Meine Merkliste Geteilte Merkliste PDF oder EPUB erstellen

Die nationale Idee in Zentral-und Osteuropa Ein deutsches Buch über die Russen aus dem Jahre 1888 | APuZ 35/1966 | bpb.de

Archiv Ausgaben ab 1953

APuZ 35/1966 Der westeuropäische Nationsbegriff Die nationale Idee in Zentral-und Osteuropa Ein deutsches Buch über die Russen aus dem Jahre 1888

Die nationale Idee in Zentral-und Osteuropa Ein deutsches Buch über die Russen aus dem Jahre 1888

Walter Laqueur

Im Jahre 1888 erschien in Berlin das Buch eines ungenannten Verfassers „Rußland am Scheidewege. Beiträge zur Kenntnis des Sla-vophilentums und zur Beurteilung seiner Politik". Im Vorwort heißt es: „Die russisch-deutschen Beziehungen sind schlechter geworden. Seit Jahr und Tag tobt ein Pressekrieg zwischen den Nachbarn, der hüben und drüben gleich erbittert geführt wird. Hand in Hand mit demselben geht ein wirtschaftlicher Kampf, der von Deutschland nicht so sehr um eigenen ökonomischen und finanziellen Vorteils willen geführt wird, als aus politischen Gründen gegen das Zarenreich eröffnet worden ist. Nur noch in der Freundschaft beider Herrscher wird die Gewähr dafür erblickt, daß nicht kurz oder lang das Schwert aus der Scheide fliege, und beide Völker in blutigem Ringen ihren Haß und ihre Kräfte messen. Daß die Dinge so liegen, kann niemand leugnen. Alle aber fragen bestürzt und verwundert — warum?"

Das Jahr, wohlgemerkt, ist 1888, das Todes-jahr von Kaiser Wilhelm I., und übrigens auch das Jahr, in dem Nietzsches „Wille zur Macht" veröffentlicht wurde; der Erscheinungsort des Buches war Berlin. Wer der Verfasser war, kann man mit ziemlicher Sicherheit vermuten, wahrscheinlich ein Baltendeutscher namens Julius von Eckart oder jedenfalls jemand aus seinem Kreise. Um diese Zeit erschienen eine ganze Anzahl solcher anonymer Schriften mit Titeln wie „Aus der Sankt Petersburger Gesellschaft" oder „Berlin und Sankt Peters-burg — Preußische Beiträge zur Geschichte der Russisch-Deutschen Beziehungen". Doch auf den Verfasser kommt es weit weniger an als auf die Sache selber. Wie war es dazu gekommen, daß man im Jahre 1888, mitten im tiefsten Frieden also, ohne besonderen oder unmittelbaren Anlaß, über einen Haß der beiden Völker gegeneinander und sogar über eine drohende Kriegsgefahr schreiben konnte? Was hatte diese Angriffe verursacht? Auf diese Fragen wollen wir versuchen zu antworten, aber nicht unter Berufung auf dynastische Gegensätze oder Sympathien, auch nicht auf diplomatische Intrigen oder Freundschaftsbeteuerungen, sondern in bezug auf das Selbstverständnis von Russen und Deutschen, auf die öffentliche Meinung der beiden Völker, auf das Bild, das Russen und Deutsche sich voneinander machten. Das Jahr 1888 soll dabei der Ausgangspunkt sein.

Den ungenannten Verfasser beunruhigte vor allem die Partei der Slawophilen, die in Moskau — so sagte er — immer mehr an Einfluß gewonnen hatte. Ihn beunruhigte die Moskauer Presse, die den Haß gegen alles Deutsche predigte, gegen das undankbare Deutschland, das Rußland beim Berliner Kongreß verraten hatte. Aber auch gegen den russischen Nihilismus wetterte der Autor — den Kommunismus. Der Verfasser zitiert ein in Genf erscheinendes Blatt namens „Swoboda — „Freiheit" —, in dem geschrieben stand, daß der Krieg zwischen Rußland und Deutschland schnell herannahe, daß vielleicht die ersten Strahlen der Frühlingssonne — welch ein poetischer Vergleich! — ...seinen Ausbruch beleuchten würden. Türken und Deutsche, so hieß es, seien die natürlichen Feinde der Slawen. Aus diesen und ähnlichen Zitaten ergibt sich nun, unserem Gewährsmann zufolge, daß radikales Slawophilentum und Nihilismus Geschwister seien. Und der Zar? „Der Zar ist überhaupt nur absolut, solange man seinen Willen tut. Jetzt aber hat er, vor dem Nihilismus zitternd, die Bahn der bedingungslosen Konzessionen an die Slawophilen beschritten und alle wesentlichen Punkte ihres Programms zu den seinen gemacht. Er ist nur noch ein Selbstherrscher von der Slawophilen Gnaden."

Alexander Herzen über die Deutschen

Eine derartige Darstellung der russischen Verhältnisse um 1888 ist natürlich übertrieben. Aber sie enthält insofern einen wahren Kern, als tatsächlich in den achtziger Jahren eine merkliche Abkühlung in den Beziehungen zwischen dem Deutschen Reich und Rußland eintrat, und zwar nicht nur und nicht hauptsächlich in den diplomatischen Beziehungen, sondern vielmehr in der öffentlichen Meinung. Slawophile hatte es in Moskau seit mindestens vierzig Jahren gegeben, und man konnte sie nicht unbedingt mit der Regierungspartei, dem Zaren und seinem Hof identifizieren. Die Abneigung Deutschland oder jedenfalls manchen Zügen des deutschen Wesens und der deutschen Politik gegenüber war aber keineswegs auf die Slawophilen beschränkt, man fand sie ebenso unter den sogenannten Westlern.

Alexander Herzen, Sohn einer deutschen Mutter und einer der Führer der westlichen Partei, beschreibt in seinem Buch „Rußlands soziale Zustände", wie und warum es dazu kam. Es ist eine einseitige Darstellung, psychologisch aber von größtem Interesse. Unter den Nachfolgern oder besser Nachfolgerinnen Peters des Großen hatte sich ein Schwarm deutscher Adliger in das Russenreich ergossen. „Wären es nur Leute wie Münnich oder Ostermann gewesen", sagt Herzen spöttisch, „aber ein ganzer Schwarm aus den 36 oder ich weiß nicht wieviel Kleinstaaten des einigen und unteilbaren Deutschlands drängte sich an den Ufern der Newa; die Ankömmlinge erhielten dort die besten Posten und fühlten sich ganz wie zu Hause."

Herzen bemerkt dazu, daß die deutsche Partei am Zarenhof nun keineswegs die Zivilisation gegen die russische Ungewissenheit und den Rückschritt verkörperte. „Die Deutschen waren weit davon entfernt, den Fortschritt zu vertreten, denn nichts verband sie mit dem russischen Volk, welches kennenzulernen sie sich nicht die geringste Mühe gaben und welches sie mit einer an Unverschämtheit grenzenden Anmaßung als barbarisch erachteten. Sie waren vielmehr die servilsten Werkzeuge des Selbstherrschers aller Russen. Die Regierung kannte diese Ergebenheit sehr wohl, und sie fand in diesen deutschen Offizieren und Beamten gerade, was sie brauchte — die Regelmäßigkeit und Unwandelbarkeit einer Maschine, die Diskretion der Taubstummen, einen erprobten sklavischen Gehorsam, eine Emsigkeit bei der Arbeit, die nichts von Ermüdung weiß.“ Rechnet man hierzu, um nochmals Herzen zu zitieren, „eine gewisse Ehrlichkeit, welche die Russen Selten besitzen, und genau so viel Verstand, wie ihr Amt erfordert — jedoch niemals genug, um einzusehen, daß kein Verdienst darin liegt, ein rechtliches und unbestechliches Werkzeug des Despotismus zu sein —, rechnet man ferner die vollständige Gleichgültigkeit gegen das Schicksal der ihrer Verwaltung untergebenen Menschen, die tiefste Verachtung gegen das Volk und eine gänzliche Unkenntnis des Nationalcharakters hinzu, so wird man begreifen, warum das Volk die Deutschen verabscheut und weshalb die Regierung sie liebt."

Alexander Herzen, aber auch manche seiner Zeitgenossen haben viel Zeit und Mühe darauf verwendet, den deutschen und den russischen Nationalcharakter zu vergleichen. Einerseits waren sie ungeheuer von deutscher Philosophie und Dichtung beeindruckt; Kant, Hegel, Schelling waren für sie die Philosophen schlechthin, die anderen zählten einfach nicht. Da gibt es die bekannte Szene im Sommer 1826 — zwei Jünglinge, Herzen und Orgarjow, stehen umschlungen auf den Vorjobjovi-Hügeln, wo heute die Moskauer Universität ist. Die Abendsonne scheint, die Kuppeln der Kirchtürme glänzen, die Stadt Moskau erstreckt sich zu ihren Füßen, ein frischer Wind bläst. Die beiden idealistischen Jünglinge lehnen sich aneinander, lesen den „Don Carlos" und geloben feierlich, ihr ganzes Leben dem Kampf gegen die Tyrannei zu weihen. Schiller stand sozusagen Pate bei diesem zweiten Rütlischwur. Er übte auf viele dieser jungen Männer und Frauen den größten Einfluß in ihrem ganzen Leben aus, zählte aber nicht als ein deutscher, sondern als ein russischer Dichter; er war der Poet schlechthin, der all das ausdrückte, was sie bewegte. Schiller, dessen Einfluß auf das russische Geistesleben des 19., ja selbst des beginnenden 20. Jahrhunderts überhaupt nicht zu überschätzen ist, war das Symbol der Freiheit, der republikanischen Ideen einer besseren Zukunft für die Menschheit. Aber auch in Stunden der Resignation fanden diese jungen Intellektuellen und Revolutionäre Zuflucht bei dem geliebten Dichter.

Gegensätze im Volkscharakter

Doch die Begeisterung für Hegel und Schiller erstreckte sich keineswegs auf den deutschen Alltag und gewiß nicht auf den deutschen Philister. Iwan Kirejewski, einer der frühen Slawophilen, verglich Deutschland mit einem Gefängnis und einem Sarg, in dem die Menschen lebendig begraben würden. Nirgends auf dem ganzen Erdball gäbe es eine andere Nation, die so stumpfsinnig, seelenlos und verdrießlich sei wie die deutsche. ImVerhältnis zu den Deutschen seien selbst die Bulgaren geniale Menschen. Bakunin dagegen machte sich über die Aufschrift lustig, die er an dem Laden eine Schneiders in Berlin gesehen hatte, unmittelbar unter dem Bilde eines preußischen Adlers: „Unter deinen Flügeln kann ich ruhig bügeln."

Was für ein schreiendes Mißverhältnis zwischen dem kühnen Flug der Gedanken und dem traurigen und lächerlichen Alltag des deutschen Philisters! Nicht nur die Slawophilen reagierten auf diese Weise, Ogarjow, Herzens bester Freund, schrieb einmal: „Die Deutschen, die Deutschen ... Ich liebe sie wirklich sehr innig, aber sie ärgern mich auch mehr als irgendeine andere Nation. Die phantastischen Gesetze und Vorschriften, die es hier überall gibt (er schrieb aus Berlin), vermischt mit Mehlspeise und schlechtem Tabak. Der Deutsche ißt zehnmal täglich und dann entschwebt sein Geist in die Welt der Träume und Phantasie; er stellt sich Dinge vor, die es gar nicht gibt und vergißt völlig das wirkliche Leben.“ Ogarjow vergaß hinzuzufügen, daß dieser Deutsche viel mit dem russischen Intellektuellen des 19. Jahrhunderts gemeinsam hatte.

Was sowohl Slawophilen als auch Westlern an den Deutschen mißfiel, war, daß es ihnen an Vitalität fehlte, daß sie hölzern wirkten und keine Spur von Gefühl zeigten. Kurz, die Deutschen lebten nicht, sie vegetierten nur, eine wesentliche Dimension des menschlichen Lebens ging ihnen irgendwie ab. Herzen gibt in den „Sozialen Zuständen" ein anderes Beispiel für die Feindschaft zwischen Russen und Deutschen: „Der russische Arbeiter", so berichtet er, „ist bei einem russischen Meister fast ein Glied der Familie, sie haben dieselben Gewohnheiten, dieselben sittlichen und religiösen Begriffe. Sie essen am selben Tische und verstehen sich trefflich miteinander. Gewiß, zuweilen kommt es vor, daß der Meister den Gesellen schlägt und dieser sich das mit gar christlicher Resignation gefallen läßt, zuweilen aber schlägt der Geselle zurück, aber weder der eine noch der andere läuft darauf zur Polizei. Der Sonntag wird von beiden in gleicher Weise gefeiert, beide kehren betrunken heim. Der Meister sieht ein, daß der Geselle am nächsten Tag nicht so sehr fleißig bei der Arbeit sein kann, so schenkt er ihm einige Stunden, da er weiß, daß der Geselle, wenn einmal Not am Mann sein würde, einen Teil der Nacht für ihn durcharbeiten würde.

Der deutsche Meister dagegen sieht in dem russischen Arbeiter niemals seinesgleichen, er betrachtet sich als seinen Herm, nicht seinen Meister. Der Deutsche ist methodisch und klebt an seinen Gebräuchen, er hat für das leichte (und leichtsinnige) Verhältnis des Russen zu seiner Arbeit und zu seinem Herrn kein Verständnis. Beständige Anforderungen, eine künstliche Strenge und ein kalter Despotismus beleidigen den russischen Arbeiter. Der Russe hat mehr Geschicklichkeit als Fleiß, mehr Fähigkeit als Wissen. Er kann viel auf einmal tun, aber er hat keine Ausdauer und kann sich nicht der einförmigen und methodischen deutschen Disziplin fügen. Der deutsche Meister gestattet nicht, daß der Geselle um eine Stunde später kommt oder eine Stunde früher weggeht. Weder der Katzenjammer am Montag ist eine Entschuldigung noch das Bad am Sonnabend; alles wird notiert und vom Lohn abgezogen. Der deutsche Meister rennt aufgeregt zur Polizei und endlose Streitigkeiten beginnen."

Nationalismus ist Abgrenzung gegen fremde Einflüsse

Wahrscheinlich sind Alexander Herzens Urteile nicht ganz zuverlässig, wenn er in dieser Weise die Arbeitsverhältnisse in russischen Städten während der vierziger Jahre des vorigen Jahrhunderts beschreibt. Aber viele Russen dachten so wie er, seine Beobachtungen finden sich bei vielen Zeitgenossen wieder, und von dieser Art Reaktion ist es nur ein Schritt zu der Feststellung, daß die „Feindseligkeit zwischen Slawen und Germanen eine traurige aber bekannte Tatsache sei“ (Herzen). Jeder Konflikt zwischen ihnen offenbare die Tiefe ihres Hasses. Gewiß, die Russen seien diejenigen Slawen, die am wenigsten unter deutscher Herrschaft haben leiden müssen, aber dennoch lasse sich das Gefühl eines natürlichen Widerwillens nicht verwischen. Dem Widerwillen liege eine reizbare Unverträglichkeit zugrunde, die sich bei dem geringsten Anlaß äußere. Damit aber sind wir wieder bei dem eigentlichen Thema angelangt: Wie war es dazu gekommen, daß sich das erwachende russische Nationalgefühl vor allem gegen die Deutschen äußerte?

Und wieso blicken so viele Deutsche mit dem Ausdruck großer Verachtung auf die Russen und alles Russische? Hier ist ein kurzer historischer Exkurs notwendig. Der moderne Nationalismus war in den verschiedenen Ländern Europas etwa um 1800 entstanden und gleichzeitig waren auch Volk, Volkstum und Muttersprache als bindende Glieder entdeckt worden. Gewiß, ein Gefühl der Zusammengehörigkeit und des Hasses gegen Fremde hatte es bereits früher gegeben; die Schweden etwa waren bei Ausgang des Dreißigjährigen Krieges in Deutschland nicht besonders beliebt noch waren es die Polen in Rußland um 1660. Aber eine philosophisch untermauerte deutsche Nationalideologie entstand erst nach den Niederlagen bei Jena und Auerstädt und eine russische Doktrin über die Besonderheit des russischen Wesens erst im letzten Drittel des 18. und in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts. Ein solcher Nationalismus entwickelt sich erfahrungsgemäß niemals im luftleeren Raum, eine Nation grenzt sich immer gegenüber fremden Einflüssen und fremder Unterdrükkung ab. In Deutschland waren die Franzosen der Erzfeind, in Rußland konzentrierte sich die Abneigung weniger auf einen einzelnen Gegner, eher schon gab es eine Abgrenzung gegen Europa überhaupt. Aber das Deutsche war ja der bei weitem stärkste europäische Einfluß in Rußland, nicht nur geistig, sondern rein physisch — es gab deutsche Generäle und Beamte, deutsche Handwerker und Lehrer zu Tausenden, und so richtete sich die Abneigung vor allem gegen sie. Freilich nahm diese Feindschaft nie so krasse Formen an, wie es etwa in Deutschland der Fall war, als während der Befreiungskriege die Haßgesänge gegen Napoleon und welsche Tücke erklangen. Deutschland, in Dutzende Kleinstaaten zersplittert, stellte politisch-militärisch für Ruß-land keine Gefahr dar: im Gegenteil, man war eher geneigt, über die politische Ohnmacht der Deutschen zu spotten. Deutschland wie Italien waren bekanntlich damals geographische, nicht politische Begriffe.

Herder über die Slawen

Wenn von der deutschen und russischen Nationalidee die Rede ist, muß nun früher oder später der Name des Mannes erwähnt werden, der einen entscheidenden Einfluß auf die Entwicklung des Nationalismus in Deutschland wie auch in Rußland ausgeübt hat — der sozusagen an der Wiege beider stand —: Johann Gottfried Herder. Herder, der das Studium von Volkstum und Volkslied gepflegt und gefordert hatte, warnte vor jeder Art von nationalem Egoismus. In seinen „Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit“ schrieb er:

„Nur hüte sich der Geschichtsschreiber hierbei, daß er keinen Völkerstamm ausschließend zu seinem Liebling wähle und dadurch Stämme verkleinere, denen die Lage ihrer Umstände Glück und Ruhm versagte. Auch von den Slawen hat der Deutsche gelernt... “

Bei anderer Gelegenheit, wie etwa in seinem „Journal meiner Reise im Jahre 1769“, war er in seinem Lob der Slawen noch bedeutend weiter gegangen, er hatte ganz Osteuropa und vor allem Rußland eine glänzende Zukunft prophezeit:

„Was für ein Blick überhaupt auf diese Gegenden von West-Norden, wenn einmal der Geist der Kultur sie besuchen wird. Die Ukraine wird ein neues Griechenland werden; der schöne Himmel dieses Volkes, ihr lustiges Wesen, ihr fruchtbares Land, sie werden einmal aufwachen. Aus so vielen wilden Völkern ... wird eine gesittete Nation werden, ihre Grenzen werden sich bis zum Schwarzen Meer erstrecken und von da hinaus durch die ganze Welt. Von Nordwest wird dieser Geist über Europa gehen, das im Schlafe liegt, und dasselbe dem Geist nach dienstbar machen."

Herder predigte, daß der Körper der Nation immer zu ehren sei, daß jede Nation ihre Reichtümer, ihre Eigenheiten des Geistes, des Charakters habe. Diese seien aufzusuchen und zu kultivieren. Kein Mensch, kein Land, kein Volk, keine Geschichte des Volkes sei dem anderen gleich, folglich sei das Wahre, Schöne und Gute in ihnen auch nicht einander gleich. Die Hauptaufgabe lag also nach Herder darin, nachzuspüren, worin diese erste, ursprüngliche Natur jedes Volkes besteht, in Nutzung dessen, was in ihr schläft. Diese Herderschen Ideen haben eine große Rolle in der Erwek-kung des Nationalgefühls mancher slawischer Völker gespielt. Herders Einfluß in Deutschland war dagegen bedeutend geringer, wie denn überhaupt philosophische Ideen meist nur in vereinfachter und häufig vergröberter Form zu einer politischen Triebkraft werden.

Anfänge der deutschen nationalen Idee

Weit nachhaltigeren Einfluß als die humanistischen Ideen Herders hatte der Gedanke einer christlich-germanischen Mission Deutschlands, der in den ersten beiden Jahrzehnten des neunzehnten Jahrhunderts geboren wurde — in den Unterhaltungen der „christlich-deutschen Tischgesellschaft", in Kleists „Katechismus" und seiner „Herrmannsschlacht", in den Schriften von Arndt und des Turnvaters Jahn. Hier wird nun mit Weltbürgertum und mit den Idealen der Aufklärung gründlich Schluß gemacht, etwa wenn Herrmann in Kleists Drama ruft, daß die ganze Franzosenbrut durch das Schwert der Rache jetzo sterben müsse, oder wenn Arndts neunjähriger Sohn zur Freude des Vaters erklärte, daß die großen Deutschen die kleinen Franzosen alle totschlagen sollten. Derartige Haßgesänge hat es mancherorts zu Kriegszeiten gegeben, und man soll bekanntlich die Worte von Poeten, vor allem in aufgeregten Zeitläufen, nicht auf die Goldwaage legen. Es läßt sich aber nicht leugnen, daß sich die deutsche nationale Idee nach dem Gesetze entwickelte, nachdem sie angetreten — nicht im Sinne von 1848, sondern allzu häufig in einer nationalistischen Übersteigerung, dem

Haß nicht nur gegen den Korsen, den fremden Unterdrücker, sondern auch gegen die progressiven Elemente der Französischen Revolution, die mit den Franzosen nach Deutschland gekommen waren. Ernst Weymar schreibt in seinem Buch über das Selbstverständnis der Deutschen: „Arndt ließ sich bei diesen Ausbrüchen seines Volkshasses, die weit über das Maß der durch die napoleonische Bedrückung gerechtfertigten und verständlichen Verbitterung hinausgingen und alle sittlichen Rücksichten brutal und gleichsam für alle Zeiten beiseite schoben, nur von dem Recht seines Gemüts, von seinem Instinkt und seinem Blut leiten."

Bei Arndt und einigen seiner Zeitgenossen finden wir denn auch zum erstenmal die Theorien von der deutschen Auserwähltheit, von der Reinheit des Blutes und der Eigengesetzlichkeit deutscher Art. Der Haß schlägt dann in den Willen zur Vernichtung um, der Erzfeind muß um Gottes herrlicher Gerechtigkeit willen vertilgt werden. Von hier wieder folgt die Verherrlichung des reinen deutschen Blutes und der göttlichen Berufung des deutschen Volkes, wie es etwa bei Schenkendorf geschah. Diese Vorstellung von der hohen Berufung der Deutschen geht nun in die Geschichtsbücher des neunzehnten Jahrhunderts ein, wie Ernst Weymar gezeigt hat, und formt das nationale Bewußtsein von mehreren Generationen. Nicht die Ideen Herders, daß jedes Volk seine Eigenheiten des Geistes und des Charakters habe, die wertvoll sind und die es zu kultivieren gilt, sondern die Geringschätzung, das Herabsetzen anderer Völker tritt in den Vordergrund.

Wenn in dieser patriotischen Schulbuchliteratur das innige Heimatgefühl der Deutschen geschildert wird, das Vaterhaus mit dem Apfelbaum, auf dem die Finken schlagen, dann müssen die Geschichtsschreiber sofort hinzufügen, daß die Franzosen zwar verständig, aber im Gegensatz zu den Deutschen ohne rechte Tiefe des Geistes und des Gemütes sind. Die Deutschen sind idealistisch, ein sangeskundiges und poetisches Volk, voll Biederkeit und Treue. Die Franzosen dagegen haben mehr gesellschaftliche Gewandtheit, wissen Zierliches zu sagen, aber sind oberflächlich, unstet in ihrem Wesen, eitel, phrasenhaft, frivol und häufig unverschämt.

Arndts Rußlandbild

Soviel über Deutsche und Franzosen. Wie aber entwickelte sich das deutsch-russische Verhältnis? Auch hier kann uns Ernst Moritz Arndt als Gewährsmann dienen. Er war mit dem Reichsfreiherrn vom Stein nach Rußland gekommen, „ein Land der Freiheit mit der Seele suchend". Die Russen waren für ihn die Bundesgenossen; er war nicht nach Rußland gekommen, um die dortigen Zustände zu kritisieren, ja, er beklagte sich bitterlich über seine Landsleute in Petersburg und Moskau, auf die die Menschenverachtung abgefärbt hatte, die in der dortigen hohen und vornehmen Gesellschaft gang und gäbe war. So berichtet er etwa über ein Treffen mit dem General Klinger (dem „Sturm und Drang“ -Klinger, dem Jugendfreund Goethes), der ihm gesagt hatte: „Arndt, was wollen Sie hier, Sie gehören nicht hierher, die Menschen hier kann man nicht genug verachten." Gegen diese Einstellung trat Arndt auf — aber mit welcher Berechtigung? Kurz davor hatte er ein Pamphlet geschrieben mit dem etwas langatmigen Titel: „Ein Kurzes Wort über Rußland und sein Verhältnis und Verhalten gegen das übrige Europa vor und seit Peter dem Großen." Da stand geschrieben, daß den Russen die Unterlage des Edlen und Schönen fehlte und ihnen deswegen jede angedeutete Bildung nichts helfen könnte. Und er fuhr fort: „Daß sie in Künsten und Wissenschaften noch nicht viel getan haben, ist nur natürlich und bedeutet am wenigsten, aber da sie so bedeutend von dem großen Peter auf der Weltbühne aufgestellt wurden, so ist reiche Gelegenheit gewesen, an Kriegern und Staatsmännern zu zeigen, was für Kraft und Größe im Volke ist. Aber sieh ihre Geschichten und Taten und sage, was du siehst. Keine Größe, keine Kunst, keine gleiche Kraft; roh und dumm geführte Kriege, politische Tölpeleien und zwecklose Ränke, kein fester Blick, kein großes Ziel in die Weite der Zeit und des Volkes hinausgestellt. Die Russen sind leiblich und geistig sehr gewandt und beweglich, sie sind von allen Europäern die talentvollsten Affen, das Fremde zu lernen. Wo Feinheit und List regieren, wo Betrug und Verschmitztheit etwas ausrichten können, da sind sie die Leute, aber diese Eigenschaften sind klein, sie können nie zur umfassenden Klugheit, nie zum ruhigen Verstand fortschreiten."

Von dieser Einschätzung des russischen Nationalcharakters führt scheinbar eine gerade Linie zu Viktor Hehns „De moribus Ruthenorum", dem antirussischen Pamphlet par excel-lence des ausgehenden 19. Jahrhunderts, und schließlich zu Alfred Rosenberg — wobei übrigens hinzuzufügen ist, daß das Rußlandbild von Karl Marx, Friedrich Engels und der deutschen Sozialdemokratie im 19. Jahrhundert nicht wesentlich anders gewesen ist.

Dennoch ist eine deutliche Unterscheidung notwendig. Arndt glaubte nicht, daß die Rückständigkeit der Russen irgendwie rassisch bedingt war, wie man es später nannte. Im Gegenteil, er betonte: „Ich sage nicht, daß die Russen nichts anderes werden können durch eine Schlechtigkeit von Natur. Ich sage damit nur, daß sie nicht anders sein werden, solange die Schlechtigkeit ihrer Verfassung dauert." Man setze statt „Verfassung" „Gesellschaftsordnung" und ein orthodoxer Marxist würde mit Arndt einverstanden gewesen sein.

Anfänge eines russischen nationalen Bewußtseins

Die Rückständigkeit ihres Landes war den meisten gebildeten Russen schmerzhaft bewußt. Tschernischewski schrieb den bösen Satz von der „miserablenNation, alles Sklaven, von oben bis unten nichts als Sklaven". Aber dennoch liebten sie dieses Land; diese Liebe war „kein tierisches Gefühl, keine Naturgewalt“ wie Herzen in einem berühmten Brief an Georg Herwegh schrieb; es war die Überzeugung von der großen Mission Rußlands, die den Linken und Rechten, Republikanern und eingefleischten Monarchisten gleichsam eigen war; der Glaube, daß je dunkler die Nacht, desto heller der Morgen — Rußlands Zukunft — sein werde. Es war die Überzeugung, die sich sowohl bei Herzen als auch bei dem Antipoden Dostojewski findet, daß „wir Russen sittlich freier sind als die Europäer, weil wir von den großen Erlebnissen der westlichen Entwicklung nicht unterjocht sind und weil wir von unserer eigenen Vergangenheit frei sind". Von der Vergangenheit, sagt Herzen, blieb nur das Volksleben, der Volkscharakter (hier blickt Herder durch) und die Kristallisation des Staates. Alles übrige ist Element der Zukunft. Goethes Worte über Amerika, sagt Herzen, passen sehr gut auf Rußland: „Dich stört nicht im Inneren zu lebendiger Zeit unnützes Erinnern und vergeblicher Streit."

Es gab eine Zeit, als Herzen, in den Ural verschickt, von Europa phantasierte als dem Ideal-bild, dem Paradies. Kaum in Europa angekommen, erklärte er aber bereits: „In Rußland ist es abscheulich zu leben, in Europa ebenso abscheulich.“

Als Herzen diese Zeilen im Jahre 1849 schrieb, waren genau hundert Jahre vergangen, seitdem es in Rußland zum erstenmal unter den Gebildeten zu so etwas wie einer nationalen Selbstbesinnung gekommen war. Wir meinen nicht die theologischen Disputationen über das Dritte Rom, die ins Mittelalter zurückgehen, auch nicht die Reaktion des Adels gegen Münnich und Ostermann und die anderen Glücksritter, die unter den Nachfolgern Peters des Großen nach Sankt Petersburg gekommen waren. Wir meinen vielmehr die patriotische Reaktion, die Müller, der deutsche Historiker mit seiner Rede vor der russischen Akademie der Wissenschaften über den Ursprung der russische Geschichte auslöste: „De origine gentis et nominis Russorum."

Müller wie auch sein Kollege Schlözer erwähnten nicht viel, was Herz und Gemüt eines russischen Patrioten erbauen konnten: Unwissenheit, Niederlagen im Kriege, Plünderei, Mord und Totschlag, kulturelle Finsternis — wenig worauf ein Russe stolz sein konnte. Beleidigend vor allem war in den Augen der Russen die Behauptung, daß Rußlands erste Herrscher germanischen, nicht russischen Ursprungs gewesen waren. Der alte russische Chronist hatte bereits gefragt: „Otkuda jest poschla russkaja zemlja?" Woher stammt Ruß-land? Die Frage, der Streit um die sogenannte Normannentheorie, hat bis auf den heutigen Tag keine befriedigende Antwort gefunden. Sie hat aber viele patriotische Kontroversen ausgelöst. Damals, bei der Sitzung der Akademie der Wissenschaften im Jahre 1749, wurden zum erstenmal Stimmen laut, die sagten, daß die russische Geschichte nicht von Deutschen geschrieben werden sollte. Damit setzte eine allgemeine Reaktion gegen die Fremden und vor allem gegen die Deutschen ein. Gewiß, Parfüms, Gouvernante und französische Bücher wurden auch weiterhin in Paris bestellt, Hauslehrer, Handwerker und deutsche philosophische Zeitschriften aus Berlin. Gleichzeitig aber wuchs das nationale Selbstbewußtsein in den oberen Schichten.

Fonwisin, selber ursprünglich deutscher Herkunft, schrieb im Jahre 1784 nach einer Reise durch Mitteleuropa: „Bei uns ist alles besser, und wir sind ein größeres Volk als die Deutschen." Er gebrauchte dabei einen Ausdruck, der sich nur schwer übersetzen läßt, „mi bolshe liudi tchem nemtsi“ — wir sind mehr Menschen als die Deutschen. Hier fand vielleicht die Theorie von der russischen großzügigen Natur, der „schirokaja natura", ihren ersten Ausdruck, wie Hans Rogger in einer bemerkenswerten Studie über das russische Nationalbewußtsein vor einigen Jahren betonte. Fonwisin stand mit solchen Auffassungen nicht allein; sein Zeitgenosse Possoschkow etwa schrieb: „Die Deutschen mögen mehr Bildung haben als wir, aber unser Verstand, Gott sei Dank, ist keineswegs geringer als der ihrige." Fonwisin und Nowikow, Karamsin und die Prinzessin Daschkowa bemühten sich, eine De-finition, einen gemeinsamen Nenner zu finden für das, was ihnen typisch russisch erschien den russischen Nationalcharakter. Aus ihren Schriften ergibt sich das Bild einer Nation die einfach und unverdorben, ehrlich und gottesfürchtig, freigiebig und dem Zaren ergeben ist.

Groteske Übersteigerungen

Teilweise trieben diese Bemühungen, den russischen Nationalcharakter und die russische Vergangenheit zu idealisieren, groteske Blüten. Vor allem tat sich dabei der Schauspieler und Journalist Plawilschikow hervor, der mit seinen Dithyramben zur moralischen Erbauung des Volkes beitragen wollte. Die Russen waren dem Fremden nicht nur moralisch überlegen, schrieb er, sie waren auch Koryphäen der Wissenschaft und Technik. „Die Russen sind fähig, alles zu verstehen. Welches andere Volk kann das von sich behaupten? Was ein Russe nicht verstehen kann, wird der Menschheit für immer verborgen bleiben." Nach Plawilschikow waren selbst in Rußland die ungebildeten Bauern im Stande, wissenschaftliche Großtaten zu vollbringen. Ein Bauer in der Nachbarschaft, so schrieb er, hatte eine Tinktur zusammengebraut, eine trefflichere Medizin, als Hippokrates und Galen es je vermochten. Da wurde Lomonossow als ein neuer Pin-dar, Sumarokow als ein neuer Racine gepriesen, und Karamsin schrieb: „Oh, Russen, die Zeit ist nah, da auch in unserem Land die Dichtung scheinen wird hell wie die Mittagssonne, und alle Völker werden zu uns kommen des Lichtes wegen, das sie verbreitet."

Als junger Mann war Karamsin nach Deutschland, Frankreich und der Schweiz gereist und hatte in seinen „Briefen eines reisenden Russen" mit ebenso großer Genauigkeit wie Begeisterung alles Bemerkenswerte, was ihm begegnet war, ausgezeichnet. Mit welch atemloser Spannung war er aus der Postkutsche gestiegen, die ihn am 26. Juli des Jahres 1789 von Leipzig nach Weimar gebracht hatte. „Als man mich am Stadttore befragt hatte, befragte auch ich meinerseits den wachhabenden Sergeanten: , Ist Wieland hier? Ist Herder hier? Ist Goethe hier?'. Hier, hier, hier', antwortete er, und ich befahl dem Postillon, nach dem Gasthof , Zum Elefanten'zu fahren." Dort ging die Befragung von neuem los, ob Herder, Wieland und Goethe zu Hause seien und ob sie ihn sofort empfangen könnten. Karamsin konnte nicht einen Augenblick länger warten. Zehn Jahre später ist Karamsin der Wortführer der nationalen Geschichtsschreibung, der sich mit den guten alten Zeiten befaßt, als das herrliche russische Volk noch unverdorben war durch fremde Sitten, als ein Mann noch ein Mann war und ein Wort ein Wort. So wie sein Zeitgenosse, der Dichter Lwow, fühlte er sich von dem Einfluß des Westens befreit: „Wenn wir jung sind, blicken wir nach dem Ausland, als ob es der Himmel wäre. Ich selber habe mich durch diesen falschen Glanz in die Irre leiten lassen."

Bei aller Bewunderung des Westens, und vor allem Deutschlands, fehlte diesen Männern im Ausland die menschliche Wärme, die Freundschaft, das Zusammengehörigkeitsgefühl, das sie zu Hause fanden, wie sehr immer sie die Rückständigkeit der russischen Verhältnisse abstoßen mochte. So entstand nun ein offizielles, idealisiertes Bild von dem russischen Volkscharakter, wie etwa in dem Essay des bereits erwähnten Plawilschikow, der im Jahre 1792 in der Sankt Petersburger Zeitschrift „Sritel" erschien: „Russen aller Klassen sind furchtlos und wahrheitsliebend, sie sind bescheiden, freigiebig und mitleidig. Sie verstehen alles sehr schnell, sind religiös ohne abergläubisch zu sein, tolerant und immer guter Laune. Vor allem aber sind sie fest in allem, was sie sich vornehmen. Gewiß, sie haben auch manche Schwächen, die Schwächen ihrer Tugenden. Aber im Vergleich mit ihren großen Vorzügen treten diese Nachteile kaum in Erscheinung."

Daß es diese Art patriotischer GeschichtsSchreibung gab, ist unbestritten, aber wie einflußreich war sie? Wahrscheinlich hatte sie einen nachhaltigeren Einfluß in den mittleren und unteren Schichten als in den Spitzen der Gesellschaft. Der Adel und die russische Intelligentsia, alle diejenigen, die im neunzehnten Jahrhundert mit dem westlichen Ausland im Berührung kamen, wurden auch weiterhin durch diese fremden Einflüsse berührt, wie sehr die Patrioten dagegen wettern mochten. Hand in Hand damit ging eine Verachtung gegen das eigene, wie Dostojewski es nannte: „Ihr habt mit einem planlosen Vagabundieren durch ganz Europa angefangen, vom gierigen Streben beseelt, euch in Europäer, und sei es bloß äußerlich, zu verwandeln. Während des ganzen achtzehnten Jahrhunderts haben wir nichts anderes getan als uns die äußere Form angeeignet. Wir gewöhnten uns den europäischen Geschmack an und aßen jedes Zeug, ohne das Gesicht zu verziehen: Ich bin nun ganz wie ein Engländer, ich kann nichts ohne Cayenne-Pfeffer essen."

Die Kritik am Westen war aber nicht auf die Slawophilen beschränkt; wir haben bei Herzen gesehen, wie russisch im Grunde diese Weltbürger waren. Sie mochten nicht die Überzeugung der Slawophilen teilen, daß die Grundlagen der russischen Kultur sich grundlegend von jenen Elementen unterschieden, aus denen sich die europäischen Völker entwickelt hatten. Aber wie die Slawophilen glaubten sie an die große Zukunft ihres Landes. Diese Visionen mochten bei den Slawophilen häufig etwas übersteigerte und schwärmerische Formen annehmen, wie etwa in der berühmten Puschkin-Rede Dostojewskis im Jahre 1880, wo er davon sprach, daß zu der „allweltlichen, die gesamte Menschheit umfassenden brüderlichen Vereinigung das russische Herz unter allen Völkern vielleicht am meisten vorbestimmt sei."

Jahrzehntelange Pressepolemiken

An diesem Punkt setzt nun wiederum die Polemik unseres ungenannten Berliner Schriftstellers aus dem Jahre 1888 an. „Was für eine chauvinistische Hetze", ereiferte er sich über die Puschkin-Rede. Er macht sich lustig über die Vision der großartigen, unerschöpflichen Liebe, die alles versöhnen wird, was sich bisher in Haß bekämpft, in der die Knute für immer verbannt wird und in der Küsse und Wodka das selige Bündnis aller Nationen besiegeln werden, natürlich erst nachdem alle Menschen Russen geworden sind. Anlaß zu diesem Ausbruch war, wie erwähnt, Dostojewskis Puschkin-Rede, was unseren deutschen Gewährsmann wiederum zu neuen Wutausbrüchen veranlaßt: „Das ist Unsinn, ist Wahnsinn. Puschkin eine weltliteratur-historische Bedeutung zuzuschreiben, ist einfach lächerlich." Er fügt gönnerhaft hinzu, daß Puschkin und Lermontow für die damaligen russischen Verhältnisse wohl ganz nette Bücher geschrieben hätten, gemessen freilich an den europäischen Verhältnissen sei es damit nicht sehr weit her.

Derartige Polemiken waren nun in der deutschen und russischen Presse der neunziger Jahre ziemlich häufig; sie dauerten auf verschiedenen Ebenen und mit kurzen Unterbrechungen bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges. Man kann diese gegenseitigen Angriffe nicht einfach als die Ausbrüche einiger mißvergnügter Baltendeutschen abtun oder als die Hirngespinste von ausgehaltenen Panslawisten. Denn die Baltendeutschen hatten im Wilhelminischen Deutschland einen nicht unerheblichen Einfluß auf die öffentliche Meinung, was Rußland anging, und die antideutsche Propaganda der Moskauer und Sankt Petersburger Blätter trug durchaus dazu bei, daß schließlich erhebliche Teile der öffentlichen Meinung Rußlands an einen unvermeidlichen Krieg zwischen dem Zarenreich und den Deutschen glaubten.

Wir sind der Verbreitung nationaler Ideen in Rußland und Deutschland nachgegangen und haben versucht darzulegen, worin das Problem des russischen und deutschen Selbstverständnisses bestand, was für Gedanken Russen und Deutsche sich über sich selber sowie über ihre Nachbarn machten. In einer Skizze wird immer das Trennende, nicht das Gemeinsame betont werden, denn nationale Identität wird nur durch Abgrenzung von der anderen Nation gewonnen. Nichts aber wäre verfehlter und weiter entfernt von der historischen Wahrheit als eine Darstellung, in der nur das Trennende, die Spannungen, die Mißverständnisse betont werden.

Russische Bewunderung für deutsche Kultur

Ich habe in einem kürzlich erschienenen Buch dargelegt, daß das deutsch-russische Verhältnis weit differenzierter war — nicht nur und nicht hauptsächlich auf der politisch-diplomatischen Ebene. Es hat keine Nation gegeben, die von den Russen mehr geliebt worden ist als die deutsche. Die Deutschen, das waren die Meister, die Lehrer, das Ideal, dem Generationen junger russischer Intellektueller nacheiferten. Der romantische Held des russischen Romans zeigte häufiger deutsche als russische Züge. Von Lenski in Eugen Onegin heißt es, er habe in Deutschland studiert, er sei ein Bewunderer Kants gewesen und als Dichter unter der Sonne Goethes und Schillers ausgewachsen. Aus dem fernen Deutschland brachte er die Früchte der Gelehrsamkeit, Träume von Freiheit, einen glühenden und forschenden Geist, eine leidenschaftliche Sprache und nicht zuletzt lange, dunkle Haarlocken mit nach Hause. Dieser deutsche Einfluß war nicht auf sentimenta-lische Jünglinge beschränkt, er erstreckte sich von der äußersten Rechten bis zur extremen Linken in Rußland. Selbst ausgesprochene Germanophoben wie Herzen und Bakunin waren durch deutsche Philosophie und deutsche Dichtung geprägt. Die ersten Ideologen des Panslawismus der sechziger Jahre des vorigen Jahrhunderts hießen Hilferding und Miller, das Libretto für Rußlands Nationaloper, „Ein Leben für den Zaren (Iwan Susanin)", stammt von Gustav von Rosen.

Samarin, ein anderer führender Slawophile, schrieb: „Für jeden Russen, der dort studiert hat, zumindest zu meiner Zeit, ist Deutschland eine Art von Mutterland, dessen Milch ihn lange Zeit genährt hat." Pobjedonoszew, der Großinquisitor und Wortführer der extremen Rechten, trug, wie glaubwürdig versichert wird, Zeit seines Lebens ein Exemplar von Goethes „Faust" mit sich herum. Uber die führende Stellung Deutscher in russischen Diensten braucht man nicht viel Worte zu verlieren. Die leitenden Posten im diplomatischen Dienst und teilweise auch beim Militär, natürlich bei Hofe, waren in deutschen Händen. Man erinnert sich an die Antwort, die General Jermolajew gab, als Alexander I. ihn aufforderte, die Belohnung für seine Dienste selber zu bestimmen: „Majestät, machen Sie midi zu einem Deutschen ..."

Die Verehrung für Deutschland auf der russischen Linken war mindestens ebenso groß. Die russischen Sozialisten blickten zu den deutschen Genossen als zu ihren Führern und vertrauten Ratgebern auf und nahmen sie vielfach in Anspruch als Schlichter in ihren internen Meinungsverschiedenheiten. Russisch war die Sprache, in die einige wichtige Werke von Marx und Engels zuerst übersetzt wurden. Nirgendwo wurden sie begieriger gelesen, nirgendwo wurden ihre Vorschriften mit größerem Eifer befolgt. Als Lenin im April 1917 die Schweiz verließ, da hieß es in seinem Abschiedsbrief an die Schweizer Arbeiter: „Das deutsche Proletariat ist der getreueste und zuverlässigste Bundesgenosse der russischen und der internationalen proletarischen Revolution." Auch später bleib Deutschland im sowjetischen Denken ein besonderer Platz vorbehalten. Als im November 1918 die deutsche Revolution ausbrach, da erschien sie den meisten Bolschewik! bedeutsamer als ihre eigene Revolution.

Russophilie in Deutschland

Doch diese Verehrung war keineswegs einseitig. Es wäre reizvoll, wenn eines Tages die Geschichte der — im weitesten Sinne — russischen Partei in der deutschen Politik und der russischen kulturellen Einflüsse in Deutschland geschrieben würde. Die prorussische Tradition in der Politik geht bekanntlich zurück bis ins 18. Jahrhundert. Tauroggen, das Städtchen in Litauen, wo General York im Jahre 1812 ohne Genehmigung seines Königs eine Konvention mit den Russen schloß, ist seitdem ein Stichwort in der deutschen Politik geblieben — genauso wie Rapallo. „Die russische Allianz ist unsere letzte Zuflucht", sagte Friedrich Wilhelm IV. im Gespräch mit den Brüdern Gerlach, und als Nikolai I. im Jahre 1855 starb, schrieb die „Kreuzzeitung": „Unser Kaiser ist gestorben ..." Daß Bismarck in Rußland Deutschlands natürlichen Verbündeten sah, braucht kaum betont zu werden; viele Historiker glauben, daß der Tag, an dem die Reichs-regierung den Rückversicherungsvertrag mit Rußland nicht erneuerte, einer der verhängnisvollsten der deutschen Geschichte war.

Doch die politischen und ideologischen Befürworter einer deutsch-russischen Allianz waren keineswegs nur auf der Rechten zu finden. Für Nietzsche war Rußland die „eigentliche Antithese zum europäischen Partikularismus und zur europäischen Nervosität". Es gab eine ganze Reihe von Denkern von Bruno Bauer (einem frühen Freunde von Karl Marx) bis zu Thomas Mann und den Nationalbolschewisten der Weimarer Republik, die alle in der gemeinsamen Ablehnung des Westens eine Grundlage für ein solches Bündnis sahen. So schrieb etwa Thomas Mann: „Welche Verwandtschaft in dem Verhältnis der beiden nationalen Seelen zu . Europa', zum Westen, zur . Zivilisation', zur Politik, zur Demokratie. . . . Haben nicht auch wir unsere Slawo-philen und unsere , Sapadnika’ — unsere Westler?"

Aber auch in kultureller Hinsicht war Rußlands Einfluß größer und nachhaltiger, als häufig angenommen wird. Leibniz war von Ruß-land bezaubert, Herder schrieb, er sei in Riga ein „richtiger russischer Patriot geworden". Die Wirkung des russischen realistischen Romans in Deutschland, von Tolstoi und Dostojewski, von Gogol und Turgenjew, von Tschechow und Maxim Gorki kann gar nicht überschätzt werden. Rilke begann nach seiner zweiten Rußlandreise Gedichte auf Russisch zu verfassen und schrieb, „daß Rußland mein Heimatland ist, ist einer der großen und geheimnisvollen Gewißheiten meines Lebens". Nach Thomas Mann hat das Gefühl der Menschlichkeit niemals tieferen Ausdruck gefunden als in der russischen Literatur, wodurch er und seine Zeitgenossen jenseits aller politischen Argumente aufs tiefste beeindruckt wurden. Auf die russischen Wurzeln des deutschen Expressionismus in den bildenden Künsten, auf Kandinski, Jawlenski und die anderen kann hier nicht eingegangen werden, ebensowenig auf den Dostojewski-Kult und den Einfluß der jungen sowjetischen Literatur in den zwanziger Jahren oder auf die Wirkung eines Filmes wie „Panzerkreuzer Potemkin", von dem selbst ein Goebbels sagte, daß deutsche Regisseure von ihm viel lernen könnten.

Die Sowjetunion ein Vielvölkerstaat

Man könnte in der Geschichte der letzten 200 Jahre ohne große Mühe viele weitere Beispiele für deutsch-russische Zusammenarbeit, für gegenseitige Beeinflussung und Befruchtung, ja selbst für deutsch-russische Freundschaft finden. Der Gegenstand dieses Beitrags sind jedoch nicht die deutsch-russischen Verhältnisse, sondern das deutsche und das russische und das deutsch-russische Selbstverständ-nis. Hier sind nun zwei Einschaltungen notwendig. Zunächst muß betont werden, daß die Geschichte und auch die Soziologie des Nationalismus, der nationalen Idee, nur in einem historischen Zusammenhang irgendwelchen Sinn hat. Es ist sinnlos, sich auf die Behauptung zu beschränken, daß sich die nationale Idee in Deutschland zwischen etwa 1790 und 1830 entwickelt habe und in Rußland mehr oder weniger zu derselben Zeit Deutsche und Russen erkannten, daß es so etwas wie einen Nationalcharakter gäbe. Nationalismus, nationale Idee, ja selbst der Nationalcharakter — wenn man davon sprechen kann —, sind nicht statisch, sie entwickeln sich mit den Zeitläufen, genauso wie die Beziehungen zwischen den beiden Ländern sich wandeln, genauso wie der sogenannte heutige Durchschnittsverbraucher nicht mit dem Bewohner deutscher Klein-staaten um 1880 identisch ist, genauso wenig wie der Bürger des nachstalinschen Rußlands mit seinem Ur-Ur-Großvater viel gemeinsam hat. Wir haben in unseren Ausführungen uns vielleicht zuviel mit den Entwicklungen in der ersten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts befaßt, zuwenig mit den Ereignissen, die seitdem den Nationalismus und den National-charakter geformt haben. Wir müssen das in Kürze nachholen. Zuvor jedoch eine zweite Randbemerkung.

Man ist häufig geneigt zu vergessen, daß, während fast alle deutschen Staatsangehörigen zu dem deutschen Volk gehören, deutsch als Muttersprache sprechen usw. — für einen Augenblick wollen wir die verschiedenen par-tikularistischen Interessen ignorieren —, die Situation in Rußland keineswegs so einfach ist. Im Rußland der Zaren lebten nicht nur Russen, sondern auch Ukrainer, Polen, Finnen, Kaukasier, Usbeken und andere, und so ist es trotz allen Assimilierungsversuchen, trotz Abtrennung mancher Randgebiete in den Jahren 1918/19 im wesentlichen geblieben. Nun könnte man länger erörtern, in welchem Maße der sowjetische Patriotismus eine Wirklichkeit und inwiefern er ein Scheinbegriff ist; zum Nationalismus, zur nationalen Idee gehört, um nur ein Beispiel zu geben, die Sprache als vielleicht wichtigstes Medium der Zusammengehörigkeit — und eine sowjetische Sprache gibt es nicht. Doch eine solche Untersuchung würde uns weit über den Rahmen unserer Thematik hinaus führen. Uns lag lediglich daran zu betonen, daß, obwohl das russische Volk zweifellos das führende und ausschlaggebende unter den Völkern der Sowjetunion ist, es durchaus nicht das einzige ist, daß die Sowjetunion heute ein multinationaler Staat ist mit Minderheitsproblemen, aber auch mit nationalen Interessen, die nicht nur in die Richtung der Ideen der Slawophilen führen.

Russische nationale Tradition in der Sowjetunion

Das Jahr 1917 war zunächst ein tiefer Einschnitt, was die russische nationale Idee betrifft. Die Bolschewiki, die damals zur Macht kamen, waren bewußte Internationalisten, sie bekämpften den traditionellen großrussischen Chauvinismus, lehnten die alte, offizielle Ideologie in Bausch und Bogen ab. Nun war aber die russische Revolution nicht, wie man damals in Moskau gehofft hatte, der Auftakt zur Weltrevolution; man blieb isoliert, und im Laufe der Zeit entwickelten sich im sowjetischen Kommunismus, ja auch in der kommunistischen Weltbewegung prononciert russische Züge. Zuerst geschah das unmerklich; es waren zuerst nur wenige wie der Emigrant Ustrjalow, die von Lenin als einem Nachfolger Peters des Großen sprachen. Dann jedoch kam, ganz offiziell, der Aufbau des Sozialismus in einem Lande und in den dreißiger Jahren die Renaissance des Sowjetpatriotismus.

Diejenigen, die in dem ersten Jahrzehnt nach der Revolution nationale Traditionen abgewertet und verächtlich gemacht hatten, wurden nun zur Rechenschaft gezogen. Der Sowjet-kommunismus, so hieß es jetzt, leite sich nicht nur von Marx und Engels her, sondern auch von Alexander Newski und Dimitri Donskoi, von Minin und Pojarski, von Iwan dem Schrecklichen und Peter dem Großen. Diese Tendenzen erreichten dann im Zweiten Weltkrieg ihren Höhepunkt, als zeitweise selbst die alten panslawistischen Ideen aufgewärmt wurden. Dieser neue Nationalismus übersteigerte sich dann noch in den letzten Jahren Stalins im Feldzug gegen den Kosmopolitismus, als die sogenannten Verehrer westlicher Einflüsse genauso angeprangert wurden, wie es Dostojewski und die Slawophilen getan hatten, als die wichtigsten Entdeckun-gen und Erfindungen Russen zugeschrieben wurden, genauso wie es Plawilschikow 150 Jahre davor getan hatte.

Diese nationalistischen Übersteigerungen und Auswüchse wurden nach Stalins Tod wieder beseitigt oder jedenfalls beschnitten. Nach wie vor knüpft man aber heute in der Sowjetunion an gewisse nationale, vorrevolutionäre Traditionen an — genauer, an die sogenannten progressiven, nationalen Traditionen der russischen Geschichte, wie es offiziell heißt. Nun war aber, wenn wir von den Zaren und ihren Ministern absehen, das Volk, der Volksgeist, die kulturellen und militärischen Errungenschaften des Volkes a priori progressiv, und daran erweist sich also, wie stark nationale Einflüsse auch in der heutigen Sowjetunion sind. Gewiß, die Vermischung von Nationalismus und Religion gibt es nicht mehr, wichtige neue Einflüsse wie der Kommunismus sind dazugekommen; der russische Mensch des Jahres 1966 hat nicht mehr viele Züge mit Andrej Wolkonski oder Iwan Karamasow gemein. Aber eine Kontinuität in manchen wesentlichen Zügen gibt es; es kam uns darauf an, diese zu betonen, nicht die Verschiedenheiten, die neuen Elemente, an deren Vorhandensein niemand zweifelt.

Die Fehler der Vergangenheit nicht wiederholen

Die Entwicklung in Deutschland im zwanzigsten Jahrhundert kurz zu skizzieren, ist unmöglich, ja in manchem vielleicht überflüssig; sie berührten das schmerzlichste Kapitel der deutschen Geschichte, das allen, die heute leben, ob sie es wollen oder nicht, in lebendiger Erinnerung ist und unter dessen Folgen sie leiden. Das übertriebene Selbstbewußtsein des Wilhelminischen Deutschlands, die fortwährenden Bemühungen, Deutschlands Machtstellung zu verbreitern und zu unterbauen, trugen zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges bei; wieviel im einzelnen sie dazu beitrugen und wieviel es Schuld der anderen war, darüber werden die Dispute der Historiker wohl noch jahrelang weitergehen. Die Niederlage im Jahr 1918, die wirtschaftlichen und sozialen der Erschütterungen Nachkriegsjahre schufen den idealen Nährboden für den Siegeszug radikal nationalistischer Gruppen und Parteien, in denen die extremen Züge der nationalistischen Ideologie des neunzehnten Jahrhunderts von Arndt bis zu den Alldeutschen in potenzierter Form zum Ausdruck kamen. Hier wurden nun die völkischen Ideen verabsolutiert und durch pseudo-wissenschaftliche Rassentheorien ergänzt; die Forderung nach Weltmachtstellung wurde mehr oder weniger offen durch das Streben nach Weltherrschaft ersetzt. Was in manchen Geschichtsbüchern des 19. Jahrhunderts implicite gesagt worden war, wurde nun zur offiziellen Politik, die Überzeugung nämlich, daß andere Völker minderwertig, daß Slawen und Juden Untermenschen seien. Wie diese Politik endete, ist bekannt — mit einer unerhörten Katastrophe —, damit, daß tausend Jahre deutscher Geschichte in Ost-und Mitteleuropa ausgelöscht wurden.

Wir sahen unsere Aufgabe darin, eine Art Prolegomena zum Verständnis des deutschen und des russischen Nationalismus zu liefern, nicht ein Fazit zu ziehen. Die Veränderungen, die um die Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts im Herzen Europas vor sich gingen, sind wahrscheinlich in ihrer geschichtlichen Tragweite bedeutender als irgendwelche Ereignisse im vorangegangenen Jahrhundert. Nur wenig mehr als zwanzig Jahre sind seit Kriegsende vergangen, genug um Abstand von diesen Ereignissen zu gewinnen, nicht genügend, um Endgültiges darüber auszusagen. Fast scheint, daß es heute nicht mehr möglich ist, eine Geschichte der nationalen Bewegung und der nationalen Ideen in Deutschland und Rußland zu schreiben, in der das Hauptgewicht auf Her-der, auf Arndt und Jahn — oder auf Karamsin und den Slawophilen liegt. Das ist in gewissem Maße die Vorgeschichte der nationalen Idee, die zweifellos wichtig, aber längst abgeschlossen ist und mit der sich daher die Historiker gewissermaßen sine ira et Studio befassen können. In der eigentlichen Geschichte freilich, die danach beginnt und die nicht abgeschlossen ist, erscheinen ganz andere, häufig weniger wohltönende Namen, und es gibt in ihr mehr negative und abschreckende Züge als solche, die zu unserer intellektuellen und moralischen Erbauung beitragen können und den Weg in eine bessere Zukunft weisen. Der Trost bleibt, daß Geschichte ist, was die Menschen aus ihr machen, daß es Prädestination weder im Leben der einzelnen noch der Völker gibt, daß, während die Menschen nicht unbedingt aus der Geschichte lernen, sie auch nicht unbegrenzt Fehler wiederholen, vor allem nicht, wenn sie dafür soviel haben leiden müssen. Die Zyniker unter den Historikern werden wahrscheinlich sagen, daß auf den instinktiven Selbsterhaltungstrieb der Menschen mehr Verlaß ist als auf ihre Klugheit und Güte.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Deutschland und Rußland, Berlin 1966.

Weitere Inhalte

Walter Laqueur, geb. 1921 in Breslau, Direktor des Institute of Contemporary History, der früheren Wiener Library in London, und Herausgeber der in London erscheinenden Vierteljahreszeitschrift „Survey — A Journal of Soviet and East European Studies“. Veröffentlichungen u. a.: Communism and Nationalism in the Middle East; Die Deutsche Jugendbewegung, Köln 1962; Heimkehr. Reise in die Vergangenheit, Berlin 1964; Deutschland und Rußland, Berlin 1966.