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Ein Blick nach innen | APuZ 26/1958 | bpb.de

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APuZ 26/1958 Ein Blick nach innen Anglo-amerikanische Schwierigkeiten Alternativlösungen für die Sicherheit

Ein Blick nach innen

ROBERT OPPENHEIMER

Mit freundlicher Genehmigung des Verlages veröffentlichen wir in dieser Ausgabe aus der amerikanischen Zeitschrift Foreign Affairs die drei folgenden Beiträge. Die Arbeiten von Prof. Oppenheimer und Prof. Teller wurden dem Januarheft, der Aufsatz des Marquis von Salisbury dem Aprilheft der Zeitschrift entnommen.

Durch die Auseinandersetzung mit dem kommunistischen Machtbereich wird von Zeit zu Zeit ein grelles Licht auf unser eigenes Gesellschaftssystem geworfen. In dem Maße, in dem diese Auseinandersetzung fortschreitet und sich als immer hartnäckiger, umfassender und tödlicher erweist, fangen wir an, in dem amerikanischen Gesellschaftssystem Züge zu erkennen, deren wir uns vorher kaum bewußt waren und die sich unter dem Gesichtspunkt eben dieser Auseinandersetzung als ernste Schwächen herausstellen. In erster Linie kommt uns auf diese Weise vielleicht zum Bewußtsein, daß wir die Ziele, Absichten und Erwartungen unserer nationalen Politik nicht in einer Weise darzustellen vermögen, die ebenso aufrichtig wie inspirierend wirkt. Wir haben seit langem über die von uns angestrebte Entwicklung unseres eigenen Landes wie auch der übrigen Welt keine amtlichen amerikanischen Äußerungen mehr vernommen, die von einer hundertprozentigen Integrität, einem guten Schuß geistiger Elastizität und einem Schimmer des Einleuchtenden zeugen.

In allerletzter Zeit haben noch zwei weitere Erscheinungen unseres nationalen Lebens Anlaß zu ernster Besorgnis gegeben. Da die Auseinandersetzung mit dem kommunistischen Machtbereich Hand in Hand geht mit einer unerhört beschleunigten technologischen Revolution, und da insbesondere die letzten Jahre gekennzeichnet waren von einem Ausreisen der militärischen Entwicklungsmöglichkeiten der atomaren Zeitalters, ist die Öffentlichkeit zu Betrachtungen darüber verleitet worden, ob das sowjetische oder unser amerikanisches Gesellschaftssystem mit größerem Erfolg für den Nachwuchs und die Ausbildung von Wissenschaftlern und technischen Kräften zu sorgen imstande ist. Vergleiche dieser Art zeigen, daß wir auf einem Gebiet, in dem wir einst den Russen überlegen waren, sehr bald überflügelt werden könnten. Es hat den Anschein, als ob nunmehr das sowjetische System einen im Verhältnis zur Gesamtbevölkerung relativ höheren Prozentsatz an wissenschaftlichem Nachwuchs dadurch anzuziehen vermag, daß es beachtliche, ja geradezu ungewöhnliche Anreize für erfolgreiche Wissenschaftler und Techniker mit einer gut durchorganisierten Begabtenauslese und einem ebenso rigorosen wie hohen Standard auf dem Gebiete der allgemeinen Erziehung verbindet.

Es war nur natürlich, daß wir Amerikaner, als wir uns dieser Diskrepanz bewußt wurden, unsere Aufmerksamkeit auf die Ursachen lenkten. Einige dieser Ursachen sind zurückzuführen auf die Tatsache, daß das Lernen ganz allgemein in unserem Lande in relativ geringem Kurs steht, vor allem aber darin, daß wir gegenüber dem Beruf des Lehrers, besonders des Schullehrers, eine ausgesprochene Indifferenz an den Tag legen. Die sehr schlechte Bezahlung unserer Lehrer und die nicht allzu gute Bezahlung unserer Wissenschaftlei sind sowohl Ausdruck wie Ursache dieser Geringschätzung. Die Härten des täglichen Lebens in den Ländern des Sowjetblockes hingegen führen leicht dazu, daß sich Prestige umsetzt in Luxus und Vorrechte. Bei uns in Amerika wünschen wir so etwas nicht. Jedoch hat eine genauere Prüfung unserer Verhältnisse ergeben, daß in unseren Schulen das Niveau der allgemeinen Erziehung in den sprachlichen, mathematischen und naturwissenschaftlichen Fächern sehr viel niedriger ist als in den entsprechenden sowjetischen Disziplinen. Es hat sich bei uns weiter herausgestellt, daß viele unserer Lehrer in den Fächern, die sie zu unterrichten haben, im Grunde gar nicht sehr gut zu Hause sind, und daß in vielen Fällen ihr Mangel an Kenntnissen nur noch übertroffen wird durch Mangel an Liebe und Interesse (für ihren Beruf; der Übers.). Kurzum, dadurch, daß wir uns einem fernen und wahrhaft unbeliebten Gegner stellen mußten, sind wir auf ein für das Leben unseres Volkes äußerst ernstes Problem gestoßen.

In eine ganze ähnliche Richtung scheint die Entwicklung auf einem völlig andersgearteten Gebiet zu gehen. Es handelt sich hierbei um die Frage, ob unsere Regierung — ja im Grunde, ob unsere Institutionen und unser ganzes Volk vertreten durch seine Regierung — zu einer Festlegung unserer nationalen Politik auf denjenigen Gebieten fähig ist, bei denen es um internationale Angelegenheiten und um Strategie geht — letztere sowohl im militärischen wie im politischen Sinne. Wir können in diesem Zusammenhang aus Mr. W. W. Rostow’s An-spräche an die Mitglieder der Marine-Kriegs-akademie Ende 1956 zitieren: „Ich glaube nicht, daß wir Amerikaner als Nation bisher eine Militärpolitik oder eine Außenpolitik ausgearbeitet haben, die in der Lage ist, einerseits die von uns gesteckten Ziele zu verwirklichen, und andererseits unser Potential zur Herbei-führung der sozialen und politischen Veränderungen innerhalb des Ostblocks voll einzusetzen, — d. h. für Veränderungen, die ja schließlich in unserem eigenen Interesse liegen. Vom historischen Gesichtspunkt aus betrachtet haben die LISA ihre Energien immer erst dann für die Lösung militärischer und außenpolitischer Probleme voll eingesetzt, wenn sie sich ganz konkreten und eindeutig gegebenen Gefahren gegenübersahen.“ — Mr. Henry Kissinger — um einen anderen Kronzeugen anzuführen — beschrieb den Tatbestand im April-Heft der Foreign Affairs (Jahrgang 19 57) mit folgenden Worten: „Mittels einer strategischen Gesamt-konzeption („Doktrin“) wird eine Weltmacht in die Lage versetzt, in Situationen einer gegebenen . Herausforderung'wirklich zielstrebige Maßnahmen zu ergreifen, weil nur auf diese Weise eine Skala der möglichen Gegenaktionen vor dem tatsächlichen Entstehen von Krisensituationen festgelegt werden kann. Existiert keine solche strategische Gesamtkonzeption, dann wird diese Weltmacht ständig durch die Ereignisse überrascht werden. Die Ausarbeitung einer strategischen Gesamtkonzeption ist somit die Grundvoraussetzung aller amerikanischen Sicherheit.“

Zwar haben wir unsere staatliche Exekutive heute so durchorganisiert, daß diese in der Handhabung von langfristigen Problemen aller Art, in der Handhabung sowohl der Außenpolitik wie der militärischen Strategie, eine ausgesprochene Präzisionsarbeit zu leisten vermag; zwar haben wir die Funktionen der Vereinigten Stabschefs, des Nationalen Sicherheitsrates und der Planungsabteilung in unserem Außenministerium auf das genaueste festgelegt, und diesen eben genannten Gremien die besten technischen und wissenschaftlichen Talente aus dem ganzen Lande, ja in einem beschränkten Umfange sogar aus der ganzen freien Welt, zugeführt. Und trotz alledem haben die Vereinigten Staaten nach Ansicht vieler Kreise ihre Ziele, Interessen, Alternativen und Pläne für die Zukunft auch nicht annähernd so verständlich zu machen vermocht, wie dies dem Ernst der Probleme entsprechen würde, die Amerika konfrontieren.

Allgemein herrscht der Eindrude vor, daß wir uns ständig abwechselnd in Erstaunen versetzen, oder überraschen lassen, niemals rechtzeitig und ausreichend gewarnt oder gewappnet sind und daher auch meistens nur die Wahl zwischen mehreren Übeln in einer Lage haben, in der bei einem vorausschauenden Planen und Handeln vielleicht bessere Alternativen im Bereich des Möglichen gelegen hätten. Warum, so fragt man sich, sollten die Dinge einen solchen Verlauf in einem Lande nehmen, das mit Reichtum und Muße gesegnet ist, das sich dem Prinzip der Erziehung verschrieben hat, einen weitaus größeren Prozentsatz seiner Bürger als irgendein anderes Land zu irgendeiner Zeit in den gesamten Erziehungsprozeß einordnet und über statistisch kaum noch erfaßbare Kollegs, LIniversitäten, Institute und Bildungseinrichtungen aller Art verfügt — all das überdies noch in einer Zeit, in der wir durch eine noch nie dagewesene Konzentration von Macht in der Hand eines entschlossenen, feindlich gesonnenen Staates so ernsten Bedrohungen ausgesetzt sind, wie wir sie seit den Anfängen unserer Republik nicht mehr erlebt haben?

Es gibt natürlich noch andere Erscheinungen unseres nationalen Lebens, auf die wir ebenfalls kaum mit Stolz blicken können — Erscheinungen, die weder durch das Atomzeitalter, noch durch die Auseinandersetzung mit dem Kommunismus in den Blickpunkt der Öffentlichkeit gerückt worden sind. Es ließe sich in diesem Zusammenhang etwa auf die große Verschwendung hinweisen, die wir mit den Bodenschätzen unseres Landes betreiben; oder etwa auf die Tatsache, daß man leider nur selten bei uns dem äußerlichen Bild des Daseins durch einen Sinn für Schönheit und Harmonie im Leben der Gemeinschaft jenes tröstliche Gefühl abzuringen vermag, das an sich auf Grund unserer landschaftlichen Liebreize und unseres großen Reichtums durchaus herbeizuführen wäre.

In der Tat hätten alle diese Erscheinungen unseres nationalen Lebens, die wir in unser eigenes Verdammungsurteil einbeziehen, durchaus auch von Historikern beschrieben werden können, die mit Kulturen der Vergangenheit vergleichen, oder aber von Beobachtern der Gegenwart, die Vergleiche zu anderen Kulturen in unserer eigenen Zeit anstellen. Wir hätten dann vielleicht zu hören bekommen, daß bisher noch kein Volk Erziehungsprobleme gelöst hat, wie wir sie uns vorgenommen haben, und daß keine Regierung in einer Welt, in der ohnehin nur wenigen Regierungen längere Zeit hindurch ein Erfolg beschieden ist, jemals erfolgreich die Lösung eines Problemes angegangen ist, das so umfassend und so schwierig ist wie das unsere. Ja wir könnten tatsächlich die Züge der Schwäche in unserem Gesellschaftssystem wiedererkennen als Normen oder Ideale, wie wir sie aus dem Munde von Philosophen oder Propheten vernommen haben. Ich glaube, daß eine solche Sicht der Dinge im Grunde sehr viel konstruktiver ist, weil meiner Ansicht nach — wie ich später deutlich machen werde — die Erscheinungen unseres nationalen Lebens, die uns Sorge bereiten, letztlich Ausdruck einer sehr tief verwurzelten, hartnäckigen und völlig einmaligen Kulturkrise sind, und weil sich solche Mangelerscheinungen bei uns letztlich nicht durch eine Therapie der Symptome aus der Welt schaffen lassen, sondern nur durch echte Wandlungen unseres ganzen Lebensstiles, unserer Glaubensinhalte, unseres Handelns und unserer Wertmaßstäbe.

Zweifellos haben frühere Zeiten kaum auch nur annähernd ähnliche Probleme gekannt, wie sie sich unserem Lande und unserem Zeitalter stellen. Auf jeden Fall hat man derartige Probleme dann aber nicht zu lösen vermocht. Wenn es den Anschein hat, als ob unser Gegner diese Probleme besser gelöst hat als wir, dann mag es ganz heilsam für uns sein, daß wir hiervon Kenntnis nehmen. Es kann aber kaum heilsam für uns sein, daß wir uns etwa die von ihm angewandten Mittel zu eigen machen. Der Gegner weiß nämlich, was er will, weil er im Besitz einer ganz einfachen Theorie ist über Sinn und Bedeutung des menschlichen Lebens und über seine eigene Rolle in der Entwicklungsgeschichte der Menschheit. Mit der aus solchem Selbstvertrauen herrührenden Stärke hat dieser Gegner ein Regierungssystem geschaffen, das willens ist, unerhörte Einbußen im Menschlichen in Kauf zu nehmen, wenn es gilt, die zur Durchsetzung seiner Ziele notwendigen Maßnahmen zu ergreifen. Die Tatsache, daß der Theorie des Gegners nur ein winziges, fragmentarisches und größtenteils völlig unmodern gewordenes Körnchen Wahrheit anhaftet, und diese Theorie den weitaus größeren, und vor allem auch viel fundamentaleren Teil der Grundwahrheit ausschließt, — diese Tatsache sollte uns in der Überzeugung bestärken, daß dem Gegner der Erfolg versagt bleiben wird. Die Möglichkeit aber, daß auf der anderen Seite vielleicht das schließliche Scheitern des Gegners große, wenn nicht sogar alle Teile der Welt in Mitleidenschaft ziehen und Zerstörung und Schrecken in einem noch nie dagewesenen Ausmaße verbreiten wird, sollte allerdings unser eigenes Gefühl der Befriedigung angesichts der Möglichkeit eines gegnerischen Mißerfolges erheblich dämpfen und uns dazu anhalten, daß wir die Lösung unserer Probleme nach unseren Maßstäben, auf unsere Weise und nach unserem eigenen Zeitplan in Angriff nehmen.

Für die Züge der Schwäche in unserem Gesellschaftssystem gibt es vielschichtige und verständliche LIrsachen, die auch einer gewissen Ironie des Schicksals nicht entbehren. Ich glaube, daß drei unserer Schwächen (die unseres Erziehungssystem, unserer zaghaften Sicht der eigenen Zukunft und unserer Schwierigkeiten bei der Ausarbeitung einer klaren Linie des politischen Handelns) einige gemeinsame Wurzeln haben.

Lind dennoch lassen sich natürlich diese Schwächen nicht alle auf einen Nenner bringen, und wir können allen auch nicht im Rahmen der vorliegenden Studie auf den Grund gehen. Wir Amerikaner haben lange Zeit in den Prinzipien der Toleranz und der Egalisierung echte Tugenden gesehen, und besonders die Toleranz aus Tradition liebevoll gepflegt und an den Tag gelegt gegenüber einer Vielfalt von Einstellungen zu den Grundfragen des menschlichen Daseins, das heißt, zu der Natur des Menschen und seinem Schicksal, zu seinem Heil und seinem Glauben.

Gewiß hängen nun diese Faktoren sehr eng zusammen mit unseren Schwierigkeiten auf dem Gebiet der Erziehung, insoweit sie nämlich auf das sozusagen „unlösbare Problem schlechthin verweisen“. Diese sogenannten Tugenden hängen auch eng zusammen mit den Schwierigkeiten des Vorausschauens und Vorausplanens, — beides ja Dinge, die von altersher auf einem Konsenz gerade in bezug auf diejenigen Fragen beruhen, in denen unsere Gesellschaft dem Prinzip der Vielfalt ergeben ist. Auch das unserem Lande anhaftende Glück — wenn ich es einmal gewissermaßen pauschal und in einer Zusammenschau von mehreren Jahrhunderten so formulieren darf —, und die aus solchem Glück hervorgegangenen Faktoren des Optimismus und des Selbstvertrauens —, auch diese Dinge haben etwas zu tun mit unseren heutigen Schwierigkeiten. Vielleicht würden wir in alledem gar keinen Wandel schaffen wollen. Auf jeden Fall müssen wir solche Faktoren in Rechnung stellen, wenn wir uns vergleichen mit Athen, mit dem England der Königinnen Elisabeth, Victoria oder mit dem Frankreich des 17. Jahrhunderts.

Unseren Schwächen haftet aber natürlich auch, wir sagten es bereits, ein wenig von der Ironie des Schicksals an. Gerade unser unbegrenztes Vertrauen in die Erziehung, gerade unsere Entschlossenheit, diese Erziehung allen zugänglich zu machen, gerade unser Glaube daran, daß der Mensch durch das Medium der Erziehung erst seine wahre Würde und Freiheit erlangt — gerade dies alles hat in einem so erheblichen Maße dazu beigetragen, daß aus unserem Er-Ziehungssystem die heutige, zu fünfzig Prozent von allen Inhalten entleerte Verhöhnung unserer selbst geworden ist. In dem Augenblick nämlich, in dem wir zum ersten Mal in Zeiten mindestens eines pro-forma Friedens unsere ganzen Anstrengungen und Forschungen, unser Denken und unseren Reichtum in den Dienst der militärischen Sicherheit gestellt haben, in eben diesen Augenblick haben wir einen der furchterregendsten Zustände der Unsicherheit geschaffen, den es seit Anbeginn der uns bekannten Geschichte der Menschheit je gegeben hat.

„... tue die Dinge selber"

INHALT DIESER BEILAGE

Man pflegt für gewöhnlich die Behauptung aufzustellen, daß unsere amerikanische Kultur die Praxis der Theorie, das Handeln der gedanklichen Präzisierung und schließlich die Erfindung der Kontemplation vorzieht. Es ist etwas wahres an dieser These. Man sollte sie jedoch nicht übertreiben. Einmal ist es doch zwangsläufig immer und überall so, daß das Verhältnis zwischen Ausführung und Reflektion quantitativ zugunsten des „Tatmenschen'und zuungunsten des Reflektierenden ausschlägt. Selbst in Athen kamen auf einen Sokrates eine ganze Reihe von Sophisten. Ich kann mir einfach nicht vorstellen, daß es irgendeine Gesellschaft gibt, in der die in dieser Welt zu bewältigende Arbeit nicht mehr Leute und mehr Zeit in Anspruch nimmt, als das Begreifen und Erfassen der großen Zusammenhänge in der Welt. Zum zweiten haben auch die äußeren Umstände das eben genannte Verhältnis zwischen den beiden Aspekten des Lebens akzentuiert, indem sie nämlich die Leistungen der Tatmenschen wesentlich mit ermöglicht, dann aber auch berühmt gemacht haben: als da sind Amerikas Reichtum, die Weite seines Landes, das große Maß an Freiheit und, aufs ganze gesehen, der diesem Volke stets eigene Optimismus. Es würde in der Tat ganz beachtlicher Leistungen der Theoretiker und Denker bedürfen, wenn sie erfolgreich wetteifern wollten mit der Brillanz, ja oft auch mit der Anmaßung, die unseren materiellen Errungenschaften anhaftet.

Unsere Vergangenheit hat sich stets durch einige wenige, originelle und tiefschürfendreflektierende Geister ausgezeichnet, deren Arbeit zwar einen Teil der geistigen Traditionen Europas und der ganzen Welt darstellte, dabei aber dennoch eine typisch amerikanische Eigenart aufwies. Wir brauchen in diesem Zusammenhang nur etwa an vier Namen denken wie: Peirce, Gibbs, James und Veblen. Heute führt unser Land auf beinahe allen Gebieten der Naturwissenschaften (und dazu nocn auf einigen anderen) und zwar nicht nur in der Theorie, sondern auch im Experiment, in der Erfindung und schließlich auch in der Praxis. Das hat natürlich zu einem großen Wandel in dem Bereich der Erziehung geführt — und zwar in der höheren Schulbildung, in den sogenannten graduate schools, bei der Forschungsarbeit der Exmatrikulierten sowie in den Instituten und auf den Universitäten. Gewiß muß einTeil dieser Entwicklung auf mißliche Umstände der internationalen Politik zurückgeführt werden: so auf die zwei Kriege in Europa, auf die Nazis und auf die anfänglichen Auswirkungen der kommunistischen Machtübernahme in Rußland (letztere bedeuteten für Amerika nämlich zumindestens zeitweilig eine unerhörte Erschwerung für das ernsthafte Studium bestimmter Probleme). Der eben angedeutete Wandel muß ferner auch zu einem Teil auf die Tatsache zurückgeführt werden, daß viele Forscher als Flüchtlinge vor ihren Regimen zu Hause, vor der Tyrannei und vor jeglicher Art von Unannehmlichkeiten in anderen Ländern nach Amerika kamen. Dennoch trifft es eben zu, daß heute ein junger Mann, der die beste Ausbildung auf den Gebieten der theoretischen Physik, der Mathematik, der theoretischen Chemie oder Biologie zu genießen wünscht, höchstwahrscheinlich nach Amerika kommt — so wie er noch vor drei Jahrzehnten zu den Ausbildungsstätten in Europa gegangen wäre. Zweifellos war es nach dem Ende des 2. Weltkrieges, als das Interesse der Öffentlichkeit an den durch die Kriegsjahre in den Vereinigten Staaten herbeigeführten Erfol-gen auf dem Gebiet der angewandten Naturwissenschaften besonders zutage trat, äußerst wichtig, jedem übertriebenen Gefühl amerikanischer Uberlegenheit mit dem Hinweis entgegenzutreten, daß wir ja den europäischen und den Wissenschaftlern aus anderen Ländern sehr viel zu verdanken hatten. Heute aber Argumente zu wiederholen, die auch damals nur teilweise zu-trafen, — derart nämlich, daß die Amerikaner zwar hervorragende Praktiker, dafür aber schwache Theoretiker sind — würde der Wahrheit alles andere als gerecht werden. Natürlich sollte man immer hinzufügen, daß die Anzahl derer, die sich mit den theoretischen Wissenschaften befassen, zu allen Zeiten klein, und bei uns in Amerika heute sogar besonders klein ist. Die Arbeit, ja das bloße Vorhandensein solcher Theoretiker kann sich daher auch nur in einem sehr geringen Umfange direkt auswirken auf die Grundhaltung und den Lebensstil des Landes.

Nachdem ich dies alles festgestellt habe, will ich nun aber doch hinzufügen, daß es mir so scheint, als ob in unserer amerikanischen Zivilisation im Vergleich zu anderen Zivilisationen — sicherlich im Vergleich zu der alten indischen, der kontinental-europäischen und wahrscheinlich sogar im Vergleich zu der englischen (wo brillante Theorien entwickelt, in der Praxis aber größtenteils ignoriert werden) die Praxis sehr viel mehr als die Theorie betont wird, und die actio sehr viel mehr als die contemplatio. Bei der immer nur sehr schwer zu erreichenden Gewichtsverteilung im Unterricht neigen wir Amerikaner dazu, dem utilitaristischen Gesichtspunkt zu viel, und dem eudämonistischen zu wenig Bedeutung beizumessen. Lind wenn man uns oft das Prinzip des „do it yourself" nachsagt, dann dürste es sich hier in den wenigsten Fällen um Anstrengungen eines lernenden und spekulativen Geistes handeln.

Land der Vielfalt

Um der Beschaffenheit und Bedeutung solcherlei Charakteristiken des amerikanischen Lebens noch genauer auf den Grund zu gehen, sollten wir uns noch eines weiteren Aspektes in der geistigen Landschaft Amerikas bewußt werden: uns gehört ein Land der Vielfalt, der Vielfalt in wichtigen, tiefeingewurzelten und komplexen Formen. Wir tolerieren, respektieren und hegen solche Vielfalt in Gestalt eines echten Pluralismus. In den Vereinigten Staaten wird viel Theorie begründet: kosmologische Theorie, eine Theorie der genetischen Prozesse, eine Theorie über die Natur und das Wesen der Immunität, eine über die Beschaffenheit der Materie, eine Theorie über das Lernen, über die Preise und über das Verkehrswesen. Wir besitzen jedoch keine übergeordnete Theorie von dem Inhalt und Sinn des menschlichen Lebens überhaupt. Es gibt bei uns keinen Konsenz in bezug auf das Wesen der Realität, oder in bezug auf die Rolle, die wir selber in solcher Realität spielen. Es gibt keine Theorie über das „gute Leben“ und kaum eine Theorie über die Rolle, welche die Regierung im Hinblick auf ein solches Lebensziel spielen könnte. Die verschiedenartigen Begabungen, Fertigkeiten, Glaubensanschauungen und Erfahrungen unseres Volkes stellen einen wirksamen Beitrag dar zur Lösung eines ganz konkreten Problemes, zur Beantwortung einer wohldefinierten Frage, zum Bau einer Maschine, eines Gebäudes oder zur Konstruktion einer Waffenserie. Lind in solcherlei konkreten und begrenzten Vorhaben wird die Vielfalt und gegenseitige Fremdheit der an dieser Arbeit Beteiligten wiederum harmonisiert durch die gemeinschaftliche Aufgabe. Das „Experten-Team“ — manchmal unter Einschluß von Experten aus dem Fachgebiet der Sozialwissenschaften — stellte seinerzeit im Kriege eine außerordentlich erfolgreiche Erfindung dar und ist dies auch weiterhin in einer Vielzahl von verschiedensten, technischen Vorhaben. Für die allgemein üblichen Arbeitsvorhaben auf den Universitäten sind solche Teams jedoch nach wie vor als unangebracht und hemmend anzusehen.

Der amerikanische Pluralismus läßt sich zweifellos zum Teil aus dem Gesamtzusammenhang unserer Geschichte und aus denjenigen Zügen unseres nationalen Lebens verstehen, in denen wir uns von den meisten dei europäischen, und von vielen der asiatischen Gemeinschaften unterscheiden. Zur Verdeutlichung läßt sich das Beispiel der relativ primitiven Dorfgemeinschaften der Indianer im Südwesten Amerikas heranziehen, an die einige von uns sich vielleicht noch aus den ersten Jahren dieses Jahrhunderts erinnern können. Das Leben in diesen Dorfgemeinschaften war qualitativ gesehen relativ statisch und in hohem Maße schematisiert. Alle Elemente dieses Gemeinschaftslebens waren einander in einem festgefügten Bezugssystem zugeordnet und erhielten einen einheitlichen und sinngebenden Charakter durch religiöse Riten und Doktrinen. Veränderungen griffen hier nur sehr langsam um sich, und das Verkehrsnetz hielt sich durchaus im Rahmen des begrenzten Erfahrungsbereiches der Dorfbewohner. Solche Gemeinschaften stellen nahezu den Idealtypus einer Einheit, eines gegenseitigen Verstehens und einer monistischen Sicht der Welt dar. In Amerika ist jedoch dieser Dorf-typus nur sehr wenig in Erscheinung getreten.

Die Erfahrungen unseres Volkes waren daher völlig anderer Natur — auf Grund der „Grenz" -

Situation, der Weite des Landes und später dann der unerhört schnellen Wandlungsprozesse, des lärmenden Tempos und Verkehrs. Man kann vielleicht sagen, daß Neuengland zwei Jahrhunderte lang die Stabilität des Dorflebens aufwies: und ich glaube, daß wir heute in dem Zusammenhalt, in dem Zug zur Entschlossenheit und in dem gegenseitigen Verstehen der wenigen Nachfahren dieser alten Lebensgemeinschaften einen der stabilsten und einheitlichsten Faktoren in unserem Lande erblicken können.

Vielleicht lassen sich — allerdings weiß ich darüber weniger — Parallelen hierzu in den amerikanischen Südstaaten ziehen, obwohl das wechselvolle Schicksal mit diesen Gebieten der Vereinigten Staaten in den letzten 150 Jahren ja sehr hart verfahren ist.

Selbst wenn wir in diesem Zusammenhang unsere Aufmerksamkeit auf Europa lenken, jenen Kontinent also, von dem so viel der Unruhe, der Ernüchterung und auch der Differenziertheit unseres eigenen Landes ausgeht, dann können wir ganz wesentliche Unterschiede feststellen. In Europa gab es eine alte Tradition der „begrenzten Mobilität" des gesellschaftlichen Prozesses. Kulminationspunkt dieser Entwicklung war das 13. Jahrhundert mit seiner einheitlichen Schau aller für die Menschheit wichtigen Faktoren: Diese Schau beinhaltete ein allein von Gott her determiniertes Universum, in dem Gott stets allgegenwärtig war; ein Universum, in dem alles Erdliche als absolut konstant angesehen wurde, und für das des Menschen Leben auf ein stets gegenwärtiges Ziel und einen ebenso gegenwärtigen Zweck hin ausgerichtet war. Als diese Welt zusammenzubrechen begann, tat sie dies nur langsam, — zunächst in den Gedankengebäuden der Philosophen und Wissenschaftler. Erst im siebzehnten Jahrhundert läßt sich eine einigermaßen vollständige Wende von der contemplatio zur actio ausmachen. Lange nachdem dieser Wandlungsprozeß eingesetzt hatte, waren seine Auswirkungen etwa für einen John Donne noch bedrückend: „alles ist in Stücke gegangen“ (so klagte er), „aller Zusammenhalt ist verloren, alles ist nur nodr Hilfskonstruktion, alles Relation“.Nur langsam wurde sich in Europa der Mensch seiner eigenen Macht bewußt. Dieses Bewußtsein schälte sich dann heraus in Menschen und Völkern, die sich miteinander verbunden fühlten durch eine gemeinsame Sprache, durch gemeinsame Gewohnheiten und Traditionen des Geschmackes, der Sitten, der Künste und Eigenarten.

Im Vergleich zu alledem kann man die Amerikaner nur als Nomaden bezeichnen. Natürlich weist das, was die verschiedenen Menschen nach der Neuen Welt importierten, viele gemeinsame Züge auf. Beinahe immer war jedoch eben dieses Gemeinsame entweder negativer, persönlicher oder pragmatischer Natur: nämlich entweder der Wunsch, einem System der Unterdrückung zu entfliehen, oder aber die Hoffnung, sich ein neues Glück zimmern zu können. In den formativen Jahren unserer amerikanischen Geschichte erhielten die Unterschiede zwischen den einzelnen Bewohnern des Landes gewissermaßen Gewicht und Weihe durch die Leere des Raumes, durch die einerseits geforderte, andererseits aber auch reichen Lohn auszahlende Kunst der Improvisation, durch die Vielfältigkeit des neuen Lebens und schließlich durch die bereits erwähnte Situation der Grenze. Unsere Staatsphilosophen unternahmen es dann, die praktischen Segnungen der staatlichen Einheit in Einklang zu bringen mit der größtmöglichen Toleranz gegenüber dem

Faktor der Vielfalt. Innerhalb des letzten Jahrhunderts ist nun zu alledem hinzugekommen — gewissermaßen auch als Korrelat zu dem abgeschlossenen Prozeß der Grenzziehungen zwischen uns und unseren Nachbarn — eine gänzlich neue Ursache des Wandels, der daher sowohl radikaler wie auch umfassender ist als aller Wandel früherer Zeiten. Ich meine hiermit einerseits die bisher in der Geschichte noch nie in einem solchen Ausmaße dagewesene Ausdehnung des Wissens und der Erkenntnis. Während man vor 200 Jahren in diesem Zusammenhang noch besorgt in halben Jahrhunderten dachte, denkt man heute — das dürfen wir wohl sagen — eher in Jahrzehnten. Hand in Hand, und teilweise in ursächlichem Zusammenhang damit stehend, teilweise aber auch auf Grund eines immer mehr zunehmenden Reichtums wie auch einer Tradition der Freiheit und des Mobilismus, geht schließlich eine technologische „Explosion“ und eine wirtschaftliche Entwicklung, wie sie die Welt bislang noch nicht erlebt hat.

Zu Anfang unseres Jahrhunderts schrieb William James: „Ich möchte Ihnen nunmehr dringend empfehlen, Ihre Aufmerksamkeit besonders auf die Rolle zu lenken, die die älteren . Wahrheiten spielen. Ihr Einfluss stellt ein Element der unbedingten Kontrolle dar. Treue ihnen gegenüber ist das oberste Prinzip, in vielen Fällen sogar das einzige. Phänomenen, die durch ihren völlig neuartigen Charakter eine ernsthafte Reorientierung unserer vorgefaßten Meinungen mit sich bringen müßten, pflegt man meistens dadurch zu begegnen, daß man sie überhaupt ignoriert, oder aber, daß man diejenigen in Mißkredit bringt, die von solchen Phänomenen Zeugnis ablegen.“

Jagdgebiet der Spezialisten

In unserer Zeit ist das Gleichgewicht zwischen alten und neuen „Wahrheiten“ aus den Fugen geraten. Es ist nur natürlich, daß die meisten Menschen die Zahl und Art neuer „Wahrheiten“, mit denen sie sich künftig auseinanderzusetzen haben, auf ein Minimum zu beschränken trachten. Der intellektuelle Bereich wird zu einem Jagdgebiet der Spezialisten. Die Menschen in unserem Lande werden trotz aller scheinbaren, das heißt oberflächlichen Anzeichen einer Gleichheit letztlich viel differenzierter in ihrer Erfahrungsweite und sich gegenseitig viel fremder in der Sprache, mit der sie über das reden, was ihnen wirklich am Herzen liegt. Ein ähnlicher Vorgang läßt sich zu keiner Zeit und an keinem Ort in der bisherigen Geschichte der Menschheit ausmachen. Aus solcherlei Gründen kommt ein allgemeiner Konsenz nur noch in Erklärungen zum Tragen, die so vage sind, daß sie beinahe alles bedeuten können, oder aber in Situationen, die so überwältigend, bedrohlich und zwingend sind, daß man nicht mehr zurückzugreifen braucht auf irgendein theoretisches Gedankengebäude oder auch eine umfassende Sicht der gesamten Weltzusammenhänge. Das vielleicht in sich geschlossenste unserer theoretischen Systeme bieten die Naturwissenschaften. Sie sind für die meisten der unsere Regierung konfrontierenden Fragen der Politik und Strategie kaum von Belang. Wenige Ausnahmen bestätigen die Regel. Die auf diesem Gebiet zu beobachtende Geschlossenheit ist jedoch von einer ganz besonderen Natur: sie besteht im großen und ganzen aus einem Fehlen an jeglichem Widerspruch zwischen zwei gegebenen Teilen, und in einer nur schwer faßbaren, oft sogar lediglich potentiell gegebenen, wechselseitigen Bedeutung. Die Geschlossenheit ist auch nicht struktureller Natur, derart etwa, daß sich das ganze ableiten ließe von einer einfachen Summierung, einem Schlüssel oder irgendeinem Gott sei Dank noch möglichen mnemo-technischen Trick. Es gibt somit keinen festen Bestand an Axiomen in den Naturwissenschaften. Die wichtigsten Wahrheiten dieser Wissenschaft lassen sich nicht in Begriffen der „Normal" -Erfahrungen definieren, noch umschließen sie ohne weiteres alles übrige. Linser Wissen von der Natur ist in keinem wahren Sinne allgemeines Wissen. Vielmehr st dieses Wissen der kostbare Schatz vieler blühender Einzelgemeinschaften, die nur zu oft bei allem ihrem schnellen Wachstum vollkommen voneinander abgeschnitten sind. Noch nie zuvor hat sich unser gemeinsamer Fundus an Wissen auf einen so schmalen Teil des überhaupt Bekannten beschränkt. Die Naturwissenschaften „weiß“ man nicht. Sie lassen sich in toto überhaupt von niemandem überblicken. Das liegt wahrscheinlich zwangsläufig in der Natur der Sache. Nur kleine Ausschnitte dieser Wissenschaften lassen sich eben begreifen. In der Welt der Gelehrten werden inmitten dem großen Dunkel des Unbekannten gewissermaßen nur einzelne Licht-Oasen des Wissens vermittelt.

In den Überlegungen unserer Regierung darüber, welche praktischen Konsequenzen sich aus der naturwissenschaftlichen Entwicklung ergeben könnten, dürfte sich die eben angedeutete Lage zweifellos widerspiegeln. Selbst in bezug auf einen relativ so begrenzten Fragenkomplex wie den der Risiken, die sich aus der Radioaktivität in Friedenszeiten ergeben, kann die Regierung nicht einen einzelnen Experten um eine Lösung des Problems angehen. Vielmehr wendet sie sich dann an die „Nationale Akademie der Wissenschaften“, die ihrerseits eine ganze Serie von ebenso zahlreichen wie großen Ausschüssen zusammenruft. Die kollektive Erkenntnis auf der einen, und das kollektive Eingeständnis der eigenen Unwissenheit auf der anderen Seite stellen dann im Grunde die zur Zeit bestmögliche Antwort war.

In anderen Bereichen unseres geistig-intellektuellen Lebens, in Bereichen, die von größerer Bedeutung für die Politik und für die Strategie sind, finden wir eine Situation vor, die von der oben geschilderten keineswegs völlig verschieden ist, obwohl auch sie weniger formalisiert und auch weniger überhaupt erkannt wird. Auf dem innenpolitischen Sektor wird die Regierungsamtliche Analyse der jeweils anzugehenden Probleme glücklicherweise ergänzt durch die in unserer Tradition begründeten Sicherungen unserer politischen Institutionen. Wenn daher die exekutiven und legislativen Zweige unseres Staates — etwa die Probleme der Holzfäller im Nordwesten des Landes, die des Arbeitsmarktes in den Küstengebieten oder des Nachwuchses für die Schiffahrt — einmal falsch beurteilt haben sollten, dann besteht immer noch die Möglichkeit, daß diejenigen gehört werden, die auf Grund ihres täglichen Umganges mit solchen Problemen in diesem Falle als Spezialisten angesehen werden können. Auf Grund einer sozusagen allgemein vorausgesetzten, wenn auch manchmal verletzten oder sogar außer acht gelassenen Toleranz empfängt das Votum derjenigen, die am meisten von dem jeweiligen Problem betroffen sind und die daher auch über die besten und sofort auswertbaren Kenntnisse verfügen, die gewichtige Weihe des Glaubenssatzes einer zustimmenden Mehrheit. Auf dem Gebiete der auswärtigen Politik, in Angelegenheiten also, die andere Länder und andere Völker betreffen, besteht keine solche „Absicherung“ und keine Möglichkeit der Abhilfe. Hier muß sich die Regierung ganz entscheidend im Grunde auf die Forschung verlassen: darauf nämlich, was der Historiker, der Sprachwissenschaftler, der Künstler und alle anderen, die mit der nur im Verlaufe vieler Jahre zu erlangenden analytischen, wertenden und verstehenden Kunst des Historikers ausgestattet sind, als Einsichten in bestimmte Vorgänge ausländischer, und oft ganz besonders fremdartiger, Länder vermitteln können.

Ein „Schlüssel existiert nicht

Angesichts einer solchen Lage und angesichts der ganzen Komplexität, der Vielfalt, aber auch des raschen Wandels sowohl in unserem geistig-intellektuellen Bereich, wie in der Welt überhaupt, besteht natürlich die furchtbare Versuchung, nach dem eben gar nicht existierenden „Schlüssel“ zu suchen, nach der einfachen Zusammenfassung der Dinge, aus der sich dann alles andere ableiten ließe. Genau dahin haben wir Amerikaner in den Kriegen dieses Jahrhunderts tendiert. Wir dürfen heute wohl feststellen, daß am Ende eines jeden solchen Krieges dann immer die ernstesten Verwicklungen aus dieser Haltung resultierten. Selbst im ersten Weltkrieg war diese Haltung wahrscheinlich fehl am Platze. Damals machte sich unsere Regierung eine relativ detaillierte und ausgesprochen „gelehrte" Theorie zu eigen, die in unserem Volke weitgehendst akzeptiert wurde. Nur entsprach diese Theorie eben leider nicht ganz der Wahrheit. Eine solche Grundhaltung war dann wahrscheinlich ebenfalls fehl am Platze im zweiten Weltkrieg. Damals schien die Theorie äußerst primitiver Natur zu sein und aus der Anschauung zu bestehen, daß das Böse so weit verbreitet es auch in der Welt überhaupt sein mochte, im Grund in einer so einzigartigen Weise bei den Regierungen der Feind-möchtekonzentriert sei, daß wir es uns leisten könnten, dies Böse anderswo einfach zu übersehen.

Jede Regierung darf in einer gegebenen Situation aus mehr oder weniger zutreffenden Gründen eine Entscheidung über die von ihr zu befolgende Politik fällen. Das tut auch die amerikanische, so etwa wenn sie Krieg erklärt oder eine relativ so gut durchdachte Politik wie die Truman-Doktrin verkündet. Derartige Entscheidungen, die auf Grund der besten, jeweils zur Verfügung stehenden Data gefällt werden, stellen einen Willensakt dar. Treten dann neue Data zu Tage, die ebenfalls für die bereits getroffene Entscheidung sprechen, dann erfährt der Willensakt noch eine Untermauerung. In einem solchen Fall würde also wahrscheinlich die Durchführung der militärischen Operationen, oder die Ausführung der Doktrin, noch wirksamer werden. Zeigt sich hingegen, daß die getroffenen Entscheidungen fehl am Platze gewesen waren, oder später als bereits überholt gelten müssen, dann dürften die gegenteiligen Wirkungen eintreten. Die menschliche Neigung, zu den eigenen Entscheidungen unbedingt zu stehen, auf der anderen Seite aber möglichst wenig dazu zu lernen und sich nicht zu wandeln, sollte nicht noch durch eine Haltung verstärkt werden, die in jeder Verwerfung überholter Data und Analysen die Wahrheit, und daher auch den Wert der Dinge, angetastet sieht. Gefahren erwachsen nicht etwa daraus, daß man neuen, in eine gegenteilige Richtung weisenden Data vielleicht nicht genügend Gewicht bemißt. Die eigentliche Gefahr besteht vielmehr darin, daß man solche neuen Data überhaupt nicht registriert, daß unsere Fähigkeit zur Wahrnehmung, ja unser ganzer Intellekt durch das, worauf wir uns einmal festgelegt haben, so blockiert wird (was zwangsläufig bei unseren Sinnesorganen der Fall sein muß), daß uns etwaige Widersprüche und neue Entwicklungen überhaupt nicht mehr zum Bewußtsein kommen.

Ich glaube, daß uns heute durch die Vereinfachungen unseres Zeitalters sehr tiefgreifende Schäden zugefügt werden. Der Kalte Krieg ist eine bittere, ja tödliche Realität. Aber es geht heute in der Welt nicht alleine um diesen Kalten Krieg. Für unzählige andere Völker und ihre Regierungen stehen ganz andere, für sie viel bedrückendere Probleme im absoluten Mittelpunkt des Interesses. Jede „globale Schau“ (wie etwa die vom Kalten Krieg) muß zwangsläufig eine Rezeption von Erkenntnissen in den wirklich entscheidenden Bereichen inhibieren, weil dann nämlich solche Erkenntnisse unter dem Blickwinkel unserer eigenen, übergeordneten Doktrin irrelevant erscheinen müssen, oder aber in irgendeiner Form nicht mehr „passen“. Daß wir Amerikaner uns genau in dieser Gefahr befinden, scheint mir erwiesen durch das Ausmaß, in dem wir im Verlaufe des geschichtlichen Dramas unserer Zeit immer wieder von den Ereignissen völlig überrascht werden.

Zwei Aspekte der Lage, die ich zu umreißen versucht habe, bedürfen eines besonderen Kommentars. Es scheint mir nämlich, daß sowohl die Vielfalt wie das Tempo der Veränderungen in unserem heutigen Leben wahrscheinlich noch zunehmen, daß unsere Erkenntnis Fortschritte machen wird — (vielleicht sogar in einem sich immer mehr überschlagenen Tempo) —, und daß schließlich auch die Veränderungen selber eine unerhörte Beschleunigung erfahren werden.

Diese unsere Welt wird sich höchstwahrscheinlich nicht mehr synoptisch überschauen lassen.

Wir werden vielmehr nicht umhin können, uns immer wieder der Mühe eines Detailstudiums zu unterziehen. Ich halte es nicht für sehr wahrscheinlich, daß wir uns heute mitten in einem nur kurzen, das heißt bald überwundenen Intervall des Wandels und der offenkundigen Unordnung befinden. Das erkenntnistheoretische Problem scheint sich der heutigen Generation in einem noch nie dagewesenen Ausmaß zu stellen. In dieser Lage lassen sich nur noch die allgemein gehaltensten Verhaltensmaßregeln früherer Generationen anwenden.

Meiner Ansicht nach haben wir uns darüber hinaus auch auf eine Welt einzustellen, in der diese Probleme Amerikas nahezu die gesamte Welt angehen werden. Der Anfang einer solchen Entwicklung ist für die augenblicklichen Stimmungen der Europäer vielleicht von derselben Bedeutung wie die Geschichte der beiden

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Beilage „Aus Politik und Zeitgeschichte“ v. 2. X. 1957.

Weitere Inhalte

Robert Oppenheimer, Direktor des Instituts für fortgeschrittene Studien in Princeton. Direktor des wissenschaftlichen Labors in Los Alamos von 1943 bis 1945. Von 1947— 53 Vorsitzender des Allgemeinen Beratungsausschusses der Atomenergiekommission.