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Der Marshallplan damals und heute | APuZ 22/1967 | bpb.de

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APuZ 22/1967 Hilfe für Deutschland Der Marshallplan damals und heute Amerikanische Wirtschaftshilfe für Europa George Catlett Marshall -Mensch und Werk Artikel 1

Der Marshallplan damals und heute

Harlan Cleveland

Das wichtigste, was man über den Marshallplan sagen kann, ist zugleich auch das einfachste: er hatte Erfolg. Europa erholte sich von den Zerstörungen des schlimmsten Krieges, den die Welt je gesehen hatte, und erlebte eine wirtschaftliche Wiedergeburt und das stetige Ansteigen des Lebensstandards. In diesem Sinne gehört der Marshallplan der Vergangenheit an — er ist eine leuchtend helle Seite in der Geschichte der Freundschaft und Zusammenarbeit der westlichen Länder.

Weniger auf der Hand liegend, aber noch wichtiger ist, daß die Grundgedanken, Prinzipien und Ziele des Marshallplans heute noch aktiv verwirklicht werden — in Süd-und Zentralamerika, in Südostasien und bis zu einem gewissen Grade sogar in Afrika. Denn der Marshallplan gehört zu jenen seltenen staatsmännischen Taten, die nicht nur den Bedürfnissen der Zeit entsprechen, sondern auch die zeitgenössische Geschichte in ihren wesentlichen Zügen verstärken und lenken. Das war das wahrhaft Geniale an dem „Plan", der zum erstenmal bekannt gegeben wurde in der berühmt gewordenen Rede, die Außenminister George C. Marshall vor zwanzig Jahren im Juni 1947 an der Harvard Universität hielt.

Daß der Plan gerade in Harvard zum ersten-mal vorgelegt wurde, war eigentlich ein Zufall. Als General Marshall im Frühjahr jenes Jahres von der deprimierenden Außenministerkonferenz in Moskau zurückkehrte, war er überzeugt, daß Europa vor dem wirtschaftlichen Zusammenbruch stehe; er fürchtete, die Zeit werde bald für die Kommunisten reif sein, ihre klassische Rolle als Ausbeuter der sozialen Unordnung zu spielen. Ursprünglich hatte er vorgehabt, irgendwo im mittleren Westen, wahrscheinlich auch im Rahmen einer Universität, darüber zu sprechen, aber als die Krise in Europa sich immer mehr zuspitzte, griff er auf eine bereits abgelehnte Einladung zurück, bei den Abschlußfeierlichkeiten in Harvard zu sprechen. Durch diese Rede vom 5. Juni 1947 und durch die rasche und begeisterte Reaktion der Außenminister von Großbritannien und Frankreich gewann der Marshallplan Gestalt.

Marshalls Grundgedanken

Welche Grundgedanken legte General Marshall bei seiner Rede in Harvard dar?

Der philosophische Kern des Marshallplans wird leicht übersehen, weil er so einfach ist und so stark in der jüdisch-christlichen Ethik wurzelt: Staaten, die in glücklicheren Verhältnissen leben, sollten Staaten, die in Not sind, helfen, vorausgesetzt, daß diese bereit sind, sich selbst zu helfen. Das kam später in der bekannten Formulierung „Selbsthilfe plus gegenseitige Hilfe" zum Ausdruck und blieb der Leitgedanke des gesamten Europäischen Wiederaufbauprogramms. Er wurde später auch auf die weniger entwickelten Gebiete der Welt ausgedehnt durch Präsident Trumans »Punkt-Vier-Programm" der internationalen technischen Hilfe. Auch den Auslandshilfe-Programmen, die die Vereinigten Staaten und andere hochentwickelte Länder des Westens seitdem durchgeführt haben, liegt dieser Ge-danke zugrunde; auf ihm ist eine ganze Reihe von Behörden der Vereinten Nationen aufgebaut.

Natürlich haben sich die Völker schon lange vor dem Marshallplan einander in Notzeiten — zum Beispiel bei Naturkatastrophen — geholfen. Internationale Anleihen waren durchaus üblich — wenn es auch nicht immer üblich war, sie voll zurückzuzahlen. Sogar umfangreiche und systematische Hilfe war schon vor dem Marshallplan von der UNRRA — der internationalen Organisation zum Zweck des Wiederaufbaus und der Wiederherstellung, die in Aktion trat, noch ehe der Zweite Weltkrieg gewonnen war — gewährt worden. Aber mit dem Marshallplan wurde die gegenseitige Hilfe mit der Selbsthilfe verknüpft; das war das Neue, was zum bleibenden Bestandteil der Beziehungen der Völker geworden ist.

Sowjets schlossen sich selbst aus

Einen anderen Leitgedanken drückte General Marshall mit den Worten aus: „Unsere Politik richtet sich nicht gegen irgendein Land oder irgendeine Doktrin, sondern gegen Hunger, Armut, Verzweiflung und Chaos."

Man kann nicht oft genug daran erinnern, daß die Tür zum Marshallplan auch für die Sowjetunion und die sowjetisch beherrschten Staaten Ost-und Mitteleuropas offenstand — und von den Sowjets zugeschlagen wurde, als sie es ablehnten, sich daran zu beteiligen. Damit wurden in jener Zeit der monolithischen Herrschaft Moskaus Polen und die Tschechoslowakei (die bereits ein zögerndes Ja gesprochen hatten) automatisch ausgeschlossen. Die Sowjets versuchten sogar unter Aufbietung großer Energie und erheblicher Geldmittel, das Europäische Wiederaufbauprogramm in Frankreich und anderen Teilnehmer-ländern zu sabotieren. Diese Bemühungen waren jedoch von vornherein zum Scheitern verurteilt, weil alle Marshallplan-Staaten entschlossen waren, die Zerstörungen des Krieges zu beseitigen und die Grundlagen für eine moderne dynamische Wirtschaft zu schaffen. Man fragt sich allerdings, ob die Geschichte Europas der vergangenen zwei Jahrzehnte anders verlaufen wäre, wenn die Sowjets das Angebot angenommen hätten, gemeinsam mit uns allen jenes große Werk der Zusammenarbeit zu unternehmen.

Alle spätere Erfahrung hat jedenfalls gezeigt, daß internationale Hilfsaktionen am besten funktionieren, wenn ihnen keine Ideologie zugrundeliegt; internationale Zusammenarbeit ist am erfolgreichsten auf der technischen und praktischen Ebene. Jetzt, da die kommunistisch beherrschten Staaten ihr innenpolitisches System mühsam auflockern und ihre Haltung der Geheimnistuerei und des Mißtrauens allmählich aufgeben, da sie langsam einzusehen beginnen, daß das Schicksal der Nationen im 20. Jahrhundert das gegenseitige Aufeinanderangewiesensein ist, mag vielleicht die technische Zusammenarbeit zur Lösung gemeinsamer Probleme immer noch die beste Brücke über die ideologische Kluft sein.

Zwang zur Zusammenarbeit

Der dritte Leitgedanke des Marshallplans war, daß er für die beteiligten Nationen eine integrierende und einigende Kraft sein soll. Hier wird die Beziehung des Marshallplans zum Haupttrend der modernen Geschichte sichtbar. Um das klar zu erkennen, müssen wir uns die Verhältnisse in Europa im Jahre 1947 einen Augenblick ins Gedächtnis zurückrufen. Winston Churchill sagte darüber: „Was ist Europa heute? Ein Schutthaufen, ein Leichenhaus, eine Brutstätte für Haß und Pestilenz."

Diesem rhetorischen Ausbruch Churchills lagen harte statistische Zahlen zugrunde: Zahlen über die geringe Produktion an Lebensmitteln und Kohle, über die enttäuschende Industrieproduktion und das zerrüttete Verkehrswesen, über den schleppenden internatinalen Handel, über Arbeitslosigkeit, Lebensmittel-knappheit, schwarze Märkte und zunehmende Tuberkuloseerkrankungen. Am schlimmsten war, daß die einzelnen Staaten nicht mehr genug Devisen hatten, um die für die materielle Gesundung nötigen Einfuhren aus Nordamerika zu bestreiten. Die Vereinigten Staaten hatten Großbritannien und Frankreich große Dollaranleihen und Italien, Griechenland und der Türkei erhebliche Zuschüsse gewährt, aber sie waren bald aufgebraucht und die Gefahr von „Hunger, Armut, Verzweiflung und Chaos" blieb bestehen.

Jeder Staat versuchte mühsam, die eigenen niederdrückenden Probleme auf nationaler Ebene zu lösen. Kontrollmaßnahmen nach innen und außen wurden eingeführt, der Außenhandel wurde eingeschränkt, der Devisenaustausch Beschränkungen unterworfen und die Freizügigkeit der Menschen eingeengt. Da den Nationen Westeuropas kein anderer Weg mehr offen zu stehen schien, zogen sie sich auf sich selbst zurück und gerieten in einen Teufelskreis der Autarkie, der Not und der Verbitterung.

Außerdem hatte kein europäischer Staat Aussicht, eine moderne Wirtschaft innerhalb der eigenen Grenzen aufzubauen. Nur ein sehr viel größeres Wirtschaftsgebiet konnte auf die Dauer die Massenproduktion sicherstellen, die der Massenverbrauch und der steigende Lebensstandard ganzer Völker notwendig machten. Das wußten natürlich viele europäische Politiker und Volkswirtchaftler, aber sie fanden aus dem Labyrinth der Beschränkungen nicht mehr heraus; die selbstzerstörerische Suche nach nationalen Lösungen ließ sich nicht mehr rückgängig machen. Das ist der Punkt, wo sich der Marshallplan am wirksamsten erwies, denn das Europäische Wiederaufbauprogramm (das wichtigste Gesetz, das der untätige republikanische Kongreß von 1948 annahm) wurde nicht ohne Auflagen erlassen. Die Hilfe wurde nur unter strengen Bedingungen gewährt: zuerst mußten die Europäer sich zusammenschließen und auf ein europäisches Wiederaufbauprogramm einigen, in dem alle Platz hatten und zu dem alle beitrugen. Die Vereinigten Staaten waren weder bereit, Gelder für unkoordinierte oder gar konkurrierende nationale Wiederaufbau-und Entwicklungsprogramme zu gewähren noch einseitige Verhandlungen mit einzelnen Staaten zu führen oder eine Auswahl zwischen den konkurrierenden Forderungen der europäischen Länder an die Hilfe Amerikas zu treffen. Die unmittelbare Folge dieser Bedingungen war die Gründung der Organisation für Europäische Wirtschaftliche Zusammenarbeit (OEEC). Wenn die europäischen Staaten gemeinsam planen, ihren gemeinsamen Bedarf errechnen, wenn sie zu den Vereinigten Staaten mit einer Stimme sprechen und die zur Verfügung stehenden Mittel der Entwicklungshilfe untereinander verteilen wollten, brauchten sie — das lag auf der Hand — eine ständige internationale Organisation mit eigenen Exekutivbefugnissen.

Anstoß zur europäischen Einigung

Um ganz ehrlich zu sein, die amerikanische Bedingung wurde nicht überall begrüßt; einige europäische Regierungen glaubten, es wäre für sie günstiger, wenn sie bilaterale Verhandlungen mit Washington über eine Wiederaufbauhilfe führten. Aber es blieb ihnen im Grunde keine andere Wahl. Es ist seit Jahren meine Überzeugung, daß gerade diese Form der diplomatischen „Härte" zu den weisesten und weittragendsten Entscheidungen gehört, die die amerikanische Regierung je getroffen hat.

Im vielschichtigen Bereich der Politik ist es immer gefährlich zu versuchen, Ursache und Wirkung von einander zu unterscheiden. Aber es ist tatsächlich so, daß die am Marshallplan beteiligten Nationen sehr rasch die „Gewohnheit der Zusammenarbeit", wie ein britischer Delegierter es ausdrückte, lernten, eine Gewohnheit, die von einem außerordentlich tüchtigen internationalen Stab unter der hervorragenden Führung des Franzosen Robert Marjolin, eines wahrhaften Helden des europäischen Wiederaufbaus, stark gefördert wurde.

In dieser Atmosphäre wandten sich die Staaten Europas (wenn auch unter starken innenpolitischen Mühen) von der Politik der Isolierung und der Schutzzölle zu einer neuen Politik, die es sich zum Ziel gesetzt hatte, einen freieren Fluß von Material, Geld und Menschen über die Grenzen zu ermöglichen, Export und Reiseverkehr zu fördern, Energie-und Verkehrssysteme zu integrieren, Straßen-schilder zu standardisieren, Grenzübergangs-bestimmungen zu vereinfachen — und vieles andere mehr, was heute schon als selbstverständlich gilt.

Der Umfang der amerikanischen Hilfe — in Geld und Hilfsleistungen ausgedrückt — war ungeheuer; so etwas war noch nie dagewesen und bedeutete geradezu eine Gefahr für den Erfolg des Wiederaufbauprogramms. Aber die Gesundung Europas war in erster Linie die Leistung der Europäer selbst, die für ihre gemeinsamen Interessen zusammenarbeiteten. Diejenigen Staaten, die sorgfältige Pläne für ihren eigenen Wiederaufbau gemacht hatten, konnten natürlich die amerikanische Hilfe am raschesten aufnehmen und am besten nutzbar machen; nirgends traf diese Hilfe auf besseren Boden als in Frankreich, wo sie sich in das französische Wiederaufbau-und Modernisierungsprogramm Jean Monnets einfügte. Paul Hoffman, der Administrator des Marshallplans in Amerika, wurde es nie müde, den Amerikanern zu erzählen, die Europäer stellten 95 Prozent der gesamten natürlichen Hilfsquellen zur Verfügung, die in das Vierjahresprogramm für Wiederaufbau und Wiederbelebung investiert worden seien.

Aus der Erfahrung der gemeinsamen Arbeit in der OEEC heraus gründeten die beteiligten Nationen die European Productivity Agency, um die Einführung leistungsfähiger, moderner Techniken in Industrie und Landwirtschaft zu fördern, sowie die Europäische Zahlungsunion (EZU), um den Ausgleich der Handelsbilanzen zu erleichtern. Ich erinnere mich noch gut an eine Sitzung eines Kongreßausschusses, bei der Paul Hoffman die Europäische Zahlungsunion vertrat. Es ging um einen fürchterlich komplizierten Plan, den der leitende Wirtschaftsfachmann des Marshallplans gerade mit erbarmungsloser Genauigkeit darlegte. Als Hoffman sah, daß die Abgeordneten allmählich glasige Augen bekamen, schaltete er sich ein. „Soweit ich das verstehe", sagte er, „funktioniert die Zahlungsunion so:" Seine vereinfachte Darstellung mag nicht ganz präzise gell wesen sein, aber sie übertrug jedenfalls die anstreckende Begeisterung Hoffmans für die Integration Westeuropas auf die inzwischen hellwach gewordenen Abgeordneten. Daraufhin wurde der Beitrag Amerikas zur Europäischen Zahlungsunion mit großer Mehrheit beschlossen.

Als die transatlantische und innereuropäische Zusammenarbeit sich in Gestalt einer raschen dynamischen Gesundung Europas bezahlt zu machen begann, arbeiteten französische Wirtschaftsplaner zusammen mit Jean Monnet einen Vorschlag für eine Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl aus. Gerade so etwas hatte der französische Außenminister Robert Schuman gesucht: einen mit technischen Fragen beginnenden ersten Schritt auf dem Wege zur politischen Einigung der Völker des westeuropäischen Kontinents.

Jean Monnet wurde damals gefragt, welche Fachleute für Kohle und Stahl von ihm und Schuman zu Rate gezogen worden seien, als der Schuman-Plan, wie er später genannt wurde, entstand. Fachleute hätten sie überhaupt nicht gefragt, antwortete Monnet. „Fachleute hätten den Plan für undurchführbar gehalten — bis so viel politischer Elan dahinter-stand, daß er unumgänglich wurde!“ Und so wurde der Schuman-Plan tatsächlich zum ersten von mehreren Schritten auf dem Wege zur Einheit: Euratom, der Vertrag von Rom und die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft. (Ein anderer Vorschlag — die Europäische Verteidigungsgemeinschaft — konnte nicht verwirklicht werden, weil die französische Regierung ihn nicht unterstützte; aber bei allen anderen erfolgreichen Schritten auf diesem Wege hat die Führung Frankreichs den Ausschlag gegeben.)

So wurden die jetzigen Institutionen der wirtschaftlichen Integration Europas — die eine gesamteuropäische Wirtschaft geschaffen haben, die den steigenden Lebensstandard der europäischen Völker zu befriedigen vermag — zur zweiten Stufe einer europäischen Entwicklung, die mit der OEEC und dem Marshallplan ihren Anfang genommen hatte.

Beispiel für die übrige Welt

Der besondere und bleibende Wert des Marshallplans liegt in seinem Grundgedanken, daß er als einigende und integrierende Kraft in Europa wirken soll; er war es, der die weitere Entwicklung erst möglich gemacht hat. Die Aufgabe, diese Kraft zum Wohle Europas zu stärken und zu lenken, liegt nun schon seit langem ausschließlich in den Händen der Europäer selbst. Der Prozeß der wirtschaftlichen Integration mit seinen unausbleiblichen politischen Folgen mag zwar von Zeit zu Zeit stokken, weil technische Schwierigkeiten auftreten oder anachronistische politische Neigungen zu einem engen Nationalismus Wiederaufleben. Aber es kann kaum Zweifel darüber bestehen, daß die Entwicklung zu einer integrierten europäischen Wirtschaft den Punkt erreicht hat, an dem es kein Zurück mehr gibt: Die Integrierung kleiner nationaler Wirtschaften, die breite regionale Märkte beliefern, ist einfach zur notwendigen Folge der modernen Technik geworden. Sehnsüchtiges Zurückblikken und Nationalismus sind diesen Forderungen auf die Dauer nicht mehr gewachsen.

Die Idee des Marshallplans — daß der Wiederaufbau nur der erste Schritt zur Integration sei -— hat sich auch in der übrigen Welt durchgesetzt. Diese Entwicklung in der Geschichte unserer Zeit wird, von Europa abgesehen, überall dort sichtbar, wo geographische Gebiete von kontinentalem Ausmaß. nicht von entsprechend großen Nationen ausgefüllt werden.

Das äußerst schwierige Problem der Armut in Lateinamerika wurde zum erstenmal mit Präsident Kennedys Allianz für den Fortschritt in Angriff genommen, deren zentrale Institution die Interamerikanische Entwicklungsbank ist. „Es ist das erstemal in der Geschichte, daß eine Bank zur Finanzierung einer sozialen Revolution gegründet worden ist", sagte ein Beamter dieser Institution. Aber die Völker der westlichen Hemisphäre hatten die Lehren der OEEC nicht ganz begriffen; sie stellten Entwicklungspläne auf nationaler Ebene auf, ohne Bezug auf eine Integrierung, und führten bilaterale Verhandlungen über Entwicklungshilfe.

Als jedoch die Allianz im August vorigen Jahres ihren fünften Jahrestag beging, waren sich die führenden Politiker der westlichen Hemisphäre inzwischen darüber einig geworden, daß das Ziel des gesamten Entwicklungsstrebens Lateinamerikas die wirtchaftliche Integration sein müsse. Die Interamerikanische Entwicklungsbank hat einen Sonderfonds für die wirtschaftliche Integration, und eine latein-die wirtschaftliche Integration, eine lateinamerikanischer Gemeinsamer Markt sind im Entstehen begriffen; eine Art DEEC, die CIAP heißt, untersucht in der gleichen Weise, wie die OEEC es so erfolgreich getan hat, auf multilateraler Basis die Entwicklungsprogramme aller lateinamerikanischer Staaten. Die Analogie zu den Erfahrungen in Europa ist ganz bewußt: die Denkschrift, die zur Gründung der CIAP führte, sprach von der Notwendigkeit einer „Gewohnheit der Verständigung." In Südostasien sind ermutigende Schritte zu einer regionalen Zusammenfassung der Wirtschaft von dem Krieg in Vietnam überschattet worden. Der Anstoß zu einer multinationalen Zusammenarbeit ist von der Wirtschaftskommission für Asien und den Fernen Osten der Vereinten Nationen ausgegangen, die die Planung für das Projekt im unteren Mekong-Delta koordiniert. Es handelt sich dabei um ein gewaltiges Entwicklungsprojekt im Mekongtal, das zur regionalen Zusammenfassung der Wirtschaften von Thailand, Kambodscha, Laos und der Republik Vietnam wesentlich beitragen würde. Trotz Krieg und den gegenwärtigen Unruhen haben über 20 Nationen und ein Dutzend Behörden der Vereinten Nationen in gemeinsamer Arbeit einen ersten Überblick geschaffen, und einige Projekte sind bereits in Angriff genommen worden. Präsident Johnson hat sich verpflichtet, für das Mekong-Projekt sowie für einige andere asiatische Gemeinschaftsprogramme eine Milliarde Dollar bei-zusteuern sowie sie Gestalt annehmen und von den Asiaten in eigener Verantwortung vorangetrieben werden.

Inzwischen sind auch der Asiatische Rat für industrielle Entwicklung und die Asiatische Entwicklungsbank gegründet worden; beide werden sich um eine wirtschaftliche Integration besonders in der Industrie, in der Energiewirtschaft und im Verkehrswesen bemühen.

Zentralafrika dürfte heute das am stärksten „balkanisierte" Gebiet der Welt sein; der enge Nationalismus leistete zwar gute Dienste, als es darum ging, die Kolonialmächte hinauszudrängen, scheint aber der Verwaltung und der Wirtschaft nicht viel zu nützen, wenn es gilt, den Bedürfnissen der afrikanischen Völker gerecht zu werden. Aber unter der umsichtigen Führung der Wirtschaftskommission für Afrika der Vereinten Nationen bemühen sich die neuen Nationalisten bereits um eine regionale Entwicklungsgrundlage — die Forderungen der Technik kennen keine „Farbenschranke".

Fortschritt hängt von der eigenen Tatkraft ab

Die Probleme der wirtschaftlichen Entwicklung in Lateinamerika, Südostasien und Afrika unterscheiden sich natürlich sehr stark von den Wiederaufbauproblemen, die in Europa vor zwei Jahrzehnten mit einem Vierjahresprogramm mit Erfolg in Angriff genommen wurden; sie müssen in sehr viel größeren Zeiträumen rechnen und haben mit ungleich schwierigeren Bedingungen zu kämpfen. Aber auf jedem Kontinent wird die Erfahrung gemacht, daß der Fortschritt von der Tatkraft der Länder selbst, die die Hilfe von außen zu nutzen verstehen, sowie von der Entwicklung einer großräumigen, über nationale Grenzen hinweggehenden Wirtschaft abhängt.

Weil einige Amerikaner im Jahre 1947 Phantasie besaßen und einzusetzen bereit waren, weil die Europäer eine kraftvolle Initiative entwickelten und weil weitblickende europäische Staatsmänner begriffen, daß nationale Grenzen für den wirtschaftlichen Aufschwung ein Hindernis sind, gibt es in Westeuropa heute weder Hunger noch Armut, weder Ver. zweiflung noch Chaos. Wenn wir an die Zukunft Europas denken, sollten wir uns die Gründe vor Augen halten, die die Entwicklung der ersten zwanzig Jahre nach dem Kriege bestimmt haben.

Fussnoten

Weitere Inhalte

Harlan Cleveland, Dr. of Law, Dr. of Hum. Lett., US-Botschafter bei der NATO, geb. 19. Januar 1918 in New York City. Veröffentlichungen u. a.: The Overseas American (Mitautor), 1960; The Promise of World Tensions (Hrsg.), 1961; The Ethics of Power (Mithrsg.), 1962; Ethics and Bigness (Mithrsg.), 1962.