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Rückblick auf eine Ära | APuZ 1/1964 | bpb.de

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APuZ 1/1964 Rückblick auf eine Ära Wissenschaft und Ethik. Der philosophische Aspekt Der naturwissenschaftliche Aspekt

Rückblick auf eine Ära

Burghard Freundenfeld

Es ist immer ein gewagtes Unternehmen, von und innerhalb einer noch andauernden Gegenwart so zu sprechen, als seien bereits ihre Konturen mit der nötigen Deutlichkeit sichtbar geworden. Denn erst aus einer solchen Distanz, die Ursachen und Wirkungen in ihrem historisch-politischen Zusammenhang erkennen läßt, rechtfertigt sich der Anspruch, von einer Ara zu reden. Von einem Zeitraum also, dessen Beginn durch ein Ereignis bestimmt wird, das nicht mehr wegzudenken ist, und ohne dessen Eintritt eben dieser Zeitraum den ihn bestimmenden Charakter nicht besäße, also keine Ära geworden wäre. Es ist ein epochaler Akt notwendig, ein Augenblick, der eine neue Wirklichkeit der Geschichte begründet. Ein solcher Augenblick kann noch eine Fülle durchaus offener Möglichkeiten in sich bergen und die verschiedensten Entwicklungen erlauben — nur die eine schließt er aus, und das auf radikale Weise: nämlich fortzufahren, als hätte es diesen Augenblick nicht gegeben.

Das ist die Situation des Jahres 1945 in Deutschland. Damals wußte es jeder oder empfand es wenigstens: Das ist mehr als eine nur militärische Niederlage, das ist etwas anderes als ein verlorener Krieg, als „nur" ein mißglückter Feldzug. Hier war ein Zeitalter zerbrochen in Wahn, Schuld und Not, und seine Trümmer forderten eine neue Epoche heraus. Es ist die klassische Stunde einer neuen Ära, die sich wenige Jahre später dem Zugriff eines Mannes beugen wird, der ihr Wesen prägt und ihr den Namen gibt: Konrad Adenauer, ein Bürger aus Köln.

Was fand er vor in dieser Stunde — und wie fand diese Stunde ihn vor? Was wurde gedacht, befürchtet und erhofft, wie groß war der Raum des Handelns, um praktische Lehren zu ziehen und Entscheidungen zu treffen. Welche Vorstellungen und Entwürfe für das äußere und innere überleben waren im Schwange und was war von ihnen zu verwirklichen? Und war nur das, was dann geschah, auch möglich?

Wir werden auf der Suche nach dieser vergangenen Gegenwart einen Weg finden müssen, der uns zwischen den Träumen der ersten und den Versäumnissen der späten Stunde leidlich hindurchführt. Und der uns vor allem vergessen läßt, daß wir aus der Mithaftung als Zeit-Inter dem Titel „Vergangene Gegenwart" am 4. November 1963 vom Bayerischen Rundfunk gesendet. genossen durch keine Anmaßung des Urteils zu entlassen sind. Was in dieser Ära auch immer Adenauer heißt und bedeutet — wir reden in jedem Augenblick zugleich auch von uns selbst.

Wer erinnert sich, nicht ohne manche Wehmut, nicht jener ersten Jahre, da unter allem physischen und moralischen Elend doch gerade auch das Gefühl einer, wie man glaubte, neuen Weltstunde die wacheren Geister ergriff. Es war in den besten Augenblicken so etwas wie eine höhere Heiterkeit, ein Windhauch des Glücks, daß wir als die unverhofft und unverdient Überlebenden imstande sein könnten, eine andere, ein für allemal andere Form deutscher politischer Existenz zu begründen. — Ich meine nicht jene Schwärmer, die der Geschichte überhaupt entfliehen wollten, jedenfalls der deutschen, die jene damals viel-zitierte „Gnade des Nullpunkts“ beschworen und das Jahr 1945 für eine Wegkreuzung hielten, von der aus man bei gutem Willen auch das Paradies erreichen könne, vorausgesetzt, daß man nicht wie in Sodom noch einen Blick zurückwerfe.

Mit einer manchmal grandiosen, oft auch nur läppischen Willkür wurden damals Entwürfe einer neuen Ordnung bereitgehalten — Geschichte und, Politik gleichsam als ein unverbindliches Angebot von Musterkollektionen. Da wurden die finsteren Bögen gespannt von Luther über Friedrich und Bismarck zu Hitler oder aber in naiver Unschuld jener andere von Karl dem Großen über den V. bis zu Maria Theresia, Görres und Windthorst. Die Pauls-kirche feierte ihre melancholische Auferstehung, Jakob Burckhardt wurde zum Kronzeugen gegen Nietzsche, Mommsens späte Bitterkeit stand gegen Fichte, von Hegel, dem meist ungelesenen Erzbösewicht, ganz zu schweigen. Das Heilige Römische Reich, ersatzweise eine Donauföderation oder eine Rheinbund-Reminiszenz — und das alles, natürlich, als makellose Demokratie, mit Christentum, Liberalität, Toleranz, Fortschritt und Patina in einem.

Es gab, und wen sollte das wundern, nur noch den extremen Pendelschlag zwischen Dämonisierungen und Verklärungen — zurück in die wehrlose Vergangenheit, nach vorn in die nur scheinbar wehrlose Zukunft. Es war in alledem ein Weltbild, das sich jenen als Heil anbietet, die in Katakomben lebten und ihnen gerade entronnen sind. Und so gewann es geB rade dadurch, wenn wir von den abstrusen Variationen absehen, seine tiefere Wahrhaftigkeit. Wir waren unausweichlich konfrontiert mit uns und Geschichte. unserer Vernunft sträubten dieses und Gewissen sich dagegen, Trümmerfeld nur als ein Produkt von bösen Zufällen anzusehen. Hier half kein Gefasel mehr von der technisch-materiellen Überlegenheit der Gegner, keine armselige neue Dolchstoß-Legende, kein Naturereignis, das schuldlos wütet. Wir hatten uns selbst geschlagen und Massakers die Werkzeuge dieses selbst herbeigerufen. Wir waren dabei die Opfer jener Opfer geworden, die wir vorher selbst in gefordert hatten. teutonischer Verblendung Und wer wollte dennoch leugnen, daß inmitten dieses Wahnes sich ebenso unzählige Akte irregeleiteter Gutgläubigkeit vollzogen hatten. Daß aber eine Nation den Sinn ihrer Existenz so verfehlt, das konnte nicht nur ein trauriger Gedanke sein, sondern mußte zu neuen Formen des gemeinschaftlichen Daseins führen. Und das von beiden Seiten: Die Sieger in der Gestalt der Alliierten übten den harten Zwang ihrer Sicherheitsgarantien aus, die Deutschen prüften die Möglichkeiten neuer staatlicher Ordnung Beide unter dem Diktat der Stunde: das heißt angesichts eines verwüsteten, unter Besatzungszonen aufgeteilten Landes und gegenüber einem bis zur Ratlosigkeit desillusionierten Volk. Einem zwar ratlosen, aber nichtsdestoweniger rastlosen Volk — aber das hängt wohl nicht ganz von ungefähr miteinander zusammen. Gewiß bedurfte es einer Art von grimmiger Arbeitswut, um überhaupt die primitivsten Bedingungen des überlebens zu schatten. Es war jene sonderbare Zeit, in der durch die elementaren Nöte des Hungers und der Kälte auch die elementaren Empfindungen der Sorge und der Freude ihren unmittelbaren Wert erhielten. Man war im ganz einfachen Sinne solidarisch, denn wodurch sollte sich auch der eine vom anderen in diesem grauen Heer der Habenichtse unterscheiden.

War es bei alledem auch Besinnung Wandel, Einsicht? Täuschen wir uns nicht, auch eine solche Vorstellung, daß da ein jeder seine eigene harte Bilanz zieht und deren Summe dann so etwas wie die kollektive Einkehr eines ganzen Volkes bedeutet, ist utopisch. Was dagegen als allgemeines Verhalten zu Tage trat, war etwas ganz anderes: Verdrängung, Anpassung und Fatalismus; bei Minderheiten auch Trotz oder Rechtfertigung. Und bei vielen der große Wettlaul um Alibis und weiße Westen Was taugen da so leicht-hin gefällte moralische Urteile: Heroismus und Askese sind keine vernünftigen Erwartungen gegenüber Millionen. Das ist keine laxe Nachsicht, sondern es zeigt nur die Grenzen der politischen Pädagogik.

In dieser ersten unmittelbaren Nachkriegs-phase gab es nur eine einzige Macht, die wirklich genau wußte, was sie in Deutschland und mit Deutschland wollte: Die Sowjetunion. Ihre Truppen standen, nachdem durch den Ab-tausch gegen die drei Berliner Westsektoren auch noch Sachsen und Thüringen von ihr besetzt waren, nunmehr im Zentrum des ehemaligen Reiches, inmitten Europas, wenige Stunden vom Ruhrgebiet und dem Rhein ent -

fernt. Und gedachten dort zu bleiben — in sie einer künftigen sozialistischen sowje Republik -

tischen Musters. Als noch weder Amerikaner, Franzosen oder Engländer die Frage nach der künftigen Gestalt dieses einst Deutschland genannten Gebietes hätten beantworten können, begann dort bereits mit einer unbeirrbaren Systematik die innere Verwandlung der Besatzungszone in einen integralen Herrschaftsbereich Moskaus. — Die Amerikaner hatten ke ne unmittelbar konkreten Vorstellungen. Gewiß, Rückerziehung — aber wohin? Jedenfalls waren sie für geraume Zeit die einzigen, die überhaupt Vertrauen investierten und Hoffnung erweckten. Sie waren am meisten Sieger und am wenigsten Rächer, ihre Vergeltung hatte moralische, nicht politisch-materielle Motive — die Staaten waren auch in diesem zweiten Weltkriege, den sie letztlich entschieden, unversehrt geblieben. Großbritannien machte eine härtere Rechnung auf: Zweimal in einer Generation war es nur unter größten Opfern gelungen, sich gegen eine zumindest zeitweilige Übermacht des Reiches zu behaupten. Also war man entschlossen, da man abstrakten Reparationszahlungen mißtraute, die Instrumente einer potentiellen Großmacht selbst auszuschalten, das heißt, seine Industrie ein für allemal zu lähmen. Es begann jene erbarmungslose Demontage, die nahe an eine Proletarisierung als Dauerzustand heranführte. Englands, im Affekt verständliche, in der politisch-sozialen Konsequenz überaus kurzsichtige Deutschlandpolitik beschleunigte dabei gerade den Prozeß, den es, wenn nicht verhindern, so doch verlangsamen wollte. Ein schon weithin zerstörtes Land mit einer haltlos gewordenen Bevölkerung, in das nun auch noch eine unübersehbare Zahl von Flüchtlingen hineinströmte, war für die Demokratie kaum zu gewinnen, wenn man es auch noch mit der Vernichtung seiner übrig-gebliebenen Industrien bestrafte. Der Nutznießer konnte nur der Bolschewismus sein. Diese Gefahr erkannt und in einem Plan von ebenso großer moralischer Kraft wie politischer Vernunft überwunden zu haben, bleibt die wahrhaft epochale Tat des damaligen amerikanischen Außenministers George Marshall. Wie riskant eine rückwärtsgerichtete Prophetie auch sein mag: Es kann heute mit einer an Sicherheit grenzenden Wahrscheinlichkeit gesagt werden, daß ohne diese Vision und Tat-kraft eines amerikanischen Ministers, der als Stabschef den Krieg gegen uns geführt hatte, sich wohl kaum eine Ära Adenauer in ihrer vollen Substanz hätte entwickeln können. Und nicht nur die Bundesrepublik, das ganze westliche Europa samt England trüge andere, vermutlich sehr viel blassere Züge.

Frankreich schließlich wußte damals nur, was es nicht mehr wollte. Kein Reich, keine Zentral-gewalt, keine wie auch immer geartete deutsche Handlungsvollmacht über große Räume und große Massen. Im übrigen war es der nach Rußland am stärksten heimgesuchte und der von allen am empfindlichsten geschwächte Partner. Und das nicht nur im Maße seiner äußeren Wunden. Es mußte, während es in Deutschland eine Siegerzone besetzt hielt, zugleich mit sich selbst, mit seiner eigenen Niederlage und Besatzungszeit wieder ins reine kommen. So wurde seine Deutschland-politik auch ein wesentlicher Beitrag zur Korrektur des französischen Selbstgefühls.

Und was hatten die Deutschen selbst in diesem Vorraum ihrer noch ungeahnten Ära Adenauer bereits in Szene setzen können? Mit wachsender Selbständigkeit in den kommunalen und regionalen Bereichen hatten sich wieder deutsche Verwaltungen, Regierungen und Parlamente etabliert, Parteien waren, einschließlich der Kommunisten, inzwischen zugelassen; Zeitungen wurden lizensiert mit einem gelegentlich etwas kuriosem Proporz aller Richtungen in einem Herausgebergremium; der Rundfunk hatte längst schon wieder mit entsprechenden Kontrollen seine publizistische Funktion ausgenommen. In allem, was nach den Kontrollrats-und sonstigen Bestimmungen genehmigt werden mußte — und das war die Mehrzahl zumindest aller öffentlichen Tätigkeiten —, waltete der politisch-pädagogische Geist einer gleichsam keimfreien Demokratie. Er förderte ganz wider Willen das, was kaum noch der Förderung bedurfte: Die Entpolitisierung, den weithin meinungslosen, gezähmten Bürger, den Rekruten einer braven neuen Welt, die sich irgendwo am Horizont vielleicht doch schon abzuzeichnen begann. Auch das ist nur ein Tatbestand, kein moralisches Urteil. Die Kraft zu tieferen Engagements, zu Bindungen, die über die Familie und den engeren Beruf hinausgingen, soweit man den eigenen noch oder wieder ausüben konnte, diese Kraft war erloschen. Und das wurde keineswegs nur beklagt. Der wägende Bürger, der nicht mehr blindlings mitläuft, wurde gerühmt, die reine Sach-und Fachentscheidung von Fall zu Fall wurde von den Kommunen, wo sie hingehört, auf jede Politik als neue wahre Ethik übertragen. Und über die Jugend, die zur skeptischen Generation ernannt wurde, war man bald voller Bewunderung. Wie schön und beruhigend, daß sie so gar nicht wußte, was sie wollte. Denn dann wollte sie ja sicher auch nichts Böses. Nun, sie waren die Kinder einer gebrannten Generation von Vätern — oder aber ohne Väter. Wie konnten sie also anders als skeptisch sein? War das ein Verdienst, war das eine Garantie — und wofür? Für frühreife Intelligenz politischer Enthaltsamkeit? Man war doch sehr bescheiden geworden. Wie in einer instinktiven Verabredung lieferten sich zwei Generationen wechselseitig das Alibi für ihre neuentdeckte Zurückhaltung in ihrem, unserem Staat. So gegenwärtig also war Vergangenheit, daß wir nur noch auf die Kehrseite der Medaille starrten.

Und doch — nur in einer solchen Leere, nach einem solchen Verschleiß von Gesinnungen und Haltungen, konnte ja überhaupt an eine tiefere Wandlung des Bewußtseins gedacht werden. Denn das, was nun mit aller Entschiedenheit ebenso wie mit Behutsamkeit zu geschehen hatte, glich ja eher einem Akt der Psychiatrie als einem der Politik im landläufigen Sinne. An einem kranken, amputierten, physisch und moralisch geschwächten Volks-körper mußten zwei Therapien zugleich vorgenommen werden.

Und jede war die Voraussetzung für das Gelingen der anderen. Die erste hieß wirtschaftliche Gesundung durch freie wirtschaftliche Initiative — die Radikalkur Währungsreform. Die zweite hieß deutscher Weststaat, nachdem bereits ein Jahr zuvor, im Juni 1947, auf der Münchner Zusammenkunft der Ministerpräsidenten aller deutschen Länder in Ost und West die auch nur allgemeinsten Übereinkünfte über die politischen, rechtlichen und gesellschaftlichen Grundlagen eines gemeinsamen deutschen Staatsgebildes nicht mehr erzielt werden konnten. Das war, lange vor einem verantwortlich amtierenden Bundeskanzler Adenauer, bereits Anfang und Ende der deutschen Einheit in einem tristen Akt.

Drei Wochen später wird der Wirtschaftsrat in Frankfurt am Main als erstes deutsches Führungsinstrument im Bereich des künftigen Staates installiert. Moskau verbietet unterdessen den osteuropäischen Staaten jede Annahme von Hilfe aus dem Marshall-Plan, Westdeutschland wird also alleiniger deutscher Empfänger. Als die Sowjetunion im März 1948 den Alliierten Kontrollrat in Berlin auch formell verB läßt, hat die Entfremdung zwischen den ehemaligen Verbündeten bereits jenen Grad der Interessen-Kollision und Feindseligkeit erreicht, der alle Illussionen über ein eigenes Taktieren zwischen den Blöcken zerstören mußte. Wir kennen die weiteren Stationen, vor allem die Berliner Blockade und ihre Luftbrücke als erstes großes Zeugnis der neuen Solidarität der freien Völker. Während ihrer fast einjährigen Dauer konstituiert sich auf Herrenchiemsee der Verfassungskonvent, und mit seinen Entwürfen und Materialien erarbeitet der Parlamentarische Rat in der alten Pädagogischen Akademie zu Bonn das Grundgesetz. Sein Präsident heißt Adenauer.

Es lohnt ein kurzer Blick auf die parteipolitische Zusammensetzung dieses Vorparlaments der Bundesrepublik: CDU und CSU verfügten in dieser ersten formalen Fraktionsgemeinschaft über 26 Sitze — genau die gleiche Zahl besaß die SPD. Die Freien Demokraten mit Theodor Heuss hatten fünf und dann folgte mit je zwei Mitgliedern ein inzwischen entschwundenes Terzett, so disharmonisch seine Stimmen auch zusammengeklungen hätten: Die Deutsche Partei, das Zentrum und die KPD.

Die wirklichen Entscheidungen in der Parteien-struktur, wenn auch noch nicht in den Mehrheitsverhältnissen, waren zu diesem Zeitpunkt bereits gefallen. Die Sozialdemokraten hatten ihr altes, erstaunlich unerschüttertes inneres Parteigefüge bewahren können, die solide Organisation hatte in ihrem Kern die Verfolgung bewunderungswürdig überstanden. An ihre Spitze war unverzüglich und unüberhörbar ein Mann getreten, der dafür zu taugen schien, die alte Klassenpartei zur Volkspartei im weitesten Sinne zu öffnen. Kurt Schumacher, zweifach gezeichnet: von verzehrender Krankheit und von nicht minder verzehrender politischer Leidenschaft. Jedes nur persönlichen Ehrgeizes unverdächtig, von einer durch die Qualen seines Lebens schlackenlos gewordenen Lauterkeit, war er in den ersten Jahren weit mehr geworden als nur der Führer einer Partei. In ihm hatte sich die Stimme eines geschundenen Volkes erhoben, das um den Preis einer harten Selbstreinigung seine Würde zurückforderte. Das war kein Parteiprogramm, sondern ein moralisches Postulat. Schumacher hatte den Rang und die Legitimität seiner Biographie, gegen jedermann seine Stimme zu erheben, auch gegen Mißgriffe der Besatzungsmacht. Und er tat es mit loderndem Ernst.

Und doch war ihm, dem jede künftige Mehrheit sicher zu sein schien, ein Gegner, oder sagen wir vorerst noch, ein Konkurrent erwachsen, an dem er scheitern sollte. Und dieser Konkurrent war nicht nur ein einzelner Mann, sondern und vor allem eine neue politische Partei und ihre Doktrin, die Christlich-Demokratische Union. Es mögen Politische Wissenschaft und Zeitgeschichte künftig ergründen, wer wen von diesen beiden ins Leben rief, ins politische Leben, nicht in das Vereinsregister. Sicher ist, daß der Grundgedanke fast in der Luft lag: auf der Basis nämlich beider christlicher Konfessionen die Solidarität ihrer gemeinsamen Gefährdung und ihres jedenfalls im Kern vollzogenen Widerstandes nunmehr auch für die praktische Politik fruchtbar zu machen. Das war der einzige wirklich neue politische Gedanke von Rang in jenen Jahren. Die beiden Kirchen hatten, wenn auch gewiß mitunter über ihr institutionelles Verdienst hinaus, ihr Ansehen als überzeitliche Stiftungen nicht nur gewahrt, sondern inmitten zerstörter Ordnungen in einer für sie selbst ungeahnten Weise vermehrt. Sie hatten überstanden und in ihren Märtyrern widerstanden. Vor allem aber waren sie Stätten der Vergebung. Und sie standen zudem in solch allgemeinem Aufbruch in Deutschland nicht allein. Europa tat insgesamt in seinen freien Teilen einen entschiedenen Schritt hin auf einen christlich geprägten Konservativismus, dessen Neige sich erst jetzt wieder anzeigt. Italien war damals des faschistischen Bombastes ebenso müde wie Frankreich seines extremen Laizismus. Aus Amerikas calvinistischer Weltfrömmigkeit wehte es ebenso herüber wie aus der neuen Oekumene des verschütteten Abendlandes. Kirchliche Akademien boten sich als unverdächtige Podien und Beichtstühle für Alltagssorgen jedweden Standes und Berufes an. Ein seit der Reformation nicht mehr gekannter Zustand innerchristlicher Befriedung sollte Bestandteil praktischer Politik werden.

Das war der unwiderstehliche Gegenzug gegen alle alte Parteientradition. Waren sie denn nicht damals am Vorabend Hitlers alle gescheitert, mit mehr oder weniger Schuld? — In dieser einen Grunddisposition der christlichen Partei war allerdings noch eine zweite verborgen. Während Schumacher und seine Freunde die erste, die christliche, in ihrem großen Sog wohl verkannten, haben sie die zweite, die westeuropäische, mit geradezu allergischer Sensibilität gespürt. Und hier erst kommt eigentlich Adenauer ins Spiel, weit mehr und deutlicher als die damals noch recht amorphe Struktur seiner Partei. Hier wird nun jener Verratskomplex wirksam, der sich in Schumachers ätzenden Angriffen voller Haß und Verzweiflung Luft macht, Schumacher hat ein Bild vom Wesen und der Aufgabe deutscher Nation, das Adenauer im Innersten fremd bleibt. Er, Adenauer, konnte dann wohl auch unter seinem Aspekt den Dingen ihren Lauf lassen; denn nur ein Wunder hätte ihm Unrecht geben können:

Daß man nämlich beides haben könne — Schutz und Segen der westlichen Demokratien und zugleich Schutz und Segen des Kreml für eine Wiedervereinigung mit voller deutscher Souveränität. Schumachers in jeder Weise tragisches Ende lähmte in der Vollstreckung seines Testaments für lange Jahre die Sozialdemokratische Partei.

Es mag Liebhabern des sogenannten blinden Zufalls gefallen, daß Adenauer mit nur einer Stimme Mehrheit Kanzler wurde. — Und gar mit welcher? Nachdem er es geworden war, blieb er es jedenfalls. Er prägte sein Amt, mit dem Amt den Staat und mit seinem Staat die Zeit.

Wir hatten nach den Entwürfen gefragt, nach einem Bilde von einer deutschen Wirklichkeit nach Hitler. Entsprachen nun diese 14 Jahre des einen Kanzlers einem dieser großen Konzepte? Hat er das Programm einer Partei verwirklicht, etwa das seiner eigenen? Hat er nach Rezepten gehandelt, die er vorher in ihren Details verkündete? Wußte er, wohin wir gelangen würden, und wollte er, daß wir dorthin gelangen. Was war denn seine Handlungsfreiheit? Vom Kanzler der Alliierten — um dieses harte Wort, das ihn kaum berührte, des Kontrastes halber zu zitieren — vom Kanzler der Alliierten also zu den Alliierten des Kanzlers? Denn das hatte er doch bewerkstelligt in seinen -gro ßen Fünfzigerjähren.

Wer ist das überhaupt, von dem wir so selbstverständlich sprechen? War er, von dem wir heute angesichts seiner Ära als von unserer vergangenen Gegenwart reden, nicht zugleich auch eine Figur gegenwärtiger Vergangenheit? Unter allen Rätseln der deutschen Geschichte im letzten Jahrhundert gehört die Tatsache, daß dieser Mann ein wenn nicht unbestrittener, so doch unstreitiger Repräsentant der Deutschen werden konnte, sicher zu den merkwürdigsten. Kaum ein Zug seines Wesens konnte ihn dafür von vornherein prädestiniert erscheinen lassen. Es sei denn, das schon früh weit ausstrahlende Amt des Kölner Ober-bürgermeisters. Die erfolgreichen Chefs der großen Kommunalverwaltungen waren ja schon mehrfach eine Notreserve der Reichsleitung gewesen und sei es nur als ernsthafte Kandidaten: Luther, Jarres und Goerdeler haben hier ihren Platz. So hatte man auch dem Kölner Adenauer 1926 die Bildung eines Reichs-kabinetts angetragen. Er lehnte ab mit seinem offenbar untrüglichen Instinkt für glücklose Abenteuer. Er rügte damals bereits in einer Denkschrift die zwischen Ost und West unstet schwankende Außenpolitik —und seine Fremdheit gegenüber Berlin und alles was Osten war und bedeutete, ihm bedeutete, mochte den Verzicht erleichtern. Aber das bleibt, wenn auch in typischer Weise, eine Episode. Es ist seine Person selbst, weit mehr als seine politische Biographie, die das Phänomen ausmacht. Der Erzzivilist, der von katholischer Urbanität geprägte Bürger, ohne Pathos, ohne feudale Allüren, ohne Sentimentalität und ohne Ideologie — wie konnte dieser aller vertrauten Symbolik so ganz und gar widersprechende Mann mit seiner unfeierlichen Würde und seiner Ironie, seinem Witz und seiner Frömmigkeit, seiner Konsequenz und seiner Schläue, seiner Nüchternheit und seiner Grundsatz-treue — wie konnte er so zum Inbegriff deutscher Gegenwart werden, daß sein Name genügte, um in der Welt diesen Staat zu identifizieren? Was hatte alles geschehen müssen, um ein solches Exemplar von untypischen Eigenschaften zum Typus eines deutschen Staatsmannes werden zu lassen. (Sein Nachfolger neigt wenigstens zu Sentimentalität und gelegentlichem Pathos; das macht ihn umgänglicher.) Auch Ebert hatte große untypische Züge, aber er rieb sich auf, ihm fehlte das ökonomische Temperament Adenauers, seine Fähigkeit, zu unterscheiden und sich in Stürmen zu bewahren. Adenauer war in einer für ihn heilen Welt ausgewachsen. Er teilte zwar nicht die damals bis in den ersten Weltkrieg hinein herrschende Auffassung von der höheren Bestimmung Deutschlands und gewiß nicht die von der Rolle Preußens; aber solche Konflikte störten nicht die Geschlossenheit seiner persönlichen Entwicklung — wie er überhaupt Narben entweder nicht besaß oder aber niemandem zeigte. Er äußerte Sorgen, nie Klagen. Es mag voreilig sein, einen Mann, der für Vertraulichkeiten kein Organ hatte, und dem nur wenige sich wirklich nähern konnten, in seinen wesentlichen Motiven zu deuten. So viel aber schein* doch als politische Denkform und Handlungsmaxime in diesen Jahren sichtbar geworden zu sein: Er dachte in Staaten, Mächten, Interessen und Herrschaftsinstrumenten — er fühlte in der Familie, in seiner Stadt und den engeren Lebensgemeinschaften. Jeder ihm nicht gemäßen Bindung blieb er fern. Kein Stand, kein Beruf, keine Gruppe hat ihn je okkupieren können.

Auch in seinem Verhältnis zur Kirche, der er in stiller Treue anhing, war er wohl der Liturgie näher als dem Klerus. Das alles ist eine Form der Selbstbewahrung und der Instinktsicherheit von seltenen Graden. Was. immer ihm an Führungstechniken zu Gebote stand --und hier war er wie Bismarck oder Churchill nicht gerade befangen gegenüber manchen Praktiken des nicht immer ganz feinen Geschäfts der Machtsicherung — was da auch an begründetem Unmut mitklingt, er war jedenfalls dort verläßlich, wo das Ansehen und die Glaubwürdigkeit seiner Politik insgesamt auf dem Spiele standen. Seine Ziele waren einfach, deutlich und beständig: Europäische Integration und westliche Solidarität gegenüber dem kommunistischen Osten. Beides zusammen würde die Sicherheit der Bundesrepublik nach außen und auch nach innen garantieren und so zu jener stabilen Balance beitragen, auf der der Friede in dieser Zeit beruht. Was auch immer sonst im Staat, in der Gesellschaft, in der Wirtschaft und, wenn es sein mußte, wenigstens während der Wahl-zeiten auch innerhalb seiner eigenen Partei geschah, das war unter seinen Vorstellungen nichts anderes als das möglichst griffige Instrumentarium für diese seine Politik. Die blühende Wirtschaft, der steigende Export, der breite Wohlstand — das mochte dem Herrn Erhard gern zugute gehalten werden. Dessen Popularität konnte seiner Politik nur dienlich sein. Aber es mit dem zu verwechseln, was er, Adenauer, unter Politik verstand, das nahm er übel. Was kümmerten ihn Ressorts jenseits der Außenpolitik. Natürlich, sie hatten zu funktionieren und das taten sie im großen und ganzen ja auch. Allzuviel Originalität schätzte er dabei allerdings nicht. Vielleicht hatte der Verteidigungsminister Strauß als einziger freie Hand; hier überließ es Adenauer den konkurrierenden Akteuren im Kabinett und in der Partei selbst, das Gleichgewicht zu sichern. Wo er aber herrschte, konnten andere nur noch verwalten. Das ist — unter anderem — der Preis für Größe. Herrschaft solcher Art verschleißt die engere und verwöhnt die weitere Umgebung. Sie übt einen gefährlichen Sog auf die mittleren Charaktere aus, die durch strikten Gehorsam aufsteigen. Und sie korrumpiert auf eine schier unwiderstehliche Weise. Die Kleinen wissen das nicht, sonst würden sie nämlich spüren, daß sie immer kleiner werden, je näher sie sich um die Größe scharen. Adenauer wußte es und trieb sein nützliches Spiel mit ihnen. Was sollte er, was sollten sie denn auch anderes tun. Wir spotten nicht, wir beobachten nur ein Naturgesetz der Politik und denken über die möglichen Folgen nach.

Wer begegnete diesem Mann auf gleicher Ebene, wem stellte er sich als ebenbürtigen Partner? Wenn wir von dem frühen Konsens mit Schuman und de Gasperi, den ersten europäischen Weggefährten, hier absehen, so bleiben im engeren Sinne wohl nur vier Partner in diesen Jahren übrig: John Foster Dulles, David Ben Gurion, Charles de Gaulle und Nikita Chruschtschow. Dulles, das war sein Glücksfall schlechthin: Die damals noch für sich allein größte Macht der Erde verband sich im Ziel und in den Methoden mit dieser gerade flügge gewordenen Bundesrepublik im persönlichen Vertrauen zweier Staatsmänner. Welche Wende in wenigen Jahren. Welche Sicherheit erblickte man in diesem Kanzler. Gewiß, das änderte sich inzwischen mit dem jungen Präsidenten, dem Adenauer fast so lästig wurde wie der alte mahnende Bismarck seinem jungen Kaiser. Eisenhowers Prestige konnte sich den Ratgeber aus Bonn leisten; mit Kennedy kam etwas anderes als nur Jugend zum Zuge — er hatte ein anderes Bild von dieser Welt und ihrem Problem.

Ben Gurion — wer konnte ihm, weit über Dulles hinaus, im Grunde verwandter sein als Adenauer und wem konnte er mehr Respekt bezeigen als diesem Mann, der ihm, dem Kanzler glaubte, daß Deutschland sich gewandelt habe. Hier, bei dieser einzigen Begegnung in New York, verließ ihn vielleicht zum ersten Male die ruhige Gelassenheit. Hinter aller Würde wurde eine Ergriffenheit spürbar, die er dem eigenen Volke zu zeigen offenbar nie für ratsam hielt. Er hatte gegen Widerstände, die er auch verschwieg — mochten andere davon reden —, die materielle Wiedergutmachung für das verheerende Unheil, das wir angerichtet hatten, versprochen und durchgesetzt. Wer wußte schon unter den bösartigen und unter den fahrlässig dümmlichen Kritikern dieses Vertrages, was hier an noch keineswegs vergangener Gegenwart in der Welt für uns auf dem Spiele stand.

Wenn schon der Akt der Selbstreinigung nicht begriffen wurde.

Und de Gaulle schließlich — denn die erhofften Gespräche mit Chruschtschow sind ja nun wohl gründlich vertagt —, diesem General begegnete Adenauer zu Beginn durchaus mit Mißtrauen. An dieser, aufs höchste stilisierten Figur mußte ihm in der Tat so ziemlich alles fremd sein: die pompöse Geste, der militärische Habitus, die Mystik eines nationalen Sendungsbewußtsein, die Politur der Sprache — das war eine andere Welt. Nur in zwei, allerdings entscheidenden Auffassungen trafen sich diese beiden alten Männer, deren jeder schon ein Denkmal seiner Welt verkörperte: in dem Willen zur Versöhnung der beiden Völker und in der Einsamkeit ihrer politischen Existenz. „Wie schön", soll Adenauer gesagt haben, als ihm de Gaulle bei seinem ersten Besuch in Colombey des deux Eglises den weiten Blick in die freie unbegrenzte Landschaft aus seinem Arbeitszimmer zeigte, «Wie schön, man sieht keinen Menschen.“ Und sie versöhnten sich und ihre Völker, die dazu bereit schienen und dafür wahrlich mehr Anlaß hatten als noch irgend zwei andere Nationen auf dieser eng gewordenen Erde. Für Adenauer wurde es das Siegel unter sein Testament; politisches Kalkül und ältester, innerster Wunsch waren mit der Wirklichkeit identisch geworden. Vor allem das Rheinland, sein Rheinland, hatte keine bedrohte Grenze mehr. Hier war genug an Vergangenem — von nun an soll, so gelobte man es sich in Paris und Reims, diese deutsch-französische Gegenwart in alle Zukunft reichen. Und doch hatte dieses Frankreich — und nicht erst das des Generals de Gaulle — die ersten europäischen Blütenträume Adenauers zunichte gemacht. Wie anders wollte er diese Bundesrepublik einfügen in seine Vorstellungen von Europa. Als er das deutsche Truppenkontingent für die Europäische Verteidigungsgemeinschaft versprach, hatte er nicht die Keimzelle zu einer neuen Armee im nationalen Sinne legen wollen. Er hat dann auch diese Entwicklung akzeptiert — aber mit jener Sprödigkeit, die ihn in diesem Bereich nie verließ. Ihn ängstigte jedes Instrument von einiger Größenordnung, das einer anderen politischen Konstellation dienstbar gemacht werden könnte. Er wollte einen sicheren, einen gesicherten, nicht unbedingt einen starken Staat. Er wollte 55 Millionen, von denen fast ein Viertel gerade mit äußerster Anstrengung eingegliederte Flüchtlinge waren, jeder nur denkbaren Versuchung entheben. Er wollte auf seine Weise ihr Glück, nicht ihre fragwürdige Größe.

Er hatte dafür gebürgt, als er auf dem Peters-berg bei den Hohen Kommissaren gegen die Demontagen ankämpfte und in erbitterten Verhandlungen Stück um Stück deutscher Selbstbestimmung und Selbstachtung zurück-gewann. „Keine Experimente“ — das wurde zum manchmal höhnischen Bumerang und zielte dabei auf Bereiche, die er gar nicht gemeint hat. Die stumpfe Monotonie seiner sprachlichen Wendungen hat ihn oft starrer erscheinen lassen, als er war. Nichts konnte in solchem Zusammenhang absurder sein, als ausgerechnet ihn des Revanchismus zu zeihen und seine Sorge um die Sicherheit der Bundesrepublik als pure Freude am Kalten Krieg zu kennzeichnen. Er wußte aber nur zu gut, daß eine auch nur fahrlässige Schwächung der westlichen Garantien im Bewußtsein der Bevölkerung immer nur zwei gleich verheerende Wirkungen haben kann: Fatalismus oder Nationalismus — im schlimmsten Fall sogar beides: nämlich fatalistischen Nationalismus.

Unter allen Arten eines Nationalgefühls ist aber doch wohl jenes am meisten zu achten, das dem eigenen Volk seine gefährlichsten Versuchungen erspart.

Und doch scheint es, als hätten sich hier auch die Grenzen seiner Voraussicht gezeigt. Adenauer hat die im Grunde noch ungebrochene Nationalpolitik unserer westlichen Nachbarn und Partner offenbar unterschätzt. Das deutsche Angebot, um der vollen Integration willen auf eine Souveränität im klassischen Sinne zu verzichten, bevor man sie überhaupt wieder besaß, wirkte nicht ansteckend. So ehrlich und rückhaltlos unser Weg nach Europa auch war — andere hatten nun einmal nicht in solcher Radikalität Abschied von ihrer Geschichte genommen, sie waren Nationen geblieben und befanden sich im Einklang mit ihrer Vergangenheit. Es war das französische Parlament unter Mendes-France, das zur integrierten Europa-Armee sein hartes Nein sagte; und de Gaulle sagte Nein zu England, nachdem England jahrelang Nein zur EWG gesagt hatte.

Und wir sorgen uns heute um ein wenigstens temperiertes Staatsgefühl, das der nicht-integrierten Bundesrepublik die volle Loyalität seiner Bürger gleichsam nachliefern soll.

Denn die Autorität des Kanzlers bewirkte allein noch keine innere Autorität des Staates — auch das ist ein Phänomen dieser Ära. Bonn ist gegen Weimar entworfen und konstruiert worden, die Angst vor innerer Schwäche stand Pate. Adenauers Verachtung für das ohnmächtige Ende der ersten Republik ist als tragendes Motiv unserer Verfassung Wirklichkeit geworden. Das ist mit den legalen Mitteln des Grundgesetzes das ganze Geheimnis der so-genannten Kanzler-Demokratie — oder sagen wir, der Demokratie dieses Kanzlers.

Und so blieb auch all das, was im weitesten Sinne Innenpolitik bedeutet, nur die grob angewandte Lehre aus Weimarer Versäumnissen: eine ständige Balance zwischen allen Ansprüchen, hinter denen starke Gruppen stehen. Nicht der Verbände-Staat, der voreilig diagnostiziert wurde, sondern der mit stets wechselnder Gunst manövrierte Verbände-Proporz ist zur Maxime geworden — mit aller gelegentlichen Mißachtung sachlicher Rangfolgen. Und abermals liegt auch dieser, wenn schon in der Form oft unbedenklichen Führungspraxis, eine tiefere Einsicht zugrunde, deren prinzipielle Geltung nur zu wünschen ist: der pluralistische Charakter unserer Gesellschaft. Was christliche, sozialistische oder humanistische Lehren und Verdienste in diesen Staat und seine Gesellschaft eingebracht haben, kann immer nur koordiniert, nicht uniformiert werden. Was die großen Gruppen nicht an wechselseitiger Überzeugung und freiwilliger Übereinkunft gegenüber gemeinsamen Aufgaben selbst vermögen, kann durch Administration allein nicht ersetzt werden. Gerade über dieser Weisheit liberalen Schuß dieser so verfügte illusionslose Mann, der sonst gewiß nicht zum Praeceptor Germaniae berufen schien. Und eben doch in dem, was er bestimmte, und in dem, was er gewähren ließ, seine Lehren erteilte Lehren, nicht Rezepte.

Hat sich, wenn dieser Gedanke zum Schluß noch der Erwägung bedarf, hat sich jene vielleicht tiefste Kluft geschlossen, die in Deutschland seit je aus einem unseligen Mißverständnis unserer Geschichte den Geist von der Macht, die Politik von der freien Intelligenz trennt? Es scheint, als sei diese Vergangenheit durchaus noch gegenwärtig. Intellektuelle und Funktionäre — beide Begriffe fm weitesten Sinne — verhöhnen sich nach wie vor in gegenseitiger Beziehungslosigkeit.

Diese Gesellschaft ist saturiert, in ihren Zusammenhängen aber nicht intakt. Wfe nur wenige unter den verantwortlich Handelnden wußte das Theodor Heuss: er schlug Brücken, aber kaum jemand benutzte sie — auf beiden Seiten. Das ist keine melancholische Randbemerkung, sondern ein zentraler Befund unserer noch unausgegorenen Wirklichkeit, der uns noch viel zu schaffen machen wird. Man wird mit einigem Recht sagen, daß hier eine unendliche Fülle von Problemen und Aspekten, von Leistungen und Versäumnissen in dieser Ära der deutschen Nachkriegs-geschichte unerwähnt blieb. Wie anders als fragmentarisch, mit einigen groben Konturen kann hier inmitten eines täglich fortdauernden Prozesses eine vorläufige Summe gezogen werden, eine Einstimmung bestenfalls in jene großen Akkorde, die den Mann und seine Zeit vor allem kennzeichnen. Was hat er hinterlassen? — Für den künftigen Bau einige der tragenden Fundamente, insgesamt einen Grundriß. Einen Grundriß mit festen Größen: Mäßigung, Vernunft, Nüchternheit und Geduld. Und dazu Freunde und Vertrauen in der Welt. Von welcher Epoche unserer jüngeren Geschichte wäre ein solches Fazit zu ziehen? Die verspätete, die innerlich unfertige Nation sind wir allerdings noch geblieben. Und sie wird noch lange eine Last aus unserer vergangenen Gegenwart bleiben.

Fussnoten

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Burghard Freudenfeld, Publizist, 1952— 1957 Redaktionsmitglied der Süddeutschen Zeitung, seit 1962 Chefredakteur im Bayerischen Rundfunk (Hauptabteilung Politik und Wirtschaft); geb. 21. Mai 1918 in Berlin. Veröffentlichung u. a.: Israel — Experiment einer nationalen Wiedergeburt, München 1958.