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Internationale Entspannung in der Sicht Nikita Chruschtschows | APuZ 4/1960 | bpb.de

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APuZ 4/1960 Internationale Entspannung in der Sicht Nikita Chruschtschows

Internationale Entspannung in der Sicht Nikita Chruschtschows

WALTER GROTTIAN

Die Rede Chruschtschows vor dem Obersten Sowjet der UdSSR am 31. 10. 59 unterscheidet sich in mancher Hinsicht von fast allen seinen bisherigen Reden zur sowjetischen Außenpolitik. Gegen die verbündeten Staaten des Westens, ausgenommen die Türkei, werden nicht wie üblich schwere Angriffe gerichtet. Die sonst so oft deutlich hervortretende Absicht, die in der NATO und SEATO verbündeten Staaten gegenüber der übrigen Welt in Verruf zu bringen und sie gleichzeitig gegeneinander argwöhnisch zu machen (vor allem gegen die USA und die Bundesrepublik Deutschland), verschwand zwar nicht, trat jedoch in den Hintergrund. Seit den amerikanisch-sowjetischen Gesprächen im Camp David sah die westliche Welt, einen weiteren Schritt zur Entspannung erhoffend, der Rede Chruschtschows vor dem Obersten Sowjet der UdSSR mit besonderem Interesse entgegen. Die nun gehaltene Rede wird sicher manchen Hoffnungen westlicher Politiker Auftrieb geben. Sie eignet sich zugleich für ein Studium der Glaubwürdigkeit der sowjetischen Erklärungen und für die Erkenntnis der sowjetischen Absichten in einem Maße, wie dies selten bei den Reden Chruschtschows der Fall ist. Die Analyse der Rede Chruschtschows stützt sich auf den russischen Text der „Iswestija“, Moskau, vom 1. November 1959. Die Übersetzung des russischen Textes stammt vom Verfasser der folgenden Untersuchung.

I. Zum Wunsch Chruschtschows nach einer friedlichen Koexistenz

1. Das Lob der friedlichen Koexistenz nach Lenins Vorbild 2. Lenin über Kriege und die sowjetische Praxis 3. Lenin über Pazifismus, allgemeine Abrüstung, friedliche Koexistenz 4. Die Dauer der Koexistenz nach Lenin und Chruschtschow 5. Chruschtschow über die sowjetischen Methoden in der Phase der „friedlichen Koexistenz"

6. Lenin über die sowjetischen Methoden in der Phase der Koexistenz 1. Vorschläge zur Lösung der Deutschland-Frage und anderer europäischer Fragen 2. Vorschläge für eine Entspannung im

1. Das Lob der friedlichen Koexistenz nach Lenins Vorbild

„Wenn wir über die friedliche Koexistenz sprechen,“ erklärte Chruschtschow, „so tun wir dies aufriduig, da die friedliche Koexistenz die unwandelbare Grundlage der Außenpolitik des Sowjetstaates ist. jVas den gesellschaftlidien Aufbau des einen oder des anderen Landes anbelangt, so ist das die innere Angelegenheit seines Volkes. Wir beaditen streng den Grundsatz der Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten anderer Staaten.“

Diesen Sinn der Koexistenz begründete Chruschtschow mit mehrfachen Hinweisen auf die friedlichen Absichten der Sowjetunion nach dem Vorbild Lenins: „In unserer Zeit wird den Völkern der ganzen Welt immer klarer die überragende Bedeutung -der weisen Idee des großen Lenin über die friedliche Koexistenz ... Wir müssen fest unsere Leninsche friedliebende Politik durchführen; und wir werden sie mit genauer Folgerichtigkeit durdtführen . . . Unsere ganze auf der marxistisdt-leninistischen Theorie gegründete Politik ist von der Sorge um den Menschen, um das Glüdr der Völker durchdrungen. Deshalb sind wir gegen den Krieg.“

Solche Begründungen Chruschtschows für die Friedfertigkeit sowjetischer Absichten mögen bei manchem Hörer oder Leser seiner Rede die Frage auslösen, ob Chruschtschow mit der friedlichen Koexistenz etwas anderes meint, als in den nichtkommunistischen Staaten allgemein darunter verstanden wird. Es könnten Bedenken bei westlichen Politikern usw. gegen die Vorstellungen Chruschtschows über die friedliche Koexistenz von Staaten entstehen. Wer sich so verhalten sollte, ist nach Chruschtschow ein Mann, der faktisch für den Krieg eintritt: „Nicht selten muß man Erwägungen von Politikern westlidter Länder darüber hören, ob man den von der Sowjetunion gemachten Vor-sdtlag zur friedlidten Koexistenz , annehmen'oder , nicht annehmen'soll. Soldie Erwägungen, denke ich, drüdten das Unverständnis für das Wesen der Frage aus. Es handelt sidt darum, daß die friedlidte Koexistenz in unseren Tagen ein reales Faktum und nidht irgendeine Bitte oder ein Wunsch ist. Diese ist eine objektive Notwendigkeit, die aus der jetzigen Lage in der Welt, aus der gegenwärtigen Etappe der Entwicklung der menschlichen Gesellschaft folgt. Beide hauptsächlichen Gesellschaftssysteme, die augenblidtlidt auf der Erde bestehen, verfügen über eine Bewaffnung, die furchtbare Folgen bringen würde, wenn man sie in Gang setzte. Wer jetzt erklärt, daß er die friedliche Koexistenz nicht anerkennt und dagegen polemisiert, tritt faktisch für den Krieg ein.“

Für Chruschtschow gibt es in seiner Rede keinen Unterschied zwischen jenen verschwindend wenigen Gegnern einer friedlichen Koexistenz, die einen Krieg gegen die Sowjetunion wollen, und jener sehr großen Zahl von Menschen im „Westen“, die einen Krieg gegen die Sowjetunion ablehnen, jedoch in der sowjetischen friedlichen Koexistenz den Plan einer stillen, stufenweisen Preisgabe der Sicherheit aller nichtkommunistischen Staaten mit dem Ziel sieht, die kommunistische Eroberung der ganzen Welt vorzubereiten. Unabhängig davon, ob dieser Prozeß der allmählichen Unterwerfung von lokal begrenzten Angriffskriegen oder durch von außen geschürte und unterstützte Bürgerkriege begleitet wird oder nicht, die Bedenken der Gegner einer friedlichen Koexistenz in sowjetischer Sicht stützen sich jedenfalls u. a. auf die Theorie des Leninismus und ihre Auswirkungen auf die sowjetische Außenpolitik seit 1917. Wer jedoch die sowjetische Auffassung von der friedlichen Koexistenz mit Hinweisen auf die marxistisch-leninistische Lehre bekämpft, wird von Chruschtschow wie folgt korrigiert:

„Einige bürgerliche Politiker, die gegen die friedliche Koexistenz auftreten, bemühen sich, die sozialistischen Länder und in erster Linie die Sowjetunion zu beschuldigen, daß wir unaufrichtig sind, wenn wir von friedlicher Koexistenz sprechen. Sie stellen es so dar, als ob wir die Losung der friedlichen Koexistenz nur als zeitweilig, aus taktischen Erwägungen ausgegeben hätten, weil der Marxismus-Leninismus, sagen sie, eigentlich von dem Standpunkt ausgeht, daß der Krieg für den Sieg des Sozialismus notwendig ist.

Jedoch sind solche Behauptungen nichts anderes als eine Verfälschung des Wesens des Marxismus-Leninismus. Der Marxismus hat immer einen unversöhnlichen Kampf gegen den Militarismus geführt und niemals den Krieg zwischen den Staaten für den Sieg der Arbeiterklasse als notwendig angesehen. Den unversöhnlichsten und konsequentesten Kampf gegen Eroberungskriege haben die russischen Bolsdtewi-sten mit Lenin an der Spitze . geführt.“

Wir fassen die näheren Erläuterungen Chruschtschows zur friedlichen Koexistenz zusammen: Friedliche Koexistenz nach dem Vorbild Lenins; streng folgerichtige Anwendung der Lehre des Marxismus-Leninismus in der sowjetischen Außenpolitik; gegen Unterstellungen einer sowjetischen Absicht, eine friedliche Koexistenz mit anderen Staaten nur zeitweilig zu wünschen; Unvereinbarkeit des Marxismus-Leninismus mit dem Wunsch nach Kriegen zwischen den Staaten; die russischen Bolschewisten — die unversöhnlichen Gegner von Eroberungskriegen.

Entspricht alles dies den Tatsachen?

2. Lenin über Kriege und die sowjetische Praxis

Unter dieser Überschrift ist nicht beabsichtigt, die Stellungnahme Lenins zu Kriegen in jeder Hinsicht zu behandeln. Die Darstellung beschränkt sich nur auf das unumgänglich Notwendige, um die Behauptung Chruschtschows über das Verhältnis des Leninismus zu Kriegen mit den Tatsachen zu vergleichen. Bei dieser Beschränkung ergibt sich folgendes:

Es ist nach Lenins mehrfachen Hinweisen sinnlos, zwischen Verteidigungskriegen und Angriffskriegen zu unterscheiden. Zum Beispiel in seinem Referat über das Thema „Proletariat und Krieg" vom 14. 10. 1914 erklärte er: „Je nadt der gesdtichtlidten Situation, je nach den Klassenverhält-nissen usw. muß zu versdtiedener Zeit auch die Stellung zum Krieg eine verschiedene sein. Es ist sinnlos, ein für allemal, prinzipiell jede Teilnahme am Krieg ablehnen zu wollen. Es ist andererseits ebenso sinnlos, die Kriege in Verteidigungs-und Angriffskriege zu scheiden.“

Er verurteilt die Kriege der „monopolkapitalistischen" Staaten als imperialistisch, weil es Kriege zur Neuverteilung der Welt zugunsten einer kleinen Gruppe von Monopolkapitalisten seien. Demgegenüber gibt es „fortschrittliche Kriege“, unabhängig davon, ob sie sich in der Form eines Angriffskrieges oder Verteidigungskrieges vollziehen. In dem oben erwähnten Referat führt er als Beispiel dafür an: „In Indien und China können die klassenbewußten Proletarier ebenso keinen anderen Weg als den nationalen einschlagen, da sich ihre Länder noch nicht zu nationalen Staaten herausgebildet haben. Wenn China zu diesem Zwecke einen Angriffskrieg zu führen hätte, so könnten wir ihm nur unsere Sympathie zuwenden, weil das 'objektiv ein fortsdirittlidter Krieg wäre. Ganz genau so konnte Marx im Jahre 1848 einen Angriffskrieg gegen Rußland propagieren.“

Anfang Oktober 1916 verfaßte Lenin seine Schrift „Über eine Karikatur auf den Marxismus und über den imperialistischen Ökonomismus". Darin schrieb er, daß „der Marxismus, der sich nicht zum Spießbürgertum erniedrigt, die historische Analyse jedes einzelnen Krieges fordert, um festzustellen, ob man diesen Krieg als fortsdirittlichen, den Interessen der Demokratie oder des Proletariats dienenden und in diesem Sinne als einen berechtigten, gerechten usw. betrachten kann." An einer anderen Stelle dieser Schrift heißt es: „Doch sich zur Ablehnung eines Krieges versteigen, der wirklich um die Befreiung der Völker geführt wird, heißt den Marxismus auf das schlimmste karikieren.“ 3a)

Welche Aufgaben sind nach Lenin vom Proletariat zu erfüllen, falls es in dem einen oder anderen Land zur Macht gelangt? „Die Ungleichmäßigkeit der ökonomischen und politischen Entwicklung ist ein unbedingtes Gesetz des Kapitalismus. Hieraus folgt, daß der Sieg des Sozialismus ursprünglich in wenigen oder sogar in einem einzeln genommenen kapitalistischen Lande möglich ist. Nach Enteignung der Kapitalisten und Organisation der sozialistischen Produktion im eigenen Lande würde sich das siegreiche Proletariat dieses Landes gegen die übrige kapitalistische Welt erheben, indem es die unterdrückten Klassen der anderen Länder für sich gewinnen, in diesen Ländern den Aufstand gegen die Kapitalisten anfadten und im Notfall sogar mit Kriegsgewalt gegen die exploitierenden Klassen und ihre Staaten vorgehen würde. Die politische Form der Gesellsdiaft, in der das Proletariat siegt, indem es die Bourgeoisie niederwirft, wird die demokratische Republik sein, die die Kräfte des Proletariats der betreffenden Nation oder der betreffenden Nationen immer mehr zentralisiert im Kampfe gegen die Staaten, die noch nicht zum Sozialismus übergegangen sind.“

Nach Lenin waren Kriege „proletarischer“ Staaten gegen „bürgerliche“ Staaten für die Ausbreitung des „Sozialismus“ nicht nur wünschenswert, sondern auch unvermeidlich. In dem „Militärprogramm der proletarischen Revolution", veröffentlicht im September/Oktober 1917, sagt e darüber: „Es wäre theoretisch grundfalsch, zu vergessen, daß jeder Krieg nur die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln ist; der jetzige imperialistische Krieg ist die Fortsetzung der imperialistischen Politik zweier Gruppen von Großmächten, und diese Politik wurde durch die Gesamtheit der Verhältnisse der imperialistischen Epoche erzeugt und genährt. Aber dieselbe Epoche muß notwendig die Politik des Kampfes gegen nationale Unterdrückung und des Kampfes des Proletariats gegen die Bourgeoisie erzeugen und daher die Möglichkeit und die Unvermeid- lichkeit erstens der revolutionären nationalen Aufstände und Kriege, zweitens der Kriege und Aufstände des Proletariats gegen die Bourgeoisie, drittens der Vereinigung beider Arten von revolutionären Kriegen usw.“

Gegen den Vorwuf des sozialdemokratischen Theoretikers Karl Kautsky, daß es unter dem bolschewistischen System nicht Sozialismus, sondern Militarismus gebe, verteidigte sich Lenin am 18. 3. 1919 u. a. mit folgenden Worten: „Wir haben stets gesagt: Es gibt . Kriege und Kriege'. Wir verurteilten den imperialistischen Krieg, aber wir lehnten nicht den Krieg schlechthin ab. Jene Leute, die uns des Militarismus zu beschuldigen versuchten, haben sich verrannt. Und als ich den Bericht über die Berner Konferenz der Gelben las, auf der Kautsky den Ausdrudt gebrauchte, daß es bei den Bolschewiki nicht Sozialismus, sondern Militarismus gebe, da lachte ich und zudzte die Achseln. Hat es denn in der Geschichte auch nur eine große Revolution gegeben, die nicht mit Krieg verbunden gewesen wäre? Natürlidt nicht!“

Was vorangehend von Lenins Gedanken über die positive Rolle des Krieges angeführt wurde, stellt nur einen Bruchteil ähnlicher Äußerungen Lenins dar. Die Darstellung Chruschtschows über den Marxismus-Leninismus als Gegner von Kriegen für die Ausbreitung des Sozialismus entspricht also nicht den Tatsachen.

Lenin, dessen Verdienste als Theoretiker über die Rolle des Krieges in zahlreichen sowjetischen Veröffentlichungen nach wie vor gerühmt werden, hat auch als Praktiker nach seiner Lehre gehandelt. Von den Angriffskriegen, die er führte, seien nur die erwähnt, die am klarsten den Charakter von Angriffskriegen aufweisen. Hierzu gehören der Einmarsch der „Roten Armee der Arbeiter und Bauern" in die damals zu China gehörende Äußere Mongolei (April 1920), in die nordpersische Provinz Ghilan (Mai 1920), in Georgien (Februar 1921).

Im Falle Georgiens ging die Bitte der aufständigen georgischen Kommunisten um die Hilfe der Roten Armee dem sowjetischen Angriffskrieg voraus. Dieser Krieg war um so bemerkenswerter, als die Sowjetregierung mit dem Bevollmächtigten Georgiens in Moskau noch am 7. Mai 1920 einen dem entgegenstehenden Vertrag unterzeichnet hatte. In diesem Vertrag hatte die Sowjetregierung uneingeschränkt die Unabhängigkeit Georgiens anerkannt und sich zur Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten verpflichtet (Art. 1 und 2). Die „Große Sowjetische Enzyklopädie“ Bd. 12, 1. Ausg., S. 574 rühmt den Einmarsch der Roten Armee in Georgien als Beispiel für einen „Revolutionskrieg" und vertritt dabei den Standpunkt: „Mit gleidtem Recht kann auch unsere bewaffnete Intervention im revolutionären Kampf des georgisdien Proletariats mit der menschewistischen Madit im Jahre 1921 zu dieser Kategorie gezählt werden, da sie auf Einladung des auf-ständisdten Proletariats erfolgte, das um Hilfe bat.“

Im Falle der Äußeren Mongolei kamen die Rufe um die Hilfe der Roten Armee von kommunistischen Mongolen, die sich auf sowjeti-shem Territorium, in der Stadt Kjachta (östlich von Irkutsk in der Nähe der sowjetisch-chinesischen Grenze), versammelt hatten. Dort hielten sie am 1. März 1920 einen Parteikongreß der Mongolischen Revolutionären Volkspartei ab; bildeten dort am 13. März eine Regierung. Am 10. April 1921 baten sie die Rote Armee um Hilfe Die Sowjetregierung begründete den militärischen Einmarsch mit der notwendigen Vernichtung von „Weißgardisten", die sich in die Äußere Mongolei geflüchtet hätten, errichtete aber dabei — zunächst in einem Geheimvertrag — die erste „Volksdemokratie" auf chinesischem Boden. Wie das sowjetische Vorgehen in der Äußeren Mongolei von der chine-sishen Zentralregierung damals beurteilt wurde ging aus der Note des chinesischen Außenministers vom 1. Mai 1922 an den sowjetischen Sonderbevollmächtigten Paikes in Peking hervor: „Nach dem kürzlidten Beridtt des Generals Li Juan über den russisch-mongolischen Vertrag, fragten wir Sie in dieser Angelegenheit, als Sie zum ersten Mal in Peking eintrafen, und Sie erwiderten, daß er vollständig unwahr sei. Jedoch stellte ich während einer kürzlichen Unterredung mit Ihnen wieder die Frage an Sie mit Rücksicht auf eine kürzliche Veröffentlichung des Vertragstextes durch Zeitungen; und Sie gaben die Wahrheit dieses Berichtes zu.

Die Sowjetregierung hat wiederholt der Chinesischen Regierung erklärt, daß alle früheren zwischen der Russischen Regierung und China abgeschlossenen Verträge null und nichtig sein sollen: daß die Sowjet-regierung auf alle Eingriffe auf chinesischem Territorium und alle Konzessionen innerhalb Chinas verzichtet und daß die Sowjetregierung bedingungslos und für immer zurückgeben wird, was mit Gewalt China von der früheren Kaiserlich Russischen Regierung und der Bourgeoisie genommen wurde.

Jetzt hat die Sowjetregierung plötzlich ihr eigenes Wort zurückgenommen und hat heimlich und ohne irgend ein Recht diesen Vertrag mit der Mongolei abgeschlossen. Eine solche Handlung der Sowjetregierung ähnelt der gegenüber China betriebenen Politik der früheren Kaiserlichen Russischen Regierung.“

Als Grund für den Einmarsch der Roten Armee in die nordpersische Provinz Ghilan gab die Sowjetregierung die notwendige Verfolgung der auf persisches Gebiet geflüchteten Reste der antibolschewistischen Armee des Generals Denkin an Jedoch räumte sie, wenn auch sehr zögernd, dieses Gebiet im September 1921 ohne ein von Kommunisten beherrschtes System zu hinterlassen, während in der Äußeren Mongolei der Räumung im Jahre 1925 die Sicherung der kommunistischen Alleinherrschaft vorausging.

Unter der Herrschaft Stalins führte die Sowjetunion zumindest drei Angriffskriege: gegen Polen im September 1939 (im Widerspruch zu dem polnisch-sowjetischen Nichtangriffspakt), gegen Finnland im November/März 1939/40 (im Widerspruch zu dem finnisch-sowjetischen Nichtangriffspakt), gegen Japan m August 1945 (im Widerspruch zu dem japanisch-sowjetischen Neutralitätspakt). Nur in formeller Hinsicht ist das sowjetische Vorgehen gegen die baltischen Randstaaten und Rumänien anders zu beurteilen: die Besetzung Litauens, Lettlands, Estlands, Bessarabiens und der nördlichen Bukowina durch die Rote Armee, ohne Krieg, nach vorangehenden Drohungen mit Gewalt. Im Falle Bulgariens ging dem Einmarsch der Roten Armee, ohne bulgarische Gegenwehr (September 1944), eine formelle sowjetische Kriegserklärung an Bulgarien voraus.

Wenn Chruschtschow, wie dargelegt, die „russischen Bolschewisten* u. a. als die unversöhnlichsten Kämpfer gegen Eroberungskriege auch in der Praxis darstellt, so steht dem. eine große Zahl von Tatsachen entgegen. Freilich würde ihn eine ausführliche Darlegung der Tatsachen über sowjetische Angriffskriege unter Lenin und Stalin wahrscheinlich nicht in Verlegenheit bringen. Er würde sie in leninistischer Sicht entweder als „Verteidigungskriege“ oder als „revolutionäre Befreiungskriege" deuten. Er würde darüber hinaus es wahrscheinlich bestreiten, daß Angriffskriege und Eroberungskriege dasselbe seien. In der Deutung der oben erwähnten Beispiele für die sowjetische außen-politische Praxis würde er keinen Widerspruch zu seiner oft wiederholten Behauptung sehen, daß die Sowjetunion vom Anfang ihres Bestehens an nur eine Politik der friedlichen Koexistenz verfolgt habe. Wir dagegen im Westen müßten bei unserem Bemühen um möglichst klare Begriffe sagen, daß die nach der leninistischen Theorie und Praxis erlaubten revolutionären Befreiungskriege nichts anderes als gesellschaftlich motivierte Angriffskriege sind und sich mit Bekenntnissen zur friedlichen Koexistenz von Staaten, ohne Rücksicht auf ihren gesellschaftlichen Aufbau, nicht vereinbaren lassen.

3. Lenin über Pazifismus, allgemeine Abrüstung, friedliche Koexistenz

Es ist eigentlich überflüssig, die Stellung Lenins zum Pazifismus zur Abrüstung usw. noch darzustellen. Sie ergibt sich grundsätzlich aus der Stellung Lenins zu Kriegen. Weil aber die kaum zu zählenden sowjetischen Erklärungen über die friedliche Koexistenz Lenins, auch in der erwähnten Rede Chruschtschows, ihren Niederschlag gefunden haben, soll dasselbe Thema noch von einer anderen Seite her behandel werden.

„Wer einen dauerhaften und demokratischen Frieden will, der muß für den Bürgerkrieg gegen Regierungen und Bourgeoisie sein“ — dieser Auffassung Lenins begegnet man in vielen seiner Veröffentlichungen, vor und nach dem Ende des ersten Weltkrieges. Aus der Fülle der Erklärungen Lenins dieser Art werden nur zwei weitere angeführt. In einem im August 1915 verfaßten Aufsatz „Die Friedensfrage“ schreibt er:

„Anstatt es den heuchlerischen Schönrednern zu überlassen, das Volk mit Phrasen und Versprechungen von einem möglichen demokratischen Frieden zu betrügen, müssen die Sozialisten die Massen darüber aufklären, daß ohne eine ganze Anzahl von Revolutionen und ohne revolutionären Kampf in jedem Lande gegen die eigene Regierung auch nur ein halbwegs demokratischer Friede eine Unmöglichkeit ist.“

Lenins 1920 verfaßtes Vorwort zur französischen und deutschen Ausgabe seiner Schrift: „Der Imperialismus als höchste Stufe des Kapitalismus“ hebt die aufklärenden Handlungen der „bürgerlichen“ Großmächte hervor, „indem sie sowohl die gedungenen Tintenkulis des Imperialismus entlarvten wie auch die reaktionären Kleinbürger — mögen diese sich auch Pazifisten und Sozialisten nennen die den , Wilsonismus‘ priesen und zu beweisen suchten, daß unter dem Imperialismus Frieden und Reformen möglich seien." 13a)

Der Weg zum „demokratischen Frieden", zum „dauerhaften Frieden" führt nach Lenin nur über den kommunistisch geführten Bürgerkrieg zum Sturz der Gesellschaftsordnung, zumindest in den westlichen Industriestaaten, die nach der Theorie Lenins ausnahmslos imperialistische Staaten sind (selbst die Schweiz ist nach Lenin ein imperialistischer Staat). Folgerichtig wendet sich daher Lenin gegen alle pazifistischen Strömungen, die Bürgerkriege und Staatenkriege zum „Sturz des Kapitalismus“ im Interesse der friedlichen Auseinandersetzung zu verhindern versuchen. Zwei Beispiele von vielen Beispielen mögen dies erläutern: „Kriegsdienstverweigerung, Streik gegen den Krieg usw. ist einfach eine Dummheit, ein jämmerlicher und feiger Traum vom unbewaffneten Kampf gegen die bewaffnete Bourgeoisie, ein Seufzen nach Beseitigung des Kapitalismus ohne verzweifelten Bürgerkrieg oder eine Reihe von Kriegen. Die Propaganda des Klassenkampfes bleibt auch im Kriege Pflicht der Sozialisten; die Arbeit, die auf die Verwandlung des Völker-krieges in den Bürgerkrieg zielt, ist im Zeitalter des imperialistischen bewaffneten Zusammenpralls der Bourgeoisie aller Nationen die einzige sozialistische Arbeit. Nieder mit den pfäffisch-sentimentalen und törichten Träumereien vom , Frieden um jeden Preis'! Wir wollen das Banner des Bürgerkrieges erheben!“ (Aus Lenins Aufsatz: „Lage und Aufgabe der sozialistischen Internationale“, veröffentlicht am 1.11.14) „Wir würden gegen die deutsche Bourgeoisie und nicht nur gegen die deutsche, einen revolutionären Kampf führen müssen. Wir würden diesen Kampf aufnehmen. Wir sind keine Pazifisten. Wir sind Gegner imperialistischer Kriege, die um die Verteilung der Beute unter die Kapitalisten geführt werden, aber wir haben es stets als Unsinn bezeichnet, daß das revolutionäre Proletariat auch revolutionären Kriegen äbschwören sollte, die sich im Interesse des Sozialismus als notwendig erweisen können. (Aus Lenins „Abschiedsbrief an die Schweizer Arbeiter" vom 8. 4. 1917)

Der Verurteilung des Pazifismus als Motiv für das „proletarische" Handeln, entsprach keineswegs einer Ablehnung des Pazifismus bei den „Klassenfeinden“ des Proletariats. In diesem Falle war für Lenin der Pazifismus ein erwünschtes Mittel, um seine Feinde — seien es pazifistische Sozialdemokraten, Pfarrer oder andere „Bürgerliche“ — für ganz andere Zwecke zu benutzen. In diesem Sinne ermahnte er die Revolutionäre der kommenden proletarischen Revolution, sich vom Pazifismus nicht anstecken zu lassen, ihn aber bei den Feinden auszunutzen.

„Von gewaltiger Bedeutung ist unser Verhalten zu den schwankenden Elementen in der Internationale überhaupt. Solche Elemente — vorzüglich Sozialisten von pazifistischer Färbung — gibt es ebenso in den neutralen wie in einigen kriegführenden Ländern (in England z. B. die Unabhängige Arbeiterpartei). Diese Elemente können zu Mitläufern für uns werden. Ein Zusammengehen mit ihnen gegen die Sozialchauvinisten ist geboten. Man darf aber nicht vergessen, daß sie nur Mitläufer sind, daß im Wichtigsten und Wesentlichsten bei der Wiederaufrichtung der Internationale diese Elemente nicht mit uns, sondern gegen uns marschieren werden, daß sie mit Kautsky, Scheidemann, Vandervelde, Sembat zusammengehen werden. Auf internationalen Konferenzen darf Elemente man sein Programm nicht auf das beschränken, was für diese annehmbar ist. Sonst werden wir selbst in die Gefangenschaft dieser schwankenden Pazifisten geraten.“ (Aus Lenins Schrift „Sozialismus und Krieg“, geschr. 1915)

Als Beispiel für den außenpolitischen Praktiker Lenin werden im folgenden seine Richtlinien für die Taktik der sowjetischen Delegation auf der Wirtschaftskonferenz von Genua (April/Mai 1922) angeführt.

Nach der sowjetischen Darstellung der Vorbereitung für die Konferenz galt es, die pazifistischen Strömungen in den anderen Staaten auszunutzen und sich notfalls auf eine „Sprengung“ der Konferenz einzustellen.

Lenin schrieb hierzu am 14. März 1922

„Die ganze Kunst besteht darin, ihre und unsere kaufmännischen Vorschläge klar und laut vor der Sprengung auszusprechen (falls , sie‘ zu einer rasdten Sprengung führen werden) . . .

Wir werden die Neugierde aller reizen, wenn wir sagen: , wir haben ein umfangreiches und vollständiges Programm'. Läßt man es uns nicht vorlesen, dann veröffentlichen wir es selbst nebst einem Protest.

Überall , einen kleinen Vorbehalt'machen: , Wir Kommunisten haben zwar unser kommunistisches Programm (III. Internationale), aber wir halten es dennoch für unsere Pflicht als Kaufleute (hätten wir auch nur 1/10 000 Chancen) die Pazifisten im anderen, d. h. ! m bürgerlichen Lager (die II. und lP/2 Internationale in ihm eingerechnet) zu unterstützen'.

Das wird sowohl giftig wie . harmlos'sein und wird uns helfen, den Feind zu zersetzen.

Bei einer solchen Taktik werden wir auch im Falle eines Mißerfolgs Genuas gewinnen. Auf ein für uns unvorteilhaftes Geschäft lassen wir uns nicht ein.“

Wer sich den Weg zu einem „demokratischen Frieden“, einem „dauerhaften Frieden" so vorstelltwieLenin, wer wie er den Pazifismus beurteilt, wird folgerichtig auch die Abrüstung danach beurteilen, ob sie den Zusammenbruch der Gesellschaftsordnung insbesondere in den westlichen Industriestaaten begünstigt oder nicht. Zur Frage der Abrüstung hat sich Lenin in mehreren Arbeiten grundsätzlich geäußert. In seinem Aufsatz „Über die Losung der Abrüstung“ vom Oktober 1916 machte er die pazifistisch gesinnten Sozialdemokraten in den verschiedenen Ländern darauf aufmerksam:

„Die Abrüstung ist das Ideal des Sozialismus. In der sozialistischen Gesellschaft wird es keine Kriege geben, infolgedessen wird die Abrüstung verwirklicht werden. Aber derjenige ist kein Sozialist, der ohne die soziale Revolution und die Diktatur die Verwirklichung des Sozialismus erwartet. Diktatur ist Staatsgewalt, die sich unmittelbar auf die Gewalt stützt. Die Gewalt im 20. Jahrhundert — wie überhaupt in der Epoche der Zivilisation — ist weder die Faust, nodt der Knüttel, sondern das Heer. Die Abrüstung in das Programm aufnehmen, das hieße überhaupt sagen: wir sind gegen die Anwendung von Waffen. Darin ist ebensowenig eine Spur von Marxismus zu finden, als wenn wir sagen wollten: wir sind gegen die Anwendung von Gewalt!“

Es kam für Lenin nicht in Betracht, eine Abrüstung „proletarischer“ Staaten in dem Maße zu befürworten, wie die „kapitalistischen“ Staaten abrüsten. „Proletarische" Staaten hatten in der Sicht Lenins mit guten Gründen als letzte abzurüsten. Seine im September/Oktober 1917 veröffentlichte Schrift über „Das Militärprogramm der proletarischen Revolution" sagt darüber folgendes aus

„Wir sagen: Bewaffnung des Proletariats zum Zwecke, die Bourgeoisie zu besiegen, zu expropriieren und zu entwaffnen — das ist die einzig mögliche Taktik der revolutionären Klasse, eine Taktik, die durch die ganze objektive Entwicklung des kapitalistischen Militarismus vorbereitet, fundiert und gelehrt wird. Nur nachdem das Proletariat die Bourgeoisie entwaffnet hat, kann es, ohne an seiner weltgeschichtlichen Aufgabe " Verrat zu üben, die Waffen zum alten Eisen werfen, was es auch ganz sicher dann — aber nicht früher — tun wird.“

Aus allen vorangehenden Betrachtungen Lenins zum Krieg, Frieden, Pazifismus, zur Abrüstung geht hervor, daß darin eine friedliche Koexistenz „proletarischer" Staaten neben „kapitalistischen" Staaten keinen Platz hat. Friedliche Koexistenz im Sinne eines Verzichts auf die LInterhöhlung und schließlich die Vernichtung anderer Staaten mit anderen Gesellschaftssystemen, im Sinne einer selbstverständlichen Achtung vor der Souveränität von Staaten mit anderen Gesellschaftssystemen, kann es nach der Theorie des Leninismus nicht geben. Da nach der Theorie Lenins als Anleitung zum Handeln, die Täuschung des „Klassenfeindes“ — nichtkommunistischer Parteien, Staaten usw. — durchaus erlaubt ist so wäre die häufige Verwendung des Ausdrucks „friedliche Koexistenz" bei Lenin dennoch denkbar. Was ist darüber bei Lenin in den zwanzig Bänden der ersten Auflage (1920— 1924), in den dreißig Bänden der zweiten bzw. dritten Auflage (1925— 1932) zu finden? Vergeblich wird man nach diesem Ausdruck (mirnoje sossuscht-schestwowanije) suchen! Im Gegensatz dazu die unübersehbar häufigen Hinweise der Nadifolger Stalins auf die friedliche Koexistenz nach Lenins Vorbild. Sie gehören zu den eindringlichsten Beispielen sowjetischer Propagandamethoden. Erst in der vierten Ausgabe der Werke Lenins, mit 3 5 Bänden (1946— 1950), findet sich eine Formulierung, die dem Ausdrude „friedliche Koexistenz" wenigstens nahekommt. In dem Interview mit dem Vertreter der Zeitung „New York Evening Journal“ vom 18. 2. 1920 gebrauchte Lenin den Ausdruck „friedliches Zusammenleben“ (mirnoje soshiteljstwo) Dieses Interview, in der Moskauer „Prawda“ vom 4. 1950 zum ersten Mal veröffentlicht, bezieht sich jedoch nicht auf das „friedliche Zusammenleben" von Staaten mit verschiedenen Gesellschaftssystemen. Lenin betont das „friedliche Zusammenleben“ der Sowjetunion mit Völkern, Arbeitern, Bauern und läßt keinen Zweifel daran, daß die Zeit für die kapitalistischen Ausbeuter dem Ende zugeht:

„Unsere Pläne in Asien? Die gleichen wie in Europa: friedliches Zusammenleben mit den Völkern, mit den Arbeitern und Bauern aller Nationen, die zu einem neuen Leben erwachen, zu einem Leben ohne Ausbeutung, ohne Gutsbesitzer, ohne Kapitalisten, ohne Kaufleute. " 21a)

Wer mit der leninistischen Terminologie und Taktik vertraut ist, wird unschwer den wesentlichen Unterschied zwischen den freundlichen Worten für Völker, Arbeiter und Bauern und den zumindest unfreundlichen Worten gegen ihre „Unterdrücker“ — die „kapitalistischen“ Staaten mit ihren Regierungen, ihren „regierenden Kreisen“ usw. — erkennen.

4. Die Dauer der Koexistenz nach Lenin und Chruschtschow

Die Lehre über die Anwendung von Gewalt in den verschiedenen Formen ist ein Teil der Theorie Lenins als Anleitung zum Handeln für den Sieg der kommunistisch geführten Staaten in der Welt. Verfehlt wäre jedoch die Annahme, daß Lenin nur die Gewalt als Mittel für die Erreichung des Zieles empfohlen hat. Obschon sich Äußerungen Lenins über die Notwendigkeit einer elastischen Taktik schon in seinen Veröffentlichungen vor 1917 finden, hat er, offenbar unter dem Eindruck seiner Erfahrungen nach der Oktoberrevolution, seine Theorie noch wesentlich ergänzt. Schon bei den deutsch-sowjetischen Verhandlungen über den Friedensvertrag von Brest-Litowsk mußte Lenin die dringende Frage entscheiden, ob „revolutionäre Befreiungskriege“ zu jeder Zeit, in jeder Lage das zweckmäßigste Mittel im Verhalten zu den „kapitalistischen“ Staaten wären. Die Anwendung dieses Mittels, ohne Rücksicht auf die internationale Kräfteverteilung, könnte mit dem Untergang des ersten „proletarischen" Staates enden. Auch wenn Lenin im Zusammenhang damit den Ausdruck Koexistenz nicht gebrauchte, so war damit, der Sache nach, die Frage nach der Koexistenz verschiedener gesellschaftlicher Systeme aufgeworfen. Sollte man nach Lenin, in einer für ihn außenpolitisch sehr ungünstigen Lage einfach nur warten oder mit anderen Mitteln dem gesteckten Ziel, wenn auch mitunter auf sehr gewundenen Wegen, näher kommen? Lenin entschied sich für die letztere Methode. Welche anderen Methoden als die Gewalt sich auch empfahlen, so galt für Lenin der Grundsatz: nur solange die internationale Lage keine Anwendung von Gewalt ohne größere Selbstgefährdung des „proletarischen“ Staates erlaubt, sind andere Mittel als die Gewalt anzuwenden. Daß die Phase der Koexistenz von einer Phase der Gewalt im Verhalten der gesellschaftlich verschiedenen Staaten abzulösen war, geht aus zahlreichen Äußerungen Lenins hervor. Wir führen im folgenden drei Erklärungen Lenins aus den Jahren 1919— 1921 an.

„Wir leben nicht nur in einem Staat, sondern in einem System von Staaten; und das Bestehen der Sowjetrepublik neben imperialistischen Staaten ist auf die Dauer undenkbar. Am Ende wird der eine oder andere siegen. Und bis es zu diesem Ende kommt, ist eine Reihe furcht- barster Zusammenstöße zwischen der Sowjetrepublik und den bürgerlichen Staaten unvermeidlich. Das bedeutet, daß die herrschende Klasse, das Proletariat, wenn es nur herrschen will und herrsdten wird, dies auch durch eine militärisdte Organisation beweisen muß.“ (Lenin auf dem 8. Parteitag der KPR am 18. 3. 1919) 22).

„Das Beispiel des Friedens von Brest-Litowsk hat uns viel gelehrt. Gegenwärtig stehen wir zwischen zwei Feinden. Wenn es unmöglich ist, sie beide u besiegen, so müssen wir unsere Kräfte so gruppieren, daß die beiden miteinander in Streit geraten, denn wenn zwei Diebe sich in den Haaren liegen, so gewinnt der Ehrliche stets dabei. Sobald wir aber stark genug sein werden, um den gesamten Kapitalismus niederzuschlagen, werden wir ihn sofort am Kragen packen.“ (Lenin am 26. 11. 1920 vor den Moskauer Zellensekretären)

„Wir sind nicht allein, auf der Welt. Wir existieren in einer Kette der kapitalistischen Staaten als Glied der Weltwirtschaft. Auf der einen Seite Kolonialländer, die können uns noch nicht helfen; auf der anderen Seite kapitalistische Länder, die sind unsere Feinde. Es ist ein gewisses Gleichgewicht, wohl ein sehr schlechtes Gleichgewicht, aber wir müssen dodt mit dieser Tatsache rechnen. Wir dürfen nicht vor dieser Tatsache die Augen verschließen, wenn wir existieren wollen. Entweder sofortiger Sieg über die gesamte Bourgeoisie oder Tribut zahlen.

Wir gestehen ganz offen, verheimlichen es nicht: Konzessionen im Staatskapitalismus, das heißt Tribut an den Kapitalismus. Aber wir gewinnen Zeit, und Zeit gewinnen, heißt alles gewinnen, insbesondere in der Epoche des Gleichgewichts, in der Epoche, in der die ausländischen Genossen ihre Revolution gründlich vorbereiten. Je gründlidter sie vorbereitet wird, desto sicherer wird der Sieg sein. Bis dahin aber werden wir Tribut zahlen müssen.“ (Lenin am 5. 7. 1921 auf dem 3. Weltkongreß der Kommunistischen Internationale) Aus diesen Erklärungen geht eindeutig der Sinn der Koexistenz bei Lenin hervor. Wer daher die Koexistenz nach dem Vorbild Lenins als Richtschnur seines Handelns bezeichnet, kann nur eine zeitlich begrenzte Koexistenz zwischen der Sowjetunion und den nichtkommunistischen Staaten als richtig ansehen. Chruschtschow, der immer wieder Lenin als Vorbild sowjetischer Koexistenzpolitik rühmt, bestreitet in seiner Rede trotz allem diese Folgerung. Die Meinung, daß die Nachfolger Stalins „die Losung der friedlichen Koexistenz nur als zeitweilig, aus taktischen Erwägungen ausgegeben hätten“ wird, wie dargelegt, von Chruschtschow als „Verfälschung des Wesens des Marxismus-Leninismus“ bezeichnet. Nicht genug, daß er als Leninist sich damit in einem unauflöslichen Widerspruch verwickelt: er sowohl als auch andere sowjetische Vertreter haben die zeitlich begrenzte sowjetische Koexistenz mit Staaten anderer gesellschaftlicher Ordnung in Erklärungen betont. In einer seltenen Konzentration von falscher Darstellung und richtiger Anwendung der Lehre Lenins über die Koexistenz hat z. B. Chruschtschow sich vor einigen ausländischen Journalisten am 5. Februar 195 5 geäußert. Den Wortlaut der Erklärung Chruschtschows entnehmen wir der „Prawda“, Moskau, vom 11. 2. 1955:

„Indem wir den Verwädunissen des großen Lenin folgen, stehen wir ein für eine dauernde, friedliche Koexistenz zweier Systeme, d. h. wir daditen und denken, daß diese beiden Systeme zusammen leben und nicht Kriege führen können.

Wenn man fragt, wie dauernd diese Koexistenz sein kann, so muß man sagen, daß diese von den historischen Bedingungen, von der histo-risdten Entwicklung abhängen wird.“

Mit dem zweiten Satz hat Chruschtschow den Gedanken Lenins so formuliert, wie es Lenin abstrakt kaum besser formuliert haben dürfte. Die erwähnte Beschuldigung Chruschtschows gegen Personen, die von der zeitlich begrenzten Koexistenz der Sowjetunion mit anderen Staaten sprechen, könnte vermuten lassen, das Chruschtschow wenigstens in seiner Rede vom 31. Oktober 1959 keine zeitlich begrenzte Koexistenz mehr erwähnt. In Wirklichkeit entsprechen der gedämpften Polemik gegen die Westmächte gedämpfte Andeutungen über die zeitlich begrenzte Koexistenz. Wir bitten den Leser, noch einmal das angeführte dritte Zitat aus der Rede Chruschtschows zu lesen. Der zeitlich begrenzte Charakter der Koexistenz wird mit Formulierungen umschrieben, wie „jetzige Lage in der Welt", „gegenwärtige Etappe der Entwicklung der menschlichen Gesellschaft“ und „Gesellschaftssysteme, die augenblicklich auf der Erde bestehen.“

Zusammenfassend muß man sagen: Die Ausführungen Chruschtschows über die Koexistenz, in seiner Rede vom 31. Oktober, stehen in scharfem Widerspruch zu der Lehre des Marxismus-Leninismus. Darüber hinaus bestehen zwischen den Erklärungen Chruschtschows Widersprüche.

5. Chruschtschow über die sowjetischen Methoden in der Phase der „friedlichen Koexistenz"

Geschmeidigkeit nach dem Vorbild Lenins fordert Chruschtschow für die sowjetische Außenpolitik. Darüber äußert er sich in seiner Rede wie folgt:

„Der Grundsatz der friedlichen Koexistenz von Staaten mit versdüe-dener gesellsdiaftlicher Struktur bedeutet die Nichteinmisdiung in innere Angelegenheiten, die Notwendigkeit gegenseitiger Zugeständnisse, von Kompromissen wenn Sie wollen, von beiderseitigen Anpassungen auf dem Gebiete der internationalen Beziehungen bei der Lösung heran-gereifter praktischer Fragen im Interesse der Sicherung und Festigung des Friedens. W. I. Lenin lehrte, daß die Arbeiterklasse sowohl vor als auch nach der Eroberung der Macht es verstehen muß, eine geschmeidige Politik durchzuführen, auf Kompromisse, auf Vereinbarungen einzugehen, wenn dies das Leben erfordert, das Interesse der Sadie erfordert.“

Als Musterbeispiel für eine „weise und geschmeidige Politik“ führt Chruschtschow das Verhalten Lenins zum Friedensvertrag von Brest-Litowsk an:

„Die Gesdiidite des Sowjetstaates kennt nicht wenige Beispiele einer weisen und gesdimeidigen Außenpolitik Lenins, die auf eine Lösung widitiger Fragen des Friedens gerichtet war. So war es zum Beispiel in der Zeit des Brester Friedens. Wladimir Iljitsdi Lenin stellte die Aufgabe eines Friedensabschlusses mit Deutschland, um dem jungen Sowjet-staat die Möglidikeit zu sidtern, friedlidt den Sozialismus aufzubauen. Lenin und die Partei mußten einen hartnäckigen Kampf gegen Trotzki führen, der damals mit dem nach links abweichenden Einwand auftrat und seine viel zitierte Losung herausgab: . Weder Krieg noch Frieden!', womit er in die Hände der deutsdien Imperialisten arbeitete. Es ist bekannt, daß die abenteuerlidie Politik Trotzkis von dem deutschen Imperialismus gegen das Sowjetland ausgenutzt wurde. Der junge sozialistische Staat mußte nicht geringe Schwierigkeiten überwinden. Sie waren die Früdite einer abenteuerlichen Politik.

Jetzt ist die Lage selbstverständlidi ganz anders. Wir führen dieses Beispiel aus der Geschichte an, um die Leninsche Grundsätzlichkeit in der Außenpolitik und die Geschmeidigkeit in ihrer Durchführung zu zeigen.“

Um klarer zu verstehen, was Chruschtschow mit Kompromissen, mit der Grundsätzlichkeit und Geschmeidigkeit nach dem Vorbild Lenins meint, ist es unerläßlich, sich noch einmal der Theorie und Praxis der Methoden Lenins zuzuwenden.

6. Lenin über die sowjetischen Methoden in der Phase der Koexistenz

Wie dargelegt, ist der Sinn der Leninschen Koexistenz eines kommunistisch geführten Staates mit anderen Staaten die Zeit, in der ein ge-waltsames Vorgehen gegen andere Staaten, mit Rücksicht auf die möglicherweise schädlichen Folgen für sich selber, unterlassen wird. Daß für Lenin moralische Gründe für eine Koexistenz von verschiedenen Staaten keine Rolle spielen, hat Lenin mehrfach betont, u. a. so: „Wir sagen, daß unsere Sittlichkeit völlig den Interessen des proletarischen Klassenkampfes untergeordnet ist.“ Einen Ausdruck dieser Haltung sahen wir bereits in dem Verhältnis Lenins zum Pazifismus: für den zu schwächenden „Klassenfeind" als Gruppe, als Staat möglichst viel Pazifismus, aber Fernhaltung der Kommunisten vom Pazifismus. Dasselbe zeigt sich in den Methoden, die Lenin der Regierung eines kommunistisch geführten Staates und den kommunistischen Helfern in den „bürgerlichen Staaten empfiehlt. Sie sind alle darauf gerichtet, den nichtkommunistischen „Partner" in der Phase der Koexistenz Schritt für Schritt zu schwächen. In dieser Zeit soll möglichst eine Lage „heranreifen , die den entscheidenden Stoß ohne Selbstgefährdung gegen den nichtkommunistischen „Partner“ erlaubt.

Wie oft haben viele Menschen solche Beschreibungen sowjetischer Absichten nach dem Vorbild Lenins gelesen, ohne ihnen in der begreiflichen Sehnsucht nach Frieden glauben zu wollen! Was die von Chruschtschow als Vorbild bezeichneten Kompromisse und Zugeständnisse Lenins bedeuten, erläutert Lenin selber u. a. in seiner im Juli 1920 veröffentlichten Schrift: „Der . linke Radikalismus*, die Kinderkrankheit im Kommunismus":

„Sich im Voraus die Hände zu binden, dem Feind, der jetzt besser gewappnet ist als wir, offen zu sagen, ob und wann wir mit ihm Krieg führen werden, ist eine Dummheit, aber kein revolutionäres Verhalten. Den Kampf aufzunehmen, wenn dies offenbar für den Feind und nicht für uns günstig ist, ist ein Verbrechen, und Politiker der revolutionären Klasse, die nicht zu lavieren, zu praktieren, Kompromisse zu schließen verstehen, um einem offenkundig unvorteilhaften Treffen auszuweichen, sind keinen Pfifferling wert.“ Dieser Gedanke Lenins ist nur eines der vielen Beispiele für die Bejahung des Angriffskrieges (nach Lenin: „revolutionärer Befreiungskrieg") unter günstigen Bedingungen. Was ihn von seiner Auffassung vom Jahre 1915 (vgl.seinen Standpunkt auf S. 38) unterscheidet, ist die größere Vorsicht in der Prüfung der internationalen Kräfteverhältnisse vor einem zu unternehmenden Angriffskrieg. Für Kompromisse, für das Paktieren von Kommunisten und Nichtkommunisten in der Zeit der Koexistenz, verlangt Lenin ein Höchstmaß von Geschmeidigkeit und verurteilt Kommunisten, die nur einen „geraden Weg" gehen wollen:

„Die KoMWUHisten müssen alle Kräfte anspannen, um die Arbeiterbewegung und die soziale Entwicklung überhaupt auf dem geradesten und raschesten Wege zum Sieg der Sowjetmacht und zur Diktatur des Proletariats in der ganzen Welt zu führen. Das ist eine unabstreitbare Wahrheit. Aber man braucht nur einen ganz kleinen Schritt weiter — scheinbar einen Schritt in derselben Richtung — zu tun, und die Wahrheit verwandelt sich in einen Irrtum. Man braucltt nur, wie die deutschen und englischen linken Kommunisten es tun, zu sagen, daß wir nur einen Weg, nur den geraden Weg anerkennen, daß wir kein Lavieren, kein Paktieren und keine Kompromisse zulassen — und das wird bereits ein Fehler sein, der dem Kommunismus ernstesten Schaden zufügen kann, zum Teil bereits zugefügt hat und noch zufügt. Der rechte Doktrinarismus hat beharrlich die alten Formen anerkannt und hat vollständig Bankrott gemacht, weil er den neuen Inhalt nicht bemerkt hat. Der linke Doktrinarismus lehnt bestimmte alte Formen beharrlich ab und merkt nicht, daß der neue Inhalt sidt durch alle möglidte Formet Bahn bricht, daß es unsere Pflicht als Kommunisten ist, alle Formen zu beherrsdten, es zu lernen, mit maximaler Schnelligkeit eine Form durdt die andere zu ergänzen, eine Form durch die andere zu ersetzen, unsere Taktik einer jeden Änderung anzupassen, die nicht durch unsere Klasse oder nidit durdt unsere Anstrengungen hervorgerufen worden ist.“

Was soll nach Lenin u. a.der Inhalt der Kompromisse, der Zusammenarbeit mit Nichtkommunisten sein? Nicht nur die Verschärfung der Gegensätze zwischen den „kapitalistischen“ Staaten, sondern auch das Schüren von Konflikten von gesellschaftlichen Gruppen innerhalb jedes einzelnen „kapitalistischen" Staates, um damit ein höchstmögliches Maß von Schwächung aller „kapitalistischen“ Staaten außenpolitisch und innenpolitisch zu erreichen: '

„Nach der ersten sozialistisdten Revolution des Proletariats, nach dem Sturz der Bourgeoisie in einem Lande, bleibt das Proletariat dieses Landes lange Zeit sdtwächer als die Bourgeoisie, dies sdton einfadt wegen der ungeheuren internationalen Verbindungen der Bourgeoisie, dann aber audt infolge der elementar und ständig vor sich gehenden Wiederherstellung, Wiederbelebung des Kapitalismus und der Bourgeoisie durch die kleinen Warenerzeuger des Landes, das die Bourgeoisie gestürzt hat. Einen mächtigeren Gegner kann man nur unter größter Anspannung der Kräfte und nur dann besiegen, wenn man unbedingt aufs sorgfältigste, sorgsamste, vorsiditigste, geschickteste sowohl jeden, auch den kleinsten „Riß“ zwischen den Feinden, jeden Interessengegensatz zwischen der Bourgeoisie der verschiedenen Länder, zwi-

sdten den verschiedenen Gruppen oder Schichten der Bourgeoisie innerhalb der einzelnen Länder als auch jede, selbst die kleinste Möglidtkeit ausnutzt, um einen Verbündeten zu gewinnen, hinter dem Massen stehen, mag das audt ein zeitweiliger, schwankender, unsicherer, unzuverlässiger, bedingter Verbündeter sein. Wer das nicht begriffen hat, der hat auch nicht einen Deut vom Marxismus und vom wissenschaftlidten Sozialismus überhaupt begriffen. Wer nicht während einer beträchtlichen Zeitspanne und in recht versdtiedenartigen politischen Situationen praktisch bewiesen hat, daß er es versteht, diese Wahrheit in der Tat anzuwenden, der hat es nodt nidtt gelernt, der revolutionären Klasse in ihrem Kampf um die Befreiung der gesamten werktätigen Menschheit von den Ausbeutern zu helfen. Und das Gesagte gilt in gleicher Weise für die Periode vor und nadt der Eroberung der politischen Madit durch das Proletariat.

Unsere Theorie ist kein Dogma, sondern eine Anleitung zum Handeln, pflegten Marx und Engels zu sagen, und der schwerste Fehler, das sdiwerste Verbrechen solcher „patentierten“ Marxisten wie Karl Kautsky, Otto Bauer u. a. besteht darin, daß sie das nidtt begriffen, daß sie in den wichtigsten Augenblichen der Revolution des Proleta riats nicht verstanden, nicht vermocht haben, diese Theorie anzuwenden.“

Wo sich Gelegenheit dazu bietet, soll auch unmittelbare Zersetzung des nichtkommunistischen „Partners“ das Ergebnis der Zusammenarbeit sein:

„Aus alledem aber ergibt sich für die Vorhut des Proletariats, für seinen klassenbewußten Teil, für die Kommunistische Partei absolut unumgänglich die Notwendigkeit, die unbedingte Notwendigkeit, zu lavieren, zu paktieren, Kompromisse mit verschiedenen proletarischen Gruppen, mit verschiedenen Parteien der Arbeiter und der kleinen Besitzer zu schließen. Es kommt nur darauf an, zu verstehen, diese Taktik so anzuwenden, daß sie zur Hebung und nicht zur Senkung des allgemeinen Niveaus des proletarischen Klassenbewußtseins, des revolutionären Geistes, der Kampf-und Siegesfähigkeit beiträgt. Wir müssen übrigens bemerken, daß der Sieg der Bolschewiki über die Menschewiki nicht nur vor der Oktoberrevolution 1917, sondern auch nachher die Anwendung der Taktik des Lavierens, des Paktierens, der Kompromisse forderte, natürlich nur eines solchen Lavierens und Paktierens und solcher Kompromisse, die den Sieg der Bolschewiki auf Kosten der Menschewiki erleichterten, beschleunigten, festigten und stärkten."

Auf die beiden zuletzt gebrachten Zitate Lenins nimmt Chruschtschow wahrscheinlich bezug, als er, von Lenins Richtlinien für die „Arbeiterklasse“

sprach, „sowohl vor als auch nach der Eroberung der Macht“ eine „geschmeidige Politik durchzuführen“ (vgl.den Text der Rede auf S. 42).

Neben den beiden Formen Leninscher Kompromisse (zur Entfachung und Verschärfung von Gegensätzen, zur Zersetzung der nichtkommunistischen Partner) gibt es noch eine dritte Form: der Kompromiß einer kommunistischen Partei oder eines kommunistisch geführten Staates zum Schutze vor der Vernichtung der eigenen Existenz. Es geht ihm gewöhnlich ein Rüdezug voraus, der schließlich keine andere Wahl läßt, als mit dem nachrückenden, überlegenen Gegner einen mit großen Opfern verbundenen Kompromiß abzuschließen oder kämpfend zugrundezugehen.

Vom leninistischen Standpunkt aus wäre die letzte Entscheidung im Interesse der Erhaltung eines Ausgangspunktes für die „proletarische" Weltrevolution ganz abwegig. Für einen Kompromiß unter diesen sehr ungünstigen Bedingungen hat Lenin den Friedensvertrag von Brest-Litowsk angeführt. Chruschtschow führt ihn als Muster für die geschmeidige Taktik in der sowjetischen Außenpolitik an. Nach Chruschtschow wurde er von einem friedfertigen Lenin abgeschlossen, der damit sich die Möglichkeit eines friedlichen Aufbaus des Sozialismus in Rußland sichern wollte. Bereits diese Begründung widerspricht völlig einem der wichtigsten Grundsätze des Leninismus: daß es einen friedlichen Aufbau des Sozialismus nicht geben kann. Eine nicht übersehbare Fülle von sowjetischen Erklärungen, Schriften, Rundfunksendungen usw. überschüttet die westlichen sozialdemokratischen Parteien seit Jahrzehnten mit Vorwürfen und Schmähungen, weil diese gerade die Notwendigkeit betonen, den Sozialismus friedlich aufzubauen.

Warum Lenin in Wirklichkeit den Vertrag von Brest-Litowsk, diesen für ihn sehr ungünstigen Kompromiß, abschloß, wurde von ihm u. a. so begründet:

„Um allen Mißdeutungen vorzubeugen, will ich versuchen, wenn auch nur ganz knapp, einige grundlegende Sätze für die Analyse konkreter Kompromisse aufzustellen.

Die Partei, die mit den deutschen Imperialisten den Kompromiß sddoß, der in der Unterzeichnung des Brester Friedens bestand, hat sich ihren Internationalismus seit 1914 durch die Tat erarbeitet. Sie sdtreckte nidtt davor zurüdt, die Parole der Niederlage der Zarenmo-nardtie zu proklamieren und die . Vaterlandsverteidigung'in dem Krieg zwischen den zwei imperialistischen Räubern zu brandmarken. Die Parlamentsabgeordneten dieser Partei wanderten nach Sibirien, anstatt den Weg zu beschreiten, der zu den Ministersesseln in einer bürgerlidten Regierung führt. Die Revolution, die den Zarismus gestürzt und die demokratische Republik geschaffen hat, bedeutete für diese Partei eine neue, gewaltige Probe: Die Partei ließ sich auf keine Vereinbarung mit . ihren Imperialisten ein, sondern bereitete deren Sturz vor und stürzte sie audt. Nachdem diese Partei die politische Macht erobert hatte, ließ sie von dem gutsherrlichen und dem kapitalistischen Eigentum keinen Stein auf dem anderen. Nachdem diese Partei die Geheimverträge der Imperialisten veröffentlicht und zerrissen hatte, schlug sie allen Völkern den Frieden vor und fügte sich der Gewalt der Räuber von Brest-Litowsk erst, nachdem die englischen und französischen Imperialisten den Frieden vereitelt, die Bolschewiki aber alles menschenmöglidte getan hatten, um die Revolution in Deutschland und in anderen Ländern zu beschleunigen. Die vollkommene Richtigkeit eines solchen Kompromisses, der von einer solchen Partei und unter solchen Umständen gesdtlossen wurde, wird mit jedem Tag klarer und offensichtlicher für alle.“

Also nicht das Bedürfnis nach dem friedlichen Aufbau des Sozialismus war der maßgebende Grund, sondern das negative Ergebnis der Absicht, „alles menschenmögliche" für die Beschleunigung der Revolution in Deutschland und „anderen Ländern" zu tun. Lenin dachte auch nicht daran, diesen für ihn ungünstigen Friedensvertrag durch diplomatische Mittel, durch friedliche Vereinbarungen zu revidieren. Fest von der begrenzten Dauer dieses Kompromisses überzeugt, schlug Lenin am 8. März 1918 zur Ratifizierung des Vertrages von Brest-Litowsk dem Parteikongreß eine Resolution vor, in der er forderte: „Der Kongreß erkennt es als notwendig an, die angenommene Resolution nicht zu veröffentlichen, und verpflichtet alle Parteimitglieder, Schweigen über diese Resolution zu wahren. In der Presse wird nur — und dabei nicht heute, sondern nach der Weisung des Zentralkomitees — die Mitteilung gebracht, daß der Kongreß für die Ratifizierung ist.

Darüber hinaus unterstreicht der Kongreß besonders, daß dem Zentralkomitee die Vollmacht gegeben wird, in jedem Augenblick alle Friedensverträge mit den imperialistischen und bürgerlichen Staateu zu brechen und auf gleiche Weise ihnen den Krieg zu erklären.“

Dies ist ein weiteres Beispiel für einen Kompromiß im Zeichen einer Koexistenz, die bei passender Gelegenheit durch eine neue Phase der Gewalt gelöst werden soll. Die von Lenin mit Erfolg geforderte Vollmacht beschränkt sich dabei nicht nur auf die Vollmacht für Maßnahmen gegen die Teilnehmer des Vertrages von Brest-Litowsk. Auch die anderen Staaten, die dem bolschewistischen Rußland noch keinen Schaden zugefügt hatten, werden in seine kriegerischen Zukunftspläne einbezogen. Solange sich dies nicht verwirklichen ließ, hatte für Lenin der Friedensvertrag von Brest-Litowsk noch eine dritte Bedeutung:

„Brest ist dadurch bedeutsam, daß wir es hier zum ersten Mal in riesigem Ausmaß, unter unvergeßlichen Schwierigkeiten verstanden, die Gegensätze zwischen den Imperialisten so auszunutzen, daß letzten Endes der Sozialismus dabei gewann." (Aus Lenins Rede vor den Moskauer Zellensekretären am 26.11.1920) 31a).

Wenn Chruschtschow gerade das Verhalten Lenins gegenüber dem Friedensvertrag von Brest-Litowsk als ein Musterbeispiel von Grundsätzlichkeit und gleichzeitiger taktischer Geschmeidigkeit in der sowjetischen Außenpolitik ansieht, so kann dies jeden auf Frieden und Wahrheit bedachten, klar denkenden Menschen in der nichtkommunistischen Welt nur dazu nötigen, bei Chruschtschow völlig andere Vorstellungen über internationale Entspannung anzunehmen, als dies bei der überwältigenden Mehrheit der Menschen der Fall ist.

II. Zu den Vorschlägen Chruschtschows zur internationalen Entspannung

In seiner Rede hat sich Chruschtschow nicht nur mit allgemein gehaltenen Sätzen zu den Fragen einer internationalen Entspannung begnügt. Allgemein gehaltene Äußerungen über Maßnahmen zur Entspannung haben zwar den Vorteil, daß sich das „sozialistische Lager“ und die andere Staatenwelt rasch einigen können; sie ändern indessen nichts an dem gegebenen Spannungsstand. Im folgenden werden die konkreten Vorschläge Chruschtschows zur internationalen Entspannung erörtert. Mancher dieser Vorschläge würde zu seiner vollständigen Erörterung eine umfassende Studie erfordern. Das kann nicht der Sinn des vorliegenden Aufsatzes sein. Er beschränkt sich daher auf eine knappe Darstellung der Folgen, die sich aus der Annahme der Vorschläge Chruschtschows wahrscheinlich ergeben würden. Im Anschluß soll die Frage gestellt werden, inwieweit die Vorschläge Chruschtschows eine Anwendung der Theorie des Leninismus sind.

1. Vorschläge zur Lösung der Deutschland-Frage und anderer europäischer Fragen

In der Rede Chruschtschows heißt es hierzu: „Wenn wir einen dauerhaften Frieden sichern wollen, so kann man in den internationalen Beziehungen nicht mehr Knoten lassen, die ein Erbe des zweiten Weltkrieges und der ihm folgenden Periode des . kalten Krieges'darstellen. Solche Knoten muß man entwirren und auflösen.

Hier muß man die Notwendigkeit im Auge haben, eine seit langem herangereifte Aufgabe zu lösen — den Abschluß des deutschen Friedensvertrages. Die ernsten Widersprüche in der Deutschland-Frage zwischen den ehemaligen Verbündeten in der Koalition gegen Hitler, die Wiedergeburt des Militarismus und der revanchistischen Tendenzen in Westdeutschland, die Gespanntheit der Beziehungen zwischen den beiden deutschen Staaten — alles dies macht die Lage in Europa unbeständig und voll von gefährlichen Folgen. Alle diese Probleme würden in einem bedeutenden Grad gelöst werden durch den Abschluß eines Friedensvertrages mit zwei real bestehenden deutschen Staaten und dadurch wäre audt die Berlin-Frage gelöst.

Der Standpunkt der Sowjetregierung zur deutschen Frage wurde oft dargelegt und ich brauche darüber nicht ausführliclt zu sprechen. Unser Standpunkt wurde von mir auch während der Gespräche mit dem Präsidenten Eisenhower dargelegt, wobei, wie bekannt, eine Verständigung darüber erzielt wurde, daß es wünschenswert ist, die Gespräche über die deutsche Frage wieder aufzunehmen.

Man kann nicht umhin zu sagen, daß im ganzen die Lage in Europa noch immer eine nicht geringe Besorgnis erregt. In diesem Gebiet sind große Streitkräfte beider Seiten konzentriert, die sich in unmittelbarer Berührung miteinander befinden. In West-Europa sind zahlreiche ausländische Flug-und Flottenstützpunkte errichtet; jetzt sdtafft man darüber hinaus Raketen-und Kernwaffenstützpunkte. Ungeachtet der Proteste der Weltöffentlichkeit, entgegen den Interessen der Sicherung des Friedens wird die westdeutsche Armee mit Raketen-und Kernwaffen ausgestattet. In dieser Beziehung kann man nicht eine Minute die Gefahr eines neuen Kriegsausbruches vergessen.

Wir traten schon oft mit Vorschlägen auf, wie man die europäische Atmosphäre entladen, wie man die Sicherheit für alle Völker sichern kann, die in diesem Gebiet wohnen. Wir sind bereit zu weitgehenden Schritten in dieser Richtung und zu beliebigen vernünftigen Teilmaßnahmen. Wir wollen nur, daß es mit der Sache vorwärts geht, damit die Lage in Europa sich bessert, damit der europäische Knoten nicht unentwirrt und zugezogen bleibt.“

hieraus ergibt sich u. a. das Festhalten Chruschtschows an den Vorschlägen, die er in einer angespannten Atmosphäre internationaler Beziehungen bereits im November 1958 bzw. im Januar 1959 gemacht hat. Was sie von den damaligen Vorschlägen nur unterscheidet, ist das Fehlen eines Termins und einiger damit verbundenen Warnungen. Die Annahme dieser Vorschläge durch die Westmächte und die Bundesrepublik Deutschland würde u. a. bedeuten:

Ebenso wie zur Bundesrepublik hätten die Westmächte auch zur Sowjetzone Deutschlands die diplomatischen Beziehungen aufzunehmen. Damit würde das über zehnjährige vergebliche Ringen der Sowjetzone Deutschlands als Staat auch von anderen als kommunistisch geführten Staaten diplomatisch anerkannt zu werden, mit einem großen Triumph enden. Darüber hinaus wäre auch die Bundesrepublik verpflichtet, die diplomatischen Beziehungen zur Sowjetzone Deutschlands aufzunehmen.

Sie würden damit ihren Anspruch aufgeben, allein die Interessen der in Unfreiheit lebenden Deutschen in der Sowjetzone zu vertreten, solange die dortige politische Führung keine Äußerung des freien Willens bei den dort lebenden Deutschen als Gesamtheit zuläßt.

Wichtige Souveränitätsrechte würde die Bundesrepublik u. a. dadurch verlieren, daß sie einerseits alle politischen Organisationen und Meinungen, die eine Revision der deutschen Grenzen anstreben, verbieten muß; andererseits müßte sie allen Kommunisten dieselben Chancen für eine Tätigkeit in der staatlichen Verwaltung usw. eröffnen wie anderen Personen (vgl. Art. 17 und Art. 14 des sowjetischen Entwurfes für den deutschen Friedensvertrag). Die Besetzung möglichst vieler Schlüsselstellungen in den Institutionen eines Staates (Verwaltung, Heer, Polizei usw.) ist seit fast vier Jahrzehnten einer der wichtigsten kommunistischen Teilziele, um den kommunistischen Umsturz organisatorisch vorzubereiten. Die demokratischen Gewerkschaften und alle anderen Verbände dürften zur Sicherung ihrer Organisationen keinen Kommunisten mehr ausschließen, weil dies nach dem Art. 14 des sowjetischen Vertragsentwurfes mit der Verpflichtung der Bundesrepublik unvereinbar wäre, keine Personen deutscher Staatsangehörigkeit, unabhängig von der politischen Überzeugung oder der Parteizugehörigkeit, zu diskriminieren. Daneben gibt es noch eine Reihe anderer Bestimmungen, die die Souveränität der Bundesrepublik nach dem sowjetischen Vertragsentwurf beschränken sollen.

Mit der Erklärung West-Berlins zu einer „Freien Stadt“ ist beabsichtigt, die Bundesrepublik von West-Berlin zu trennen und die Hoffnungen der Bundesrepublik auf Berlin als zukünftige Hauptstadt zu zerstören. Gleichzeitig würden die Chancen für die politische Führung der SBZ sehr wachsen, nach dem Abzug der westlichen Besatzungsmächte aus West-Berlin und nach einer gewissen Zeit würden von außerhalb kommende und dirigierte •Gruppen bewaffneter kommunistischer Aufständischer die Macht in West-Berlin erobern. Nach außen hin würde man diesen Aufstand als einen Aufstand der großen Mehrheit der West-Berliner darstellen, die sich nach einer unmittelbaren Vereinigung mit der SBZ sehnen. Damit wäre die seit langem angestrebte organisatorische Eingliederung ganz Berlins in die Sowjetzone Deutschlands vollzogen. Es bedarf keiner weisen Voraussage über das Ergebnis eines Antrages der Westmächte im Sicherheitsrat der UN, diese Vorgänge nachträglich untersuchen zu lassen. Das Veto der Sowjetunion würde die Entsendung einer Untersuchungskommission wahrscheinlich verhindern. Falls dies nicht gelingen sollte, so würde die Führung der SBZ u. a. durch Reiseerschwernisse und kontrollierte Befragungen der West-Berliner die Aufgabe der Untersuchungskommission unausführbar machen.

Der Entspannungsvorschlag Chruschtschows zur Deutschland-Frage zielt aber nicht nur zum Teil auf eine außen-und innenpolitische Schwächung der Bundesrepublik ab. Aus dieser neuen Lage würden sich Gefahren einer weiteren Schwächung der Bundesrepublik zugunsten der Sowjetzone Deutschlands und damit mittelbar zugunsten der Sowjetunion ergeben. •

Weitere Gefahren für die Sicherheit der Bundesrepublik dürften die Auflösung des militärischen Bündnisses mit den Westmächten und der Abzug der Besatzungstruppen mit sich bringen. Man könnte einwenden, daß entsprechende vertragliche Verpflichtungen auch der Sowjetzone Deutschlands auferlegt werden sollen und daher sie und die Bundesrepublik gleich sicher oder unsicher dastehen. Wer jedoch die ideologische, wirtschaftliche und politische Abhängigkeit der kommunistischen Führer der SBZ von der Sowjetunion erkannt hat, wird an dem praktisch unveränderten Verhältnis dieser Führer zur UdSSR, auch nach dem Austritt der Sowjetzone Deutschlands aus dem Warschauer akt und nach dem Abzug der sowjetischen Besatzungstruppen, kaum zweifeln.

Es bedarf praktisch weder der Unterzeichnung noch der Kündigung eines Vertrages, um der Sowjetunion das ihr erwünschte Verhältnis zu ihren Satellitenstaaten zu eröffnen bzw. zu sichern. Entscheidend sind die Anweisungen der KP-Führung der Sowjetunion an ie SED-Führung der Sowjetzone Deutschlands, mit anderen Worten: vor allem der Kontakt zwischen dem Sekretariat der KPdSU und dem

Sekretariat der SED. Eine Verbindung zwischen der Regierung der Bundesrepublik und den Regierungen der Westmächte, z. B. im Sinne einer geheimen Aufrechterhaltung des Bündnisses, wäre jedoch nicht möglich, selbst wenn diese Regierungen dieses Ziel verfolgten. Allein schon ihre Verantwortung gegenüber ihren nicht gefügigen Parlamenten, die Publikationsfreiheit der Presse in diesen Ländern würden eine solche geheime Verbindung an das Tageslicht bringen. Dies ganz im Gegensatz zu den großen Möglichkeiten der geheimen Verbindung zwischen den politischen Führern in Ost-Berlin und Moskau.

Alle erwähnten sowjetischen Vorschläge zur internationalen Entspannung laufen auf eine ausschließliche Benachteiligung der Bundesrepublik zugunsten der SBZ hinaus. Ein sowjetisches Zugeständnis in der Form der Zulassung freier Wahlen für die Wünsche der deutschen Bevölkerung in der Sowjetzone enthält der sowjetische Vertragsentwurf nicht. Die außerhalb des sowjetischen Vertragsentwurfs immer wieder gemachte sowjetische Empfehlung, daß die Vertreter der beiden Regierungen der Bundesrepublik und der Sowjetzone Deutschlands sich über di? Wiedervereinigung einigen sollen, ist nichts als eine verhüllte Ablehnung einer deutschen Wiedervereinigung ohne kommunistische Vorherrschaft. Es gibt zahlreiche Erklärungen Ulbrichts und seiner Mitarbeiter, die eine Wiedervereinigung Deutschlands ohne die vorherige Vorherrschaft ihrer Partei in Westdeutschland praktisch unmöglich machen. Gerade weil Moskau dies weiß, kann es Verhandlungen zwischen den „zwei deutschen Staaten“ empfehlen, ohne um seinen westlichen „Vorposten“ fürchten zu müssen.

Auch vom Standpunkt der westlichen Verbündeten der Bundesrepublik aus enthält der sowjetische Entwurf über den deutschen Friedensvertrag fast nur für den „Westen“ nachteilige Bestimmungen. Der Austritt der Bundesrepublik aus der NATO wäre der Verlust eines militärisch bedeutend werdenden und wirtschaftlich besonders wichtigen Bundesgenossen. Steht doch die Bundesrepublik in ihrer industriellen Kraft nach den USA und der Sowjetunion an erster Stelle unter allen anderen Ländern der Welt. -Man vergleiche damit die Möglichkeiten militärischer Reserven und die industrielle Kraft der SBZ; und man wird leicht erkennen, daß selbst ein wirklicher Verlust der SBZ als Bundesgenossen für die Sowjetunion viel weniger zu bedeuten hätte als der Verlust der Bundesrepublik für die Westmächte.

Der Abzug der Besatzungstruppen aus der Bundesrepublik umfaßt auch ein wesentlich größeres Territorium als der Abzug der sowjetischen Besatzungstruppen aus der SBZ. Noch wichtiger als dies sind die Folgen daraus für das Gebiet in Westeuropa, das den Westmächten für ihre militärischen Sicherheitsmaßnahmen verbleibt. Während die Sowjetunion für den Ernstfall einer militärischen Auseinandersetzung in Europa ein europäisches Hinterland von zumindest mehreren tausend km Länge besitzen würde, wäre das Aufmarschgebiet der Westmächte auf einen kleinen Bruchteil dieser Länge beschränkt.

Der in Chruschtschows Rede nur angedeutete, aber in seinen früheren Reden klarer formulierte Vorschlag für einen Abzug aller Besatzungstruppen von allen Territorien Europas, bringt die amerikanischen Truppen auf die amerikanische Küste jenseits des Atlantischen Ozeans zurück, die sowjetischen Truppen dagegen nur bis Brest-Litowsk. Daß diese geographische Nähe der Sowjetunion die Sicherheit der Staaten Mittel-und Westeuropas viel mehr von Moskau als von Washington abhängig macht, liegt auf der Hand.

Der von Chruschtschow ebenfalls nur angedeutete Vorschlag, für die europäische Sicherheit eine von Atomwaffen freie Zone in Mitteleuropa zu schaffen, will den Westmächten den Ausgleich für ihre große Unterlegenheit in den „konventionellen Waffen" nehmen. Seine Annahme durch die Westmächte, würde das außerordentliche Übergewicht der Sowjetunion in den „konventionellen Waffen" wesentlich stärker als bisher zur Geltung bringen.

Alle Vorschläge Chruschtschows zur Entspannung in Europa zusammen dürften nach ihrer Verwirklichung eine sehr geschwächte Position der Westmächte und der Bundesrepublik in Europa nach sich ziehen. In ihrer fortwirkenden Kraft würden sie die geschwächte Position noch weiter schwächen im Gegensatz zu der Schritt für Schritt sich gleichzeitig verstärkenden Position der Sowjetunion und der SBZ. Die Zugeständnisse der Sowjetunion und der SBZ sind daher entweder gar keine wirklichen Zugeständnisse oder sie spielen eine geringe Rolle im Vergleich zu den vom „Westen“ erwarteten Zugeständnissen. Sowjetische Kompromißvorschläge sind es — genau nach der Anleitung der Theorie Lenins zum Handeln.

Lim den Widerstand der Westmächte gegen seine Entspannungsvorschläge in Europa zu beseitigen, hat Chruschtschow schon lange vor der erwähnten Rede oft versucht, die Bundesrepublik in den Augen der Westmächte zu diskreditieren. Immer wieder wird den Westmächten das Bild einer Bundesrepublik geschildert, in der Militarismus und Gedanken an Revanche üppig blühen. An gemeinsames Leid der Sowjetunion und der Westmächte unter den Aggressionskriegen Hitlers, an die gemeinsame Verteidigung gegen Hitler-Deutschland wird mit dem Ziel erinnert, neues Mißtrauen der Westmächte gegen die Bundesrepublik wachzurufen und sie gegen eine Unterstützung der Bundesrepublik zu stimmen. Die mehrfach wiederholte Behauptung Chruschtschows, Adenauer sei der verhüllte Nachfolger Hitlers, stellt nur den propagandistischen Höhepunkt seines systematischen Versuches dar, die Glaubwürdigkeit und die Vertragstreue der Bundesrepublik in westlicher Sicht zu zerstören. Diese Behauptung taucht in der erwähnten Rede Chruschtschows nicht wieder auf. Jedoch sind alle anderen bisherigen Elemente seines systematischen Versuches auch in der vorliegenden Rede vorhanden. Es ist ein typischer Versuch Chruschtschows, nach dem Vorbild Lenins, durch die Entfachung und Schürung von Gegensätzen zwischen den Westmächten und der Bundesrepublik, zwischen den Völkern und ihren Regierungen, den „Westen“ insgesamt zu schwächen und dabei Schritt für Schritt die sowjetische Position im Kampf um Europa zu stärken.

2. Vorschläge für eine Entspannung im Nahen und Mittleren Osten

Wie sich Chruschtschow eine Entspannung der Lage im Nahen und Mittleren Osten vorstellt, hat er mit folgenden Worten beschrieben:

„Eines der unruhigen Gebiete der Erdkugel, in denen die Lage voll von jeder Art von Schwierigkeiten ist, bleibt weiterhin der Nahe und Mittlere Osten. Allerdings besteht zur Zeit keine direkte militärische Einmischung der imperialistischen Staaten in die inneren Angelegenheiten dieses Gebietes, wie das vor nicht langer Zeit der Fall war, aber die Lage ist bei weitem noch nicht normal.

Man muß es direkt sagen, daß hier die Lage nicht davon gesünder wird, daß Territorien einiger Staaten nach wie vor und teilweise sogar in noch höherem Maße von ausländischen Mächten als Aufmarschgebiet für militärische Vorbereitungen gegen dritte Länder ausgenutzt werden.

Ich mußte schon oft von jenem Schaden sprechen, den die Länder, die Teilnehmer an aggressiven Blöcken den Interessen der Festigung des Friedens zufügen, indem sie ihr Territorium, für die Errichtung von ausländischen Militärstützpunkten zur Verfügung stellen. Heute mödtte ich zu dieser Frage wieder zurückkehren.

Kann man in der Tat von der Mitwirkung eines Staates am Frieden spredten, der es fast zum Hauptgrundsatz seiner Politik erhoben hat, nationales Territorium für die Errichtung ausländischer Raketen-und Kernwaffen-Stützpunkte zu überlassen, die gegen die Sowjetunion ge-riditet sind? Ein solches Land wie die Türkei, die unser südlidter Nadt-bar ist, nimmt an der NATO und an der CENTO teil, nur in die SEATO ist sie noch nicht eingetreten, wahrsdteinlich wegen der Länge der Entfernung. Jedoch, wenn man ihnen eine sogenannte Hilfe versprechen wird, wird audt die Länge der Entfernung sie nicht davon abhalten. Allerdings, , Hilfe" verspredten bedeutet noch nicht, sie zu gewähren. Ich denke, wenn man den regierenden Kreisen der Türkei nur irgendeine Summe versprechen würde, sie würden bedingungslos mit Freude auch in die SEATO und in irgendeine beliebige , ATO" eintreten. (Lachen im Saal).

Aber was ist das Hauptergebnis der Teilnahme der Türkei an den militärischen Blöcken? Das türkische Territorium ist in ein echtes Kriegsaufmarschgebiet verwandelt, wo jetzt auch nodt ausländisdte Raketen mit Kernladungen gelagert werden sollen. Kaum notwendig zu sagen, daß dies vor allem die Sicherheit der Türkei selber untergräbt. Wir haben des öfteren über die Gefahr eines solchen außenpolitischen Kurses der Türkei gesprochen und brachten konkrete Vorschläge im Interesse der Herstellung gutnachbarlicher Beziehungen zwischen unseren Staaten ein. Wir wollen aufriditig, daß unsere Beziehungen im Geiste der Friedensliebe und der Zusammenarbeit sich aufbauen, die für eine verhältnismäßig nicht ferne Vergangenheit charakteristisdt waren, als ein so hervorragender Mann wie Kemal Atatürk die Politik der Türkei bestimmte.“

In diesem Teil seiner Rede spricht er wie schon in vielen seiner früheren Reden von den „imperialistischen Staaten", die sich militärisch in die inneren Angelegenheiten des Nahen und Mittleren Ostens eingemischt hätten wieder ein Versuch, die Völker dieses Gebietes gegen die Westmächte als Imperialisten aufzubringen. Der einzige Unterschied zu vielen seiner früheren Reden besteht in dieser Hinsicht nur darin, daß Chruschtschow die Westmächte nicht beim Namen nennt. Er unterstellt den nichtgenannten Staaten wie früher die Absicht, Aufmarschgebiete für Kriege gegen „dritte Länder“, d. h. gegen die Sowjetunion, im Nahen und Mittleren Osten zu benutzen. Er deutet den päpiernen Wert der Hilfe der Westmächte gegenüber den Staaten an, die den Westmächten Territorien als Stützpunkte überlassen. Alles dies gehört in das Modell nach Lenin, die Gegensätze zwischen den westlichen Industriestaaten und den nichtkommunistischen Ländern des Nahen und Mittleren Ostens zu entfachen bzw. zu verschärfen.

Einen direkten und scharfen Angriff richtet Chruschtschow plötzlich gegen die türkische Regierung. Ihr wird äußerste Käuflichkeit bei der Bereitstellung von Stützpunkten für die NATO usw. unterstellt. Sie wird auf die Gefahren eines solchen Verhaltens für die Türkei als Ganzes aufmerksam gemacht. In Leninscher Sicht besteht der Sinn solcher Angriffe in dem Versuch, die türkische Regierung gegenüber der ganzen türkischen Bevölkerung und gegenüber allen übrigen Staaten des Nahen und Mittleren Ostens zu diskreditieren und damit Gegensätze zu schaffen, bzw. zu verstärken. Derselben Regierung aber stellte Chruschtschow „Beziehungen im Geiste der Friedensliebe und der Zusammenarbeit“ in Aussicht, falls sie sich nach der Politik Kemal Atatürk richtet. Damit will er das Ansehen der türkischen Regierung bei der auf Atatürk stolzen Bevölkerung der Türkei noch von einer anderen Seite her unterhöhlen und diese Regierung gleichzeitig dazu bringen, daß sie ihre engen Verbindungen zu den Westmächten, darunter die ausländischen Stützpunkte, aufgibt. Nicht einmal stellt sich Chruschtschow die Frage, inwiefern die sowjetische Außenpolitik unter Stalin nach 1939 und unter Chruschtschow in den Jahren 1957/58 der Türkei es nahelegten, sich nach einem immer wirkungsvolleren Schutz bei den Westmächten umzusehen.

Falls die türkische Regierung auf den Leninschen Kompromiß Chruschtschows eingehen würde, wäre sie nur noch auf den Schutz durch eigene Truppen gegenüber einer übermächtigen Sowjetunion angewiesen. Die von Chruschtschow angebotene Zusammenarbeit würde wahrscheinlich vorübergehend zu einer Ersetzung der westlichen Wirtschaftshilfe durch eine sowjetische Wirtschaftshilfe führen. Die Türkei würde Schritt für Schritt von der Sowjetunion wahrscheinlich abhängig werden. Ihre Freiheit würde mehr und mehr allein vom guten Willen der Sowjetunion abhängen.

Im Vergleich zu den Angriffen Chruschtschows gegen die türkische Regierung sind seine Äußerungen gegen die persische Regierung in der Form zwar milder, doch im Ziel gleich: die Diskreditierung der Regierung gegenüber dem Volk und die Trennung Persiens von den Westmächten. Chruschtschow äußerte sich darüber wie folgt:

»Was unsere Beziehungen zu dem anderen südlichen Nadibarn — Persien anbelangt, so lassen sie viel zu wünschen übrig. Die Sowjetregierung ergriff in den letzten Jahren eine Reihe widitiger Maßnahmen, die auf die Herstellung guter, freundsdtaftlidier Beziehungen mit Persien geriditet sind. Jedodi zogen es die Leiter Persiens entgegen den nationalen Interessen ihres Landes vor, sowohl im Rahmen des militärischen Blodces der CENTO wie auch außerhalb davon sich militärische Verpflidttungen aufzuerlegen, die gegen die Sowjetunion gerichtet sind.

Übrigens, zu dem Namen dieses Blockes, der sich früher Bagdadpakt nannte. Indem man die für die aggressiven Kräfte traurigen Lehren der nickt entfernten Vergangenheit berücksichtigt, nennt man diesen Block jetzt . Organisation des zentralen Vertrages, abgekürzt — CENTO. Das ist ganz bezeidtnend. Es gibt ein gutes Sprichwort: . Wenn du dich mit Milch verbrüht hast, wirst du auch auf das Wasser pusten. Der Bagdadpakt zerplatzte. Jetzt trauten sich seine Initiatoren schon nicht, ihren Pakt Ankara-Pakt oder Teheran-Pakt zu nennen, sondern ersannen eine unpersönliche Bezeichnung — CENTO.

Wenn schon, man kann sie verstehen! Jetzt haben sie die große Überzeugung, daß wenigstens die Bezeichnung dieses Paktes bewahrt bleibt. (Lachen im Saal).

Man muß es klar erklären, daß eine solche Politik nicht den Interessen der Festigung des Friedens und der Verbesserung der sowjetisch-persischen Beziehungen entspricht. Über die weitere Richtung der Politik Persiens wird man nach den konkreten Handlungen jener urteilen müssen, die die Politik dieses Landes bestimmen.

Doch haben die Türkei und Persien alle objektiven Möglichkeiten, um auch ihren Beitrag zur Milderung der Gespanntheit in diesem Gebiet der Welt zu leisten und die Beziehungen zu den benachbarten friedliebenden Ländern zu verbessern."

In offenbar noch wacher Erinnerung an das sowjetische Vorgehen gegen die Türkei (1939— 1953, 1957— 1958), gegen Persien (19201921, 1945— 1953) werden die gegenwärtigen Regierungen dieser Staaten den Aufforderungen Chruschtschows sicher nicht folgen. Sollten die folgenden Regierungen anders handeln, dann würde die Erfüllung des sowjetischen Wunsches näher rücken. Die Südgrenze der Sowjetunion, im Gegensatz zu ihrer Westgrenze nicht durch ein Vorfeld von Satellitenstaaten geschützt, würde allmählich ein ähnliches Vorfeld erhalten. Die Entschlossenheit der Sowjetregierung, ihre außenpolitischen Wünsche ohne Rücksicht auf die internationalen Folgen durchzusetzen, würde sich wahrscheinlich zumindest verstärken.

Außer den unmittelbaren Nachteilen für die Türkei und Persien würden große mittelbare Nachteile für die Westmächte nach der Annahme der Vorschläge Chruschtschows entstehen. Die Räumung der Stützpunkte im Nahen und Mittleren Osten würde den Westmächten eines der schärfsten Instrumente für den Fall eines plötzlichen sowjetischen Angriffskrieges vor allem gegen die USA nehmen. In der sowjetischen Verfassungswirklichkeit könnte die KP-Führung versucht sein, aus der Furcht vor dem Angriffskrieg einer anderen Macht oder nach der Theorie Lenins bei günstigen Vorbedingungen zur raschen Errichtung der kommunistische Alleinherrschaft, einen Blitzkrieg zu führen, ohne daß auch nur eine Sekunde vorher von solchen sowjetischen Absichten in der nichtkommunistischen Welt etwas zu bemerken wäre. Die darauf folgende Vergeltung ist um so wirksamer, je geringer die Entfernung der Positionen des Vergelters von dem Gebiet des Angreifers ist. Das gilt nicht nur für die Schnelligkeit, sondern auch für die Treffsicherheit der Geschosse, die das Territorium des Angreifers erreichen. Für einen solchen Fall leisten die Stützpunkte der Westmächte in relativer Nähe der sowjetischen Grenze kaum zu überschätzende Dienste. Sie lähmen zum einen sowjetische Entschlüsse zum militärischen Vorgehen gegen Länder außerhalb des „sozialistischen Lagers". Zum anderen kompensieren sie zum Teil die im westlichen demokratischen System begründete Langsamkeit der Entschlüsse selbst im äußersten Notfall. Man kann es Chruschtschow glauben, daß er die zahlreichen westlichen Stützpunkte in relativer Nähe der sowjetischen Grenze als sehr unangenehm empfindet. Seine zunächst triumphierenden Aussprüche über die Wertlosigkeit ausländischer Stützpunkte nach dem Start des Sputnik II wurden von ihm nicht lange wiederholt. Für ihn wäre die Räumung aller westlichen Stützpunkte insbesondere in Europa und Asien ein großer Beitrag zur internationalen Entspannung.

Die sowjetische Gegenleistung für einen solchen Verzicht der Westmächte? Nichts als ein sowjetisches Lob auf den westlichen Beitrag zur Entspannung wäre zu erwarten. Einer solchen Deutung würde Chruschtschow wahrscheinlich damit widersprechen, daß er den bereits geleisteten sowjetischen Verzicht auf alle Stützpunkte (Porkala in Finnland, Port Arthur in der Mandschurei) rühmend hervorheben würde. Nach sowjetischer Darstellung besitzt die Sowjetunion keine Stützpunkte mehr. Die sowjetischen Garnisonen in der Sowjetzone Deutschlands, in Polen, Ungarn usw. sind in sowjetischer Sicht keine Stützpunkte. Überdies kommen der UdSSR zwei Umstände zur Hilfe: einmal vermag kein Ausländer die Richtigkeit sowjetischer militärischer Angaben auf dem Territorium des „sozialistischen Lagers“ von Peking bis Eisenach zu kontrollieren. Zum anderen räumte die Sowjetunion nur einen winzigen Bruchteil der von ihr 1943— 194 5 eroberten fremden Territorien. Sie gliederte sich einen großen Teil der eroberten Gebiete unmittelbar ein, so daß der Begriff Stützpunkte z. B. auf militärische Zentren in den ehemaligen baltischen Randstaaten, im nördlichen Ostpreußen usw. nicht mehr anwendbar ist. Hätten die USA nach dem zweiten Weltkrieg ähnlich gehandelt, so bräuchten sie viele der von ihnen einst besetzten Länder nicht um Stützpunkte zu bitten.

3. Vorschläge für eine Entspannung im Fernen Osten

Wie die Vorschläge Chruschtschows zur Lage im Nahen und Mittleren Osten, laufen auch seine den Fernen Osten berührenden Vorschläge auf einseitige Verzichtleistungen des „Westens" hinaus. Im Interesse einer internationalen Entspannung sollen die Vereinigten Staaten ihre Truppen von Formosa (Taiwan) abziehen, die Unterstützung der nationalchinesischen Regierung auf Formosa einstellen und ihre Theorie über das Bestehen von zwei chinesischen Staaten aufgeben.

Der Standpunkt Chruschtschows, daß es nur einen chinesischen Staat, nämlich die Volksrepublik China gibt fordert den Vergleich mit seinem Standpunkt in der Deutschlandfrage heraus. Für Deutschland wünscht er gerade die Anerkennung der Theorie über das Bestehen zweier Staaten, für China lehnt er sie ab. Dabei muß man einen wesentlichen Unterschied in der Beurteilung beider Fragen beachten. Den beiden Regierungen Chinas ist gemeinsam ihre mit Gewalt erreichte Machtergreifung, so daß unter dem Gesichtspunkt der Legalitätstheorie beide Regierungen gleich viel bzw, gleich wenig berechtigt sind, zu bestehen. Die beiden Regierungen Deutschlands jedoch unterscheiden sich grundlegend dadurch, daß die Regierung der Bundesrepublik legaler Herkunft ist, während die Regierung der SBZ nur mit illegalen Mitteln an die Spitze des Staates gelangt ist. Daher kann es von Standpunkt der Legalitätstheorie im Falle Deutschlands nur die Anerkennung eines Staates geben. Da es Chruschtschow offensichtlich allein darauf ankommt, sowohl in Deutschland als auch in China den westlichen Einfluß zu schwächen und schließlich zu beseitigen, vertritt er in dem Falle die Zwei-Staaten-Theorie, im anderen die Ein-Staat-Theorie.

Was könnte geschehen, wenn die Vereinigten Staaten den Vorschlag Chruschtschows zur China-Frage annähmen? Die Volksrepublik China würde an die Stelle des nichtkommunistischen Staates China als Mitglied der LIN und als ständiges Mitglied des Sicherheitsrates der UN treten. Im Februar 1951 verurteilte eine starke Mehrheit der UN-Vollversammlung die Volksrepublik China als Aggressor wegen ihrer Ablehnung von Waffenstillstandsverhandlungen nach ihrem militärischen Eingreifen in den Korea-Krieg. Abgesehen davon, daß dieser Beschluß noch nicht aufgehoben ist, hat das Verhalten der Volksrepublik China besonders gegenüber Indien in den Jahren 1958/59 den Eindrude eines aggressiven Staates eher verstärkt als vermindert. Wie Mao sich zur Zeit des koreanischen Krieges in Korea und danach gegenüber Indien verhielt, war nichts als die praktische Anwendung der außenpolitischen Lehre Lenins, zu der er sich immer wieder offen bekennt. Sein Verhalten ist nur ein Beispiel für den konkreten Inhalt der Leninschen Koexistenz. Würden die Vereinigten Staaten trotz dieser Erfahrungen den Vorschlag Chruschtschows annehmen, so würde die daraus folgende Aufnahme der Volksrepublik in die UN eine nachträgliche Belohnung für aggressives Verhalten durch eine dem Frieden dienende Weltorganisation sein. Das internationale Ansehen der UN als Wahrer und Stifter des Friedens würde einen weiteren schweren Schlag erhalten. Die ungeheuren Schwierigkeiten für einen wirksamen Beschluß der UN würden sich bei der Anwesenheit der UdSSR und der Volksrepublik China im Sicherheitsrat noch weiter steigern.

Der Räumung Formosas und der Preisgabe der nationalchinesischen Regierung durch die Vereinigten Staaten würde die Besitzergreifung Formosas durch die Truppen Pekings folgen. Aus diesem Vorgang würden weitere nur für den „Westen“ schädliche Folgen erwachsen. Die Vereinigten Staaten würden vor ihren asiatischen Verbündeten in Ost-und Südasien als ein Staat dastehen, der seine vertragliche Verpflichtung gegenüber der nationalchinesischen Regierung gebrochen hat. Dies würde die Glaubwürdigkeit amerikanischer vertraglicher Zusicherungen an die anderen asiatischen Verbündeten (u. a. die Philippinen, Japan, Süd-Korea, Süd-Vietnam, Siam, Pakistan, Persien) wahrscheinlich erschüttern. Diese asiatischen Verbündeten sind an der möglichen Flankenbedrohung der Volksrepublik China durch Formosa besonders interessiert, weil sie sehr dafür geeignet erscheint, einen etwaigen Entschluß Pekings zu einer direkten Aggression gegen Gebiete Süd-und Südost-asiens zu lähmen. Eine Preisgabe Formosas durch LISA würde angesichts der grundsätzlichen und praktischen Außenpolitik Pekings die aggressiven Absichten Maos höchstwahrscheinlich nur ermutigen, während sich gleichzeitig bei den asiatischen Verbündeten der Vereinigten Staaten eine Panikstimmung hinsichtlich der Verläßlichkeit der EISA als Bundesgenossen ausbreiten würde. Damit wäre die außenpolitische Sicherheit der asiatischen Verbündeten der Vereinigten Staaten und letzten 'Endes der Vereinigten Staaten selbst bedroht.

Man sollte auch die psychologischen Wirkungen einer Preisgabe der nationalchinesischen Regierung auf die Bevölkerung des chinesischen Festlandes nicht außer acht lassen. Je maßloser Mao seine Macht gegenüber der Bevölkerung des chinesischen Festlandes gebraucht, um so stärker die Erbitterung, um so stärker die Sehnsucht dieses Volkes nach einer Alternative. Eine solche Sehnsucht wird durch das bereits vorhandene und zum großen Teil wirtschaftlich und sozial reformierte China in Formosa wahrscheinlich wesentlich mehr gefördert, als wenn es keinen zweiten chinesischen Staat gäbe.

Es ist sehr unwahrscheinlich, daß Chruschtschow diese näheren und weiteren Folgen der Verwirklichung seiner Vorschläge nicht sieht und nicht erhofft. Die Vermutung, daß er gerade deshalb seine erwähnten Vorschläge macht, wird durch folgenden Umstand verstärkt: während Chruschtschow die Vereinigten Staaten zu folgenschweren Zugeständnissen zugunsten Pekings im Interesse der internationalen Entspannung auffordert, richtet er an Peking kein Wort der Ermahnung, die geplante kriegerische Eroberung Formosas, ungeachtet der amerikanischen Warnungen, aufzugeben. Im Gegenteil: er warnt die Vereinigten Staaten vor einer drohenden Explosion im Kampf um Formosa. Er bekennt sich darüber hinaus zu den möglichen Folgen des chinesisch-sowjetischen Bündnisses und erklärt ausdrücklich, daß er den Standpunkt Pekings in der Formosa-Frage „voll und ganz“ unterstützt. An dem chinesischen Beispiel zeigt sich der zwielichtige Charakter der Vorschläge Chruschtschows besonders deutlich. Während er Washington zu einer folgenschweren Nachgiebigkeit gegenüber Peking im Dienste der internationalen Entspannung auffordert, ermutigt er Peking praktisch dazu, zur Entspannung der chinesisch-amerikanischen Beziehungen nichts beizutragen. Wir lassen nunmehr den Teil der Rede Chruschtschows folgen, auf den sich die vorausgehende Darstellung stützt: „Die Regierung der Chinesischen Volksrepublik genießt eine solche Autorität und ein solches Vertrauen im Lande, wie es dort niemals irgendeine Regierung während der ganzen vielhundertjährigen Geschichte Chinas genossen hat. Die Sowjetunion hat die freundschaftlichsten Beziehungen zur Chinesisdten Volksrepublik und zu ihrer Regierung. Gegenwärtig, da die Chinesische Volksrepublik schon in das zweite Jahrzehnt ihres Bestehens eintrat, nachdem in ihr die größten politischen und gesellschaftlidt-wirtschaftlichen Umgestaltungen verwirklicht wurden, hervorragende Erfolge in der Entwiddung der Wirtschaft und Kultur erreicht wurden, sehen diejenigen besonders lächerlich aus, die einen sinnlosen Standpunkt über die , zwei Chinas'verteidigen.

Entgegen den offensiditlidten Tatsachen und dem Gang der geschichtlichen Entwicklung setzen es die Vereinigten Staaten fort, sich an die Reste des gestürzten Tschiang Kai-sdtek Regimes zu klammern; sie halfen den Tschiang Kai-schek-Anhängern sich auf Taiwan zu verschanzen und beschützen sie mit der Gewalt ihrer Waffen. Dadurch wird versucht, die Vollendung des revolutionären Befreiungsprozesses im Lande, die Ausdehnung des staatlichen Systems auf Taiwan und andere chinesische Gebietsteile zu verhindern, das jetzt auf dem ganzen übrigen Territorium Chinas besteht. Die Einmischung in die inneren Angelegenheiten Chinas, die Versuche die Geographie zu „korrigieren“ und die künstliche Lage von , zwei Chinas'zu schaffen, widersprechen dem Streben der Völker nach einer Liquidierung des . kalten Krieges'und sdtaffen eine angespannte Lage im Fernen Osten . . .

Wir sind davon überzeugt, daß Taiwan und die anderen Inseln mit dem übrigen China wiedervereinigt werden. Irgendwelche Drohungen oder Anspielungen auf Drohungen sind in dieser Sache vollkommen haltlos. Man muß im Auge behalten, daß Drohungen oft sogar ein kleines Land nicht davon abhalten können, wenn es seine nationalen Sehnsüchte zu verwirklichen strebt. Umso mehr sind Drohungen haltlos, wenn es sich um ein so großes Land wie die Chinesische Volksrepublik handelt.

Wer von der Verantwortlichkeit der UdSSR für die Handlungen Chinas spricht, sollte wissen, daß die Chinesische Volksrepublik nicht irgendeine Vormundschaft nötig hat. Die Volksregierung führt eine eigene Politik durch und vertritt ihr Volk, die Chinesische Volksrepublik, würdig.

Wenn man von der Sowjetunion als Bundesgenossen der Chinesischen Volksrepublik spricht, so sind wir damit einverstanden, diese Verantwortung zu tragen. Der Sowjetunion steht nahe und ist verständlich das Streben des chinesischen Volkes und der Regierung der Chinesischen Volksrepublik, in den Bestand des Chinesischen Staates Taiwan und die anderen Inseln zurückzubringen, die China gehören, aber von " ausländischen Truppen besetzt sind. Wir unterstützen und werden in dieser Frage voll und ganz die Regierung der Chinesischen Volksrepublik unterstützen, solange sie nicht eine Lösung dieser Frage erreicht hat, denn die juristischen und die moralischen Rechte sind auf ihrer Seite.“

An einer anderen Stelle seiner Rede berührte Chruschtschow das Thema China noch einmal. Im Gegensatz zu den chinesisch-amerikanischen Beziehungen rät er im Fall der chinesisch-indischen Beziehungen indirekt auch Peking zur Mäßigung. Obwohl die rasche Anspannung der chinesisch-indischen Beziehungen offensichtlich allein von Peking herrührt, erwähnt Chruschtschow mit keinem Wort die schweren Verstöße Pekings gegen eine internationale Entspannung. Von einem so betont nachhaltigen Befürworter einer internationalen Entspannung wie Chruschtschow, wäre ein anderseitiges Verhalten wenigstens ein kleines Zeichen für seinen echten Wunsch nach internationaler Entspannung gewesen. Es heißt stattdessen in seiner Rede: „Wir bedauern sehr die Zwisdtenfälle, die sich in der letzten Zeit an der Grenze zweier uns befreundeter Staaten ereigneten — der Chinesischen Volksrepublik, mit der uns unerschütterliche Bande brüderlicher Freundschaft verbinden, und der Republik Indien, mit der sich erfolgreich freundschaftliche Beziehungen entwickeln. Besonders betrübt sind wir darüber, daß als Ergebnis dieser Zwischenfälle Opfer an Menschen sowohl bei der einen wie bei der anderen Seite eintraten. Den Eltern und Angehörigen derjenigen, die umgekommen sind, kann nichts den zugefügten Verlust ersetzen. Wir würden erfreut sein, wenn die Zwischenfälle an der chinesisch-indischen Grenze sich nicht wiederholen würden, wenn die bestehenden Fragen über Grenzstreitigkeiten gelöst werden würden durch freundschaftliche Gespräche zur gegenseitigen Zufriedenheit beider Seiten.“

Wenn Chruschtschow freundschaftliche Gespräche zur Zufriedenheit Indiens und der Volksrepublik China empfiehlt, so schließt dies nach den von Mao gewaltsam geschaffenen Tatsachen praktisch ein territoriales Zugeständnis Nehrus an Mao ein: Nehru müßte zur Zufriedenheit Maos die Abtretung zumindest eines Teiles des von den Chinesen bereits besetzten Grenzstreifen Indiens an die Volksrepublik China gutheißen. Anders wäre die von Chruschtschow empfohlene „gegenseitige Zufriedenheit“ in der Sicht Pekings wohl kaum erreichbar.

4. Sowjetische Gegenleistungen auf anderen Gebieten?

Den erwähnten Vorschlägen hat Chruschtschow in seiner Rede noch Vorschläge zur Lage in Korea, Laos, Algier hinzufügt. Die Vorschläge hierzu fordern Leistungen der Westmächte ohne sowjetische Gegenleistungen. Die nichtkommunistische Welt würde nach der Annahme aller erwähnten Vorschläge zahlreiche Positionen für die Sicherheit ihrer Existenz verlieren. Dagegen würde die Sowjetunion fast alle ihre bisherigen Positionen behalten und noch zahlreiche neue hinzugewinnen. Immerhin wäre es denkbar, daß die Sowjetregierung als Ausgleich für die fast fehlenden sowjetischen Gegenleistungen auf den erwähnten Gebieten bereit ist, auf bisher nicht erwähnten Gebieten große Zugeständnisse zu machen. Wie steht es mit sowjetischen Zugeständnissen z. B. im Bereich der osteuropäischen Länder außerhalb der Sowjetunion? Ist die Sowjetregierung bereit, im kalten Krieg um die Gunst der nichtkommunistischen Entwicklungsländer Asiens, Afrikas, Amerikas auf die Diskreditierung der westlichen Wirtschaftshilfe zu verzichten? Schlägt sie als beste Garantie für die Beendigung des kalten Krieges in diesen Ländern vor, die sowjetische Wirtschaftshilfe an diese Länder zusammen mit der westlichen Wirtschaftshilfe zukünftig einem internationalen Fonds z. B. unter der Leitung der UN zuzuweisen? Was für Antworten gibt die Rede Chruschtschows auf diese Fragen?

Die Gewährung einer größeren Freiheit für die innen-und außen-politische Handlungsfähigkeit der unter kommunistischer Alleinherrschaft stehenden Völker Osteuropas kommt für Chruschtschow nicht in Betracht. In der leninistischen Sicht Chruschtschows haben die Völker Osteuropas ein solches Maß von Freiheit, wie sie es vorher in ihrer nie Geschichte besessen haben. Alle westlichen Vorschläge und Maßnahmen, diesen Völkern Möglichkeiten für Äußerungen ihres freien Willens zu verschaffen, sind nach Chruschtschow nichts als Einmischungen in fremde Angelegenheiten, nichts als Versuche, diesen Völkern ein System der kapitalistischen Ausbeutung wiederzubringen. Daß Menschen in den Vereinigten Staaten für die Befreiung der osteuropäischen Völker von ihren Unterdrückern beten, ist für Chruschtschow ein Grund der Belustigung. In diesem Zusammenhang schreckt er vor einer Ver-höhung Gottes nicht zurück. Alles dies wird aus dem folgenden Teil der Rede Chruschtschows erkennbar: „Die außenpolitische Linie einiger Westwächte baute sich auf offen aggressiven Pläne auf, auf der , Politik der Stärke'. Die Initiatoren einer soldten Linie wollten ihren Willen den friedliebenden Völkern aufzwingen, internationale Probleme mit Hilfe des Knüppels lösen.

Manchmal nannte man eine solche Einstellung zu internationalen Angelegenheiten . Politik der Befreiung'oder . Politik des Zurückrollens'oder . Politik des Hinausdrängens', aber das Wesen blieb unverändert. Doch wenn man jene von irgend etwas . befreit', die nicht bitten oder eine solche . Befreiung'nicht wollen, so bedeutet das, anderen eigene Ordnungen aufzuzwingen. Kein Volk hat bis jetzt gebeten und wird jemals bitten, daß die Herren Kapitalisten es von der sozialistischen Ordnung befreien, deren Vorzüge und Wohl es schon erkannt hat, und es zur Ordnung der kapitalistischen Ausbeutung zurückbringen.

Kein Volk, das seine Befreiung von der kapitalistischen Ausbeutung erlangt hat, drückte jemals den Wunsch aus, daß man es von den Betrieben und Fabriken . befreit', vom Recht, selbst über alle Reichümer seines Staates zu verfügen, vom Recht, sein Leben so aufzubauen, wie es das will. Kein freies Volk wünschte jemals, daß über sein Leben das Häuflein jener entscheidet, die es berauben, sich die Früchte der Arbeit des Volkes aneignen. Jedoch wollen das offenbar jene Leute nicht verstehen, die in einer Reihe von Ländern noch auf Kosten der Ausbeutung des Volkes leben. . . .

Jetzt haben sich die Zeiten geändert. Sogar einige der aktiven Gestalter der Politik der . Stärke'sehen ihre Aussichtslosigkeit. Nur die am kriegerischsten gestimmten Politiker im Westen können sich ganz und gar nicht von alten Formeln trennen. Das Echo des Alten ist hier und da noch hörbar. Man nehme zum Beispiel traurigen Angedenkens den Beschluß des amerikanischen Kongresses, eine sogenannte Woche .der vom Kommunismus unterdrückten Völker'zu veranstalten und für ihre Befreiung zu beten. Hier sind es andere Worte als . Zurück-rollen', aber das Wesen ist dasselbe, die gleiche Aufforderung zur Einmischung in fremde Angelegenheiten.

Wie Sie sehen, rückte die Sache von der Politik des . Zurückrollens'bis zum Sprechen eines Gebetes vor dem Herrgott vor. Aber zu was kann das führen? Wenn die Politiker der westlichen Länder zu Gott . für die Befreiung'der Völker der sozialistischen Länder beten werden, und wir unsererseits zu Gott zu beten anfangen, daß er ihre Völker von der kapitalistischen Herrschaft befreit, so werden wir den Herrgott in eine schwere Lage versetzen, (heitere Belebung im Saal), welche Entscheidung er dann fällen soll. Es ist klar, wenn er auf der Seite der Mehrheit der Menschen stehen und einen demokratischen Standpunkt einnehmen wird, dann wird die Entscheidung zu unseren Gunsten, zu Gunsten des Sozialismus sein!“ (Belebung im Saal. Beifall.)

Zu der Frage, ob die Sowjetunion bereit ist, ihre Wirtschaftshilfe an die nichtkommunistisch geführten Entwicklungsländer gemeinsam mit der westlichen Wirtschaftshilfe einer internationalen Organisation zur neutralen Verteilung zu übertragen, sagt Chruschtschow in seiner Rede nichts. Im Vergleich zu den sonst üblichen Angriffen Chruschtschows gegen die imperialistischen Absichten der westlichen Wirtschaftshilfe, fällt die Zurückhaltung in dieser Rede auf. Er erwähnt dieses Thema direkt nicht. Er zieht eine noch allgemeinere Formulierung vor, die „sogenannte Hilfe“ an die Türkei, wobei er darauf aufmerksam macht, daß eine versprochene Hilfe noch keine gegebene Hilfe ist. Nur die Westmächte sind damit gemeint, obwohl Chruschtschow auch in diesem Zusammenhang die Westmächte nicht ausdrücklich erwähnt.

Was bietet aber Chruschtschow auf diesem Gebiet sonst außer Zugeständnissen in der Form milderer Ausdrücke?! Aus seinen Worten läßt sich nicht die geringste Hoffnung auf eine grundlegend andere Politik in der sowjetischen Wirtschaftshilfe schöpfen. Für den Weltfrieden wäre kaum etwas getan, wenn die Sowjetunion und die West-mächte sich ihren Besitzstand in Europa garantieren sollten, während beide Seiten den kalten Krieg um die Gunst der nichtkommunistischen Entwicklungsländer (insg. über 1, 2 Mrd. Menschen) fortsetzen würden. Hier wäre für die Sowjetunion und die anderen Länder des „sozialistischen Lagers" die Gelegenheit, durch ein Zugeständnis ihr Interesse an einer echten internationalen Entspannung zu beweisen. Gerade darüber enthält die Rede Chruschtschows nichts. Die ganze Außenpolitik Chruschtschows, z. B. in Asien ist darauf gerichtet, das äußerste Mißtrauen der nichtkommunistischen Entwicklungsländer gegenüber der westlichen Wirtschaftshilfe zu wecken und die Uneigennützigkeit der sowjetischen Wirtschaftshilfe zu loben. Im Sinne der Theorie Lenins geht es dabei u. a. darum, diese Länder von den westlichen Industriestaaten zu trennen. Daran knüpft sich die leninistische Erwartung, den Export und Import der westlichen Industriestaaten nach der Erreichung dieses Zieles so stark zu treffen, daß der Zusammenbruch des Wirtschaftssystems dieser Staaten eintritt oder zumindest sehr beschleunigt wird Die sich für diesen Fall ergebenden neuen revolutionären Chancen für den kommunistischen Sieg in den „bürgerlichen“ Entwicklungsländern Asiens und Afrikas, in den westlichen Industriestaaten sind in leninistischer Sicht nicht hoch genug zu veranschlagen. Auf solche vermeintlich richtigen Aussichten im Verlauf einer vieljährigen sowjetischen Wirtschaftshilfe zu verzichten, paßt in das Vorstellungsbild Chruschtschows von der „gesetzlichen Entwicklung'der Gesellschaft nicht hinein. Nicht zufällig hat daher Chruschtschow in seiner Rede das Angebot unterlassen, die gesamte sowjetische Wirtschaftshilfe zusammen mit der westlichen Wirtschaftshilfe einer internationalen Organisation zu unterstellen, die den Entwicklungsländern nach anderen als politischen Zweckmäßigkeiten hilft.

5. Der Standpunkt Chruschtschows zur internationalen Abrüstung und Kontrolle

Kaum übertreffbar in seinen radikalen Forderungen, war der Vorschlag Chruschtschows über die vollständige Abrüstung vor der UN-Vollversammlung am 18. September 1959. Nur leichte Schußwaffen „für den inneren Schutz (Miliz, Polizei)“ sollen am Ende der Abrüstung noch erlaubt sein. Gleichviel, welche harmlosen Waffen den Völkern nach der Durchführung von Chruschtschows Abrüstungsvorschlag verbleiben, es würde sich bei gleicher Ausstattung der Völker mit solchen Waffen proportional der Kopfzahl der Bevölkerung eine ungeheure Überlegenheit Chinas gegenüber vielen anderen Staaten zusammen ergeben. Die Ausstattung der Sowjetunion in demselben Sinne würde diesem Staat eine Überlegenheit gegenüber allen west-und mitteleuropäischen Staaten verschaffen. Wer sorgt dafür, daß nicht ein nach der „totalen Abrüstung“ relativ stark gewordener Staat, seine Überlegenheit dazu benutzt, um seinen Nachbarn zu überfallen? Man könnte an eine mit weniger harmlosen Waffen ausgestattete Truppe der UN denken, die in diesem Falle zur Wahrung des Friedens den Konflikt mit militärischen Mitteln schlichten würde. Gerade dies lehnt jedoch Chruschtschow ab:

„In seiner Rede gelegentlidi der , Woche der Vereinten Nationen'drüdtte Herr Harriman seine skeptisdie Einstellung zu den Vorschlägen der Sowjetregierung aus. Er steht offenbar unter dem starken Eindruck unserer Vorschläge. Innerlidi nimmt er sie wahrscheinlid-i nicht an und deshalb nahm er die nicht wohlaussehende Rolle eines Wurmes auf sich, der versudit, das Vertrauen zu den sowjetischen Vorschlägen von unten her anzubohren.

Kaum waren die Skeptiker an die Beurteilung der Abrüstungsfrage herangegangen, rückten sie die Frage an die erste Stelle, was für internationale Streitkräfte an die Stelle der nationalen Streitkräfte geschaffen werden müssen. Wenn man zwisdten den Zeilen liest, so wird vielleicht an die Schaffung internationaler Streitkräfte gedadtt, die unter dem Einfluß jener Länder stehen werden, die gegenwärtig kraft der Politik der Blöcke die Mehrheit in der Organisation der Vereinten Nationen haben. Das ähnelt sehr der Politik der Zusammenfassung militärischer Blödle in der Art der NATO, SEATO und CENTO. Eine soldie Politik entspricht keineswegs den Interessen der Abrüstung. Wir stehen ein für eine Abrüstung, aber für eine ehrliche Abrüstung.

Wenn alle Länder abgerüstet sind, keine Ausrüstungen und Armeen haben werden, so kann niemand einen Krieg anfangen. Es fragt sich, warum man dann supranationale bewaffnete Streitkräfte haben muß?

Wir meinen, wenn die volle und allgemeine Abrüstung verwirklicht sein wird, so wird man Kräfte der moralischen Einwirkung finden, verschiedene Maßnahmen und Sanktionen anwenden können gemäß dem Beschluß der Vereinten Nationen gegenüber diesem oder jenem Land, das einen Konflikt riskieren wird.

Jene, die für die Sdtaffung internationaler bewaffneter Streitkräfte sind, verfolgen ein Ziel — die Länder von der Annahme unserer Ab-

rüstungsvorschläge abzuhalten. Indem sie in Worten für die Anerkennung der Idee der Abrüstung sind, wollen sie im wesentlichen die alte Stellung aufrechterhalten, daß heißt auf dem Pulvermagazin leben, unter dem Risiko der Anwendung der Kernwaffen leben.“

Wer sich also für eine Truppe der UN statt nationaler Streitkräfte zur notfalls gewaltsamen Schlichtung von Kriegen zwischen zwei nach Chruschtschows Vorschlag abgerüsteten Staaten einsetzt, ist Chruschtschow als Gegner der Abrüstung von vornherein verdächtig. Falls es nach Chruschtschow zu einem „Konflikt“ zwischen dem einen und anderen so abgerüsteten Staat kommen sollte, so sollte man auf sie u. a. „moralisch einwirken. Diese Empfehlung eines Politikers, den der moralische Druck der UN, fast der ganzen Welt nicht abhielt, die Niederschlagung des ungarischen Aufstandes fortzusetzen und den Besuch Hammerskjölds in Ungarn in den Novemberwochen des Jahres 1956 zu verhindern, dürfte die Friedenssehnsucht der Völker nur irreführen.

Ob wenigstens einige wichtige Etappen auf dem Wege zur vollständigen Abrüstung zurückgelegt werden, hängt entscheidend von den Möglichkeiten einer radikalen Kontrolle der Rüstungen in allen Ländern ab. Chruschtschow stellt sich diese Kontrolle in seiner Rede so vor:

„Im den westlidien Ländern gibt es Politiker, die nicht auf alte Ansichten verzichten wollen, indem sie behaupten, daß man Macht haben muß und von der Position der Macht aus den Schwachen ihren Willen diktieren muß. Sie versuchen heimlich von unten her den Glauben der Menschen an die Wirklichkeit der sowjetischen Vorschläge zu benagen. Sie verfälschen unsere Vorschläge über die Kontrolle, obgleich auch in meiner Rede vor der Vollversammlung der UN und in der Erklärung der Sowjetregierung klar gesagt ist, daß bei einer allumfassenden Abrüstung wir zu einer allumfassenden Kontrolle bereit sind.

Es genügt, sich aufmerksam mit unseren Vorsdtlägen bekannt zu machen, um sich davon zu überzeugen, daß die Sowjetregierung die Errichtung einer strengen internationalen Kontrolle über alle Abrüstungsmaßnahmen vorschlägt. Für jede Etappe der Abrüstung schlagen wir vor, eine entsprechende Etappe der Kontrolle zu errichten. Wir haben auch im Auge, daß die Kontrolleure sich auf dem Territorium der Staaten vom ersten Anfang des Prozesses der Abrüstung an bis zu seinem vollständigen Abschluß und auch nach der durchgeführten Abrüstung stehen werden, damit kein Staat heimlich sich auf den Krieg vorbereitet. Wir sind dafür, daß der Umfang der Kontrolle dem Charakter der laufenden Maßnahmen zur Abrüstung entspricht.

Wir sind audt damit einverstanden, entsprechende Organe sichtbar unter der Führung der Organisation der Vereinten Nationen für die Sicherung einer wirksamen Kontrolle zu schaffen, damit alle Staaten, die heiligen Verpflidttungen zur Abrüstung auf sidi nehmen werden, diese streng einhalten.“

In diesem Teil seiner Rede tritt er als Verächter der Macht auf, als Gegner von Politikern, die Macht für die Aufzwingung ihres Willens gegenüber den Schwachen gebrauchen. Die von ihm geforderte „strenge Kontrolle“ erweist sich bis zur Erreichung der vollständigen Abrüstung in allen Ländern jedoch als Teilkontrolle. Die vollständige Kontrolle der Rüstung, in allen Ländern, soll erst nach der vollständigen Abrüstung aller Länder beginnen (eindeutig formuliert in seiner Rede vor der UN-Vollversammlung am 18. 9. 1959) Man sollte meinen, daß die vollständige Kontrolle aller Länder gerade in den Phasen vor ihrer vollständigen Abrüstung dringend nötig ist. Dazu sind die Westmächte bereit. Teilkontrollen lassen alle Möglichkeiten zu, in den nicht von der Kontrolle erfaßten Bereichen Vorbereitungen zu treffen, deren wirkungsvolle Bekämpfung, falls sie an das Tageslicht kommen, vielleicht zu spät ist.

Gesetzt den Fall: die Westmächte und das „sozialistische Lager“ würden sich auf Teilkontrollen einigen, aber die von der Teilkontrolle erfaßten verbotenen Kategorien von Waffen und Munition in den nicht kontrollierten Bereichen geheim herstellen. Auch dann wären die Westmächte im großen Nachteil. Während eine geheime Hintergehung der Teilkontrolle durch die Westmächte publizistische Organe oder oppositionelle Parteien des Westens dazu veranlassen würde, diesen Tatbestand aus Gründen der Parteipolitik, der sachlichen Information oder gar der Sensation usw. offen darzulegen, würden dieselben Verstöße des „sozialistischen Lagers“ kaum jemals ihren Weg in die Öffentlichkeit finden. Die Regierungen der westlichen Industriestaaten wären in diesen Fällen auf kaum mehr als unbeweisbare Vermutungen angewiesen.

Eine wirkungsvolle Kontrolle müßte für alle Länder zunächst die Schaffung zahlreicher internationaler Kontrollgruppen voraussetzen, in die kein Angehöriger des zu kontrollierenden Landes ausgenommen werden darf. Geschieht das bei der Aufstellung internationaler Kontrollgruppen nicht, dann besteht immer die Gefahr, daß jedes überraschende Auftauchen einer Kontrollgruppe in dieser oder jener Gegend eines Landes durch das Mitglied des jeweils zu kontrollierenden Landes vorher verraten wird. Überdies muß jede Kontrollgruppe das Recht haben, zur beliebigen Zeit an jedem beliebigen Punkt auf und unter dem Territorium des zu kontrollierenden Landes überraschend zu erscheinen und sich dabei durch Verkehrsmittel jeder Art ausreichend unterstützt zu sehen. Es ist selbstverständlich, daß alle diese Beschränkungen der Souveränität im Interesse des Friedens für alle Länder gleich gelten müssen. Gegen alle diese Voraussetzungen leistet die Sowjetunion schärfsten Widerstand. Die von Chruschtschow geforderten „Stufen“ in der Kontrolle der Abrüstung bedeuten daher gewagte Vorleistungen der anderen Seite bis zum Stadium der vollständigen Abrüstung. Die nichtkommunisti-schen Staaten der Welt laufen Gefahr, sich in allen vorangehenden Stadien Schritt für Schritt zu schwächen, ohne die Sicherheit zu haben, daß die Sowjetunion alle Stadien der militärischen Schwächung gleich-zeitigt mitmacht. Wie dargelegt, soll die vollständige Kontrolle nach Chruschtschow erst erlaubt sein, wenn die vollständige Abrüstung erreicht ist.

Chruschtschow verwehrt sich in seiner Rede gegen die Ansicht, die UdSSR wolle alles oder nichts: „Um das sowjetische Prograwtu der Abrüstung zu kowproMittieren, neltwen die Feinde des Friedens zu einem Manöver ihre Zuflucht. Sie stellen es so dar, als ob der Standpunkt der Sowjetunion in der Frage der Abrüstung darin besteht, daß wir den Grundsatz . Alles oder nichts'betonen, d. h. daß wir eine allumfassende und volle Abrüstung Vorschlägen und mit nichts anderem einverstanden sind. Das entspricht nicht den Tatsadten.

In unseren Vdrsdtlägen steht es schwarz auf weiß, daß, wenn die Westmächte nidit bereit sind, zur allumfassenden und vollen Abrüstung zu schreiten, so halten wir es für möglidt und notwendig, wenigstens über Teilsdtritte auf dem Gebiet der Abrüstung zu verhandeln. Die Sowjetunion ist der Meinung, daß zur Zahl solcher Maßnahmen gehören: das Verbot der Atomwaffe und vor allem die Einstellung ihrer Versuche, die Sd-iaffung von Kontrollund Inspektionszonen mit einer Verminderung der ausländischen Truppen auf den Territorien der entsprechenden Länder Europas, die Schaffung einer atomfreien Zone in Mitteleuropa, die Liquidierung der ausländischen militärischen Stützpunkte auf fremden Territorien, der Abschluß eines Nichtangriffspaktes zwischen den Teilnehmerstaaten der NATO und den Teilnehmerstaaten des Warschauer Vertrages u. a.“

In konkreter Sicht bedeutet dies nur die Bereitwilligkeit Chruschtschows, das erwartete Paket an westlichen Zugeständnissen, ohne auch nur annähernd gleichwertige sowjetische Gegenleistungen, auch in Teilraten entgegenzunehmen.

Man fühlt sich dabei an Lenins grundsätzliche Einstellung erinnert. Nach ihm ist eine internationale vollständige Abrüstung nur nach dem Sieg des Sozialismus in der ganzen Welt denkbar (vgl. S. 17). Auch im taktischen Vorgehen auf diesem Wege empfiehlt er der „revolutionären Klasse", nicht mit der „Bourgeoisie“ gleichzeitig abzurüsten, sondern als letzte, „nicht früher" (vgl. S. 41).

III. Folgerungen

Britisches Denken neigt seit langem dazu, innen-und außenpolitische Gegensätze durch Kompromisse auszugleichen. Zumindest in Europa war Großbritannien nie darauf bedacht, die anderen Staaten zu beherrschen oder ihnen gar das gesellschaftliche System -aufzuzwin gen, welches er selbst für gut befand. Der kompromißbereiten Regierung dieses Volkes erschien die Existenz anderer Staaten nicht nur selbstverständlich, sondern wünschenswert und im eigenen Interesse notwendig. Empfänglich für Kompromisse, hat sie auch die sowjetische Bereitschaft zu Kompromissen ernst genommen und als erste Regierung eines westlichen Industriestaates ein Handelsabkommen mit dem Staat Lenins im März 1921 abgeschlossen. Noch heute erscheint diesem der Theorie fast ganz abgewandten Land im „gemeinsamen Interesse“ die Hoffnung berechtigt, daß die westlichen Industriestaaten „letzten Endes“ doch noch zu einem Kompromiß im britischen Sinne mit der Sowjetunion gelangen werden. Die Worte Chruschtschows über die Notwendigkeit von Kompromissen usw. werden die Hoffnung mancher Praktiker der Politik und mancher Wirtschaftler wahrscheinlich wieder beflügeln. Die erwähnten grundsätzlichen Betrachtungen Lenins zu Kompromissen, Zugeständnissen lassen eindeutig erkennen, wie sehr es dabei auf die zielbewußte Schwächung des „Partners“ in den verschiedenen Phasen ankommt. Nicht, als ob die überwiegende Benachteiligung des „bürgerlichen“ Partners bei einem solchen Kompromiß sofort auf der Hand läge. Lenin schätzte zwar die Dummheiten der „Bourgeoisie“ sehr hoch ein und sprach 1920 davon, daß auch „die gescheitesten Leute der Bourgeoisie . .. nicht umhin können, nicht wieder gut zu machende Dummheiten zu begehen. Daran wird die Bourgeoisie denn auch zugrunde gehen.“ So dumm ist sie sicher nicht, daß sie ohne äußeren Zwang Kompromisse mit der Sowjetunion abschließt, die von vornherein die überwiegenden Nachteile sichtbar machen. Vielmehr tritt in den meisten Fällen die Benachteiligung der „Bourgeoisie" bei Leninschen Kompromissen erst später zutage. Das gilt ebenso für politische wie für wirtschaftliche und kulturelle Vereinbarungen (ausgenommen davon ist der Fall, wenn die Sowjetunion sich außenpolitisch in äußerster Bedrängnis befindet).

Diesen Kompromissen liegt eine Ideologie zugrunde, die seit über vierzig Jahren die „Entwicklungsgesetze in der Gesellschaft“ betont, daraus den Untergang aller Gesellschaftsformen zugunsten des Sozialismus und Kommunismus Leninscher Prägung ableitet und eine Fülle von illegalen und völkerrechtswidriger Mitteln für die Beschleunigung dieses Prozesses empfiehlt. Man kann die praktische Bedeutung dieser Ideologie für manchen Bereich der sowjetischen Innenpolitik mit Recht bezweifeln. Für die sowjetische Außenpolitik jedoch, noch gefördert durch scheinbare Bestätigungen für die Wirklichkeitsnähe dieser Ideologie, hat sie eine entscheidende Bedeutung.

Sowjetische Zugeständnisse, die von einer selbstverständlichen Anerkennung des Lebens der anderen Staaten (auch wenn einem dieses Leben in seiner Gestaltung nicht gefällt) ausgehen, lassen sich von den Nachfolgern Stalins vielleicht erwarten, wenn sie bereit sind, ihre Beurteilung anderer bestehender Gesellschaftsordnungen und ihre Folgerungen daraus erheblich zu revidieren. Solche Zugeständnisse wären nichts anderers als eine von den Tatsachen her längst fällige Korrektur. Auch für den „Westen“ wären im Interesse der Tatsachen ideologische Korrekturen notwendig. Zwar kann der „Westen“ in seiner Vielfalt keine einheitliche Ideologie haben. Immerhin sind den westlichen Industriestaaten einige Grundauffassungen gemeinsam. Auch hier gibt es wichtige Tatsahen, die mit den Grundauffassungen im Widerspruch stehen, wenngleich diese Widersprühe bei weitem niht so groß sind wie in der Sowjetunion. Man denke u. a. an die aus der modernen Industriegesellshaft hervorgehenden Gefahren für die Entsheidungs-freiheit des einzelnen, an politishe Willensbildungen in manher Hin-siht, die dem Mehrheitsideal westliher Demokratien nicht entsprehen, an die Duldung von geshäftstühtigen Publikationen, die auf die Zerstörung des Verantwortungsgefühls des einzelnen gegenüber der Gemeinshaft, dem demokratishen Staat usw. hinauslaufen. Man sollte in dieser Hinsiht niht jede sowjetishe Kritik am „Westen“ für abwegig halten. Doh shon diese Andeutungen über gegenseitige Zugeständnisse im Dienste der Wahrheit, erweisen sih gegenwärtig als wirklihkeitsfremd, angesihts der im „Westen“ vorherrschenden Meinungen und der in der Sowjetunion allein zugelassenen Meinung. Die für wirklihe Kompromisse mit anderen Staaten unerläßlihe Revision der Ideologie der Nahfolger Stalins, wird von Chruschtschow — wie shon oft vorher — auh in der vorliegenden Rede abgelehnt:

„In der Praxis der Beziehungen zwischen Staaten mit verschiedener Gesellschaftsstruktur in unserer Zeit kommen und werden nicht wenig Fragen vorkommen, bei denen es notwendig ist, sielt einander entgegen-zukommen, Vereinbarungen auf einer gemeinsam annehmbaren Grundlage zu erzielen, und das Aufkommen einer Spannung nidtt zuzulassen, alle, selbst die kleinsten, Möglichkeiten für die Abwendung eines neuen Krieges auszunutzen.

Aber man kann nicht die gegenseitigen Zugeständnisse im Interesse der friedlidten Koexistenz von Staaten mit Zugeständnissen in den Prinzipien verwechseln, mit dem, was die Natur unserer sozialistischen Struktur, unserer Ideologie berührt. Hier kann von keinerlei Zugeständnissen und von irgendeiner Anpassung die Rede sein. Wenn es Zugeständnisse in den Prinzipien, in den Fragen der Ideologie sein werden, so wird dies das Hinabrutschen auf die Positionen unserer Geg- ner sein. Das wird eine qualitative Veränderung der Politik bedeuten, wird ein Verrat an der Sache der Arbeiterklasse sein. Wer sich auf einen solchen Weg begeben wird, der wird sich auf den Weg der Veränderung der Sadte des Sozialismus begeben und natürlich muß auf ihn das Feuer der schonungslosen Kritik eröffnet werden.

Wir sind von der Kraft unserer Wahrheit überzeugt; wir tragen diese sozialistische Wahrheit, die Vorzüge des Sozialismus hoch und demonstrieren sie vor der ganzen Welt. Wir fürchten nicht, daß die Völker der sozialistischen Länder von dem kapitalistischen Teufel verführt und auf den Sozialismus verzichten werden. Anders zu denken bedeutet, nicht an die Kraft des Sozialismus, an die Kraft der Arbeiterklasse und ihre schöpferischen Fähigkeiten zu glauben.“

Mancher aufmerksame, aber in westlichen Kategorien denkende Leser dieser Äußerung Chruschtschows, wird einen Widerspruch in der Forderung Chruschtschows nach einer „friedlichen Koexistenz“ mit dem „kapitalistischen Teufel“ sehen. Das ist in leninistischer Sicht durchaus vollziehbar. Bedeutet doch nach ihr „Frieden“, „friedliche Koexistenz“ etwas völlig anderes als in den Hoffnungen der überwältigenden Mehrheit der Menschen. Wie dargelegt, ist ein „dauerhafter Frieden“ nach Lenin ohne den Sturz der „kapitalistischen Ordnung“ (mit allen Mitteln) undenkbar. Die Gemeinsamkeit erschöpft sich in der gemeinsamen Benutzung derselben Worte. In dieser Sicht kann Chruschtschow eine „friedliche Koexistenz" befürworten ohne damit einem anderen Satz seiner Rede zu widersprechen: „In Fragen der Ideologie standen wir und werden wir fest stehen wie ein Fels auf der Grundlage des Marxismus-Leninismus". In dieser Sicht kann er die Aufrichtigkeit seines Bekenntnisses zur „friedlichen Koexistenz" betonen, ohne dabei unaufrichtig zu werden.

Man versteht Chruschtschow auch nicht richtig, wenn man meint, ihm gehe es um die Sicherung des Status quo, um weiter nichts. Natürlich will er diese Sicherung durch eine vertragliche Regelung mit den Westmächten noch bestätigt sehen. Der Status quo ist aber für ihn nur ein Ausgangspunkt für weitergehende Forderungen. Wie der sowjetische Begriff der friedlichen Koexistenz sich grundlegend von dem westlichen Begriff unterscheidet, so ist es auch mit dem Begriff des Status quo. „Jeder Status quo in der Politik ist“, für Lenin, „ein Übergang vom Alten zum Neuen."

Die Rede Chruschtschows bestätigt vollauf diese Auffassung Lenins, indem sie den jetzigen Status quo als selbstverständlich annimmt und zum politischen Angriff auf die verbliebenen zahlreichen Positionen des „Westens“ übergegangen ist. Dieser Absicht ordnet Chruschtschow auch seine zahlreichen Bekenntnisse zur internationalen Entspannung unter.

Gute Kompromisse mit nichtkommunistischen Organisationen (Staaten, Parteien usw.) in der Sicht Lenins sind Kompromisse, bei denen es „vorwärts geht“ in der Richtung des Endzieles, solange die Gewalt als Mittel mit Rücksicht auf die Selbstgefährdung ein schnelleres Vor-'wärtsgehen nicht erlaubt. Diesem Ziel hat nach Lenin auch jede Form der Irreführung zu dienen. Die Rede Chruschtschows beweist, wie schon oft vorher, daß Chruschtschow sich nicht nur formal auf die Theorie Lenins als Richtschnur für die sowjetische Außenpolitik beruft. Er versteht es auch, sie richtig anzuwenden.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Lenin: „Sämtliche Werke', Bd. 18, 2. Ausl., Wien-Berlin 1929, S. 65.

  2. Lenin: a. a. O. S. 67/68.

  3. Lenin: „Sämtliche Werke', Bd. 19, 2. Ausl. Wien-Berlin 1930, S. 236.

  4. Aus Lenins Aufsatz: „Uber die Losung der Vereinigten Staaten von Europa", veröff. am 23. 8. 15, vogl. Lenin: „Sämtliche Werke“, Bd. 18, 2. Ausl,. Wien-Berlin 1929, S. 310.

  5. Lenin: . Ausgewählte Werke in zwei Bänden", Bd. 1, Moskau 1947, S. 879.

  6. Lenin auf dem 8, Parteitag am 18. 3. 19, vgl. Lenin: „Ausgewählte Werke in zwölf Bänden", Bd. 8, Moskau 1935, S. 35/36.

  7. So erschien z. B. im Verlag des sowjetischen Verteidigungsministeriums ein zweibändiges Werk mit Lenins Kriegsschriften unter dem Titel: „W. I. Lenin über den Krieg, Armee und Kriegswissenschaft“, Moskau 1957.

  8. Zitiert nach Gustav A. Wetter S. J.: „Die sowjetische Konzeption der Koexistenz", Bonn 1959, S. 42.

  9. Vgl. zu diesen Angaben S. S. Demidow: „Die Verfassung und die grundlegende Gesetzgebungsakte der Mongolischen Volksrepublik", Moskau 1952, S. 9/10.

  10. „China Year Book 1923", Tientsin, S. 680, zitiert nach David J. Dallin: . The Rise of Russia in Asia", New Haven (USA) 1949, S. 192.

  11. G. Lenczkowski: . Russia and the West in Iran 1918— 1948", Ithaka (USA) 1949, S. 52.

  12. Aus Lenins Schrift: „Sozialismus und Krieg“ vom Jahre 1915, abgedruckt bei Lenin: „Sämtliche Werke“, Bd. 18, 2. Ausl. Wien-Berlin, 1929, S. 267.

  13. Lenin: a. a. O. S. 305.

  14. Vgl. Lenin: „Sämtliche Werke“, Bd. 18, 2. Ausl., Wien-Berlin 1929, S. 90.

  15. Lenin: . Ausgewählte Werke in zwölf Bänden", Bd. 6, Zürich 1934, S. 17/18.

  16. Lenin: „Sämtliche Werke", Bd. 18, 2. Ausl., Wien-Berlin 1929, S. 282/283.

  17. W. P. Potjomkin: u. a.: „Geschichte der Diplomatie", Bd. 3, Moskau 1947, S. 202/203.

  18. W. I. Lenin und G. Sinowjew: „Gegen den Strom — Aufsätze aus den Jahren 1914— 1916, Berlin 1921, S. 503.

  19. Vgl. Lenin: „Ausgewählte Werke in zwei Bänden”, Bd. 1. Moskau 1947, S. 879/880.

  20. Vgl. hierzu u. a.seine Schrift von 1920: „Der »linke Radikalismus« die Kinderkrankheit im Kommunismus".

  21. Vgl. auch den bedeutenden und nach wie vor aktuellen Aufsatz von Ernst Kux in der „Neuen Zürcher Zeitung'vom 17. 4. 1956.

  22. Lenin: „Ausgewählte Werke in zwölf Bänden", Bd. 8, Moskau 1935, S. 35'36.

  23. Lenin: a. a. O. S. 296.

  24. Lenin: . Ausgewählte Werke in zwölf Bänden", Bd. 9, Moskau 1936, S. 255.

  25. Aus Lenins Rede über »Die Aufgaben der Jugendverbände'vom 2. 10. 20, abgedruckt bei Lenin: »Ausgewählte Werke in zwei Bänden', Moskau 1947, Bd. 2, S. 788.

  26. Lenin: »Ausgewählte Werke in zwei Bänden", Bd. 2, Moskau 1947, S. 722.

  27. A. a. O. S. 747.

  28. A. a. O. S. 716.

  29. A. a. O. S. 719/720.

  30. Aus der erwähnten Schrift Lenins: „Der »linke Radikalismus«, die Kinderkrankheit im Kommunismus*. A. a. O. S. 685/686.

  31. Lenin: „Werke", Bd. 27, vierte Ausgabe, Moskau 1950, S. 99.

  32. Näheres darüber vgl. Aufsatz des Verfassers: „Die sowjetische Wirtschaftshilfe an »bürgerliche« Regierungen Asiens in leninistischer Sicht. In „Moderne Welt", Nr. 2, Köln, 1959.

  33. Vgl.den Wortlaut der Rede, abgedruckt in «Neues Deutschland", Ost-Berlin, 20. 9. 59.

  34. Vgl. Lenins Schrift: „Der »linke Radikalismus«, die Kinderkrankheit im Kommunismus', a. a. O. S. 727.

  35. Lenin: „Werke", 4. Ausg., Bd. 30, Moskau 1950, S. 343/344. Vgl.sein Interview mit dem Vertreter des-„Daily Express“ vom 18. 2. 1920.

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