eigenen unbedingten Rechtsanspruch nicht in die Quere kommt. Gerade dieser Konflikt, wofern er nicht alle rechtlos und damit lebensunfähig machen soll, zwingt die Vernunft des Selbstbehauptungswillens zum Gesellschaftsvertrag, der zu seiner Besiegelung die Macht des Staates herbeiruft.

Mithin ist das Recht nicht von Natur, sondern von der Gesellschaft her und für sie da. Der Staat aber ist als der Schiedsrichter über die einzelnen Streitfälle eingesetzt und gerechtfertigt, wenn er sie als Treuhänder des Ganzen, das heißt nach allgemeingültigen Gesetzen entscheidet. Diese Entscheidung, also die Abgrenzung der einzelnen Lebensräume gegeneinander, wird nicht in jedem einzelnen Falle jedes einzelne Rechtsgefühl befriedigen, aber grundsätzlich vermag der Staat zu erreichen, daß es mit rechten Dingen zugeht. Ein ordentlicher, also ein Rechtsstaat wird sich um immer gerechtere Gesetze bemühen und sie dem Zeitwandel der Umstände immer besser anzupassen suchen.

Damit entspricht er dann auch dem „Naturrecht“, dessen Mutterboden Pestalozzi in der sittlichen Natur des Menschen entdeckt. „Das wahre Naturrecht ist nichts anderes als eine Folge des Gefühls, daß das Gesetz auf Regeln und Grundsätzen ruhen soll, die mit unserer unverdorbenen Natur, das ist mit uns selbst, übereinstimmen.“ Daher soll der Staat seine „Gesetze an den sittlichen Maßstab anknüpfen“.

Warum aber nur anknüpfen und nicht viel besser ganz nach ihm richten? Weil der Staat das nicht kann; denn er ist, wie wir schon wissen, „an das Recht des Kotes in der Welt“ gebunden. Dieser wohl zu mildernde, aber nie aufzuhebende Gegensatz zwischen Macht und Recht wird nun aber nicht etwa schon dort scharf, wo der Staat als Schiedsrichter über die Einzelansprüche entscheidet, sondern erst dann, da er als Treuhänder des Ganzen mit dem Rechtsanspruch des Einzelnen in Widerspruch gerät. Wir hörten schon von Pestalozzi, daß im Konflikt zwischen kollektiver und individueller Existenz der Staat verpflichtet sei, sich gegen diese letzte zu entscheiden, und zwar ganz einfach, weil das Kollektiv der Existenzboden des Individuums ist.

Da geht denn also in den Augen des betroffenen Individuums Macht vor Recht? Zweifellos, nur daß diese Macht nicht Willkür, sondern Notwehr ist; daß die sittliche Natur der einzelnen Person zwar das „höhere“, die Staatsmacht aber das dringendere Recht hat.

Aus dieser Formulierung ergeben sich für die beiden Seiten zwei im äußersten Falle paradoxe Folgerungen. Die Staatsmacht muß notfalls zur Gewalt schreiten und über das individuelle Gewissen zu ihrer Tagesordnung übergehen. Das Individuum, das in einem Rechtsstaat der Obrigkeit Gehorsam schuldig ist, muß dennoch Gott mehr gehorchen als den Menschen und hat, wenn diese beiden Verantwortungen in Konflikt geraten, das Recht, ja die Pflicht zum Widerstand gegen den Staat. Aber es darf sich nicht wundern oder gar beklagen, wenn der Staat den nicht duldet, sondern ihn zur Rechenschaft zieht, ihn lahm legt, notfalls mit Gewalt bricht. In diesem Konflikt der Pflichten, der wahrhaft tragisch ist, weil beide Seiten Recht, aber der Staat rechtens die Macht hat, muß der Einzelne bereit sein, für seine Gewissensüberzeugung zu leiden, wie es zum Beispiel die Kriegsdienstverweigerer aus Glaubensgründen, ja die gewissenhaften Ketzer zu allen Zeiten und in allen Ländern auch immer getan haben.

In all diesen Überlegungen ist vorausgesetzt, daß es sich um den Rechtsstaat handelt, da ja überhaupt nur ein solcher die Erziehung verpflichten kann. Was den Unrechtsstaat der Gewalt betrifft, so hat Erziehung im Dienste von Menschenbildung mit allen ihr nur verfügbaren Mitteln gegen ihn zu arbeiten.

Das heiße Eisen der Macht Die staatspolitische Erziehung wird also vor ihre Hauptschwierigkeit und damit ihre Kernaufgabe durch das Problem der Macht gestellt. Für uns Deutsche verschärft sich diese Problematik noch dadurch, daß unsere neuere, also noch lebendige Geschichte uns den richtigen Umgang mit der Macht nicht hat beibringen können. Das ist der eigentliche Grund dafür, daß wir politisch immer wieder versagt und uns schließlich um jede Macht und das heißt um alle politische Selbständigkeit gebracht haben.

Damit kann sich eine verantwortungsbewußte Erziehung nicht abfinden. Daher erhob sich denn auch bald nach dem Zusammenbruch der Ruf nach politischer Erziehung. Man errichtete Lehrstühle der Politik an den Hochschulen, bemühte sich, die Schularbeit überall mit politischen Bezügen zu durchdringen, ja führte sogar ein eigenes Fach des politischen Unterrichts in die Lehrpläne ein.

Inzwischen ist dieses Jüngstgeborene freilich bereits umgetauft worden und heißt nun Sozial-oder Gemeinschaftskunde. Nun,'Namen sind Schall und Rauch. Indes gilt auch: nomen est omen. Lind das trifft nun hier in einer überaus verhängnisvollen Weise zu. Mustert man nämlich die Pläne für das neue Unternehmen, so wird man ihnen Vernunft des Aufbaus, Reichtum der Anregungen, Besonnenheit des Urteils nicht absprechen. Aber was uns als das Kernproblem einer politischen Erziehung aufging und was doch zweifellos das eigentümliche Wesen alles Politischen ausmacht, das sucht man hier vergebens. Ich kenne solche an sich vortrefflichen Richtlinien für die politisch gemeinte Gemeinschaftskunde, in denen nicht einmal'das Wort Macht vorkommt.

Was war denn eigentlich aber die Not, die das Bedürfnis nach dem neuen Lehrfach weckte? Doch nicht so sehr das soziale, als vielmehr das politische Versagen unseres Volkes. Ja, geradezu im Gegenteil: was soziale Verantwortung betrifft, so standen wir doch wahrlich nicht hinter den anderen Kulturvölkern zurück, sondern waren in sozialer Gesetzgebung und Fürsorge vielmehr ihre Wegweiser. Sogar das unmenschliche Gewaltsystem des sogenannten Dritten Reiches hat doch so viele gute Deutsche nur damit verführen können, daß es auf deren waches soziales Gewissen spekulierte.

Soziale oder politische Erziehung?

Worin besteht denn aber der Unterschied zwischen dem Sozialen und dem Politischen im engeren Sinne des Staatspolitischen? Verträglichkeit, Rücksicht auf den Schwächeren; also im politischen Felde die kleineren Gruppen und Parteien, überhaupt jede Minderheit, Bereitschaft zum Kompromiß, Achtung der gesellschaftlichen Spielregeln, schließlich die Anerkennung der Tatsache, daß wir alle in einem Kahn sitzen — alle diese Tugenden, die eine redliche Gemeinschaftserziehung zu bilden sucht, braucht auch der Staat für seine Innen-wie Außenpolitik nicht minder als der Sozialkörper, für den er ja überhaupt da ist und von dem allein er lebt. Daher nannten wir ihn ja auch Treuhänder und Schiedsrichter.

Wie aber, wenn in einem Streitfall innerhalb seiner Grenzen es trotz allem guten Willen nicht zur verträglichen Einigung kommt, weil es nämlich gerade der gute Wille zur gewissenhaften Entscheidung ist, der jede der beiden Seiten nötigt, auf ihrem Standpunkt stehen zu bleiben, wobei aber dennoch gehandelt, also entschieden werden muß? Dann hat die Macht das letzte Wort, das freilich keineswegs Gewalt heißen muß. Aber ein Mehrheitsbeschluß, dem sich auch die nicht überzeugte Minderheit zu fügen hat, ist und bleibt ein Machtentscheid.

Wollte sich die Gegenseite dem aber nicht unterordnen, so ist wieder Macht, der Exekutive, geboten, um den Beschluß der Legislative durchzusetzen, notfalls Widerstand, nun sogar mit Gewalt, zu brechen. Ja, diese staatliche Macht muß immer und überall gegen solche Gefahr von Rechtsbruch und Friedensstörung von Einzelnen oder Gruppen und Parteien auf dem Posten sein. Denn solange das Böse da ist und die Menschen nicht Engel geworden sind, gibt es auch nicht nur einzelne Böse, sondern auch böse Mächte. Dieses Böse in der Welt zu überwinden, sollte freilich die Liebe all ihren Sanftmut'aufbieten, der verträglich macht. Aber die Macht des Bösen um der lebensnotwendigen Rechtsordnung willen in Schranken halten, das geht doch zuletzt nicht ohne Macht, die nun aber nicht wie die Liebe vom Himmel, sondern vom Bösen ist und daher ständig durch die Unersättlichkeit ihrer Natur sich selbst boshaft zu machen droht.

Diese aus der tragischen Verfassung der Welt als „das Recht und die Wahrheit ihres Kotes" aufstehende Paradoxie, daß die Macht des Bösen nur durch die böse Macht tatsächlich zu zügeln ist, erhält aber ihren bittersten Ernst erst in der Außenpolitik. Während die Machtgier immer nur Gewaltpolitik treibt, weiß die sittliche Verantwortung mit Clausewitz, daß der Krieg lediglich die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln, eben dem letzten Vernunftmittel der Macht gegen die Unvernunft der bösen Gewalttätigkeit ist. Inzwischen hat sich freilich diese ultima ratio vermöge der Allvernichtungsgewalt ihrer Waffen gegen sich selbst in die krasse Widervernunft verkehrt; ein neues ung•eheures Beispiel für das Gesetz des dialektischen Umschlags der Quantität in Qualität. Daher ist die Abkühlung des heißen zum kalten Kriege das Gebot der Zeit und eine Frage auf Sein oder Nichtsein der Menschheit geworden. Diese Abrüstung ist aber nur als globale zu verantworten. Solange der böse Machtwille noch irgendwo in der Welt auf der Lauer liegt, sind auch die gutwilligen Völker gezwungen, um ihrer Selbsterhaltung willen sich dagegen zu wappnen. Noch nie hat der Satz „Willst du den Frieden, so rüste den Krieg“ — gegen den Krieg, so sehr Recht gehabt wie heute. Mit seiner Widerlegung macht man es sich zu leicht, wenn man darauf hinweist, daß Wettrüsten schon oft zum Kriege geführt habe, weil die Gewehre schließlich einmal losgehen wollten. Denn die häufigeren Kriege, die eine solche Politik der Stärke verhindert hat, sind in den Annalen der Geschichte nicht verzeichnet; ganz abgesehen davon, daß eine Politik der Schwäche ein hölzernes Eisen ist.

Realpolitische Erziehung All dies erkennen und die Einsicht mit der Tat anerkennen zu lehren, das ist die Grundaufgabe einer realpolitischen Erziehung: wobei wieder zu sagen ist, daß Idealpolitik ein Widerspruch in sich selbst ist, weil es Verwirklichung des Unwirklichen nicht gibt. Solche wirklichkeitsechte politische Eiziehung ist nun aber hierzulande ebenso schwierig wie dringlich, weil unser „gedankenreiches und tatenarmes“ Volk, besonders auch seine Jugend, es bisher seit Menschengedenken nicht fertig gebracht hat, sich in ein vorurteilsloses Verhältnis zur Macht zu bringen. Nachdem wir frei nach Nietzsche und knechtisch unter Hitler den Willen zur Macht als den höchsten Lebenswert verhimmelt haben, verteufeln wir ihn jetzt, da wir uns schrecklich daran verbrannt haben, mit J. Burckhardt als das Böse schlechthin.

Dieses falsche Verhältnis zur Macht ist der wahre Grund für unser Versagen in der Realpolitik. Darum ist uns politisch Lied ein garstig Lied; deswegen hält sich die Jugend weitgehend von den Parteien fern, was aber in einer parlamentarischen Demokratie nur heißt: von der Politik überhaupt, die doch nur im Machtkampf der Parteien zu machen ist; darum will sich'der Geschichtsunterricht wieder, wie schon in der Weimarer Zeit, in die friedlichen Gefilde der Kultur flüchten und nicht einsehen, daß sein Eigensinn und Eigenrecht ganz allein dort zu suchen ist, wo Völker um ihre Selbstbehauptung und Selbstgestaltung ringen, also in der Politik; darum endlich beruhigen wir unser pädagogisches Gewissen vor dem unerbittlichen Anspruch des Politischen mit Sozial-kunde, bauen hier ein Friedensreich humaner Verträglichkeit auf und entlassen mit solchen idealen Vorstellungen unsere Jugend in eine Welt, deren Verfassung nun einmal der Kampf ist. Wie soll sie sich darin zurecht finden, wie ihren Mann und ihre Frau stehen?

Die meisten werden aus diesem Widerspruch von Schule und Leben geschmeidige Opportunisten werden, die Wenigeren, und das sind die Wertvolleren, werden sich auf Schritt und Tritt an der Wirklichkeit stoßen, weil sie „das Recht und die Wahrheit des Kotes in der Welt“

nicht einsehen gelernt haben. Sie werden sich aus der Politik heraus-halten, höchstens, wie Erasmus, mit Interesse der Tragödie zuschauen, aber nicht verantwortlich mithandeln; noch lieber werden sie sich in die vier Wände ihres Privatlebens zurückziehen oder ganz in ihrem Beruf aufgehen oder ein Steckenpferd reiten, wobei sie dann auch noch von einer kurzschlüssigen Soziologie dafür belobt werden, daß sie ihre Individualität bewahren. Lind all dies schließlich aus jenem gefährlichen deutschen Idealismus heraus, der sich die Hände am Kote nicht schmutzig machen und in das garstige Lied nicht einstimmen will, obwohl doch nur, wer einstimmt, Aussicht hat, die vox humana zu Gehör zu bringen.

Lim auf den tiefsten Grund der Sache zu kommen: Dieser verstiegene Idealismus vermag den Mut von Luthers pecca fortiter! nicht aufzubringen, ja nicht einmal zu begreifen. Daher kommt es auch, daß immer noch so viele Deutsche die tragische Größe der Männer des 20. Juli nicht zu würdigen vermögen.

Jede noch so vernünftig gedachte und noch so gut gemeinte wie — das sei aufs kräftigste unterstrichen! — lebensnotwendige und heilsame Sozialkunde, in der aber die Macht keine Rolle, ja schließlich nicht die Hauptrolle spielt und die also von der Politik, diesem alles, auch das Soziale schließlich durch Machtspruch entscheidenden Tatbestände, nicht redet — diese Sozialkunde wird unser deutsches Erbübel des absoluten und daher unpolitischen Idealismus nicht heilen, sondern nur vergrößern. Da aber solche Sozialkunde das Prachtstück neuester Schulreformen darstellt, entlarven die sich als Restauration. Gehen sie doch an der brennendsten deutschen Not dieser Geschichtsstunde auf demselben Wege vorbei wie die staatsbürgerliche Erziehung seligen Angedenkens der Weimarer Republik, selbst in der Konzeption des großen Pädagogen Kerschensteiner. Nein, das ist nicht Reform, geschweige denn das, was uns in dieser Zeitenwende wirklich not täte, Reformation der Erziehung an Haupt und Gliedern.

Selbstbewußte oder schuldbewußte Erziehung?

Die könnte auch nur aus einem innersten Gesinnungswandel, aus jener rücksichtslosen Selbsterkenntnis kommen, die alle idealische Einbildung über den Menschen und seine Welt in ihrer ganzen Eitelkeit durchschaute und damit die Bahn zu wahrer Menschenbildung überhaupt erst öffnete. Wo aber in all den schönen Lehrplänen dieser Jahre spürt man etwas von der Erschütterung jenes falschen Selbstbewußtseins, jenes eitlen Selbstvertrauens, das doch all das hervorbringen mußte, was dann der Mensch mit sich selbst angefangen und über sich selbst gebracht hat? Wo zeigt sich, daß die furchtbare Tragödie, die er mit sich selbst aufführte, sein absolutes Selbstbewußtsein gebrochen und ihn mit allen seinen Bemühungen, auch den erzieherischen, in die Wahrheit des Grenz-und Schuldbewußtseins „gereinigt“ hätte, welchen humanen Segen der Katharsis doch alle Tragödie spenden will. Welche noch blutigere soll denn die Geschichte erst mit uns aufführen, damit wir endlich aus ihr das lernen, was sie immer und überall uns sagen will? Die vielberufene Revision unseres Geschichtsbildes wird erst dann gründlich sein, wenn sie auch unser Menschenbild revidiert. Indes: was in den heutigen Bildungsplänen hätte nicht ebensogut im ersten Viertel dieses Jahrhunderts verfaßt sein können? Hat doch unlängst erst ein Lehrerverband einer fortschrittlichen Pädagogik von heute die Hauptaufgabe gestellt, die Ernte aus der Saat jener Reformbewegung einzubringen. Da kann man doch nur sagen: Dieser Fortschritt spottet seiner selbst und merkt es nicht. Inzwischen scheint sich also nichts ereignet zu haben, was der Pädagogik ernstlich zu denken geben und sie bewegen müßte, das Bild gründlich zu ändern, das sie sich vom Menschen gemacht hatte; demgemäß sich auch selber um ein neues Leitbild zu bemühen, nach dem sich alle ihre Bemühungen zu richten hätten. Sollte man es für möglich halten, daß nach den tektonischen Erdbeben, die alle Fundamente des pädagogischen Fortschritts-glaubens zerstört haben, dieser selbst dennoch weithin unerschüttert scheint und weiterhin auf die reine Güte der Menschennatur, die Selbstbefreiungsmacht der Gesellschaft, die Allheilkraft einer nach dieser oder jener Heilslehre ausgerichteten Erziehung vertraut?

Aber es ist so, und zwar zu allerletzt deswegen, weil „der Felsen der Selbstsucht“ unerschüttert blieb, dies aber wiederdarum, weil „der Mensch es nie an sich selber weiß, wenn er aus Selbstsucht handelt, er dichtet sich in allem Tun edlere Beweggründe an. Damit hat Pestalozzi auf seinem eigenen Wege die Einsicht in das gewonnen, was Kant „den feinsten Selbstbetrug der sittlichen Vernunft“ nennt. Dagegen hilft nur der rücksichtslose Wille zur Selbsterkenntnis, die nichts anderes ist als Erkenntnis des Selbstverderbens, das wiederum das Zeit-verderben einschließt. „Fürchte dich nicht vor dem Erkennen deiner Selbst! Es ist auf Erdeji kein Weg zur Wahrheit, es ist auf Erden kein Weg zum Menschensegen als allein dieser.“

Von keiner noch so schönen Verklärung des Menschen darf sich die Erziehung bestechen lassen. Einzig das wahre Bild des wirklichen Menschen kann sie leiten, das die Züge von „Größe und Elend“ des Menschen, das „Recht des Kotes seiner Welt“ und zugleich den „Engelgang" deutlich hervortreten läßt. Diese Dialektik des Menschen aber entfaltet sich zuletzt aus dem Zeugungsgrund aller Menschlichkeit und Unmenschlichkeit, der Freiheit. Damit ist diese der Ursprung alles Zeitverderbens und die Quelle aller Zeitheilung. Heutzutage ist für diesen dauernden Krieg unserer abendländischen Geschichte um die Freiheit der Person die Stunde der Entscheidung gekommen. Eine neue Katalau nische Schlacht ist zwischen den Demokratien der Freiheit und den totalen Kollektiven in unerhörter Mächtigkeit, unabsehbarer Dauer und weltweitem Umfang entbrannt.

IV. Die Verschwörung von Politik und Pädagogik wider die Einkreisung der Freiheit durch die Zeitmächte

Selbst auf die Gefahr von Wiederholungen hin ist nunmehr die eine Grundlinie durchzuziehen, die, von dem selben Zeitwillen angesetzt, die drei Machtströme der Zeit auf dasselbe Ziel hinführt. 1, Die Dreieinheit des Zeitverderbens Lenin, dieser Cäsar oder Napoleon des 2O. Jahrhunderts, hat gemeint, „die Massen würden seinen bürokratischen und diktatorischen Zentralismus leidster hinnehmen, weil Disziplin tfnd Organisation schneller vom Proletariat verdaut werde, dank der Schulung in der Fabrik“. Daß der Eiskalte und daher auch nicht wie Cäsar Erschlagene oder wie Napoleon Geschlagene sich damit nicht verrechnet hat, steht heute aller Welt vor Augen. Es herrscht ein tiefes Einverständnis zwischen der Verfassung der industriellen Arbeitsgesellschaft und dem System der modernen Diktatur. Hier begegnen sich der Drang der Technik, möglichst vieles auf einen Nenner (Typisierung, DIN-Format, Taylorismus), die Absicht der gesellschaftlichen Organisation, alles auf einen Draht (Dirigismus) und der Wille der Politik, alles auf eine Linie (die berüchtigte Generallinie) zu bringen. Auch könnte die Politik ohne die Handhaben der modernen Technik und Organisation nicht so allmächtig, diese ohne den Arm der Politik nicht so rücksichtslos sein, wie das diese Mächte aus Herzensgrund wohl möchten. Daher der andere und bekanntere Ausspruch wieder Lenins, der Kommunismus des 20. Jahrhunderts sei Staatssozialismus plus Elektrifizierung; heute würde er sagen: plus Atomkraft und Automation. So konnte Albert Speer in Nürnberg erklären, ohne die moderne Fernmeldetechnik hätte Hitler Generäle nicht zu Befehlsempfängern degradieren können. So begreift sich auch, wieso Bismarcks, des letzten großen Staatsmannes aus dem 19. Jahrhundert, Weisheit, eine Regierung könne nicht auf Bajonnetten sitzen, vom 20., dem technischen Jahrhundert auf den Schutthaufen der Weltgeschichte geworfen werden konnte.

Das ist unser „Zeitgeist“, die Einheit unseres Zeitstils in allen Lebensäußerungen dieses Massendaseins mit seiner Arbeitsweise, seinem Gesellschaftsleben, seiner Machtpolitik. Man sieht, Nietzsches Stilbegriff trifft nicht nur die Kultur. Denn Stileinheit eignet ebenso dem „Zivilisationsverderben der Massakraft und der Massabedürfnisse“; kann der Stil doch ebenso gut vom Geist wie vom Ungeist einer Zeit geprägt sein. /.

Dieses Hand in Hand von Technokratie und sozialer wie politischer Autokratie, das bereits den halben Erdball zu verwandeln begonnen hat und auch für die andere, die sogenannte freie Hälfte jedenfalls den Anbruch eines neuen Weltjahres bedeutet, wurde schon 50 Jahre vor Lenin von dem Propheten des modernen Nihilismus Friedrich Nietzsche durchschaut, als er sich notierte: „Die Maschine lehrt durch sich selbst das Ineinandergreifen von Menschenhaufen, bei Aktionen, wo jeder nur eins zu tun hat; sie gibt das Muster der Parteiorganisation und der Kriegsführung; sie lehrt dagegen nicht die individuelle Selbstherrlidd^eit; sie madit aus vielen eine Masdrine, und aus jedem Einzelnen ein Werkzeug zu einem Zwedz. — Sie erzwingt die absolute Regularität, den pünktlichen, bedingungslosen Gehorsam, das Ein-für-allemal der Lebensweise, die Ausfüllung der Zeit, eine gewisse Erlaubnis, ja Zucht zur Unpersönlidikeit, zum Sich-selbst-Vergessen.“

Vernunft wird Unsinn Fragen wir, wie es dazu kommen konnte und wer diese Entpersönlichung, also Entmenschlichung des Menschen schuld ist, dann lautet die Antwort so einfach wie bestürzend: Die Schuld kann ja nur bei dem Schöpfer der Maschine liegen, also dem Menschen selber. Aber der hat sich diese Mühe doch sicherlich nicht zu seinem eigenen Schaden machen wollen! Im Gegenteil versprach er sich lauter Gutes davon, immer mehr Glück für immer mehr Seinesgleichen. Wie konnte dann aber, was er sich zum Heile ersonnen hatte, in der Tat zu seinem Unheil ausschlagen?

Die Frage nach dem Ursprung des Verhängnisses, das sich mit der Maschine abgespielt hat, bringt uns auf den Grund jenes seltsamen Lebewesen, das in Linnes Katalog als homo sapiens — Vernunftmensch verzeichnet ist: Daß nämlich dieses Wesen von seiner Wurzel her, durch und durch und also mit all seinem Sinnen und Trachten zweideutig, zwiespältig, widerspruchsvoll, ja gertdezu aus Widerspruch gemacht ist und daß daher auch alle seine Werke Segen und Fluch zugleich in sich tragen.

Was das besagen soll, kann uns am schnellsten an der Klage von Goethes Faust aufgehen: „Vernunft wird Unsinn, Wohltat Plage!“ Denn dieses Wort setzt doch voraus, daß der höchste, der eigentlich menschliche Sinn des Vernunftwesens Mensch jederzeit Unsinn und jegliche davon gewirkte Wohltat Plage werden kann, falls — ja falls der Mensch seinen Dingen unbekümmert ihren Lauf läßt, vor deren stets drohender Entartung nicht auf der Hut ist und also gegen die tödliche Gefahr nicht auf der Wacht bleibt, die er sich selber vermöge seiner unheimlichen Zweideutigkeit ist; kurz, falls er im Laufe der Dinge nicht mehr auf sich selbst Acht gibt. immer dann also, wenn er meint, ihm könne nichts geschehen, immer wenn er, berauscht von seinen Leistungen und Erfolgen eben in der Beherrschung der Dinge, im Vertrauen auf den unaufhaltsamen Fortschritt von Zivilisation und Kultur, im Glauben an den stetigen Aufstieg zu immer schönerem und reicherem Leben, sich in Sicherheit wiegt, — immer dann wäre er schon auf der schiefen Ebene einem Abgrund zu, der seine Menschlichkeit mit all ihren Auszeichnungen von Freiheit, Selbstverantwortung, Würde der Person, Achtung des Mitmenschen verschlingen will.

Solchen Fortschritt bergab hat nun mit einer bis dahin unerhörten Beschleunigung die vom Menschen ersonnene Maschine zuwege gebracht. Wieso? Nun, dieses Wunderwerk des Erfindergeistes verdankt sich derselben List, die das Stiefkind der Natur befähigte, sich nicht nur gegen deren Abneigung am Leben zu erhalten, sondern sich sogar zu ihrem Herrn und Meister zu machen. Gemeint ist das Prinzip der Rationalisierung, wie es seinen ersten großen, der Kultur die Bahn brechenden Sieg in der Arbeitsteilung errang. Indem diese mit der Individualität, also der Ungleichheit der Menschen rechnete, setzte sie jeden Einzelnen für seine besondere Leistungsfähigkeit frei und stiftete zugleich, da ja nun alle wechselweis aufeinander angewiesen waren, eine vernünftige Ordnung der gesellschaftlichen Zusammenarbeit, die sich dann im Staate Halt und Dauer gab.

So weit, so gut. Denn diese Eingliederung von Personen, die ihr Eigenes tun durften, ja sollten, in ein Ganzes, dessen Zusammenarbeit allen dienlich war und das erhöhte Leben von Kultur zustande brachte, war deswegen eine reine Wohltat der Vernunft, weil hier einmal die Doppelbestimmung des Menschen, daß er Individuum und Gemeinschaftswesen ist, zur Geltung kam, zum andern der Prozeß der Menschenbildung, der zwischen Person und Sache, Mensch und Welt zu verhandeln ist, richtig geführt wurde; nämlich so, daß das Gesetz der Sache und der Anspruch der Person sich gegenseitig befeuerten, wie Hegel das in dem berühmten Kapitel „Herr und Knecht“ großartig beschrieben hat. Indem der Mensch die Sache bearbeitet, arbeitet er sich selber zur Person heraus. Dadurch daß er mit Hand, Kopf und Herz die Sadie bildet, bildet er sich selbst mit all seinen Sinnen und der ganzen Kraft seines Geistes. Stellen wir uns einen Handwerker in der mittelalterlichen Ständeordnung idealtypisch vor, so haben wir das Muster solcher Wohltat durch Vernunft.

Der moderne Fetischismus Indes: dieser Vernunftsinn der Arbeitsteilung mußte Unsinn, seine Wohltat Plage werden, sowie die belebende Spannung zwischen den Polen Person und Sache gestört wurde. Lind das geschah, als der abendländische Mensch seit der Geburt der modernen Naturwissenschaft immer mehr jenem Fetischismus verfiel, der wie gebannt nur noch auf die Sachen schaute und darüber die Person weiter und weiter aus dem Auge ließ. Beherrscht von der Gier, die Sachen in die Hand zu bekommen, merkte der homo technicus und oeconomicus nicht, daß er sich selbst immer mehr aus der Hand verlor. Eins der deutlichsten Symptome für diese Gleichgültigkeit des modernen Menschen gegen sein eigenes Heil ist die Tatsache, daß alle Berufe der Sachbeherrschung eine mächtige Anziehungskraft auf die heutige Jugend ausüben, während die des Dienstes am Menschen — des Erziehers, Seelsorgers, der Krankenschwester, der Fürsorgerin — immer weniger begehrt werden und, soweit sie noch wie der des Arztes Zulauf finden, dann oft rein sachlich (der kranke Mensch als der eitrige Blinddarm auf Zimmer 306 der Poliklinik) praktiziert werden.

In der Welt der Handarbeit wirkte sich dieses Verhängnis so aus, daß im rasenden Siegeszug der Industrie seit rund hundert Jahren die Schöpfer und Gestalter dieser Welt, also die Wissenschaftler, Erfinder, Konstrukteure, Techniker und Ingenieure, sowie ihre Organisatoren, die Kapitalisten und dann die Manager, besessen von dem Bemühen um immer bessere Rationalisierung, also Sachbemeisterung, die Menschen unbekümmert den Sachansprüchen unterwarfen; daß aber auch die so Behandelten, die Arbeiter, nach anfänglichen, hilflosen Protesten gegen die Mechanisierung — die Maschinenstürmer im frühindustriellen England — sich willig, ja geradezu begeistert der Maschine verschrieben, obwohl dieser Moloch doch ihre Menschlichkeit verzehrte; daß schließlich, um das Bild abzurunden, die berufenen Anwälte des Menschen, die Humanisten, weiter nach Humboldts eitler Harmonielehre „Bildung“ komponierten, während die Wirklichkeit den Menschen immer schärferen Zerreißproben unterwarf. Die Warnungen jener Menschenfreunde aber, die wie Herder, Goethe, Pestalozzi, Hegel, Marx, Nietzsche das Verhängnis durchschauten, verhallten als Rufe in der Wüste.

Im großen Ganzen begriff man also nicht, daß die Mechanisierung, die inzwischen längst über die Maschinenhalle ausgegriffen hat und alle Lebensbereiche und -bezüge in ihren Sog hineinzieht, dabei auch den Raum des Spiels, also die Freizeit nicht ausläßt, die heutzutage ja technisch organisiert und ökonomisch ausgebeutet wird, — begriff nicht, daß solche totale Mechanisierung die Person austrocknen und damit alles Humane auslaugen muß. Denn was die Mechanisierung menschlicher Betätigung mit dem Menschen selber eigentlich fertig bringt, das ist so etwas wie Kreislaufstörung in seinem Organismus, nämlich die Trennung der beiden humanen Hauptorgane von Kopf und Hand mit ihren Vollzügen von Denken und Tun, die doch nur im Zusammenwirken den Menschen menschlich am Leben halten. Das wußte Goethe, als er, nach der Summe aller Lebensweisheit fragend, antwortete: Denken und Tun, Tun und Denken.

Die Auszehrung der Freiheit Das Schlimmste an diesem ganzen Unheil aber ist dies: Indem derart immer mehr Menschen in ihrer Arbeit, also in ihrer Hauptlebensäußerung, genötigt sind, mechanisch zu funktionieren, nach Vorschriften zu exerzieren, haben sie immer weniger Anlaß, von ihrer kostbarsten Mitgift Gebrauch zu machen: der selbstverantwortlichen Freiheit. Damit geht es dann wie mit jeder anderen körperlichen oder geistigen Anlage: die unbenutzte stirbt ab. So besteht die wahre Todesgefahr für die moderne Menschheit darin, daß Individuen, wenn sie nur lange genug nicht mehr frei sein können, schließlich gar nicht mehr frei sein wollen.

Verlassen wir im Westen uns vor dieser Gefahr doch nur ja nicht auf die Verfassungen unserer Rechtsstaaten, die die Freiheit der Person verbriefen! Freiheit läßt sich durch nichts garantieren. Sie will jederzeit und von jedermann immer wieder neu gewagt werden. Sie ist auch nicht nur, wie im Osten, zu erwürgen; sie kann auch auf dem Schleichwege der Auszehrung eingehn. Lind das ist unsere Gefahr hier im Westen, und die ist vielleicht noch unheimlicher, weil sie uns ganz heimlich umgarnt und sich offen erst zeigt, wenn es für den Bedrohten zu spät ist.

Für uns Deutsche wird diese Gefahr dann noch einmal dadurch verschärft, daß die staunenswerten Erfolge unserer technischen Wiederaufbauarbeit diesem ganzen Leben in der Bundesrepublik einen Glanz verleihen, der blendet, weil er eitel Lebenskraft nur vorspiegelt. Aber damit geht es dann allzu leicht wie mit jenen tückischen Krankheiten, bei denen der Tod sich der List der Euphorie bedient, um dem Betroffenen den letzten Widerstandswillen zu nehmen. Wir sind nicht nur wieder einmal davongekommen, sondern haben es in den paar Jährchen schon wieder herrlich weit gebracht. Wer warnt, ist Schwarzseher, und die wollte bereits der letzte Hohenzollernkaiser, der die altpreußische Devise „Mehr sein als scheinen" umkehrte, in seinem Reiche nicht dulden, obwohl das Grollen des nahenden Unwetters schon deutlich zu vernehmen war.

Daß aber auch die demokratisch regierte freie Gesellschaft keine Garantie gegen Unfreiheit bietet, sollten wir durch Hitler so schrecklich gebrannten Kinder des 20. Jahrhunderts eigentlich gelernt haben. Jedoch, der Mensch ist ein Wunderkünstler des Vergessens, und daran allein liegt es ja, daß er aus der Geschichte immer wieder nicht lernt. Jedenfalls scheinen viele Demokraten bei uns nicht zu bedenken, daß diese Staatsform als die anspruchsvollste zugleich auch die anfälligste ist. Gerade weil sie die höchste Meinung vom Menschen, seiner Freiheit und der Würde seiner Person hat, muß sie auch mit dem wachsten und verantwortungsvollsten Freiheitswillen jedes Staatsbürgers rechnen. Der aber droht nun gerade durch jene eine demokratische Haupt-parole, die Gleichheit, gelähmt zu werden, die man 1789 in harmloser Selbstverständlichkeit mit der andern, der Freiheit, vermählte, obwohl dies doch eine widernatürliche Ehe ist. (Die dritte übrigens, die Brüderlichkeit, war wohl nur als ein Zugeständnis ans Gemüt und ein verschämtes Überbleibsel der christlichen Überlieferung hinzugefügt, um einen rhetorisch wirksamen Dreiklang zu bilden.) Es war nicht aristokratischer Konservativismus, sondern sein unbestechlicher Sinn für die Wirklichkeit, was Goethe dagegen zu dem Ruf aufbrachte: oder Revolutionär, die Gleichheit und Freiheit zugleich sind Phantasten oder Scharlatane.“

Laster, weldte die Despotie Gleidtheit begünstigt“.

Der Verlust der Person und des Nächsten Freiheit und Gleichheit wedtt, genau die gleichen, „Gesetzgeber verspreeiten, Indes: wer die Freiheit lieb hat, kann im 20. Jahrhundert nur ja zur Demokratie sagen, und zwar nicht bloß wohl oder übel, sondern von ganzem Herzen; nicht freilich gedankenlos blind, sondern mit dem Scharfblick der wahren Zuneigung für ihre Anfälligkeiten und Gefahren. So wird er ihrem tiefsinnigsten und weitblickendsten Kritiker im 19. Jahrhundert, Alexis de Tocqueville, zustimmen, der die Volks-souveränität gerad Jahrhundert, Alexis de Tocqueville, zustimmen, der die Volks-souveränität gerade deswegen in das peinlichste Verhör nimmt, um sie vor dem Selbstmord zu bewahren. Gesteht er sich doch ein: „Es handelt sich nidtt darum, eine aristokratische Gesellsdtaft wiederherzustellen, sondern die Freiheit aus dem Schofle der demokratischen Gesellschaft, in der zu leben Gott uns bestimmt hat, hervorgehen zu lassen.“ 16)

Diese köstliche Leibesfrucht der Demokratie aber abzutreiben, darauf ist der Drang zur gesellschaftlichen Gleichheit aus, der bereits lange, freilich unerkannt, am Werke war, ehe er 1789 offen seine Parole ausgab. Daß damals ihm sich aber die Freiheit unbedenklich anvertraute, mußte sich damit rächen, daß sie, die Freiheit, Stück für Stück vom stärkeren Partner verschlungen wurde.

Daß in der Tat der Drang zur Gleichheit Daß hier nicht die gerechte Gleichheit aller Bürger vor dem Gesetz, sondern der Anspruch auf gesellschaftliche Gleichheit der Individuen, also der von Natur Ungleichen, gemeint ist, versteht sich von selbst.) der mächtigste Antrieb des gesellschaftlichen Lebens in der modernen Welt ist, weist Tocqueville in seinen scharfsinnigen Analysen nach. Wir brauchen sie nicht vorzuführen, weil der uns an der Maschine aufgegangene Wille zur Rationalisierung als das Prinzip, das die Neuzeit zuerst freimacht und dann fesselt, vermöge seiner abstrahierenden Tendenz, seines reinen Zahlendenkens ja gar nichts anderes bewirken kann als Mechanisierung auch der Menschen, und das heißt Egalisierung. Wie kann es bei der Verstrickung aller Lebensbereiche ineinander und der alles durchdringenden Macht des Zeitgeistes oder -Ungeistes auch anders sein, als daß Arbeitsweise und Lebensart, diese insbesondere in ihren gesellschaftlichen Formen, denselben Stil zeigen? Kommt doch alles aus dem einen Lebensgrunde desselben Triebwerkes und derselben Denkweise.

Die Todfeinde der persönlichen Freiheit, Mechanisierung und Egalisierung, sind eineiige Zwillinge, gezeugt vom Willen zur totalen Rationalisierung. (Es wird sich bald zeigen, daß noch ein drittes Kind aus demselben Ei kommt.)

Das aber löst nach'Tocquevilles richtiger Einsicht „zwei Bestrebungen aus: Die eine führt die Menschen unmittelbar in die Unabhängigkeit und kann sie plötzlich zur Anardtie treiben (1793/1919), die andere bringt sie auf einem längeren, verborgeneren, aber sicheren Wege in die Knedttsdtaft“ (1804/1933). 17) Und, fährt er fort, „so sind welche die die Diese Laster aber, die Tocqueville aufdeckt, lassen sich auf die zwei Wirkungen des ganzen Verhängnisses zurückführen, daß der Mensch in einer derart mechanisierten und egalisierten Gesellschaft die beiden Rücksichten verlernt,'die er nehmen muß, wenn er sich zum Menschen freimachen will: die auf die eigene Person und die auf den Nächsten. Dabei hat der humane und humanisierende Grundartikel unseres Geschichtsraumes, Jesu zweites Liebesgebot, großartig einfach und jedermann verständlich die beiden Rücksichten in ihre dialektische Einheit gebracht, da der Weg zum Selbst über den Nächsten führt, dieser wiederum nur der verantwortlichen, also selbständigen Person begegnet.

Ist diese Licht und Kraft spendende Spannung dadurch unterbrochen, daß einer der beiden Pole kraftlos wird, so erlischt das Leben des Ganzen. Tocqueville: „Da in Zeiten der Gleichheit niemand verpflichtet ist, seinem Nächsten Beistand zu leisten, und audi niemand das Recht hat, von seinem Nädtsten viel Unterstützung zu erwarten, ist jeder zugleich unabhängig und schwadt.“ 18)

Zentralisierung Aber der Kelch des Unheils ist noch nicht voll Das dritte Verfahren, das der Wille zur totalen Rationalisierung sich ausgedacht hat, steht uns noch aus. Es ist die Zentralisierung der Macht. Die hebt nun freilich nicht erst in der Demokratie an.. Seine Studien über das ancien regime und die Revolution haben Tocqueville darüber aufgeklärt, daß die zentralistische Tendenz schon seit Jahrhunderten am Werk war, ehe die Pariser Revolution über ganz Frankreich entschied. Uns bestätigt diese historische Erkenntnis nur unsern früheren Gedanken, das Verderben habe seinen Ursprung in. jener großartigen Leistung, die den modernen Geist auf seine Höhe bringt — dem rechnenden und berechnenden Erforschen der Gesetze erst des natürlichen, dann des geschichtliehen Geschehens mit dem Willen, kraft der erkannten Gesetze die Natur wie das geschichtliche Leben der Gesellschaft zu beherrschen.

Dieser Lenkungswille führt mit unweigerlicher Logik zur einheitlichen Steuerung der gesellschaftlichen Funktionen, vor allem aber zur Zentralisierung der politischen Macht, die durch solche Einlenkung auf eine Generallinie dem Traum Rousseaus vom Generalwillen massive und brutale Wirklichkeit gibt.

Aber wie wirkt das auf die Gesellschaft, von .deren Kräften doch die Macht des Staates lebt, wie auf die Individuen, deren Leistungswille wieder die Kraft der Gesellschaft ausmacht? Tocqueville: „Die äußerste Zentralisierung der politisdien Gewalt muß schließlich die Gesellschaft entkräften und damit auf die Dauer die Regierung sdtwächen. — Das Individuum verliert langsam seine Fähigkeit, selbst zu denken und zu handeln und sinkt so allmählich unter das Niveau des Menschlidten herab. 19) Das aber ist der Untergang der Freiheit in Gesellschaft und Staat, die doch allein in der einzelnen Person erwacht. Und das wäre in der Tat der viel beschrieene Untergang des Abendlands, dessen Sonne aufging, als die Griechen die Polis auf den Vernunftswillen der Person gründeten.

Die Vernunft bei Vernunft halten!

Nichts also gegen die ratio und ihre Schöpfer-und Heilkraft. Alles gegen Jene trüben Verlockungen mystifizierender oder mythensüchtiger Lebenslehren, wie sie in einer in ihren Überlieferungen so erschütterten Zeit wie der unseren den Geist als den Widersacher der Seele verwerfen. Wohl aber gilt es, die Vernunft — bei Vernunft zu halten, sie also im Sinne ihres Kronanwaltes Kant in ihre Grenzen zu verweisen und sie zur Erkenntnis ihrer tragischen Verfassung zu bringen. Deren Gefahr ist der ungebrochene und hemmungslose Rationalisierungswille eines technischen Intellektualismus, Ausartung und Verkümmerung zugleich der wahren, nämlich grenz-und schuldbewußten Vernunft, was die drei Hauptlebensbereiche des Menschen dadurch zu enthumanisieren droht, daß es die Arbeit mechanisiert, die Gesellschaft egalisiert, den Staat zentralisiert.

Keineswegs handelt es sich darum, das lebensnotwendige Rationalisieren und Organisieren zu verwerfen, wohl aber kommt alles auch für dieses selber darauf an, es unter die Frage zu stellen: Was geschieht dabei mit dem Menschen, mit der selbständigen Person, die doch die Quelle alles möglichen Heils in der Welt und in der Zeit ist?

Die Entpersönlichung, dieses Grundverderben unserer Zeit, zu heilen, vermöchte also nur eine neue kopernikanische Wendung, die Umkehr einer wahren Metanoia, als welche die Einkehr des Geistes in seine Wahrheit wäre, und die damit jenen radikalen Gesinnungswandel bewirkte, der sich in einer totalen Änderung unserer Haltung bezeugen müßte. Die vermöchte freilich nur dann unsere Lebensumstände gründlich und dauerhaft zu vermenschlichen, falls die Umstände ihrerseits menschlich gestaltet würden. Denn, Pestalozzis dialektischer Wahrheit auch ihr umgekehrtes Recht zu geben: der Mensch macht die LImstände. die ihrerseits aber den Menschen machen.

Die beiden Unternehmen, die hier aufzurufen sind, weil unter sie alle nur denkbare Bemühungen zur Daseinsordnung sich begreifen, das sind: die Politik, die vornehmlich für die LImstände, und die Pädagogik, die zuerst und zuletzt für die Person des Menschen da ist. 2. Die Einheitsfront von Politik und Pädagogik Die beiden Ordnungsmächte dürfen aber um alles in der Welt den verhängnisvollen Fehler Rousseaus nicht wiederholen, daß sie ans Werk gehen, ohne sich umeinander zu kümmern. Sie mögen nach dem alten Worte getrennt marschieren, müssen aber vereint schlagen. Die Umbildung der menschlichen Lebensumstände und die Bildung des Menschen in ihnen, an ihnen und für sie sind nur Hand in Hand und in wechselweiser Erhellung, Durchdringung, Befruchtung zu lösen. Dieser Satz enthält den Kerngedanken unserer Überlegungen. Dies ist der springende Punkt des Ganzen. Daran hängt alles weitere, und um das noch kräftiger zu unterstreichen, sei behauptet: Nur wer sich eingesteht, daß alle solche Veränderung der Lebensordnung für die Katz, also eben nicht für den Menschen ist, die nicht zuerst und zuletzt die einzelne Person in dieser Ordnung meint, — nur also wer über der Umbildung der LImstände die Bildung des Menschen nicht vergißt, hat die Zeichen der Zeit begriffen und aus der Geschichte das gelernt, was sie uns mit der Entwicklung der Massendemokratie und ihrer industriellen Arbeitsgesellschaft in den letzten einhundertfünfzig Jahren beibringen wollte.

Daß der Freund der Enterbten und um ihre Menschlichkeit Betrogenen im 19. Jahrhundert, daß also Karl Marx in seinem guten Kampf gegen die „Entfremdung" des Menschen das ganze Heil allein von einer Veränderung der LImstände, für ihn der Produktionsverhältnisse, erwartete, was dann von selber die Menschen verwandeln würde, — das ist recht eigentlich das Verhängnis in der Geschichte des Marxismus. Darum hat Marxens Realer Humanismus zwar die Erhebung des Proletariers zum gesellschaftlich anerkannten Arbeiter, nicht aber sein eigentliches Ziel, die Wiederherstellung des „reichen und tief-allsinnigen Menschen" erreichen können. Erfreulicherweise hat der deutsche Sozialismus das inzwischen auch eingesehen und begriffen: Wir müssen in die zweite Phase der Rehumanisierung des arbeitenden Menschen eintreten, in der die fortschreitende LImbildung der technischen und sozialen Umstände sich nicht nur mit Bildung des Menschen verbindet, sondern sich diese zum Leitstern nimmt, also durchaus humanistisch gewillt wird.

Natürlich nicht im Sinne des idealischen Humanismus etwa Humboldts. Denn dieser ging ja nun die entgegengesetzte Einbahnstraße, daß er sich um die Lebensumstände nicht kümmerte, ja sogar sich ihnen geflissentlich entzog, weil die sein Idealbild vom Menschen nur trüben und verzerren konnten.

Es käme also auf einen wahrhaft „Realen Humanismus" an, der Marxens soziologisch gefärbte Brille absetzte, Politik und Pädagogik in einen Blick nähme und beiden die gemeinsame Aufgabe zuwiese, alle ihre Bemühungen unter den gemeinsamen Leitgedanken von Wiederherstellung der freien, also selbständigen Person zu stellen, deren Selbstverantwortung in einer freien Gesellschaft selbstverständlich nur in der Mitverantwortung für den Nächsten, die ganze Gesellschaft und den Staat sich wirklich wahr machen kann.

Unser Thema gebietet uns, zu der Hauptaufgabe, die damit einer politischen Erziehung hierzulande heutzutage gestellt ist, noch das Hauptsächliche zu sagen.

Die Erziehung zur Demokratie der Freiheit Wo das Kernproblem steckt, brauchen wir nach 'all unseren Überlegungen nicht mehr zu fragen; im Kern natürlich der Person, ihrem Vermögen der Freiheit, das aber nur in einer freien Welt sich betätigen kann, deren nicht nur einzig zeitgerechte, sondern überhaupt bestmögliche Verfassung die Demokratie der Freiheit ist.

Sittliche Freiheit Bleibt freilich zu fragen, was mit dem vieldeutigen Wort Freiheit hier gemeint sei. Keineswegs die eingebildete einer rein guten Natur-gabe, aber ebenso wenig die vorgespiegelte eines vollendeten Geschichtslaufes. Beides ist Illusion, aber nicht die wirkliche Wahrheit. Freilich gehört die Freiheit zur menschlichen Natur, aber nur als Mitgift eines Vermögens. Aber mit diesem wie mit jedem Vermögen muß man arbeiten, wenn es nicht totes Kapital bleiben soll, das, verzehrt, dahinschwindet. Das Arbeitsfeld für dieses Vermögen ist die Geschichte, die erst der Einsatz der Freiheit zur Menschengeschichte macht. Dafür muß aber der Freiheitsdrang sich erst zum Freiheitsbewußtsein klären, dieses sich zum Freiheitswillen ermannen. Der bestärkt sich allein an der Erfahrung seiner eigenen Kraft. Die erprobt sich nur in der Tat, deren höchste die persönliche Entscheidung ist. Wofür? Für das, wofür den Menschen seine Verfassung hier und jetzt verantwortlich macht: die ihm anvertrauten Sachen, die ihm anbefohlenen Personen, sein ihm aufgegebenes Selbst, das ja, eben wegen der Freiheit, nicht von Natur da ist, sondern herausgearbeitet werden will. Die Selbstverantwortung schließt mithin die Mitverantwortung für die Sachen, den Nächsten wie das Ganze der Lebenswelt ein, ja, in dieser Mitverantwortung macht sich die Selbstverantwortung erst in der Tat wahr.

Die wahre Freiheit ist kein sanftes Kissen, auf dem man sich in Sicherheit zur Ruhe betten kann, sondern ein sehr unbequemer Stachel der Unruhe, der ständig wachgehalten werden muß. Sie hat nicht jenes gute Gewissen, das Albert Schweitzer eine Erfindung des Teufels nannte, sondern muß sich ins Ungewisse mit seinen stets drohenden Gefahren von außen wie von innen wagen. Das weiß Pestalozzi, wenn er feststellt: „Überall liegt im allgemeinen dem Menschen nidtts an der Freiheit, wenn er glücklich ist, und wenn er es audt nur halb ist, so liebt er seine Ruhe und seine Krippe zu sehr, als daß er diese so leidet aufs Spiel setze. Das ist freilich keine Lobrede auf ihn, es ist mit anderen W orten gesagt, er lasse sidt gern an seine Krippe anbinden, wenn er nur Futter darin fände. — Es ist wahr, der Mensdi, der audt nur halb glücklid'i ist, bleibt gern Sklave und es liegt in seiner Natur, er erhebt sich nur durch bittere Gefühle des Elends dahin, für die Freiheit aufs Spiel zu setzen, was du, Vaterland, darauf setzest."

Mir scheint, dafür geben uns die Ereignisse im armen Ungarn den erschütterndsten Beweis, wofern wir uns nur die satte Gleichgültigkeit eingestehen, die weithin in der reichen Bundesrepublik gegenüber der Freiheitsfrage herrscht.

Bürgerliche Freiheit Hier aber stellt sich nun der Widerspruch heraus, der zwischen jener Unruhe der sittlichen Freiheit und dem Sicherheitsverlangen der bürgerlichen Freiheit besteht. Denn: „Das Wesen der bürgerlichen Freiheit ist immer eines und dasselbe, nämlich die gesetzliche Sicherheit des Bürgers gegen widerrechtlidte Anmaßungen der bürgerlichen Obermacht,. heiße diese Obermacht König, Bürgerrat, Nationalkonvent, oder welche Namen sie auch immer habe.“ Der Widerspruch besteht einerseits zu Recht, weil ja Pestalozzis Rechtsstaat keineswegs der Staat von Schillers Freiheit sein kann und darf. Anderseits ist die bürgerliche Freiheit mit ihrem Rechtsstaat zum Tode verurteilt, wofern nicht die sittliche Freiheit der selbständigen Person, „ohne welche die Menschheit ohne Kraft ist", sie am Leben hält. So ruht die gesellschaftliche Freiheit „unumgänglich auf einer beim einzelnen Menschen allgemein reg gemachten Sehnsucht nach innerer Veredlung seiner selbst“ welcher Drang über das bloße Dasein und Sosein hinaus die reinste und stärkste Schwungfeder der Freiheit überhaupt ist.

All dies in seinen Verstrickungen einsichtig zu machen, das wäre wohl die wichtigste Aufgabe einer Erziehung, die den Freiheitsdrang der Jugend politisch zurecht weisen will. Damit würde sie die Abneigungen überwinden und den Enttäuschungen vorbeugen, die gerade hochgemute Jugend bedrohen, sobald die realpolitischen Wirklichkeiten der Demokratie ihr begegnen. Nur eine real denkende Erziehung kann sie dazu bringen, Mängel und Fehler nicht dem demokratischen System aufzuladen und derart in zersetzende Nörgelei oder zerstörerischen Radikalismus zu verfallen oder gar mit den ohnmächtigen Träumen von Weltverbesserung sich zu berauschen, sondern die Schuld bei den Menschen zu suchen, dabei aber auch nicht wieder nur die Erwachsenen anzuklagen, sondern sich selbst durch den Willen verantwortlich zu machen, der alles zu tun sich entschließt, damit es besser werde.

Daß solche Lehre ein Luftgebilde bleibt, wenn sie nicht auf die politischen Tatsachen dieser Gegenwart baut, welche Erinnerung an die Vergangenheit in Kopf und Herz, sowie Erwartung der Zukunft im Schoße trägt, — daß also die Erziehung ein zuverlässiges und historisch begründetes sozialkundliches und politisches Wissen um die Gegebenheiten und Aufgaben dieser unserer Gegenwart vermitteln muß, ist selbstverständlich und stellt lediglich didaktische und methodische Fragen. Aber das ist doch nur-der Grund, auf dem erst die ernsten Probleme einer Erziehung aufstehen, der es um politische Menschenbildung, also darum geht, ihre Zöglinge so zu rüsten, daß sie die politischen Zeitwirren menschlich bestehen können.

Aber ist damit schon erreicht, daß sie das auch wollen?

Politische Willensbildung Darauf kommt aber doch wirklich alles an. Denn was macht ein noch so gründliches politisches Wissen, eine noch so tiefe Einsicht in die politische Problematik aus, wenn sich nicht der Wille zur Tat gerufen fühlt? Freilich muß der klar wissen, was er wollen soll. So käme es also darauf an, der politischen Vernunft die Flamme anzustecken, die erleuchtet und zugleich befeuert, so daß der Wille sich zum Kampf für die Freiheit begeistert. Dieser Schlachtruf sollte bei unserer so schrecklich und so heilsam ernüchterten Jugend nicht mehr zünden? Nun, die ungarische hat diesen Zweifel aufs tapferste widerlegt. Aber auch bei uns liegt genug Zündstoff in den jungen Herzen bereit. Die Erziehung muß nur dafür sorgen, daß er nicht zerstörend explodiert oder wirkungslos verpufft, sondern eine stille Glut entfacht, die so stark ist, daß sie ein Leben lang nicht erlischt, und notfalls dieses Leben für die Freiheit einzusetzen, bereit macht.

Freilich ist dieser Kampf der Erziehung für die wahre Freiheit nicht leicht, ja sogar unerhört schwer, weil er nämlich als Zweifrontenkrieg geführt werden muß; immer und zugleich gegen den jugendlichen Über-mut der Freiheit, wie gegen ihren Schwachmut. Politisch wird der Über-mut durch den verführerischen Lockruf zur absoluten Freiheit herausgefordert, wie ihn heutzutage die kommunistische Heilslehre des Unheils mit der Verheißung des irdischen Paradieses ertönen läßt, in dem die Einzelnen ganz frei und alle ganz gleich sein werden, so daß dann jede Freiheitsbeschränkung oder -bedrohung durch die Macht aufhört und das Reich des ewigen Friedens und reiner Eintracht anbricht.

Das ist lediglich eine neue Strophe des Verführungsliedes der Schlange; Ihr werdet sein wie Gott. Nur daß deren uralte List, mit dem Schwindel der absoluten Freiheit in den Abgrund der totalen Unfreiheit zu stürzen, diesmal mit dem Hinweis auf die Wundermacht Technik überzeugender wirkt als je. Droht sie doch sogar den freien Westen zu betören, wie z. B. die Charta der Vereinten Nationen mit ihrem neuesten Menschenrecht auf ein Dasein ohne Not und Angst erweist oder die technikgläubige Erwartung eines Lebens ohne Arbeit mit Hilfe der Atomkraft und der Automation.

Gegenüber solchen strahlenden Zukunftsbildern kann eine redliche Erziehung zur wahren, dem Menschen wirklich möglichen Freiheit diese der Jugend nur für den Preis harter Anstrengung, ständiger Unruhe und Wachsamkeit anbieten. Aber das ist in dieser argen Welt und bei der Fragwürdigkeit alles menschlichen Sinnens und Trachtens nun einmal nicht anders. Es ist die Wahrheit, nud nur sie kann uns frei machen.

Aber droht sie auch nicht schwach zu machen? Was kann die Erziehung tun, daß der Freiheitswille nicht in Ohnmacht falle?

Erziehung zur Verantwortung Wie bringt die Erziehung die wahre Freiheit jungen Menschen so nahe, daß diese sie nicht nur mit dem Kopf begreifen, sondern den Gedanken zur Tat zu machen, im Herzen sich entschließen? Es liegt im Wesen der Freiheit, daß man sie nur im handelnden Vollzug lernt. Also muß die Erziehung den Zögling in die Freiheit setzen. Das aber heißt, daß sie ihn von früh an und mit dem Wachstum seiner Reife immer mehr und immer kühner sich selbst entscheiden läßt; wie denn ja das Kind nie laufen lernte, wenn man nicht das Gängelband immer mehr lockerte und es schließlich, auch auf die Gefahr des Fallens, ganz losließe.

Damit diese Selbständigkeit aber nicht durchgehe und sich in die Willkür absoluter Freiheit verirre, muß die Erziehung den Zögling immer und überall verantwortlich machen. Zu solcher Verantwortung erzieht man jedoch nur dadurch, daß man zur Verantwortung zieht — mit Mahnung und Zurechtweisung, schließlich so, daß man den, der nicht hören will, fühlen läßt, also durch Strafe. Auf den Tiefpunkt eigener Verantwortungslosigkeit ist eine sentimentale Erziehung in unseren Tagen gekommen, als ein Erzieherverband die völlige Verbannung der Strafe aus den Schulräumen forderte; nicht etwa bloß der Prügelstrafe. Die bringt ein wahrer Erzieher sowieso nicht übers Herz, weil er nur aus jener Liebe straft, die eine Verletzung der Menschenwürde des Zöglings gar nicht zuläßt.

Wenn nun solche Bildung in Wort und Tat zur selbstverantwortlichen Freiheit selbstverständlich allen Zöglingen zuteil werden muß, so sollte der Erzieher dabei doch vor allem jene jungen Menschen bedenken und besorgen, deren Freiheitswille sich besonders kräftig äußert; jene jungen Pferde also, die, wie der Knabe Lessing, doppeltes Futter brauchen; ohne dabei natürlich Lieblinge vorzuziehen, sondern allein so, daß von dem, der mehr zu leisten vermag, auch Schwereres zu fordern ist.

Elitebildung durch Erziehung Der Nivellierungsdrang der modernen Gesellschaft ist selbst in die Bildungsräume gedrungen und will auch die Bildungspolitik überwältigen. Über dem gerechten Gesetz, für alle zu sorgen, und dem Liebes-gebot, die Schwachen besonders zu betreuen, droht heuzutage die dringend notwendige Sorge für die Starken vergessen zu werden. Das ist nun aber gerade politisch überaus bedenklich. Denn alle die, deren Verantwortungskraft und Freiheitswille über das gewöhnliche Maß hinausragen, sind die geborenen Anwärter für jene Elite, ohne die keine gesellschaftliche und staatliche Ordnung bestehen kann. Das gilt in erhöhtem Maße für die Demokratie, falls sie nicht zu jenem Massen-sumpf entarten soll, der die Giftblüten der Demagogie treibt.

Daß unsere Elite nicht privilegierte im alten Sinne sein kann und darf, ist selbstverständlich. Die Demokratie braucht eine nicht organisierte, vielmehr zerstreute Elite aus jenen besonders verantwortungsbewußten und freiheitsmutigen’Personen in allen Berufen und Schichten, deren jede einzelne in ihrem Lebenskreis dem Gruppenegoismus und -kollektivismus widersteht und so die Lebenszellen des Gesellschaftsund Staatsganzen frisch hält.

Gilt das für jede Erziehung in allen Bildungsstufen wie -arten, so liegt es aber im politischen Auftrag der weiterführenden Schulen, daß sie sich durchaus nach dem Eliteprinzip auf-und ausbauen. Sie müssen Ausleseschulen sein, oder sie haben politisch keine Existenzberechtigung. Nicht die Einheitsschule entspricht der Demokratie der Freiheit, sondern einzig ein Schulaufbau, der sich nach den verschiedenen Verantwortungsansprüchen gliedert, welche die verschiedenen Leistungsschichten unserer Arbeitsgesellschaft stellen. Demokratisch wird diese Ordnung dadurch, daß sie jedem Tüchtigen freie Bahn, also die Chance gibt, sich selber durch seine Leistungskraft und seinen Leistungswillen für jede Leistungsschicht auszulesen. „Er wollte die Treppe der Bidring in das Haus des Unrechts bauen.“ Nach diesem schönen Wort W. Schäfers über Pestalozzis Lebenswerk sollte eine demokratische Schulpolitik verfahren. Nur müßte es auch eine Treppe und kein Aufzug sein, der mühelos jeden Beliebigen in jedes beliebige Stockwerk befördert; eine Treppe, die je höher hinauf, umso steiler und enger werden müßte.

Erziehung zur mitverantwortlichen Tat Keinesfalls freilich darf diese Auslese ihren Maßstab lediglich an der intellektuellen Leistungsfähigkeit nehmen. Schon für die Gedanken-arbeit ist entsprechende Intelligenz zwar eine unentbehrliche Voraussetzung, aber das Entscheidende leistet auch hier eine Kraft, die keine noch so vernünftig gedachte Prüfung und kein noch so klug ersonnener Test feststellen kann, sondern die sich erst im Laufe der Zeit in der Arbeit selber herausstellt (weswegen man Unrecht tut, das spätere Versagen so mancher Schüler in einer anspruchsvolleren Schule dieser in die Schuhe zu schieben; aber was weiß eine durchrationalisierte Zeit noch davon, daß Bildung ein Wagnis ist?): nämlich der geduldige Wille, eine Sache mit allen Kräften zu ergreifen und sich ganz von ihr ergreifen zu lassen. Darauf vor allem kommt es aber dort an, wo es ums Handeln geht, also in aller politischen Erziehung. Denn die ist politisch im Ernste doch nur, falls sie den Verantwortungswillen zur Tat ermannt.

Das kann sie wiederum im wirklichen Ernste nur, wenn sie den Zögling diesen Tatwillen auch betätigen läßt. Die Schule in all ihren Gestalten muß alles unternehmen, was die Mitverantwortung der Schüler für das Schulleben ins Spiel bringt und ans Werk setzt. Ein begeisterter Lehrer wird auch die heutige Jugend, trotz all ihrer, gesunden, Nüchternheit, an besonderen Höhepunkten des Unterrichts oder bei besonders erschütternden Ereignissen des Lebens noch für Schillers „große Gegenstände der Menschheit“, also zum Beispiel die Freiheit, begeistern können. Denn daß auch heute lebenskräftige Jugend noch von großen Taten träumen will, zeigen ja die Erfolge der Abenteuerliteratur, überhaupt aller Traumfabriken. Indes: ehe die Freiheit einmal von uns die große Tat fordert, verlangt sie millionenmal den geduldigen und treuen Dienst im Kleinen des Alltags, im Hier und Jetzt unseres Lebens-kreises.

Nur in solchem Alltagsdienst auch lernt der junge Mensch, was es mit der Freiheit wirklich auf sich hat, wie es mit ihrer Not und seiner eigenen Kraft bestellt ist, was an ihr und an ihm tatsächlich daran ist; kommt er also in die wahrhaft realpolitische Schule, wie sie dem Volk der Dichter und Denker einerseits, der Techniker und Organisatoren anderseits so dringend not tut. Hier vor allem wird sich dann auch zeigen, wer in einer Klasse, einer Schule verspricht, ein tätiges Glied der demokratischen Elite zu werden; das heißt: nicht nur seinen Berufs-dienst wacker zu tun, sondern darüber hinaus freiwillig Verantwortung in jenen Gebilden einer dezentralisierten Selbstverwaltung zu übernehmen, die nach Tocquevilles richtiger Einsicht die heilsamen Gegenkräfte gegen die unvermeidliche Zentralisierung der Regierung und damit überall die lebendigen Zellen bilden; die das demokratische Leben vor der Erstarrung bewahren.

Alles in allem erfüllt die Erziehung mithin ihre politische Verantwortung wesentlich damit, daß sie für das Arbeits-, Gesellschafts-und Staatsleben kraftvolle Menschen bildet, Menschen, die in einer tätigen Mitverantwortung für den Nächsten, den Mitarbeiter und Mitbürger, sowie für das Lebensganze ihr Leben zu führen gewillt sind, was aber wahrhaft nur in gewissenhafter Selbstverantwortung möglich ist. Dazu gehört dann insbesondere auch der Beitrag der Erziehung zur Elite-bildung, der ja von derselben politischen Rücksicht auf das Ganze gefordert wird.

Was aber wird aus allen diesen gewissenhaften Bemühungen um die politische Erziehung, wenn die so Gebildeten, früher oder später, in ein Leben geworfen werden, das durch sein Zeitverderben der Mechanisierung, Egalisierung, Zentralisierung alle diese Ansätze mit aller Macht erstickt? Kann die Erziehung vor diesem drohenden Verderben ihre Hände in Unschuld waschen und sagen: Ich habe das meine getan, nun soll die Politik das ihre tun?

Die unmittelbare Verantwortung der Erziehung für die Politik So würde sie doch nur selber der Sünde bloß, gegen die sie ihre Zöglinge gefeit machen will, daß sie nämlich mit ihrer politischen Verantwortung gerade da abdankt, wo es ernst wird: vor dem wirklichen politischen Leben selbst. Indes: dieses zu ordnen, ist doch gar nicht ihres Amtes; dafür ist ja die Politik da, der sie, die Erziehung, nicht ins Handwerk pfuschen darf. Dabei sei unterstrichen: die Rede ist von der Erziehung; denn daß jeder einzelne Erzieher als der Gesellschaftsmensch und Staatsbürger, der er ist, hier unmittelbare Mitverantwortung trägt, versteht sich von selbst. Aber die Erziehung — hat sie über ihre mittelbare Verantwortung, daß sie politische Menschen für das Arbeitsleben, die Gesellschaft und den Staat zu bilden hat, auch noch eine unmittelbare Verantwortung für die Ordnung selber dieser Lebensbereiche?

Allerdings, und zwar nicht etwa außer dem, was ihres Hauptamtes ist, sondern gerade um dessentwillen; und dies aus zwei Gründen. Da sie für die Menschwerdung des Einzelnen zu sorgen hat, kann es sie nicht kalt lassen, was im Leben daraus wird. Das aber wird von dessen so oder so geordneten Umständen entscheidend mitbestimmt. Zweitens machen diese Umstände ja auch sie selbst, dieses Menchenwerk der Erziehung. Auch sie ist ein Kind ihrer Zeit, und deren Geist oder Un-geist dringt auch in ihre Schutzräume ein, wovon gerade die heutige Erziehung ihr Klagelied über die Übermacht der „anonymen Miterzieher“ zu singen hat. So ist es also die anthropologische Grunddialektik von Mensch und LImständen, welche die Erziehung auch unmittelbar für die Lebensverfassung ihrer Zeit mitverantwortlich macht und sie verpflichtet, ihr gewichtiges Wort in die Bereiche der Politik hinein zu sprechen.

Diese Verantwortung wird vornehmlich für die Schul-und Bildungspolitik im engeren, die Kulturpolitik im weiteren Sinne aufgerufen. Denn hier ist die Pädagogik ja vermöge ihres Sachverstandes am ersten zuständig. Heutzutage ist es besonders geboten, daß sie diese Verantwortung auch in der Öffentlichkeit wahr nimmt, weil hier offenbar die Meinung herrscht, über Schul-und Bildungsfragen sei jeder zuständig mitzureden, weil ja jeder einmal die Schulbank gedrückt hat. So grassiert auch in ernsten Organen der öffentlichen Meinungsbildung ein pädagogischer Dilettantismus, der für die Sache durchaus abträglich ist. Aber auch zur Sozial-und Staatspolitik hat die Erziehung ein bedeutendes Wort mitzureden, weil auch hier die Menschlichkeit der Person in Frage steht. Daß dieses Hineinreden kein Hineinpfuschen sein darf, versteht sich von selbst, ist aber auch kaum zu befürchten, weil der Erziehung dazu jedes Machtmittel fehlt. Aber daß und wie sie furchtlos und hartnäckig ihr Anliegen, das Heil der Person, in aller Politik zu verfechten hat, kann uns wieder das Beispiel Pestalozzis lehren, der ja unermüdlich den politischen Mächten und Mächtigen seiner Zeit in ihr politisches Gewissen geredet hat.

Je ein aktuelles Beispiel aus den drei Bereichen der Arbeits-, Gesellschafts-und Staatspolitik möge diese unmittelbare politische Verantwortung der Erziehung veranschaulichen.

Drei Beispiele für die Einmischung der Politik in die Erziehung 1. Das arbeitspolitische Beispiel betrifft die hart umkämpfte Frage der Mitbestimmung der Arbeiter in den Betrieben. Eine realpolitisch denkende Pädagogik weiß um die geschichtliche Notwendigkeit von Gegensätzen und daher um das Recht von Kämpfen, und daß die nur von Machtgruppen zu führen sind. Aber als die Treuhänderin der Menschenbildung hat die Erziehung in dieses Kampfgetöse das Wort der Menschlichkeit zu rufen und die Streitmächte daran zu erinnern, daß ihr Kampf um Macht doch nur dann zu Recht geführt wird, auch der je eigenen Sadie nur wahrhaft dient, wenn der Sieg ihren Menschen zugute kommt. Falls also der Streit um die Mitbestimmung heutzutage lediglich als die Fortsetzung des alten Klassenkampfes zwischen Unternehmerschaft und Arbeiterschaft geführt würde, so könnte, das nur mit einer Niederlage der Menschlichkeit auf beiden Seiten enden. Den zwei Parteien hätte also die Erziehung immer wieder einzuschärfen: Der Gewerkschaftler, der aus sozialpolitischer Überzeugung, also aus sachlichen Gründen, die Mitbestimmung verficht, kann dies guten Gewissens nur tun, wenn er damit die Mitverantwortung jedes einzelnen Arbeiters zu stärken denkt und nun auch die Weise der Mitbestimmung so gestaltet, daß sie den Freiheitswillen der Person ans Werk setzt. Der Unternehmer seinerseits, der aus ebenso sachlichen Gründen gegen dieses Maß oder jene Art von Mitbestimmung ist, kann das auch nur rechtfertigen, wenn er mit allem guten Willen für alles eintritt, was die Selbstverantwortung jedes Betriebsangehörigen durch Mitverantwortung zu beleben vermag: er wird sogar unablässig jede Möglichkeit dazu aufspüren und es mit ihr wagen. Damit tut er nicht nur seinem Unternehmen den besten Dienst, sondern hilft mit, daß in der großen Schlacht um den Bestand der freien Welt die Generalstäbler auch Truppen erhalten, die für diesen Kampf ausgebildet sind.

2. Eine derart auf persönliche Verantwortung gegründete Arbeitsverfassung mag auch das Gesellschaftsleben insgesamt anstecken. Ob es dann die Sozialpolitik nicht doch wagen dürfte, auf ihrem Irrwege zum totalen Fürsorgestaat umzukehren und mit Pestalozzi das einzig wahre soziale Heil in der „Belebung aller Weisheit und aller Kraft der Selbstsorge“ zu suchen? Dazu könnte die Erziehung ihrerseits der Sozialpolitik nur aus ganzem Herzen zureden, weil es so ja ihrem eigenen Todfeinde, der Entpersönlichung, ans Leben ginge.

Zum lauten und hartnäckigen Einspruch gegen Vermassung ist aber die Erziehung ausdrücklich und in eigenster Sache verpflichtet, wenn dieses Zeitverderben zum offenen Jugendverderben wird. Lind das geschieht dort, wo der Wettstreit der Unternehmerkräfte, der eine freie Gesellschaft belebt, auf Kosten der Jugend und zu deren schwerem Schaden in unlauteren Wettbewerb entartet. In der Wirtschaft bemüht man sich, einen solchen mit Gesetzesmaßnahmen wenigstens einzudämmen. Aber wie steht es mit jener riesigen Unterhaltungs-und Vergnügungsindustrie, die auf die niedrigsten Instinkte spekuliert und mit so vielen Presseerzeugnissen, Illustrierten, comic Strips, Schundheften, Filmen und Filmreklamen dadurch ein Riesengeschäft macht, daß sie planmäßig die Gehirne verblödet, die Herzen verödet, die Gewissen betäubt?

So wenig die Erziehung vom Beruf des Staates zum Sittenrichter halten kann, so muß sie aber doch verlangen, daß der wenigstens die Jugend vor diesem Verderben schützt. Sie kennt es nur allzu gut; kommt doch gegen die Brutalisierung und. Sentimentalisierung der jugendlichen Einbildungskraft, wie sie von gewissenlosen Großverdienern tagaus tagein unter unser aller Duldung getrieben wird, die Erziehung in ihren eigenen Räumen und mit ihren eigenen Mitteln nicht mehr an.

Diese ohnmächtige Erbitterung muß allen Erziehern den Mut geben, unaufhörlich und lauthin nach dem Gesetzgeber zu rufen, selbst auf die Gefahr hin, daß sie als Dunkelmänner und Freiheitsfeinde verschrieen werden. Aber was ist das für eine Freiheit, die bedenkenlos ihren eigenen Ast absägt, indem sie es duldet, daß der Wille schon des Kindes zu eigenem Denken, Fühlen, Wollen durch das Trommelfeuer eines Allgemeinen vernichtet wird, das nichts anderes als das Gemeine ist. Was bedeutet gegenüber diesem Seelenmord die Gefahr, daß ein puritanischer Staatsanwalt sich auch einmal an einem Kunstwerk vergreifen könnte? ganz abgesehen davon, daß sich dagegen sofort ein Pressesturm erheben würde, dem auch die Erziehung von Herzen zustimmen würde, falls er sich mit derselben Leidenschaft auch gegen das Jugendverderben richtete. 3. Das staatspolitische Beispiel betrifft das schwere Problem des Widerstandsrechtes, ja der Widerstandspflicht gegen die Staatsmacht, wie es heute in der Frage der Kriegsdienstverweigerung wieder brennend geworden ist. Hier scheint mir nun eine allgemeingültige, also gesetzlich zu sichernde Lösung gar nicht möglich zu sein. Das liegt in der Natur dieser Sache. Denn solch entschlossener Aufstand gegen die

Staatsmacht, ohne die doch keine Gesellschaft Bestand und keine Person Existenz hat, kann nur durch eine einzige Instanz gerechtfertigt werden, die höchste menschliche für den homo humanus überhaupt: das persönliche Gewissen. Das aber kann man vor keine irdische Schranke rufen, kein Gesetz vermag es zurecht zu weisen, kein Gericht es zu prüfen. Was bleibt der Erziehung als der Treuhänderin der Person und also zu höchst auch ihrer Gewissenhäftigkeit zu tun?

Allein dies, den Staat daran zu erinnern, daß auch seine Macht, wenn sie sich nicht selbst untergraben will, die absolute Grenze achten muß, die ihr durch das Heilige gezogen ist. So wird die Erziehung vom Staate einmal das grundsätzliche Eingeständnis fordern, daß er nicht das Recht habe, in das Heiligtum des Gewissens einzugreifen; zum andern die Weisheit, im einzelnen Konfliktfall einen Ausweg zu suchen, der um die Alternative: Eingriff in die Gewissensfreiheit des Einzelnen oder Preisgabe der Eigenverantwortung für den Bestand des Ganzen, herumführt.

Dabei ist freilich vorausgesetzt, daß die Erziehung es mit einem Rechtsstaat zu tun hat. Trifft sie jedoch, wie wir es erlebt haben, das harte Los, in einem Staate des offenen Unrechts und der unmenschlichen Gewalt ihren Dienst an der Jugend zu tun, den sie ja auch dann nicht aufgeben kann und darf, so ist ihr nur zu raten, daß sie die Tauben-reinheit ihrer Verantwortung für wahre Menschenbildung mit politischer Schlangenklugheit verbinden möge. Geht es dabei aber einmal auf Sein oder Nichtsein ihrer Wahrheit, dann muß auch sie bereit sein, jene Feuerprobe zu bestehen, die den Märtyrer fordert.

Die Einmischung der Politik in die Erziehung Lim vollständig gerecht zu sein, sei noch kurz betont, daß nun auch die Politik das Recht hat, in die Erziehung hineinzureden. Als die Ordnungsmacht des menschlichen Zusammenlebens ist sie geradezu verpflichtet, bestimmte Ansprüche an die Erziehung zu stellen, ja diese sogar zur Ordnung zu rufen, falls sie sich nicht gebührend um den Staat kümmert, ihn nicht ernst nimmt und also ihre Zöglinge gleichgültig gegen die Politik macht oder sie gar dagegen aufbringt. Gemeint ist dabei, nach unserer Auffassung von der pädagogischen Verantwortung für die Zeit, die Politik dieses hier und jetzt zu Recht bestehenden Staates, heute also die Verfassung unserer Demokratie. Sie kennen und achten zu lehren, ist die Erziehung in ihrem Gewissen verpflichtet. Daß damit nicht eine blinde Verherrlichung gemeint ist, versteht sich aus unserer Auffassung von der Politik als einem Menschenwerk von selbst. Daher wird die Erziehung, gerade wenn sie den demokratischen Rechtsstaat mit seiner Ordnung von Arbeit und Gesellschaft ernst nimmt, die Gefahren der Demokratie aufzeigen, aber doch nur in der redlichen Absicht, die jungen Menschen zu wachsamen Hütern der Demokratie zu bilden. Über diese positive Kritik hinaus darf der Staat aber erwarten, daß wir unsere Jugend die Demokratie als jene Daseinsordnung erkennen und aneikennen lehren, die nicht nur für ein europäisches Kulturvolk des 20. Jahrhunderts zeitgerecht, sondern die höchstmögliche Gestaltung überhaupt einer Gesellschaft freier Menschen ist. Mit diesem Appell an die Freiheit sollte es der Erziehung nicht schwer fallen, junge Menschen für die Demokratie zu erwärmen.

Wenn man immer wieder sagt, die Bundesrepublik vermöge der Jugend keine politischen Ziele zu zeigen, die des Schweißes der Edlen wert seien, — welches höhere Ziel könnte denn eine Jugenderziehung überhaupt in dieser Welt finden als die Freiheit? die Freiheit, der wir bei uns in der Bundesrepublik so starkes Leben geben müssen, daß sie für die unfreien Deutschen in der Sowjetzone eine Ermutigung und eine Hoffnung bleibe.

Freilich hat es die Ideologie des Ostens mit ihrer Verheißung eines irdischen Paradieses viel leichter, die Jugend zu berauschen. Aber daß dieser wie jeder Rausch früher oder später mit einem furchtbaren Katzenjammer endet, hat die ungarische Tragödie, dort zur Verzweiflung, uns zur Ermutigung gelehrt. Lügen haben auch in der Erziehung kurze Beine, und, noch einmal: Nur die Wahrheit macht frei. Indes die Wahrheit ist nicht leicht zu lehren; denn, sagt Platon, „das Schöne ist alles schwer“. Ob es der Erziehung gelingt, in langsamem und immer tieferem Eindringen in die dialektische Verfassung der menschlichen Freiheit jungen Menschen deren Größe und Gefahr klar und sie selber stark zu machen, daß sie für die Größe die Gefahr bestehen, — daran hängt die Zukunft unserer freien Welt, und das ist die eigentliche politische Feuerprobe der Erziehung in dieser Schicksalsstunde der freien Welt, insbesondere eines unter dem Freiheitsstern geeinten Europa.

Schluß Sollte ein Leser dieser Arbeit finden, sie belaste sich zu sehr mit grundsätzlichen Überlegungen und biete dafür um so weniger brauchbare Ratschläge und greifbare Handhaben für die Praxis der politischen Erziehung, so möge mich Pestalozzi verteidigen, dessen unablässiges, mühseliges Ringen um Klarheit in den Grundfragen der Menschen-bildung doch lediglich von den Nöten der erzieherischen Praxis bewegt war und ausdrücklich und ausschließlich zum Heile dieser Praxis unternommen wurde. Je tiefer er sich zu seiner Zeit in das erzieherische Tun verstrickte, um so klarer wurde ihm: „Es sind nicht. . . Einzelwahrheiten in der Erziehung und Bildung, es ist die Wahrheit, es ist die reine, himmlische selbst, die uns, die unsern Weltteil allein aus seinem Verderbenzu erheben vermag So kommt er schließlich zu der Einsicht, die ihm den letzten Grund der pädagogischen Rat-und Ziellosigkeit seiner Zeit erschließt: „Es mangelt an Grundsätzen, und Mangel an Grundsätzen veranlaßte Mangel an Menschenverstand.“ Dieser Mangel, findet er, lähmt sowohl die öffentlichen wie die privaten Kräfte der Heilung: „Es fehlt bei den im Zivilisationsverderben verfallenen Behörden eben wie bei den in demselben versunkenen Wohnstuben an Grund-einsichten und Grundkräften für das, was sie sollten und möchten

Darüber aber hätte er sich doch heutzutage und bei uns gewiß nicht zu beklagen. Ein flüchtiger Blick schon in die Präambeln der Bildungspläne und Richtlinien, die uns der Reformwille unserer Länderregierungen vom Beginn des deutschen Wiederaufbaus an beschert hat, zeigt, daß es an erzieherischen Grundsätzen und Bildungsideen bei den Stellen, die für die Schulpraxis verantwortlich sind, keineswegs mangelt. Eher könnte man noch von einem bedrängenden Überfluß des Reichtums reden. Und in der Tat droht dies gerade unser pädagogischer Kummer zu werden. Denn wenn alle die zahlreichen Kräfte — Einzelpersonen, pädagogische Richtungen, Weltanschauungsgruppen —, die heutzutage Einfluß auf die Bildungspläne beanspruchen, befriedigt werden sollen, dann kann es nur ein Allerlei geben, aus dem jeder sich nimmt, was ihm mundet. Was aber irgendwen beunruhigt und irgendwo Anstoß erregen könnte, muß verschwiegen oder vertuscht werden. Ein solches Allerweltsprogramm wird also gerade das nicht tun können, worauf es ankäme: die brennenden Streitfragen unserer Zeit aufwerfen, die Finger auf unsere Wunden legen, an unsere kranken Wurzelnerven bohren.

Was anders aber könnte uns Klarheit und Entschiedenheit in jenem Grundsätzlichen geben, das auch in einer so gespaltenen Welt wie der unseren alle erzieherischen Bemühungen gemeinsam verpflichten müßte, sofern nicht die völlige Rat-und Ziellosigkeit eines vielfältigen Neben-, ja Gegeneinander unser gesamtes Erziehungsleben zu jenem Reich verderben soll, „das in sich uneins ist, und ein Haus fällt über das andere 1'?

Pestalozzi in seiner ebenso verwirrten Welt hat den Gesichtspunkt gefunden, der die Erziehung davor bewahren kann, sich mit allzu vielem zu schaffen zu machen, und der ihr die klare Richtung auf das weist, was ihr wahrhaft not tut: daß sie nämlich die humane Nothelferin ihrer Zeit werde: „Das Beste, was vorgeschlagen werden kann, muß seiner Natur nach dem Zeit-und Zivilisationsverderben und allen seinen Ansprüchen ans Herz greifen, sonst taugt es nichts.“

Das ist es in der Tat: Eine Erziehung, die ihrer Zeit und ihrer Welt helfen will — und nur eine solche Erziehung ist wirklich und kann wirksam werden, und das gilt nun in schärfster Weise insbesondere für alle ihre politischen Bemühungen —, darf nicht nach allen möglichen pädagogischen Sternen greisen, falls sie nicht an der Wirklichkeit, für die sie doch da ist, vorbeigehen und ins Leere eines unverbindlich Allgemeinen verpuffen soll.

Nur wenn die Erziehung in ihrem Bemühen um die ewige Aufgabe der Menschenbildung dem Zeitverderben ans Herz greift, macht sie sich stark, das Große und Heilsame zu leisten, woran Pestalozzi bei all seiner unerbittlichen Anerkennnung des Kotrechtes und in allem Wissen um die daraus folgende und nie harmonisch aufzulösende Problematik der Erziehung, unerschüttert auch durch die schlimmsten Enttäuschungen, bis an sein Lebensende geglaubt hat und woran auch jeder Erzieher heute glauben muß, wenn er die Kraft und den Mut zu seinem verantwortungsschweren Dienst aufbringen will: „Es ist für den sittlidr, geistig und bürgerlich gesunkenen Weltteil keine Rettung möglich als durch die Erziehung, als durch die Bildung zur Menschlichkeit, als durdt die Mensdienbildung!“

Was aber die politische Erziehung insbesondere angeht, so mögen zwei Pestalozziworte, die ausdrücklich für unsere Zeit gesprochen zu sein scheinen, diese Überlegungen abschließen und zugleich über sie hinauswirken: „Wir sind gewarnt, wie die Menschheit selten gewarnt worden ist.“ „Ohne politisdie Erziehung ist das souveräne Volk ein Kind, das mit 'dem Feuer spielt und jeden Augenblid^ sein Haus in Gefahr bringt."

Fussnoten

Fußnoten

  1. VI 216

  2. G. H. R. von Königswald, Der Urmensch und seine Welt in: Merkur 108/1957, S. 142

  3. Zu diesem ganzen Zusammenhang vgl. die ausführliche Begründung in meinem Buch „Arbeit und Bildung“

  4. Zu diesem Begriff vgl. meinen „Realen Humanimus". Heidelberg 1955. Kap. XIII

  5. Dazu vgl. in demselben Bucb Kap. VIII: Die Tragödie des Wissens und die Wiedergeburt der universitas literarum

  6. Ges. Sehr. VI 80

  7. Nach Abschluß dieser Arbeit erschien als wichtiger Beitrag zum Problem der Technik: Th. Litt, Technisches Denken und Menschenbildung. Heidelberg 1957.

  8. A.de Tocqueville, über die Demokratie in Amerika. 1835. Zit. nach der KTA Nr. 221 S. 84

  9. VII 217

  10. VIII 218

  11. Ausg. Soythart XII 147

  12. VIII 139

  13. VI 334

  14. Werke KTA Nr. 72 ff. S. 281

  15. A. a. O. S. 103

  16. Ebda. 77

  17. Das Kapital I Engels 10. Hamburg 1922. S. 453

  18. V 327

  19. Ebda. 317

  20. Ebda 275

  21. Ebda 324

  22. Aus der reichen Literatur sei nur der umfassendste und gründlichste Beitrag genannt: Th. Eckhenhurg, Staat und Gesellschaft in Dutsch’and. Stuttgart 1956

  23. Zum Begriff der demokratischen Elite vgl. Realer Humanismus. Kap. VII

  24. V 329

  25. V 397

  26. V 270

  27. VI 344 f.

  28. VI 235

  29. VI 225

  30. Seyffarth VIII 146

Weitere Inhalte

Weinstock, Heinrich, Dr. phil. o. U. Prof, für Philosophie und Pädagogik, geb. in Elten/Ndrh. 30. 1. 89. Lehrgebiet: Pädagogik, Humanismus, Antike.