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Wissenschaft und Ethik. Der philosophische Aspekt | APuZ 1/1964 | bpb.de

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APuZ 1/1964 Rückblick auf eine Ära Wissenschaft und Ethik. Der philosophische Aspekt Der naturwissenschaftliche Aspekt

Wissenschaft und Ethik. Der philosophische Aspekt

Wolfgang Wieland

Die Frage nach der Verantwortung der Wissenschaft wird heute allenthalben diskutiert Zu auffällig sind die Formen, in denen das Leben des modernen Menschen von der Wissenschaft bedingt ist, als daß die Frage nach ihrem Woher und ihrem Wohin nicht die Aufmerksamkeit der Allgemeinheit erregte. Der Wissenschaftler selbst steht dabei in einem seltsamen Zwielicht: die Weltfremdheit, die man ihm oftmals zuspricht, steht in einem auffallenden Kontrast zu den weltgestaltenden und weltverändernden Folgen seines Tuns. Der Wissenschaftler ist zwar im Bewußtsein der modernen Gesellschaft derjenige, der im Besitz der wahren und gültigen Auffassung von der Wirklichkeit ist. Doch das schließt nicht aus, daß eben diese Wirklichkeit auch Züge aufweist, die den Hang zum Katastrophalen nicht mehr verbergen können. Die der Arbeit des Wissenschaftlers sonst entgegengebrachte Bewunderung schlägt dann leicht um in den Schrecken vor den Entwicklungen in einer Welt, die ohne die Tätigkeit des Wissenschaftlers nicht das wäre, was sie ist. Es ist kein Zufall, daß es die unmenschlichen und grausamen Folgen der Wissenschaft waren, die zuerst die Aufmerksamkeit auf die Frage nach der Verantwortung der Wissenschaft gelenkt haben.

Noch vor nicht allzulanger Zeit wäre der Sinn der Frage nur von wenigen verstanden worden. Die Wissenschaft hatte es ihrem Selbstverständnis nach schon auf Grund ihres Wesens niemals mit ethischen Fragen zu tun. Wissenschaft in ihrer reinen Form war verstanden worden als eine menschliche Tätigkeit, die nicht in die Zweckzusammenhänge des Daseins eingefügt ist, weil sie ihren Zweck schon in sich selbst trägt. Geht es nur darum, die wirkliche Welt auf der Ebene des reinen Gedankens noch einmal gleichsam abzubilden, so scheint es für die wirkliche Welt mit ihren Zweckzusammenhängen gleichgültig zu sein, ob sie auf diese Weise abgebildet wird oder nicht.

In der Möglichkeit einer solchen, der Wirklichkeit gegenüber gleichgültigen Position sah die Wissenschaft und das ihr zugeordnete Bildungsideal keinen Mangel, sondern einen Vorzug. Ehrwürdige Vertreter dieses Bildungsideals sprechen daher auch heute noch dem Wissenschaftler jede Verantwortung ab, die sich nicht auf die Wissenschaft selbst und die Reinhaltung ihrer Methoden bezieht.

Man sollte eine solche Haltung vielleicht doch etwas ernster nehmen, als man es gewöhnlich tut. Sie zeichnet sich nämlich zumindest durch ihre innere Konsequenz aus. Denn die Frage nach der Verantwortung der Wissenschaft wird zumeist auf eine der Sache sehr wenig angemessenen Weise gestellt und beantwortet. Die Verantwortung der Wissenschaft ist bereits ein beliebter Gemeinplatz im Festredenjargon geworden. Solange es bei der unverbindlichen Beteuerung bleibt, daß eine solche Verantwortung bestehe, wird jeder gern zustimmen. Es ist die Zustimmung, die man zu jeder Moral-vorschrift gibt, die zu allgemein formuliert ist, als daß sie in einem Konflikt mit handfesten Interessen kollidieren könnte. Wer aber wirklich einmal als Wissenschaftler mit der Verantwortung im konkreten Einzelfall Ernst macht, sieht sich sogleich in einer ganz anderen Situation: Er tritt in den Kampf um politische und wirtschaftliche Interessen ein und muß es sich gefallen lassen, daß man ihn wie einen Interessenvertreter behandelt. In dieser Auseinandersetzung unterliegt der Wissenschaftler aber sehr leicht. Das hat aber weniger damit zu tun, daß der sich auf seine Verantwortung berufende Wissenschaftler keine Interessen zu vertreten hätte, sondern vielmehr damit, daß er über die Struktur seiner Wissenschaft zumeist viel zu wenig orientiert ist, als daß er auf der Grundlage einer sicheren Kenntnis des gesellschaftlichen Standortes dieser Wissenschaft und ihrer Voraussetzungen seine eigenen Wirkungsmöglichkeiten in realistischer Weise einschätzen könnte. So ist hier eine der Bedingungen dafür zu suchen, daß den vielfältigen Versuchen vieler Wissenschaftler, als Wissenschaftler die Verantwortung für die politischen und gesellschaftlichen Folgen ihrer Tätigkeit zu übernehmen, bisher nur ein sehr kümmerlicher Erfolg beschieden gewesen ist. Es ist nur zu verständlich, wenn sich der Wissenschaftler unter diesen Umständen wieder ganz in den Bereich seines For-B sehens zurückzieht und die Verantwortung für die Folgen seines Tuns anderen zuschiebt.

Man sieht also leicht, daß die Frage nach dem Zusammenhang von Ethik und Wissenschaft in einem Kraftfeld erörtert wird, in dem jeder dem anderen die Verantwortung für Zustände und Ereignisse zuschiebt, die angeblich nicht gewollt waren und gerade deswegen in ihrer Unausweichlichkeit akzeptiert werden. Das traditionelle Ideal der Wissenschaft, wonach diese nur für sich selbst verantwortlich ist, also für Ergebnisse, die ihrerseits keine weitere Verantwortung erzeugen, kann in solchen Fällen den ideologischen Hintergrund für eine Haltung abgeben, bei der das Gewissen beruhigt ist. Man trennt die reine Wissenschaft von ihren „Anwendungen“ und glaubt damit wieder einen Bereich beziehen zu können, in dem verantwortungsfreies Handeln möglich ist. Wer heute guten Glaubens von einer Verantwortung der Wissenschaft spricht, ist zumeist in einer strukturellen Selbsttäuschung befangen. Diese Selbsttäuschung ist gewöhnlich ohne reale Gefahren: ein auch noch so gut gemeintes Bekenntnis zur Verantwortung richtet wenig aus in einer Lage, in der der Wissenschaftler genausowenig wie irgend ein anderer die Konsequenzen seines Handelns übersehen kann. Das Kooperationsgeflecht, als das sich die moderne Wissenschaft darbietet, ist dazu schon viel zu kompliziert und viel zu verschlungen; es bedarf schon singulärer Entdekkungen, um jenen Kommunikationsprozeß etwas deutlicher werden zu lassen. Aber der Normalfall ist doch der, daß dem praktizierenden Wissenschaftler die Voraussetzungen nicht gegeben sind, um die gesellschaftliche Relevanz seines Tuns zu übersehen. Er mag wissen, daß es eine solche gesellschaftliche Relevanz gibt, doch solange dieses Wissen mangels Bestimmtheit keinen Einfluß auf das Handeln selbst ausüben kann, ist es verständlich und unter gewissen Voraussetzungen vielleicht sogai geboten, daß er seine Wissenschaft unter der Voraussetzung des traditionellen Wissenschaftsideals betreibt.

Wie soll man aber unter dieser Voraussetzung eine Verantwortung für die Folgen eines Tuns übernehmen können, das von vorherein so bestimmt ist, daß es keine Verantwortlichkeit erzeugen kann? Das eigentliche Problem liegt also nicht darin, daß der Wissenschaftler die Verantwortung für die Folgen seiner Tätigkeit nicht übernehmen wollte, sondern einfach darin, daß er sie in fast allen Fällen, selbst wenn er wollte, unmittelbar gar nicht übernehmen kann. Jene Selbsttäuschung nun, in der sich der Wissenschaftler befindet, der in ler heute üblichen Weise das Problem seiner spezifischen Verantwortung erörtert, beruht darauf, daß er einen Wissenschaftsbegriff voraussetzt, der von Hause aus wenig geeignet ist, in unmittelbarem Zusammenhang mit ethischen Problemen gebraucht zu werden. Man muß jedenfalls mit der Möglichkeit rechnen, daß Wissenschaft unter den Bedingungen der Gegenwart nicht nur ihren Auswirkungen, sondern auch ihrem Wesen nach etwas anderes ist als dereinst; daß auf der anderen Seite auch die Bedingungen, unter denen Verantwortung übernommen werden kann, in der Gegenwart einem Wandel unterworfen sind, der den Zwang zu einer Revision unserer Vorstellungen von ihr impliziert. Es sollen daher im Folgenden unsere Vorstellungen von Wissenschaft und Ethik einer Prüfung unterworfen werden.

Ich bin gebeten worden, die Frage nach dem Verhältnis von Wissenschaft und Ethik unter dem Aspekt der Philosophie zu behandeln, und es ist nicht leicht auszumachen, worum es sich bei diesem philosophischen Aspekt wohl handeln mag. Man begegnet ja nicht zufällig der Philosophie teils mit mehr oder weniger respektvoller Verständnislosigkeit, teils mit einem nicht in allen Fällen unbegründeten Mißtrauen in ihre Methoden, wenn man es nicht gleich vorzieht, sie in die Unverbindlichkeit einer bloßen Narrenfreiheit zu entlassen. Sei dem, wie es wolle — jeder, der von der Philosophie Ergebnisse erwartet von der Art, wie sie in den anderen Wissenschaften erzielt werden können, muß notwendig enttäuscht werden. Das gilt nicht nur für den Bereich des theoretischen Wissens, sondern ebenso auch für den Bereich des praktischen Verhaltens: Die Ethik ist eine traditionelle philosophische Disziplin, doch wer von ihr erfahren will, wie er sich etwa in einer Konfliktsituation verhalten soll, wird enttäuscht werden. Nun wird man aber keineswegs behaupten wollen, eine Frage, auf die es keine Antwort gibt, sei deswegen schon sinnlos. Vielleicht war diese Frage an die falsche Instanz gerichtet — zumindest kann man auch auf eine angeblich falsch gestellte Frage hin etwas erfahren, was man ursprünglich gar nicht intendierte, was man aber vielleicht niemals hätte erfahren können, wenn man nicht gerade so gefragt hätte.

Was ist nun jener philosophische Aspekt? Jeder mit der Materie Vertraute weiß, daß die Philosophie auch sich selbst ein Problem ist. Man wird daher nicht leicht einen von allen Seiten akzeptierten Philosophiebegriff definieren können. Ich werde mich hier auf Auseinandersetzungen nicht einlassen, sondern schlage einen Philosophiebegriff vor, der zwar nicht der einzig mögliche ist, der aber doch weit genug ist, um die Selbstbedeutungen der philosophischen Klassiker zu umfassen. Philosophie soll hier also verstanden werden als Theorie des Selbstverständlichen. Das soll besagen: eine philosophische Betrachtung gelangt nicht zu inhaltlich neuen Ergebnissen, wie das sonst in jedem Forschungszweig erstrebt wird, sondern sie beschäftigt sich mit dem Bekannten, mit jenem Allzubekannten, was uns für gewöhnlich viel zu nahe und zu selbstverständlich ist, als daß wir uns darüber Rechenschaft ablegen würden. In diesem Sinne fragt die Philosophie nach den Voraussetzungen, die wir immer schon, wenngleich nicht ausdrücklich, verstanden haben müssen, wenn wir in irgendeiner Form, sei es im wissenschaftlichen oder im naiven Weltverständnis, Erfahrungen machen wollen. Solche Voraussetzungen können natürlich bloße Vorurteile sein — doch gerade die Aufdeckung von Vorurteilen gehört zu den vornehmsten Aufgaben der Philosophie. Vorurteile sind von der Art, daß man sie immer nur nachträglich kennen kann: wer unter der Macht eines Vorurteils steht, weiß davon in der Regel nichts; er wehrt sich vielleicht sogar dagegen, es zu wissen. Macht man jemandem klar, unter welchen Vorurteilen er steht, so sagt man ihm im Grunde nichts Neues: man macht ihm nur etwas klar, was er eigentlich bereits wußte. Es mag sein, daß er sich auch dann noch nicht von diesen Meinungen befreien kann, es macht aber einen wesentlichen Unterschied aus, ob man solche Meinungen kennt oder ob sie ihre Wirkungen in der unreflektierten und oftmals verdrängten Gestalt des Vorurteils ausüben. Unserem Begriff des Vorurteils haftet eine leicht negative Wertung an. Man sollte aber daran denken, daß viele der Glaubensüberzeugungen, die unser Leben tragen, von derselben Struktur sind.

Die Philosophie beschäftigt sich nun damit, jene unreflektierten Voraussetzungen alles Wissens ans Licht zu heben und auf Begriffe zu bringen. Diese können Voraussetzungen nun von der verschiedensten Art sein: es kann sich um allgemeingültige Strukturen des menschlichen Bewußtseins durch die handeln, jeder Welterfahrung eine bestimmte Struktur aufgenötigt wird; es kann sich aber auch um Voraussetzungen handeln, die wir durch die Struktur unserer Sprache schon mit übernehmen, schließlich auch um alle Voraussetzungen, die durch das bedingt sind, was man gemeinhin den Geist nennt, also alle historischen Voraussetzungen; schließlich gehören hierher auch die sich aus der gesellschaftlichen Situation ergebenden Voraussetzungen. Niemand kann sagen, ob dieser Bereich jemals endgültig ausgemessen sein wird.

Die Philosophie kommt also immer erst post festum. Wie ist es aber dann zu erklären, daß man in ihr oft eine Gefahr gesehen hat, daß manch eine Philosophie geradezu revolutionäre Wirkungen gehabt hat? Auch hier hilft der Vergleich mit dem Vorurteil weiter: denn wenn es gelingt, einen Menschen über eines seiner Vorurteile, die ihn leiten, wirklich aufzuklären, so kann das für seine weiteren Entscheidungen und möglicherweise für sein ganzes Leben eine niemals genau vorhersehbare Bedeutung haben. So kann auch in der Philosophie das Selbstverständlichste zugleich das Neueste, überraschendste und Revolutionärste sein.

Die Philosophie kann daher auch niemals über ihren Schatten springen: sie kann, ohne daß sie es will, in die Wirklichkeit eingreifen, weil ihr Publikum die Aufdeckung von Voraussetzungen je nach der historischen Situation auch als Kritik eben dieser Voraussetzungen verstehen kann, freilich auf der anderen Seite auch als deren Rechtfertigung. Zumindest kann sich die Kritik jener Ergebnisse als Waffen bedienen. Die Philosophie kann also kritische wie konservierende Wirkungen haben, selbst wenn sie weit davon entfernt ist, entsprechende Absichten zu verfolgen. Zwischen dem, was ein Mensch sagt und dem, was er tut, können Widersprüche bestehen, ohne daß dies beabsichtigt oder auch nur bewußt gemacht sein müßte. Zwar darf man, wenn man einen Menschen verstehen will, niemals seine Selbst-deutung außer acht lassen. Schon in der alltäglichsten Lebenserfahrung geht man davon aus, daß jeder Mensch noch etwas anderes ist, als er von sich weiß. Das gilt längst nicht nur für den einzelnen Menschen, sondern für Gruppen, für Völker, für Epochen, ja vielleicht für die Menschheit überhaupt. Das bedeutet für unsere Fragestellung: wir haben nicht nur zu betrachten, welche Deutung der Wissenschaftler seiner Arbeit selbst gibt, wir haben nicht nur nach dem in unserer Zeit herrschenden Wissenschaftsideal zu fragen, sondern wir haben auch und in erster Linie zu versuchen, diejenige Wissenschaftsauffassung sichtbar zu machen und auf Begriffe zu bringen, die der Wissenschaftler ungewollt voraussetzt und voraussetzen muß, wenn er seine Tätigkeit in der modernen Welt betreibt. Das Entsprechende gilt dann für das Problem der Ethik.

Zur Philosophie gehört daher notwendig immer Skepsis. Das bedeutet nicht, daß sie in bloßer Destruktion aufginge, doch es gehört gleichwohl zu ihrem Wesen, das in Frage zu stellen, was sonst als fraglos gültig angenomB men wird. Man kann daher vom Philosophen auch nicht erwarten, ethische Vorschriften zu erhalten. Philosophische Reflexion pflegt keine Motivationen für verantwortliches sittliches Handeln abzugeben; sie hilft nur, wenn man über die Struktur solcher Motivationen ins klare kommen will. Es gab wohl Zeiten, in denen die Philosophie mit guten Gründen glauben konnte, zur Aufdeckung eindeutiger Wertordnungen fähig zu sein. So ist es auch der Sinn der auf Platon und vor allem auf Aristoteles zurückgehenden Tradition der praktischen Philosophie, den Menschen zum richtigen Handeln anzuleiten, ihm jedenfalls nicht nur ein abstraktes Wissen hierüber zu vermitteln. Diese Tradition ist spätestens seit dem Beginn der Neuzeit abgebrochen. Die Ethik wird dann bei Kant zur bloß formalen Strukturanalyse des sittlichen Bewußtseins, die ihren Allgemeinheits-und Wahrheitsanspruch nur um den Preis des Verzichts auf die inhaltliche Bestimmtheit konkreter Vorschriften aufrechterhalten kann. In der Gegenwart wird dieser Formalismus auf die Spitze getrieben von jenen existentialistischen Theorien, die eine unbedingte Entscheidung fordern, aber gleichgültig gegen den Inhalt jener Entscheidung sind. Dieser Inhalt kann dann aber, wie man leicht sieht, von den Mächten des Tages substituiert werden. Ist die formalistische Gesinnungs-und Entscheidungsethik der eine Erbe der traditionellen praktischen Philosophie, so ist die Geschichtsphilosophie der andere. Geschichtsphilosophie wird leicht zur Ideologie derer, die die Verantwortung für ihr eigenes Handeln selbst nicht mehr übernehmen wollen und vielleicht auch nicht übernehmen können. In diesem Fall beruhigt man sich bei einem wie auch immer konstruierten Geschichtsbild und hält höchstens noch den Bereich des Privaten für moralfähig. Es hat den Anschein, als wäre die gegenwärtige Konjunktur der Geschichtsphilosophien auch eine Kompensation des Mangels einer verbindlichen politischen Theorie. Woran soll sich aber nun der Wissenschaftler, der seine Verantwortung nicht überschaut, halten, wenn ihm von der Philosophie nur die Alternative einer Geschichtstheorie und einer sich prinzipiell im Bereich des Privaten haltenden Gesinnungsethik angeboten wird. Der Wechselbalg der Sozialethik ist jedenfalls bis jetzt eher ein Zeichen für die Existenz dieser Verlegenheit als ein Mittel für deren Überwindung.

Wir gehen aus von einer Untersuchung des traditionellen Wissenschaftsbegriff; denn er wird heute noch allenthalben beschworen, auch von denen, die de facto bereits die Wissenschaft in einer Form betreiben, die mit jenem Begriff in keiner Weise mehr koinzidiert. Jeder weiß, daß die Ursprünge der Wissenschaft bei den Griechen zu suchen sind. Nicht so leicht ist die Frage zu beantworten, wodurch die Griechen zu den Begründern der Wissenschaft geworden sind. Denn betrachtet man die Astronomie oder die Rechenkunst der Ägypter und der Babylonier, so findet man hier bereits außerordentlich differenzierte und durchdachte Techniken und Methoden zur Lösung von Aufgaben, die zumindest in ihrer Art auch von den Griechen nicht überholt worden sind. Wenn man daher die Eigenart der griechischen Wissenschaft erfassen will, so darf man sich nicht am Inhalt oder am Gegenstandsbereich dieser Wissenschaft orientieren. In der Tat gehört es zu dem auch heute noch lebendigen Erbe der griechischen Wissenschaft, daß eine wissenschaftliche Erkenntnis nicht an ihrem Inhalt, sondern an ihrer Form zu erkennen ist: als wissenschaftlich kann ein Satz nur insofern gelten, als er einer vernünftigen Begründung fähig ist. Mochte es auch streitig sein, worin nun wiederum die Eigenart einer solchen vernünftigen Begründung liegt — man hatte jedenfalls bereits eine Vorstellung, die man, wenn auch oft in unklarer Form, zugrunde legen konnte. Die Griechen entdeckten also, daß es Sachverhalte gibt, die man zunächst nicht oder doch nur auf eine unklare Weise kennt, über die man zur Klarheit kommen kann mit Hilfe eines Beweises. Liegt aber der Schwerpunkt in diesem Sinne immer bei der Begründung eines Satzes, so ist es von nur sekundärer Bedeutung, ob die in jenem Satz ausgedrückte wissenschaftliche Erkenntnis einer praktischen Anwendung fähig ist oder nicht. Die Einsicht interessiert in diesem Fall nur noch rein als solche, und dies gerade deswegen, weil sie sonst ohne alles weitere Interesse sein kann. Mochten vielleicht auch in der aus praktischen Bedürfnissen erwachsenen vor-griechischen Rechenkunst beweisähnliche Formen vorgekommen sein, so blieb es doch den Griechen vorbehalten, Beweise für das Nicht-vorliegen von etwas, etwa den Beweis der Inkommensurabilität von Seite und Diagonale eines Quadrates zu führen. Um einen Beweis dieser Art wird sich nur bemühen, wer an der zu erlangenden Erkenntnis um ihrer selbst willen interessiert ist.

Man sieht also, wie die europäische Wissenschaft von ihrem Ursprung her sich von den konkreten Bedürfnissen des Lebens distanziert. Mag sie auch noch so sehr von Interessen getragen sein, die dem Leben selbst entspringen, sie sieht ihr Wesen und ihre Würde gerade in der Emanzipation von diesen Inter-essen. Doch die Wissenschaft ist dadurch in ihrerEigenart noch nicht hinreichend bestimmt. Zu ihrem Wesen gehört ebenso, daß der Zwang zu einer vernünftigen Begründung der Ergebnisse nicht mehr damit zu vereinbaren war, Meinungen ausschließlich auf die Beglaubigung einer Autorität hin für wahr zu halten. Mochte man in der Praxis nach wie vor darauf angewiesen sein — von Wissenschaft läßt sich nur insoweit sprechen, als sie sich den Autoritäten zu entziehen vermag. Wenn auch die Wissenschaft soziologisch betrachtet für lange Zeit nur eine Randerscheinung war, so war doch schon das Wissen um die bloße Möglichkeit, daß es Fragen gab, über die man auch ohne alle Autorität zu einer verbindlichen Entscheidung kommen kann, von eminenter Bedeutung, um so mehr, als Fragen dieser Art auf der Grundlage eines verwissenschaftlichen Bewußtseins gar nicht gestellt werden. Radikales Fragen, das sich keine Grenzen von außen setzen läßt, gehört zu jeder Wissenschaft. Im vorwissenschaftlichen Bewußtsein sind nämlich alle wesentlichen Fragen bereits ein für allemal beantwortet. Dieses Bewußtsein lebt aus der Überzeugung, daß es alles Wissenswerte im Grunde schon weiß — und daß das, was es nicht weiß, auch nicht zu wissen erlaubt ist. Die wissenschaftliche Haltung geht aber von der Überzeugung aus, daß es Dinge gibt, von denen man noch nicht weiß, von denen zu wissen man aber für erstrebenswert hält.

Diese Wissenschaftsauffassung hat vor allem auf dem Weg über Platon und Aristoteles Geschichte gemacht. Wohl ist vor allem bei Platon das Verhältnis von Theorie und Praxis viel komplizierter, als das in einer mehr schematischen Darstellung zum Ausdruck kommen kann — die Begriffe, mit Hilfe deren sich die Wissenschaft seitdem selbst deutet, sind hier zum erstenmal entwickelt worden. Es handelt sich um die Idee einer theoretischen, d. h. rein kontemplativen, von aller Interessen-und Zweckbeziehung absehenden menschlichen Betätigung. In ihr gewinnt der Mensch erst eigentlich Distanz zu der Welt, in der er lebt. Diese Betätigung führt zu begründeter Einsicht und trägt ihren Zweck in sich selbst. Auch dann, wenn diese Wissenschaft fruchtbar gemacht werden soll für die Lebenspraxis, wird jene Distanz nicht aufgegeben. Die Anwendung der Wissenschaft schließt also keinesfalls aus, daß sie selbst nicht von dem Gedanken an mögliche Anwendung bestimmt ist. Dies bedeutet: auch wenn man die Wissenschaft auf die Praxis anwenden will, muß man sie zunächst um ihrer selbst willen betreiben.

Die Entdeckung der Möglichkeit einer reinen theoretischen, zweckfreien Wissenschaft hatte freilich bestimmte Voraussetzungen und bestimmte Konsequenzen. Voraussetzungen hatte diese Entdeckung vor allem in gesellschaftlicher Hinsicht. Das wußte bereits Aristoteles, der davon spricht, daß die gewöhnlichen Bedürfnisse bereits befriedigt sein mußten, wenn die theoretische Wissenschaft sollte entstehen können. Denn diese setzt Muße voraus. Die Wissenschaft kann also nur unter der Voraussetzung rein um ihrer selbst willen zweckfrei betrieben werden, wenn für jene Zwecke bereits in anderer Weise gesorgt ist. Dieser Zweckenthebung entspricht es nun auch, daß der Wissenschaftler als solcher zunächst keinen sozialen Ort hat. Wir finden, wenn wir die Geschichte betrachten, die Wissenschaftler in fast allen denkbaren sozialen Positionen — nur nehmen sie diese Position eben nicht als Wissenschaftler ein. Die Beschäftigung mit Philosophie und Wissenschaft ist meist eine typische Nebenbeschäftigung, sofern sie nicht von Menschen betrieben wird, deren ökonomische Basis es ihnen erlaubt, sich ihr ganz zu widmen. Natürlich gibt es gewichtige Ausnahmen, wie dies vor allem die Geschichte des Bildungswesens zeigt. Doch diese Ausnahmen betreffen vornehmlich die Vermittlung und die Weitergabe theoretischer Erkenntnis, nicht aber deren Auffinden und Entdecken. Man muß sehen, daß jene soziale Ortlosigkeit des Wissenschaftlers kein Zufall ist, sondern sich mit Notwendigkeit aus der Tatsache ergibt, daß die Wissenschaft von vornherein dem gesellschaftlichen Interessen-und Bedürfniskonnex enthoben ist. In unserer Zeit ist das freilich anders: der Wissenschaftler hat als solcher seinen sozialen Ort, gleichgültig, ob er selbst ihn richtig zu bestimmen imstande ist oder nicht. Wir werden später noch sehen, wie diese Tatsache ein Symptom ist für einen Wandel im Wesen der Wissenschaft, über den man sich jedoch gewöhnlich keine Rechenschaft gibt.

Dieser Wissenschaftsbegriff steht in Zusammenhang mit einer bestimmten Form des Welt-verständnisses. Weil die Disziplin, die die allgemeinsten Strukturen des Weltverständnisses begrifflich formuliert, die Ontologie ist, kann man die Frage stellen, wie die griechische Ontologie beschaffen ist, die sich in der traditionellen Wissensche’t ausdrückt. In der Tat läßt sich das eine nicht ohne das andere verstehen. Ist nämlich die Wissenschaft von der Art, daß sie ihren Gegenstand und die Welt überhaupt nur kontemplativ betrachtet und sich von ihm distanziert, so erscheint diese Welt selbst in ihrem Wesen unter den Bedingungen jener Distanz. Kontemplative Wissenschaft setzt voraus, daß dei Mensch der Dinge, wenigstens solange er sie betrachtet, nicht bedarf, da sie ihn nicht betreffen. Auf der anderen Seite bedürfen aber die wirklichen Dinge auch des Menschen nicht; sie sind nicht auf ihn hingeordnet, sondern tragen den Grund ihres Seins in sich selbst. Das bedeutet aber: als im vollen Sinne des Wortes wirklich werden nur die Dinge anerkannt, die zu ihrem Sein keines anderen bedürfen. Mit anderen Worten: Die Selbständigkeit ist das entscheidende Strukturmerkmal, durch das bestimmt wird, was als wirklich zu gelten hat und was nicht. Der Streit der Philosophen ging fortan immer darum, wo jene so durch das Prädikat der Selbständigkeit qualifizierte Wirklichkeit zu finden sei; daß die Wirklichkeit so verstanden werden müsse, stand für lange Zeit überhaupt nicht im Zweifel. Auch für die neuzeitliche Wissenschaft ist es zunächst selbstverständlich, daß die Wirklichkeit, auf die sie sich bezieht, in dieser Weise verstanden wird. Was jener Anforderung an Selbständigkeit nicht genügen kann, ist eben dadurch schon als Unwesentliches disqualifiziert. Das Begriffspaar wesentlich — unwesentlich dient seit den Griechen dazu, diese Unterscheidung vorzunehmen. Hieraus ist die Objektivität, die wir vor allem anderen von der Haltung des Wissenschaft treibenden Menschen verlangen, verständlich geworden: Die Wissenschaft richtet sich auf die Sache selbst und als solche; sie betrachtet sie gerade nicht unter Gesichtspunkten, die die Wünsche, Bedürfnisse oder Interessen des Menschen betreffen. Der Wissenschaftler hat als solcher nur ein Interesse an dem, was sonst nicht weiter von Interesse ist. Der Objektivität des Betrachtenden entspricht auf der anderen Seite die Objektivität der wirklichen Welt. Beides fordert sich gegenseitig: die Haltung der interesselosen Betrachtung hat nur dann Sinn, wenn es auch Dinge gibt, die sich auf diese Weise betrachten lassen. Das ist wiederum trivial, aber man ersieht aus solchen Zusammenhängen, daß eine Wissenschaft, die nicht mehr in der interessenlosen Distanz ihrem Objekt gegenüber verharrt, auch einen anderen Wirklichkeitsbegriff als den der sich am Leitfaden der Selbständigkeit haltenden traditionellen Ontologie voraussetzen kann. Viele Schwierigkeiten im Selbstverständnis der heutigen Wissenschaft ergeben sich daraus, daß es noch nicht auf überzeugende Weise gelungen ist, einen ihr gemäßen Wirklichkeitsbegriff zu entwickeln. So erfüllt der alte Wirklichkeitsbegriff oft noch eine ideologische Funktion. Was hat das alles mit der Frage nach dem Verhältnis von Wissenschaft und Ethik zu tun? Es ist der Gegensatz von Theorie und Praxis, an dem sich jenes Verhältnis verdeutlichen läßt. Dieser Gegensatz von Theorie und Praxis gehört zu den Begriffen, die heute zu den selbstverständlichen Gemeinplätzen der Bildung zählen. Nur selten macht man sich klar, welche komplizierten sachlichen und historischen Voraussetzungen nötig waren, damit es zu dieser Entgegensetzung kommen konnte.

Wohl gibt es auch die Tradition der ständig um ihre Selbstrechtfertigung bemühten praktischen Philosophie, also der Ethik und der Politik. Doch auch die praktische Philosophie steht ständig unter der durch das Begriffspaar Theorie und Praxis gegebenen Alternative.

Denn sie steht ständig vor der Entscheidung, ob sie sich selbst als eine theoretische, d. h.

letztlich zweckfreie und uninteressante Analyse der menschlichen und gesellschaftlichen Dinge verstehen will oder aber als eine Unternehmung, die selbst praktische Ziele verfolgt und das auch zugibt.

Wenn also nun theoretisches Verhalten und praktisches Verhalten des Menschen in dieser Weise eine vollständige Alternative bilden, so können in einer dem theoretischen Ideal folgenden Wissenschaft gar keine ethischen Probleme vorkommen. Denn kommen solche Probleme vor, dann ist das nur ein Zeichen dafür, daß die Wissenschaft noch nicht oder nicht mehr in ihrer vollen Reinheit betrieben wird. Nun wird unter den gegenwärtigen Bedingungen niemand mehr ernstlich behaupten wollen, ethische Probleme träten überhaupt nicht im Zusammenhang mit der Wissenschaft auf. Um so aufschlußreicher ist der Weg, den man geht, wenn man diese Probleme richtig placieren will: man unterscheidet zwischen reiner Wissenschaft und deren praktischer Anwendung. Die reine Wissenschaft ist unter dieser Voraussetzung eine verantwortungsfreie Tätigkeit, erst ihre Anwendung auf konkrete Lebenszusammenhänge kann ethische Fragen aufgeben. Auf diese Weise bleibt die traditionelle unvermittelte Alternative von Theorie und Praxis bestehen; der Wissenschaftler kann sich dann immer noch mit der zweckfreien Forschung wie auf die Inseln der Seligen zurückziehen und die Verantwortung für Folgen dieser Forschung jenen „Funktionären" zuschieben, die seine Ergebnisse allererst in den Zweckzusammenhang der menschlichen Gesellschaft einordnen. Nutzlos ist es dann, in einem solchen Fall die angeblichen Funktionäre noch dazu ermahnen zu wollen, bei dieser Tätigkeit nicht allzuviel Unheil anzurichten. Aber auch wenn der Wissenschaftler in männlicher Haltung jene Verantwortung für die aus der „Anwendung“ seiner Wissenschaft entspringenden Folgen selbst in Personalunion zu übernehmen versucht, bleibt jenes Denkschema von Theorie und Praxis im Kern unangetastet.

Man wird sich nur fragen müssen, ob eine solche Haltung, bei all der bewundernswerten Konsequenz, zu der sie fähig ist, nicht eine Spaltung zur Grundlage hat, die sich immer nur über eine begrenzte Zeit hin ertragen läßt.

Wie soll man auch ernsthaft an die Möglichkeit einer Wissenschaft im Sinne des traditionellen Ideals glauben können, wenn man zugleich vor dem, was mit ihrer Hilfe gemacht werden kann, Schauder empfindetI Der traditionelle, auf der Scheidung von Theorie und Praxis konzipierte Wissenschaftsbegriff hätte kein so zähes Leben haben können, wenn er sich nicht zugleich auch in einem Bildungsideal ausgedrückt und das Menschenbild beeinflußt hätte. Der Mensch erreicht nach dieser Auffassung in seinem theoretischen Vermögen und in der reinen Erkenntnis seine höchste Verwirklichung; daß er sich vom Leben und allem Gegebenen distanzieren kann, ist ein Bestandteil seiner spezifischen Würde.

Selbstverständlich muß die Bildung darum bemüht sein, den Menschen in die Lebenspraxis einzuführen. Doch das Bildungsideal, das wir hier im Auge haben, besagt ja auch nicht, daß jeder Mensch sein eigentliches Ziel in der Betrachtung der Dinge finden müsse; es besagt lediglich, daß der Mensch für die Lebens-praxis am besten dadurch vorbereitet wird, daß man ihn die Fähigkeit lehrt, zu allen Dingen Distanz zu halten und bei allen auftauchenden Schwierigkeiten sich wenigstens vorübergehend in den Stand des von der Sache selbst nicht betroffenen, „objektiv“ urteilenden Zuschauers zu versetzen. Dieses Bildungsideal wird von dem Glauben getragen, daß es letztlich auch im Interesse der Lebenspraxis selbst liegt, daß sich der Mensch ihr nicht unvermittelt hingibt. So kann das theoretische Verhalten indirekt praktische Zwecke gerade dadurch fördern, daß es von ihnen methodisch absieht. Man darf an der Vielfalt der Bildungsideale in unserer Geschichte nicht irre werden; immerhin wird es schwer halten, ein Bildungsideal zu finden, in das jene Strukturen nicht in der einen oder anderen Weise Eingang gefunden hätten.

Von den speziellen Bildungswerken, die man der aktiven Beschäftigung mit der Wissenschaft zuschreibt, soll hier nicht im einzelnen die Rede sein, nicht von dem Zwang zur Objektivität und zur ständigen Bereitschaft, ungeprüfte Vormeinungen und Vorurteile in Frage zu stellen, nicht von der Offenheit jedem vernünftig formulierten Einwand gegenüber und nicht von der inneren Freiheit und Selbstgenügsamkeit, die durch die theoretische Haltung soll erreicht werden können. Denn auch hier wird sofort deutlich, daß durch die theoretische Haltung keine ethischen Probleme entstehen können. Sie ist bereits von sich selbst her gut, weil sie den Menschen jener Region enthebt, in der er sich in Schuld verstricken kann und vielleicht sogar muß.

Man sieht also, wenn man auch nur kurz den traditionellen Wissenschaftsbegriff betrachtet, daß auf seiner Grundlage die Frage nach der ethischen Verantwortung der Wissenschaft in ausweglose Schwierigkeiten führt. Die bisweilen praktizierte, gewiß achtbare Verantwortungsfreudigkeit, die sich über diese Voraussetzungen nicht im klaren ist, erleidet eine Frustration, weil sie zu einer realistischen Einschätzung ihrer Situation kaum jemals fähig ist. Die notwendig folgende Enttäuschung deprimiert oft viel zu sehr, als daß sie die Kraft und die Bereitschaft, den eigenen Standort besser und richtiger zu bestimmen, nicht lähmen würde. Die Folge ist dann entweder Resignation oder aber die verdrossene Haltung des Moralisten, der mit der Eintönigkeit seiner Bußrufe den von ihm proklamierten Verpflichtungen schon Genüge getan zu haben glaubt.

Die Erfahrung zeigt: Der Wissenschaftler, der unter den Bedingungen der Gegenwart sich für die Folgen seiner Wissenschaft verantwortlich fühlt und bereit ist, diese Verantwortung auch zu praktizieren, ist in der Regel der Fälle objektiv gar nicht in der Lage, diese Verantwortung zu übernehmen, ob ihm das nun klar ist oder nicht. So erscheint es sinnvoll, eine Standortbestimmung der modernen Wissenschaft zu skizzieren. Dabei wird streng unterschieden werden müssen zwischen dem, was diese modernen Wissenschaft ist und dem Bild, das sie sich von sich selbst macht. Dieses Bild ist jedenfalls durch die Tendenz gekennzeichnet, den traditionellen Wissenschaftsbegriff zu konservieren, so weit dies eben möglich ist. Das Bestreben, zwischen den reinen Wissenschaften einerseits und deren Anwendung andererseits zu unterscheiden — von ihm war oben schon die Rede — ist eine Erscheinungsform jener Tendenz. Nun sind Selbstdeutungen, wie auch hier, oftmals Selbst-täuschungen. Doch bei einer solchen Auskunft kann man sich dann nicht beunruhigen, wenn die Selbsttäuschung eine bestimmte Funktion erfüllt, ja vielleicht sogar notwendig ist. Trotzdem wird man die moderne Wissenschaft nicht in schematischer Antithese zum traditionellen Wissenschaftsideal interpretieren dürfen. Treten neue Möglichkeiten in der Geschichte auf, so verhüllen sie sich gerne in die Gestalt einer Antithese. In Wahrheit pflegt aber gerade bei den produktiven neuen Möglichkeiten schon die Ebene verlassen zu sein, auf der man sich mit bloß antithetischen Lösungen zufrieden gibt. Die Alternative ist dann als solche fragwürdig geworden.

Wenn wir mit den simpelsten Tatsachen beginnen, so müssen wir zunächst feststellen, daß der Wissenschaftler — und das gilt in unserer Zeit besonderns für den Forschenden — als solcher einen sozialen Ort hat. Wer Wissenschaft treibt, tut dies in den allerseltensten Fällen noch ausschließlich aus reinem Privatinteresse. Die Wissenschaft ist vielmehr in die Bedürfnisstruktur der Gesellschaft in einer solchen Weise verflochten, daß sie zu einer der Existenzbedingungen dieser Gesellschaft geworden ist. Das bedeutet nun, daß die Gesellschaft den Wissenschaftler in ihren Dienst stellt. Es muß zu denken geben, daß heute allenthalben die wissenschaftliche Tätigkeit denen, die ihr nachgehen, zugleich auch ihre ökonomische Basis liefert! die wenigen Ausnahmen fallen der Sache nach nicht ins Gewicht. Dies bedeutet natürlich nicht, daß die Sicherung der ökonomischen Basis für den Wissenschaftler der bewußt intendierte Zweck seiner Tätigkeit wäre, wohl aber bedeutet es, daß es sich hier um eine conditio sine qua non für die Existenz der Wissenschaft in der Gesellschaft handelt. Fast nur der ist noch fähig, für die Wissenschaft zu leben, der es fertig-bringt, auch von ihr zu leben. Er kann nur noch das Maß an Freiheit in Anspruch nehmen, das man ihm zugesteht.

Die wissenschaftliche Erkenntnis mag für den einzelnen Forscher immer noch ein Stück jener Kontemplation sein, die ihren Zweck allein in sich selbst trägt. Für die Gesellschaft hingegen ist wissenschaftliche Erkenntnis zur Ware geworden, die ihren Marktwert hat, der, wie es bei allen anderen Waren der Fall ist, Konjunkturschwankungen unterliegt. Es ist zu fragen, ob Wissen und theoretische Einsicht, wenn sie erst einmal Warencharakter angenommen haben, noch dasselbe sind, was sie zuvor waren, oder ob sie sich durch die Einbeziehung in die Warenwelt vielleicht doch nicht nur äußerlich, sondern im Kern gewandelt haben. Das bedeutet jedoch: die Tätigkeit des Wissenschaftlers ist nicht mehr in der Weise von allen anderen menschlichen Verhaltensweisen unterschieden, wie das unter der Voraussetzung des klassischen Wissenschaftsideals angenommen worden war. Es bleibt jedem Forscher unbenommen, seine Arbeit so durchzuführen, als ob die Wissenschaft immer noch keinen Stellenwert im Zweckzusammenhang der modernen Arbeitswelt hätte. Doch die Gesellschaft kümmert sich um ein solches „Als ob'recht wenig. Von ihr aus gesehen unterscheidet sich die wissenschaftliche Arbeit prinzipiell recht wenig von irgendeiner anderen Arbeit. Daher hat nun die Arbeit des Wissenschaftlers bereits unmittelbar praktische Folgen, die ethisch nicht grundsätzlich anders zu beurteilen sind als die Folgen irgendeiner anderen menschlichen Handlung. Ob der einzelne Wissenschaftler diesen Zusammenhang sieht oder nicht ist um so weniger von Bedeutung, als die Gesellschaft von den Ergebnissen der Forschung ohne Rücksicht auf das Selbstverständnis der Forscher Gebrauch macht.

Die moderne Wissenschaft ist also nicht nur Betrachtung einer vorgegebenen Welt, sondern hat selbst auch weltgestaltende Funktionen. Sie kann ihre Objekte nicht erkennen, ohne sie zugleich zu verändern. Das hat sich besonders nachdrücklich in der Physik und in den Sozialwissenschaften gezeigt — jedoch nicht nur dort. Es kommt für unsere Frage nicht so sehr darauf an, ob diese Veränderung von der Art ist, daß man sie einkalkulieren und dann vom Resultat gleichsam wieder abziehen kann. So sehr diese Frage für eine philosophische Wissenschaftstheorie von Bedeutung ist — hier geht es nicht darum, ob die Wissenschaft notwendigerweise weltgestaltende Wirkung hat, sondern nur darum, daß sie die Möglichkeit dazu hat und von dieser Möglichkeit einen immer extensiveren Gebrauch macht. So steht der Wissenschaftler im Funktionszusammenhang der Gesellschaft, und er kann aus diesem Funktionszusammenhang nicht heraustreten, ohne zugleich die Bedingungen der Möglichkeit seiner Existenz als Wissenschaftler preiszugeben. Dies bedeutet: der Wissenschaftler hat nicht mehr in jeder Hinsicht die Distanz zur zu erforschenden Welt, wie sie vom traditionellen Wissenschaftsideal gefordert wird. Nun war bereits davon die Rede, daß man mit der beliebten Unterscheidung von reiner Wissenschaft und Anwendung der Wissenschaft die hier entstehenden Schwierigkeiten zu umgehen sucht. Doch eine solche Trennung ist eine Fiktion, wenn sie mehr ausdrücken will als eine bestimmte, aus praktischen Gründen zweckmäßige Aufgabenteilung. Man darf natürlich mit Fiktionen arbeiten, aber man sollte dann auch wissen, was man tut. In Wirklichkeit steht, wer reine Wissenschaft treibt, genau so sehr im gesellschaftlichen Funktionszusammenhang wie jeder, der die Ergebnisse nur anwendet. Er steht nur bisweilen an einer anderen Stelle. Jene Unterscheidung wird aber zur Ideologie, wenn sie dazu dienen soll, Verantwortung abzuschieben. In diesem Sinne war in unserer Diskussion schon vom Funktionär die Rede, der für die Anwendung der Forschungsergebnisse in der politischen Welt und in der Arbeitswelt verantwortlich sein soll. So einfach geht das nicht Der Funktionär Ist Ja nie anwesend, wenn über ihn verhandelt wird. Er wird nicht zur Diskussion zugelassen.

Niemand wird in seinem jeweiligen Gegenüber einen Funktionär sehen wollen; wer möchte schon selbst gerne Funktionär sein? So gesehen ist der Funktionär eine anonyme Macht, die sich der Identifizierung entzieht. Auch die Verantwortung ist damit ins Anonyme abgeschoben, das eigene Selbstbewußtsein wird gestärkt. Die Inkriminierung des anonymen und daher stets abwesenden Funktionärs ist, so gesehen, das Ergebnis einer Verdrängung, die es dem Wissenschaftler verwehrt, seinen eigenen Standort richtig zu bestimmen. Wenn wir es schon nicht unterlassen können, mit der Konstruktion des Funktionärs zu arbeiten, dann sollten wir wenigstens so konsequent sein und uns selbst als Wissenschaftler in jenen Kreis der Funktionäre einbeziehen. Denn alles das, was wir dem anonymen Funktionär vorwerfen, hätten wir auch uns selbst vorzuwerfen, wenn es uns gelänge, uns von unseren Selbsttäuschungen zu befreien. Wir haben niemals, auch nicht in der wissenschaftlichen Arbeit, jenen Abstand von den Dingen, der es uns gestatten würde, uns hier als gleichsam unbeteiligte Zuschauer zu verhalten. Es wird noch zu zeigen sein, daß der traditionelle Wissenschaftsbegriff in der heutigen Ausformung nicht nur geeignet ist, diesen Sachverhalt zu verschleiern, sondern daß sich sogar Bedingungen angeben lassen, unter denen selbst ein Interesse an einer solchen Verschleierung besteht.

Die Formen, die die Einbeziehung der Wissenschaft in das System der gesellschaftlichen Bedürfnisbefriedigung annimmt, sind schon in vielfältiger Weise untersucht worden. Die Wissenschaft ist nicht nur ein unerläßliches Hilfsmittel zur Rationalisierung des gesellschaftlichen Lebens, auch sie selbst kann sich dem Zwang zur Rationalisierung immer weniger entziehen. Mit ihrer Hilfe wird geplant, aber auch sie selbst kann wiederum Objekt der Planung sein. Doch wer plant in diesem Fall? Jeder weiß, daß die Planung in den Bereichen von Wissenschaft und bei uns Bildungswesen noch in den allerersten Anfängen steht.

Trotz allem kann man nicht behaupten wollen, daß es noch eine ernst zu nehmende Möglichkeit gäbe, der in großem Maßstab konzipierten Wissenschaftsplanung zu entrinnen. Wer sich überhaupt auf die Bedingungen der modernen Welt einläßt, hat sich bereits den Gesetzlichkeiten von Planung, Verwaltung und Organisation verschrieben. Wer in diesem Funktionsgefüge Freiheit verwirklichen will, verwechselt diese nur zu leicht mit Planlosigkeit. Die Schicksalsfrage unserer heutigen Wissenschaft ist längst nicht mehr die, ob wir überhaupt planen müssen — denn das steht fest —, sondern nur noch, ob wir gut oder schlecht planen. Planung und Organisation von wissenschaftlicher Arbeit ist eine Tätigkeit, die gegenüber der eigentlich wissenschaftlichen Arbeit nicht nur Hilfsfunktionen zu erfüllen hat; sie erweist sich mit wachsender Größe der Projekte immer mehr als der eigentliche Kern der wissenschaftlichen Arbeit. Mit wachsender Größe der Projekte können die Fragen der Finanzierung und der Rechtsform, in der Forschungsinstitute betrieben werden, immer mehr gegenüber der im traditionellen Sinn wissenschaftlichen Problematik in den Vordergrund rücken. Was zum Gegenstand wissenschaftlicher Erforschung gemacht wird, bestimmt sich dann immer mehr nach wirtschaftlichen, politischen oder militärischen Gesichtspunkten. Die Fragestellung ist dann bereits vorgegeben, und der Wissenschaftler hat nur noch die Lösungsmethode zu suchen und das Ergebnis abzuliefern — je nach den Umständen dem Auftraggeber oder der Öffentlichkeit. Schon die Wissenschaft als solche schließlich gehört in den Funktionszusammenhang der arbeitsteiligen Gesellschaft; es ist nur zu deutlich, daß auch sie selbst sich nach dem Gesetz der Arbeitsteilung organisiert. Die Spezialisierung, von einer sentimentalen Kulturkritik oft beklagt, ist unvermeidlich. Ihr Korrelat ist nicht eine mehr oder weniger verschwommene Vorstellung von allgemeiner Bildung, sondern vielmehr das Prinzip der Kooperation und der Teamarbeit. Die betriebsmäßige Organisation der Wissenschaft wird zu einer Notwendigkeit — gleichwohl befinden wir uns im Hinblick auf diese Dinge immer noch im Versuchsstadium; denn die artspezifischen Probleme der Forschungsplanung gestatten es nicht, ohne Schaden anzurichten, andere Betriebsformen schematisch zu übernehmen.

Wenn man die Wissenschaft unter diesem Aspekt betrachtet, hat man das Leitbild des traditionellen Wissenschaftsbegriffs schon verabschiedet. Wie kommt es aber, daß auch heute dieser Begriff seine Bedeutung keineswegs verloren hat, daß die meisten Wissenschaftler in seinem Kern einen angemessenen Ausdruck ihrer eigenen Tätigkeit sehen? Bedeutet dies, daß der klassische Wissenschaftsbegriff nur hinsichtlich peripherer Merkmale abgeändert werden muß, oder aber, daß der Wissenschaftler in einer Selbsttäuschung befangen ist, wenn er auch unter den gegenwärtigen Bedingungen noch an seine Anwendbarkeit glaubt? Ich vermute, daß es sich um eine Selbsttäuschung handelt, eine solche freilich, die nicht zufällig ist, sondern sich wegen der Struktur des Sachverhaltes nahelegt. Selbst-täuschungen dieser Art, die eine bestimmte Sinnfunktion erfüllen, kann man auch Ideologien nennen. Unsere Frage ist also: Ist der klassische Wissenschaftsbegriff heute zu einer Ideologie geworden?

Man wird sich, wenn man diese Frage beantworten will, am besten auf einen Teilaspekt konzentrieren. Ich denke dabei an die Freiheit der Wissenschaft, eine Freiheit, die von ihr immer mit Nachdruck gefordert worden ist und noch wird, und die ihr heute mehr oder weniger gutwillig gewährt wird. Der Freiheitsbegriff ist aufs engste mit dem traditionellen Wissenschaftsideal verbunden: wissenschaftliche Wahrheit, die Richtigkeit der Ergebnisse und die Angemessenheit der Methoden sind letztlich von jeder autoritativen Entscheidung unabhängig; denn die theoretische Haltung ist überhaupt, wie wir gesehen hatten, nach dieser Auffassung insofern frei, als der Mensch in ihr — und nur in ihr — dem Zweckzusammenhang des praktischen Lebens enthoben ist. Die schon eingangs besprochene Auffassung, daß der Wissenschaftler als solcher auch von der Verantwortung für die Folgen seines Tuns frei sei, ist nur eine Konsequenz aus jenen Voraussetzungen. Was ist aber heute gemeint, wenn jene Freiheit der Wissenschaft, die bei uns verfassungsmäßig garantiert ist, diskutiert wird?

Man wird zuerst noch an die Freiheit in der Auswahl der Fragestellung und in der Anwendung der Methoden denken, außerdem an jene Freiheit, die sich darin zeigt, daß das Ergebnis einer wissenschaftlichen Untersuchung nicht durch ein Machtwort von außen festgesetzt werden kann; schließlich wird man noch an die vielberedete Zweckfreiheit der Wissenschaft denken, die sich darin zeigen soll, daß wissenschaftliche Einsicht von sich aus keine weiteren Ziele zu verfolgen hat, sondern ihren Sinn in sich selbst findet. Es ist nicht schwer zu sehen, daß sich die so verstandene Freiheit heute immer mehr Abstriche gefallen lassen muß. Was zum Gegenstand des Forschens gemacht wird, bestimmt sich immer weniger nach den Wünschen des Forschers und immer mehr nach politischen, militärischen und wirtschaftlichen Bedürfnissen. Ob ein Forschungsprojekt durchgeführt werden kann, hängt davon ab, ob Stellen und Sachmittel für seine Durchführung zur Verfügung gestellt werden. Die Entscheidung hierüber trifft bekanntlich nicht der Forscher selbst. Die Zweckfreiheit der Wissenschaft wird zwar nicht offiziell angetastet, wohl aber inoffiziell unterwandert, dadurch nämlich, daß der Zweck bereits mit in die Fragestellung ausgenommen wird. Das wissenschaftliche Problem wird damit zugleich zu einem technischen Problem: man will ein bestimmtes Ergebnis erzielen und sucht nur noch nach dem Weg, der zu diesem Ziel führt. Die Zweckfreiheit wird in diesem Fall nur notdürftig gerettet, wenn man sich darauf versteift, das eigentliche Forschungsergebnis sei in der Entwicklung jenes Verfahrens zu sehen. Mit Argumentationen von dieser Struktur freilich kann man prinzipielle Zweckfreiheit fast überall in der Wissenschaft nachweisen, wenn man nur konsequent genug ist. Wenn man schließlich die institutmäßig und kooperativ betriebene Forschung betrachtet, so wird die Rezession der Freiheit noch offenkundiger. Auch hier bleibt zwar noch Freiheit übrig, jedoch nicht für alle, sondern im besten Fall für die Institutsdirektoren. Die Klagen über die hierarchische Struktur der wissenschaftlichen Institute mögen einem in manchen Fällen verstehbaren Ressentiment entspringen. Doch es dürfte als sicher gelten, daß der mit dem traditionellen Wissenschaftsideal verbundene Freiheitsbegriff notwendig eine Modifikation erfahren muß, sobald die Wissenschaft einen Status erreicht, in dem Kooperation unumgänglich wird und der Forscher Hilfskräfte in seinen Dienst stellen muß, an deren Qualifikation sich ständig steigernde Anforderungen gestellt werden. Der Wissenschaftler im Status des Mitarbeiters bekommt von der Freiheit der Wissenschaft in der Regel nicht mehr viel zu spüren. Die Versuche, die Freiheit durch prinzipielle Lockerung des Kooperationsgefüges zu erweitern, sind gut gemeint, aber nutzlos. Der Mitarbeiter hat dabei nichts zu gewinnen, die Wissenschaft aber sehr viel zu verlieren; denn man kann die Organisationsstruktur der modernen Forschung schon dadurch aufheben, daß man zu der Scheinlösung greift, eine depotenzierte Organisation zu etablieren. Man kann natürlich den rationalisierten Wissenschaftsbetrieb als solchen kompromißlos ablehnen. Eine solche Haltung ist wenigstens ehrlich. Aber man sollte in diesem Fall dann auch wissen, was man tut, und man sollte die Konsequenzen seiner Haltung bejahen können. Es ist ein ähnlicher Fall wie bei dem durch die sogenannte Kulturkritik fast schon zerredeten Problem der Technik: man kann sein etwaiges Unbehagen an der Technik zwar dadurch überspielen, daß man Dinge vorschlägt, die am Ende nur auf eine schlecht und im Grunde untechnisch konstruierte Technik hinauslaufen. Die Sache selbst hat man damit jedoch verfehlt, und man darf keine Hoffnung haben, gute Technik durch schlechte Technik überwinden zu können. Immerhin bleiben auch in der rationalisierten und spezialisierten Wissenschaft noch Residuen der Freiheit zurück. Fragestellung, Hilfsmittel und Endzweck können vorgegeben sein, und doch wird es einen Bereich geben müssen, der nicht durch äußere Bestimmungen festgelegt ist. Sonst wäre ja auch die produktive Arbeit des Wissenschaftlers von vornherein ganz überflüssig. Könnte man die Lösung eines Problems auf andere Weise erhalten, wäre es nicht notwendig, die Wissenschaft in seinen Dienst zu stellen. Insofern gibt es in jeder wissenschaftlichen — wie übrigens auch in jeder anderen Art von produktiver Arbeit — einen Freiheitsspielraum, der nicht mehr von außen eingeengt werden kann. Das muß auch in jedem künftig auszuarbeitenden Wissenschaftsbegriff berücksichtigt werden. Doch kann sich das Selbstbewußtsein des heutigen Forschers noch auf diesen Freiheitsspielraum stützen? Wohl schwerlich, denn hier handelt es sich um jenen Rest von Freiheit, den jede vernünftige Planung schon um ihrer eigenen Effektivität willen gerne in Rechnung stellen wird. Eine vernünftige Planung wird sogar bereit sein, diesen Spielraum auch über das unbedingt nötige Maß hinaus zu erweitern; sie wird die Möglichkeit geben, Fragestellungen zu verfolgen, die keine unmittelbare soziale Bedeutung haben; sie wird sogar ganze Disziplinen unterhalten, die für den Augenblick wirklich nur um ihrer selbst willen betrieben werden. Doch das geschieht dann nur deswegen, weil die Erfahrung zeigt, daß sich ein kurzsichtiges Beharren auf der Zweckmäßigkeit am Ende selbst als unzweckmäßig erweist. Die Freiheit in dieser Gestalt scheint mir wenig gefährdet zu sein. Doch man muß dann auch sehen, daß der Forscher diese zuletzt aufgewiesene Gestalt der Freiheit nicht mehr kraft eigenen Rechtes besitzt; daß ferner oft die Zwecke, die mit der Wissenschaft erreicht werden sollen, am besten erreicht werden, wenn die Wissenschaft so betrieben wird, als ob sie zweckfrei wäre. Das ist der Grund dafür, daß der traditionelle Wissenschaftsbegriff mit dem ihm eigenen Freiheitsideal heute noch bedeutsam ist, wenngleich meist nur noch in ideologischer Funktion.

Die Freiheit der Wissenschaft ist unter den Bedingungen von Spezialisierung und Arbeitsteilung nur noch als geplante Freiheit möglich. Doch die geplante Freiheit gehört zu unserem Schicksal, für das es wenig von Belang ist, ob man die Planung um der Freiheit willen oder die Freiheit um der Planung willen akzeptiert.

Der Positivismus ist die Form, in der das klassische Wissenschaftsideal heute noch am lebendigsten ist. Man ist zwar gewöhnt, daß ihm destruktive Tendenzen unterschoben werden — wenigstens bei uns, wo man nicht leicht Bekenntnisse zum Positivismus finden wird. Der Positivist steht im Geruch, die „höchsten Werte" zu leugnen. Doch man sollte nicht so kurzsichtig sein zu übersehen, daß der Positivismus die Strukturen der Wissenschaft, mit der er sich beschäftigt, in angemessenerer Weise auf Begriffe bringt als irgendeine andere Wissenschaftstheorie. Man sollte den Positivismus nicht für das verantwortlich machen, was einem an der heutigen Wissenschaft mißfällt.

Eine der Tendenzen des Positivismus in allen seinen Spielarten ist die Reduktion der gesamten Wissenschaft auf die Residuen, in denen der klassische Wissenschaftsbegriff noch nicht prinzipiell unanwendbar geworden ist. Er sieht von allem ab, was sich so nicht reduzieren läßt, nicht in der Weise, daß er es für inexistent erklären würde, wohl aber so, daß er es als für die wissenschaftliche Wahrheit irrelevant stehenläßt. Es ist kein Zufall, daß die positivistische Wissenschaftstheorie, sobald es um das Problem der Anwendung und der Praxis geht, zu Unterscheidungen greifen kann, wie sie in der deutschen Tradition vor allem durch die Wissenschaftslehre Max Webers in die Diskussion gelangt sind. Die traditionelle Relation von Theorie und Praxis erscheint radikalisiert in der Gestalt der Unterscheidung von Analyse und Dezision. Die Wissenschaft hat Funktionszusammenhänge herauszuarbeiten, bei Projektwissenschaften auch in der Form von Alternativen. Was nicht mehr auf diese Weise behandelt werden kann, wird an außer-wissenschaftliche Instanzen abgeschoben. Besonders deutlich zeigt sich dies auf zwei zueinander konträren Gebieten, der axiomatischen Wissenschaft und der Zweckforschung. Beide haben es mit Funktionszusammenhängen zu tun und gehen von Voraussetzungen aus, die sie nicht mehr zum Gegenstand der Analyse machen. Ziele sind in einem konkreten Projekt ebenso vorausgesetzt wie Axiome in einer formalen Disziplin. Beides ist nicht analysierbar, noch viel weniger evident, sondern es wird darüber entschieden bzw. ist schon entschieden.

Natürlich braucht es sich in beiden Fällen nicht um Entscheidungen im ethischen Sinn zu handeln. Worauf es ankommt ist nur, daß der Bereich der Analyse jedenfalls ein Bereich der Freiheit von Entscheidung und damit der Freiheit von Verantwortung bleibt. Wenn Entscheidung und Theorie indes so auseinander-treten, stellt sich die Frage nach Wissenschaft und Ethik unter den Voraussetzungen des Positivismus im Sinne einer Alternative dar. Der Bereich der Theorie, so sehr er sich auch inhaltlich verengt haben mag, bleibt der Intention nach ein Bereich, der der Praxis nicht eingegliedert wird; ethische Fragen ergeben sich nicht. Das kontemplative Wissenschaftsideal bleibt erhalten, wenn es auch der Tendenz nach auf einen Mikrobereich eingeschränkt wird. Es ist verständlich, daß Wissenschaftstheorien von diesem Typus bei der Mehrzahl der heutigen Wissenschaftler sehr beliebt sind, gestatten sie es ihnen doch, ein liebgewordenes klassisches Ideal in die Gegenwart herüberzuretten. Auch wenn die Frage von Wissenschaft und Ethik gestellt wird, findet sie ihre Antwort doch zumeist unter Anerkennung dieser Voraussetzungen. Sie erscheint daher allzu leicht als das Problem einer Personalunion oder aber einer funktionellen Aufgabenteilung. Wissenschaft als sozial relevantes Verhalten kommt in diesem Schema nicht vor, sie wird in dieser Hinsicht völlig verdeckt, wenn das Schema ideologische Funktionen übernimmt.

Wie hätte nun aber eine Wissenschaftstheorie auszusehen, die der Realität der gegenwärtigen Wissenschaft gerecht wird? Man kann sie nicht einfach in der Art entwerfen, in der man eine wissenschaftliche Theorie entwirft. Schwierigkeiten ergeben sich vor allem auch deshalb, weil es hier nötig sein wird — wie in allen Grundlagenfragen —, neue Inhalte mit antiquierten Mitteln auszudrücken. So ist es nicht so schwer zu sehen, daß die alte Theorie-Praxis-Alternative nicht mehr auf die Wissenschaft unter den Bedingungen der industriellen Gesellschaft paßt. Gleichwohl kann man sich vorerst nur mit Hilfe der mit jener Alternative verbundenen Begrifflichkeit verständlich machen. Wie die Geschichte des Denkens zeigt, zieht sich die Anpassung der Grundbegriffe an die jeweilige Wirklichkeit immer über längere Zeiträume hin und ist mit einer außerordentlichen Anstrengung des Reflexionsvermögens verbunden. Es ist nicht anzunehmen, daß es in diesem Fall einfacher sein wird. Man wird also auf die alten Begriffe nicht verzichten können, aber man wird sie ständig korrekturfähig halten müssen. Kann man nicht mehr von der exzeptionellen Stellung des theoretischen Verhaltens ausgehen, so bedeutet das auf der anderen Seite noch lange nicht, daß die Wissenschaft deswegen in einer zu keiner Distanz mehr fähigen, praktischen Geschäftigkeit aufgehen müßte. Vor allem aber gilt, daß eine neue Wissenschaftstheorie auch prüfen müßte, in welchem Sinn sie selbst noch den Anspruch, „Theorie“ zu sein, aufrechterhalten kann, wenn es ihr der Sache nach doch gerade um eine Überwindung der klassischen Alternative von Theorie und Praxis geht.

Wir hatten bereits von dem Wirklichkeitsbegriff gesprochen, der dem alten Theorie-ideal entspricht. In ähnlicher Weise kann man nun die Frage aufwerfen, von welchem Wirklichkeitsbegriff man auszugehen hat, wenn man der modernen Wissenschaft gerecht werden will. Oft versucht man ja, die Kategorien der traditionellen Metaphysik mit nur geringfügigen Modifikationen auf die Wirklichkeit anzuwenden, in der der moderne Mensch lebt. Einen wirklich überzeugenden Erfolg hat man damit bis jetzt allerdings noch nicht gehabt. Das mag damit Zusammenhängen, daß die Erfahrungsgrundlage, auf der die traditionelle Metaphysik beruhte, der Struktur nach völlig anders war als der Erfahrungsbereich, in dem der für die Gegenwart typische Mensch lebt. Der traditionelle Erfahrungsbereich war eingebettet in eine Natur, in der es auch Dinge gab, die der Mensch in seinen Dienst stellen konnte, sowie Dinge, die seine Existenz oft genug bedrohen konnten. Auf jeden Fall handelt es sich aber um Dinge, die vom Menschen nicht hervorgebracht worden sind und in ihrer Existenz nicht auf ihn angewiesen, sondern auch in dieser Hinsicht selbständig sind. In dieser Welt gibt es dann auch Artefakte; sie sind zwar vom Menschen hergestellt, nehmen aber gegenüber den vom Menschen unabhängigen Dingen nur eine zweitrangige Stellung ein. Das Wirklichkeitsverständnis orientiert sich primär jedenfalls nicht an ihnen. Diese Welt ist von der Art, daß der Mensch sich ihr gegenüber zwar freilich nicht distanzieren muß, wohl aber distanzieren kann. Es ist eine Welt, die aus untereinander auf vielfache Weise verknüpften Dingen besteht, eine Welt, die aber trotz allem prinzipiell objektivierbar und überschaubar ist.

Man kann die Struktur dessen, was man die moderne Welt nennt, nicht einfach dadurch beschreiben, daß man einige fundamentale Auffassungen der traditionellen Metaphysik nur negiert. Die natürliche Welt hat nicht aufgehört zu existieren, aber sie hat für den Erfahrungsbereich des Menschen der industriellen Gesellschaft einen ganz anderen Stellenwert als vordem. Die Natur und die natürlichen Dinge sind hier immer mehr nur noch Grenzphänomene, durch welche Ausnahmesituationen angezeigt werden. Für die Dinge, mit denen man alltäglich zu tun und zu rechnen hat, ist aber der natürliche Hintergrund wenig mehr von Belang. Freilich sind die Dinge, mit denen man alltäglich zu tun hat, auch nicht einfach als Artefakte zu bezeichnen. Sie sind möglicherweise überhaupt nicht Dinge in dem Sinn, in dem die traditionelle Auffassung von natürlichen Dingen und von künstlich hergestellten Dingen sprechen konnte. Es handelt sich vielmehr zumeist um Dinge, die in erster Linie durch einen ihnen zukommenden gesellschaftlichen Funktionswert definiert werden müssen. Was sie außerhalb dieses gesellschaftlichen Funktionswertes sind, steht für den, der mit ihnen zu tun hat, gar nicht im Blick und ist im Grunde genommen gleichgültig. Es gibt in der Umwelt des modernen Menschen fast keine im vollen Sinne des Wortes selbständigen Dinge mehr; fast alle bedürfen sie vielmehr des Menschen, fast alle sind sie vom Menschen hergestellt. So sind die Dinge hier zumeist nur noch Knotenpunkte in sozialen Funktionszusammenhängen. Sogar der Mensch selbst geht immer mehr in ähnlicher Weise in diese Funktionszusammenhänge ein. Die heute bei uns besonders starke Betonung der Privatsphäre ist kein Gegenargument, sondern eher, da es sich um eine bloße Reaktionserscheinung handelt, eine Bestätigung. Auf jeden Fall wird man nicht abstreiten können, daß der Unterschied zwischen der Verwaltung von Sachen und der Herrschaft über Menschen immer mehr zusammenschrumpft.

Es ist einsichtig, daß der Mensch dieser auf ihn hingeordneten Welt nicht mehr in distanzierter Haltung gegenübertreten kann. Denn diese Welt gäbe es ohne den Menschen gar nicht. Andererseits ist diese Welt allein deswegen, weil sie vom Menschen hergestellt ist, für ihn noch nicht durchsichtig. Im Gegenteil: sie ist für ihn noch weit undurchsichtiger, als es für einen früheren Menschen die natürliche Umwelt gewesen sein mochte. Obwohl der Mensch wissen kann, daß die moderne Welt von ihm und für ihn hergestellt wurde, erfährt er sie doch nicht als solche. Das ist ein Grund dafür, warum man so leicht versücht ist, auch hier die Denkformen und das Selbstverständnis der Tradition anzuwenden. In Wahrheit liegt aber hier ein Sachverhalt vor, dessen Struktur man heute gerne mit dem Wort „Entfremdung“ bezeichnet: die ursprünglich überschaubaren Produkte menschlicher Tätigkeit machen sich selbständig und entfalten ihre Herrschaft auch über den ihrer nicht mehr mächtigen Menschen. Dieser hat es mit seinen eigenen Produkten zu tun, ohne daß er noch die Verfügungsgewalt über sie hätte. Das Weltverhältnis des modernen Menschen ist von dieser Entfremdungsstruktur geprägt. Sozialutopien glauben Bedingungen angeben zu können, unter denen die Entfremdung überwindbar sei. Nichts spricht gegen die Annahme, daß es sich dabei nur um eine im Grunde retrospektiv ausgerichtete Wunschvorstellung handelt. Die Frage geht heute nicht mehr nach der Möglichkeit, die Entfremdung zu überwinden, sondern danach, wie es möglich ist, mit der Entfremdung zu leben und sich unter ihren Bedingungen einzurichten.

Es wird einleuchten, daß sich unter diesen Umständen auch die ethische Frage in anderer Weise stellt. Die traditionellen ethischen Begriffe, wie die der Entscheidung, der Verantwortung, der Gesinnung und des Gewissens, bedeuten Verschiedenes, je nachdem, ob man es mit noch überschaubaren oder aber mit prinzipiell für den einzelnen undurchschaubaren Bereichen zu tun hat. In ähnlicher Weise, wie sich die Struktur der Umwelt geändert hat, haben sich auch die Voraussetzungen gewandelt, unter denen der Mensch in seiner Welt Verantwortung übernehmen kann. Arnold Gehlen hat in diesem Zusammenhang geradezu sogar einmal von dem Gegensatz der traditionellen . Agrarmoral" zu einer künftigen „Industriemoral" gesprochen. Seine Unterscheidung geht von der Voraussetzung aus, daß die Geschichte des Menschen nur zwei wirkliche Revolutionen kennt, in denen ausnahmslos alle Lebensbereiche umstrukturiert worden sind oder noch werden: einmal der Übergang zur Seßhaftigkeit und die damit verbundene Entstehung der Agrargesellschaft, zum anderen der moderne Übergang von der Agrarkultur zur Industriekultur. Man kann darüber streiten, ob die Begrifflichkeit von Agrarmoral und Industriemoral besonders glücklich gewählt ist. Dennoch dürfte als sicher gelten, daß sich die Struktur des menschlichen Wollens und Handelns ebenso wandelt wie die Struktur jener Lebenswelt, auf die alles Wollen und Handeln bezogen ist.

Die überkommenen ethischen Theorien sind nicht in der Lage, Normen für ein Handeln in einem prinzipiell unübersehbaren Bereich anzubieten, es sei denn, sie fliehen in pseudotheologische Formeln. So liegt der Rückzug auf den Bereich des Privaten, des guten Gewissens oder der Entscheidung nur zu nahe. Man ist jedoch der Verantwortung für das Unüberschaubare nicht schon dadurch enthoben, daß man sich aut das überschaubare und Private zurückzieht. Es liegt eine seltsame Ironie darin, daß Entscheidungsethiken um so mehr Widerhall finden, je weniger der einzelne überhaupt noch zu entscheiden hat. Für die Frage nach der Verantwortung des Wissenschaftlers springt dabei sehr wenig heraus. Selbst wenn man einmal damit ernst macht, daß die Tätigkeit des Wissenschaftlers nicht mehr dem gesellschaftlichen Zweckzusammenhang enthoben ist — vor Entscheidungen steht er nur noch selten, zumal er vielleicht noch weniger als ein anderer die Konsequenzen seines Handelns übersehen kann. Gerade bei wissenschaftlichen Entdeckungen läßt sich die Tragweite am allerwenigsten abschätzen: Der Spezialist hat es zumeist mit Sachverhalten zu tun, deren soziale Relevanz nicht unmittelbar vor Augen liegen kann, ja in vielen Fällen scheinbar gar nicht vorhanden ist. Wenn man daher auch anerkennt, daß die moderne Wissenschaft ihrem Objekt gegenüber nicht mehr in der Distanz steht, die für die Wissenschaft nach ihrer klassischen Deutung wesens-notwendig ist, so ist damit allein das Problem der Verantwortung des Wissenschaftlers noch lange nicht gelöst: Es sind dieselben Tatsachen und Strukturen, auf Grund derer die Wissenschaft unmittelbar soziale Relevanz erhält und auf Grund derer Voraussetzungen der traditionellen Individualethik unanwendbar geworden sind. Die traditionelle Unterscheidung von Theorie und Praxis ist nicht nur deswegen revisionsbedürftig geworden, weil die Theorie selbst unmittelbar praktische Bedeutung erhalten hätte, sondern auch deswegen, weil die Praxis in der industriellen Gesellschaft von ganz anderer Struktur ist als zuvor. Daher hat es auch wenig Sinn, wie es vorgeschlagen worden ist, dem Wissenschaftler ein Gelöbnis von der Art des hippokratischen Eides abzuverlangen, und zwar hat dies einfach deswegen keinen Sinn, weil das Unheil, das man so verhüten will, nicht verhütet werden kann, wenn sich der einzelne zur Verantwortung für das bekennt, was in seiner Macht steht. Reinheit des individuellen Gewissens und Entschiedenheit der individuellen Verantwortung reichen hier nicht aus. Was bleibt dann aber noch für ein Ausweg, wenn man die Dinge nicht sich selbst überlassen will? Man wird sich mit dem Gedanken vertraut machen müssen, daß sich in einer universal planenden und geplanten Welt auch die Verantwortung auf deren Bedingungen einstellen muß, wenn sie kein Fossil werden soll. Virulente Verantwortung ist, wenn überhaupt, nur noch als geplante Verantwortung möglich. Planung und Verantwortung scheinen für uns zunächst ja im Verhältnis sich ausschließender Gegensätze zu stehen. Doch die Auflösung säkularer Probleme ist oft nur dadurch möglich, daß es gelingt, einen Gesichtspunkt zu finden, unter dem bisher Gegensätzliches in einer umfassenderen Einheit gesehen werden kann. Planung der Verantwortung und Verantwortlichkeit der Planung stehen in einem komplementären Verhältnis zueinander. Man kann offenbar immer nur eine Seite akzentuieren, aber man sollte dann auch sehen, daß es sich wirklich nur um eine Seite handelt.

Man kann von der Bedeutung der Wissenschaft für unsere Tradition nicht sprechen, ohne zugleich von ihrer Bildungsfunktion zu sprechen. Wenngleich man auch nie ernstlich geglaubt hatte, daß die theoretische Beschäftigung die einzige legitime Bildungsmacht sei, so kam dem Theoretischen doch sehr oft die zentrale Stellung zu. Auch dort, wo man andere Bildungsideale verfochten hatte, waren diese doch sehr häufig vom Geist der Theorie durchsetzt. Bildung ist nicht wesensgleich mit Wissensvermittlung, aber es gibt schwerlich eine Form von Bildung, die auf Wissensvermittlung ganz verzichten kann. Verhältnismäßig unproblematisch waren die Dinge noch, solange man dem Inhalt des Wissens noch jene Bildungsfunktion zusprechen konnte. Solange jede Wissenschaft noch glaubhaft den Anspruch erheben konnte, mit der Welt im ganzen zu tun zu haben — wenngleich jeweils nur unter einem bestimmten Aspekt —, konnte man glauben, durch die theoretische Beschäftigung jene Distanz von der Wirklichkeit und von der Praxis zu ermöglichen, die sich, wie man glaubte, letztlich doch wieder zum Segen für die Praxis selbst auswirken würde. Die gerade heute noch vielberufene Einheit der Wissenschaften ist, äußerlich verkörpert immer noch in der Universität, das Ideal, das helfen soll, jene Bildungsfunktion der Wissenschaft auch noch im Zeitalter der Spezialisierung zu konservieren. Doch dieser Weg ist nicht mehr gangbar; die Einheit der Wissenschaften ist heute nicht mehr inhaltlich zu realisieren — noch nicht einmal von der Philosophie. Die einzige Form der Einheit der Wissenschaften, die heute noch existent ist, findet man in der bloß administrativen Einheit. Man mag das bedauern oder begrüßen, aber man sollte sich auf keinen Fall bei diesen Dingen einer Selbsttäuschung hingeben. Man ist daher heute viel eher geneigt, den Bildungswert der Wissenschaft weniger in ihren Ergebnissen, sondern primär in der Methode zu suchen. Das Ergebnis ist von hier aus gesehen nicht so wichtig wie der Weg, der zu ihm führt. Das wissenschaftliche Arbeiten als solches ist es, das die traditionelle Bildungsfunktion der Wissenschaft nunmehr übernehmen muß. Diese Auffassung, die heute wohl die herrschende ist, wird auch der Tatsache gerecht, daß das Ergebnis der Detail-forschung für sich genommen keinen theoretischen Wert mehr besitzt, zumal es niemals mehr Selbstzweck ist — es sei denn fiktiv —, sondern seinen Sinn nur noch von seinem Funktionswert im wissenschaftlichen Betrieb her empfängt. Versucht man, das traditionelle Wissenschaftsideal so wenigstens noch von der Methode her zu retten, so wird man allerdings den Bedingungen einer unter dem Gesetz der Arbeitsteilung stehenden Wissenschaft in einer gewissen Hinsicht gerecht. Aber man kann dies nur um den Preis, daß man die sozialen Bezüge der wissenschaftlichen Arbeit bewußt unberücksichtigt läßt. So handelt es sich um einen Reflex jener schon beschriebenen Haltung, die auch im modernen Wissenschaftsbetrieb noch die Residuen zu finden vermag, die es ihr gestatten, wenigstens noch ein Surrogat der reinen Kontemplation zu kultivieren. Die dieser Situation entsprechende Philosophie betreibt entweder Wissenschaftstheorie und Methodenlehre, oder sie versucht, durch den Rückzug aufs vorwissenschaftliche Weltverständnis oder auf das Private einen Bereich zu kultivieren, der ihrer Überzeugung nach den Ansprüchen der Rationalisierung gegenüber ständig resistent bleiben wird. In beiden Fällen handelt es sich aber um eine ihrem Wesen nach defensive Haltung einer Philosophie, die ihren legitimen Anspruch schon an andere Instanzen abgetreten hat.

Welches Bildungsideal ist nun aber der modernen Wissenschaft angemessen? Es hat den Anschein, als käme es vor allem darauf an, ihre soziale Funktion ins Bewußtsein zu heben. In keinem Fall steht der Wissenschaftler mehr der von ihm erforschten Welt gegenüber; er gehört vielmehr immer schon mit zu ihr. Er kann einsehen, daß Theorie in Wirklichkeit nicht ein bloßes Abbild der Welt liefert, sondern das Ergebnis einer Auseinandersetzung mit ihr ist, einer Auseinandersetzung, durch die die Welt ständig neu gestaltet und verändert wird. So kann er auch lernen, Ideologien als solche zu erkennen, und er wird nicht versuchen, sie zu destruieren, wenn ihre Funktion nicht von einer anderen Instanz auf bessere Art wahrgenommen werden kann. Er wird schließlich auch einsehen, daß kontemplative Residuen nur noch als Fiktion vorkommen können, oder so, daß sie eingeplant sind; daß auch die Haltung der Ideologiekritik in Wahrheit kein Residuum der Kontemplation sein kann. Er wird lernen, daß die Möglichkeit, das Ganze zu erfassen, mit der Reflexion auf den eigenen Standort beginnen muß, mit einer Reflexion freilich, die es sich nicht gestattet, diesen Standort auch nur in Gedanken zu verlassen. Er wird endlich auch über das Faktum der Entfremdung ins klare kommen, und er wird sich bemühen, dieses

Faktum zu akzeptieren und unter dieser unaufhebbaren Voraussetzung sein Leben zu gestalten. Wenn es hierfür auch keine Normen gibt und wenn niemand gegenwärtig präzise angeben kann, in welcher Form in der modernen Welt Verantwortung übernommen werden kann, so impliziert der Mangel an konkreten Vorschriften doch noch lange nicht, daß alles, was möglich ist, deswegen schon erlaubt wäre. Er wird auch nicht die Wissenschaft als ein Mittel ansehen, das geeignet wäre, kritische Distanz der Welt gegenüber zu gewinnen, zumal es viel mehr darauf ankommt, eine solche kritische Distanz der Wissenschaft selbst gegenüber einnehmen zu können. Wissenschaftsfeindschaft und Wissenschaftsaberglauben können beide so vermieden werden.

Man kann das hier von der Wissenschaft gezeichnete Bild für deprimierend halten, vor allem dann, wenn man seine Wissenschaft aufrichtigen Herzens noch im Glauben an das klassische Ideal betreibt. Wenn dieses Bild zutreffend ist, wären manche alten und liebgewordenen Vorstellungen als Selbsttäuschung entlarvt. Die Auskunft, daß eine solche Selbsttäuschung, wenn sie schon nicht notwendig ist, so doch ihren bestimmten Sinn hat, ist nicht dazu angetan, das Deprimierende abzumildern, sondern verschärft es eher noch. Jeder Therapie muß indes die Diagnose vorhergehen; man wird sich, wenn man die Entwicklung steuern will, zuerst der realen Bedingungen einer solchen Steuerung versichern müssen. Ein formaler Appell an die Ethik nützt für sich allein gar nichts. Man wird auf diese Weise schwerlich etwas erreichen; für keine Ethik genügt es, daß man sich nur auf sie beruft. Daher stoßen die meisten Resolutionen solcher Art schon wegen des Mangels an Engagement ins Leere; mit Recht nimmt man sie immer nur gerade so ernst, wie sie es verdienen.

Die Reduktion auf die sozialen Bezüge, die in unseren Überlegungen eine solch große Bedeutung erlangt hat, soll natürlich nicht den Sinn haben, die Gesellschaft und die in ihr wirksamen Entwicklungstendenzen zu verabsolutieren. Es geht keineswegs darum, den einzelnen in ein System einzuordnen, das immer weniger ein System direkter Befehle ist und seine Bedeutung im Hinblick auf dieses System zu relativieren. Es geht aber darum klarzumachen, daß der Wissenschaftler in aller Regel in dieses System, ob er will oder nicht, schon eingeordnet ist. Man kann nicht gut die Freiheit in der modernen Welt dadurch zu retten suchen, daß man vor der Realität dieser Welt die Augen schließt. Wenn man die Relevanz der Gesellschaft für die Wissenschaft aufzeigt, so kommt es also nicht darauf an, die Gesellschaft als eine oberste Instanz zu etablieren, sondern nur darum, eine vielfach verbreitete falsche Auffassung davon, was Wissenschaft unter den modernen Bedingungen faktisch ist, zu berichtigen.

Doch das ist ein Problem, das sich auf allen Lebensgebieten, nicht nur in bezug auf die Wissenschaft stellt. Es ist eine letztlich politische Frage, welche Organisationsformen der modernen Welt nun eigentlich angemessen sind. Die Berufung auf Institutionen und Normen hilft wenig; beide können neue Entscheidungen nicht erleichtern, da sie eher dazu angetan sind, die Dinge, über die man nicht mehr entscheiden muß, zu fixieren. Es gibt zwar keine Krise und keine Revolution, in der nicht irgend etwas unangetastet bleibt und die Veränderungen überdauert. Doch weiß man nie im voraus, was im jeweiligen Fall überdauern wird, und so nützt einem dieses formale Wissen im konkreten Fall nur wenig. Doch wenn man in dieser Weise auch in dem Fragenkreis des Zusammenhangs von Wissenschaft und Ethik alles überkommene in Frage stellt, so ist ein solches Unternehmen nicht nur destruktiv. Denn nur auf diese Weise können neue Möglichkeiten eröffnet werden, die weiterhelfen.

Fussnoten

Weitere Inhalte

Wolfgang Wieland, Dr. phil., Professor für Philosophie an der Universität Hamburg, 1963 Ruf als o. Professor für Philosophie nach Marburg; geb. 29. Juni 1933 in Heidenheim/Brenz. Veröffentlichungen bes. zur Philosophie des deutschen Idealismus, zur antiken Philosophie und zur Geschichte der Logik, u. a.: Schellings Lehre von der Zeit, 1956; Die Aristotelische Physik, 1962.