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George Catlett Marshall -Mensch und Werk | APuZ 22/1967 | bpb.de

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APuZ 22/1967 Hilfe für Deutschland Der Marshallplan damals und heute Amerikanische Wirtschaftshilfe für Europa George Catlett Marshall -Mensch und Werk Artikel 1

George Catlett Marshall -Mensch und Werk

Hendrik Brugmans

Soldat mit Friedensnobelpreis

Für uns Europäer ist George Catlett Marshall der Mann des Hilfsprogramms, das seinen Namen trägt. Und doch stellt diese großartige Tat, die Europa rettete und den Gang der Geschichte änderte, nur eine Episode in der langen Karriere des amerikanischen Generals dar. Am letzten Tage des Jahres 1880 geboren, hatte Marshall bereits sein 66. Lebensjahr vollendet, als er in der Harvard Universität am 5. Juni 1947 seine berühmt gewordene Rede hielt. Und bis es dahin kam, hatte er eine Vielzahl verantwortungsvoller Entscheidungen zu fällen, oft unter dramatischen Umständen.

Will man die Vorgänge im Jahre 1947, die mit dem Namen Marshall verknüpft sind, voll und ganz würdigen, so kann man nicht umhin, die ganze Persönlichkeit dieses Mannes, des Soldaten, Patrioten und Staatsmannes in Betracht zu ziehen.

Marshall war zuallererst Soldat und erhielt doch für seine Verdienste im Jahre 1953 den Friedensnobelpreis. Für unsere Generation klingt das etwas paradox. Wie kann man dem Frieden dienen und zugleich für die Durchführung zahlreicher kriegerischer Operationen verantwortlich gewesen sein? Gilt denn noch immer das alte römische Wort, demzufolge man den Frieden am besten wahrt, indem man sich auf den Krieg vorbereitet?

Man muß sich indessen davor hüten, das Tun der Soldaten früherer Kriege an den pazifistischen Vorstellungen von heute zu messen. Und man würde der Geschichte nicht gerecht, wenn man den militärischen Leistungen der Vergangenheit den Respekt versagen wollte. Das Verhältnis zwischen politischer und militärischer Notwendigkeit war in der Geschichte stets spannungsgeladen. Gilt das für Zeiten, in denen der Krieg als Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln betrachtet wurde, wieviel mehr muß das dann gelten, wenn Demokratien den Krieg als Mittel auszuschließen bemüht sind.

Schließlich ist es verständlich, daß der Politiker zunächst an seine Wähler denkt, die eine möglichst kurze Militärdienstzeit und ein kleines Militärbudget fordern. Der Soldat hat dagegen die Pflicht, an die Möglichkeit eines bewaffneten Konfliktes zu denken und die ihm untergebenen Streitkräfte so gut wie möglich auszurüsten und vorzubereiten. Jeder ist dabei seinem Gewissen verantwortlich, und es ist keineswegs gesagt, daß der Zivilist zugleich auch immer der Pazifist und der Soldat blutrünstiger Militarist ist. Wie oft ist es schon geschehen, daß sich im Falle internationaler Krisen alle Kritik auf den Generalstab häufte und dieser dann für die Versäumnisse der Politiker verantwortlich gemacht wurde!

Von General Marshall ist bekannt, daß er im Verlauf zahlreicher „hearings“ in den Ausschüssen des amerikanischen Kongresses mehr als einmal die Geduld verlor. Ihm ging jenes Gefühl für Taktik ab, das in der Politik unumgänglich scheint. Ist er darum ein „Militarist"? Ist es verwunderlich, wenn sich die Sorge des Generalstabschefs Luft macht, der seine Verantwortung einer demokratischen Ordnung gegenüber trägt, die alle Tugenden hat — nur die eine nicht: schnell zu handeln? Bewundernswürdig ist vielmehr, daß dieser Mann mit seiner ungeheuren Verantwortung auch nicht einen Augenblick lang die demokratische Grundordnung in Zweifel zog, die sich die Gründer der Vereinigten Staaten von Amerika gegeben haben.

Tiefe demokratische Überzeugung

In diesem Zusammenhang seien zwei Zeugen zitiert, die lange Zeit mit Marshall zusammengearbeitet haben.

In seinen Erinnerungen „Sketches from Life of Men I have known" stellt sich der frühere amerikanische Außenminister Dean Acheson die Frage, ob Marshall nur in militärischen Ka-tegorien gedacht habe. Er kommt zu der Über-zeugung, daß nichts irriger als diese Annahme sei. Marshalls Denken sei keineswegs von militärischen Überlegungen beherrscht gewesen. Gewiß war sich Marshall der Tatsache bewußt, daß organisierte Gewalt in den Beziehungen der Völker eine Rolle — eine wesentliche Rolle, leider — spielt. Aber nie akzeptierte er die allzu simple Auffassung derer, die Völker und Ideen nach den Divisionen messen, die sie zu mobilisieren im Stande seien. Marshall glaubte an die Macht der Ideale, er wußte, daß eine Demokratie — militärisch gesehen — in der schlechteren Startposition ist, daß aber auf lange Sicht ein freies Volk, wenn es für seine Ideale eintritt, unbesiegbar bleibt.

Das Urteil Achesons wird vom damaligen Präsidenten der Vereinigten Staaten, Harry S. Truman, voll bestätigt. In seinen Memoiren berichtet der Präsident, daß für die Durchführung des Hilfsprogramms für Europa Marshall genau der richtige Mann gewesen sei, weil „er zutiefst in der Demokratie wurzelte und aufrichtig glaubte, daß die Völker ihr eigenes Schicksal zu gestalten hätten“. Und in der Tat hatte der General eine tiefe demokratische Überzeugung, die er mit Millionen seiner Landsleute teilt, die aber nicht immer in Europa das gleiche Echo findet, vielleicht weil wir Europäer aus Erfahrung zu Skeptikern geworden sind. Truman fährt fort und versichert, daß Marshall „fest an das Primat der Politik gegenüber dem Militärischen glaubt". Auch diese naiv anmutende Überzeugung mußte die Zyniker herausfordern, um so mehr, als es Marshall während seiner Tätigkeit in China nicht gelungen war, Generalissimus Tschiang Kai-schek für dieses Prinzip zu gewinnen. Doch gab ihm andererseits diese Überzeugung die Kraft, im Alter von 70 Jahren vor dem Kongreß eine zweiundvierzigstündige Vernehmung über den Korea-Krieg zu überstehen, die mit seinem Sieg und der Niederlage des berühmten McArthur endete. Er ging in diese seine letzte Schlacht als Bürger der Vereinigten Staaten, als Bürger eines demokratischen Gemeinwesens, um seine Vorstellungen zu erläutern und dem Urteil der Repräsentanten des Volkes anheimzustellen.

Und doch besaß Marshall die Tugenden des echten Soldaten: er konnte gleichermaßen entscheiden und ausführen, befehlen und gehorchen. Seine anerkannte Autorität dürfte auf fünf Eigenschaften zurückgehen, die sich selten in einem Menschen vereint finden:

Er besaß ein sehr ausgeprägtes Gespür für das Wesentliche, das es ihm möglich machte, stets auf den Grund der Dinge zu sehen und für die ihm gestellten Probleme schnell geeignete Lösungen zu finden.

Er wußte aber auch, daß alle Details einer Operation von Bedeutung sind und daß keines vernachlässigt werden darf, wenn sich der Erfolg einstellen soll.

Er hatte wiederum zugleich die Gabe, sich nicht in technischen Details zu verlieren, sondern vertrauensvoll Verantwortung auf sorgfältig ausgesuchte Mitarbeiter zu delegieren.

Schließlich hatte er den persönlichen Mut, Entscheidungen zu treffen, auch wenn noch nicht alle Einzelheiten geklärt waren.

Vor allem aber war er stets von der Sache und dem Erfolg überzeugt. Und dieses Vertrauen war ansteckend. General Eisenhower, der ihm zeitweilig unterstellt war, weiß dazu zu berichten: „Marshalls Fähigkeit, Verantwortung zu delegieren, war nicht nur der Sache dienlich, sondern war jedem Untergebenen Ansporn, mehr zu leisten, als normalerweise von ihm erwartet wurde."

Disziplin und Gehorsam

So wie er nach kurzer Überlegung Entscheidungen zu fällen wußte, so konnte er auch gehorchen. Das beleuchtet eine kleine Anekdote bei Ausbruch des Korea-Krieges im Jahre 1950. Marshall stand damals kurz vor Vollendung seines siebzigsten Lebensjahres, lebte seit einiger Zeit im Ruhestand und hielt sich gerade irgendwo im Norden des Landes zum Angeln auf. Plötzlich schellte das Telefon in dem kleinen Postbüro, wo man auch alles kaufen konnte, was zum Angeln und Fischen notwendig ist. Ein gewisser Mister Marshall — ja, eben der General — solle sofort ans Telefon kommen, ganz gleich wie — der Präsident wolle ihn sprechen. Als Marshall kurz darauf im Postbüro anlangt, haben sich die Dorfnotabein in der Erwartung eingefunden, Zeugen eines historischen Gesprächs zu werden, denn eine Kabine war nicht vorhanden. Nun, sie wurden Zeugen des Gesprächs, hörten aber nur wenige Worte: „Yes, Mr. President" — „Yes" — „When?" — „Yes Sir“. Und dann legte der „grand old man" wieder auf. Er war soeben zum Verteidigungsminister ernannt worden .. .

Nein, Disziplin und Gehorsam sind keine Sklaveneigenschaften, wie es uns eine irrige Auffassung von Demokratie zeitweilig glau ben machen wollte. Freiheit und Disziplin schließen einander nicht aus, im Gegenteil, sie bedingen einander, wenn der einzelne seine Fähigkeiten voll ausschöpfen will. Wie sehr Marshall seine Persönlichkeit dem Dienst der Sache widmete, zeigt ein anderer Vorgang. Als es darum ging, den Oberbefehlshaber für die Invasion an der französischen Kanalküste zu ernennen, hätte Marshall nur einen kleinen Hinweis zu geben brauchen und Roosevelt hätte ihn zum Oberkommandierenden des größten Kriegsschauplatzes im westlichen Europa gemacht. Marshall selbst hatte sich stets ein Kommando an der Front gewünscht. Er wußte aber auch, wie wichtig seine Position als Generalstabschef war — und schwieg. So durfte Kriegsminister Stimson am Tage des Sieges in Europa zu ihm sagen: „Sie haben niemals an sich selbst gedacht. Es dürfte selten sein, daß ein Mann es ausschlägt, Kommandierender General der größten Feld-armee in unserer Geschichte zu sein. Sie haben diese Entscheidung aus gänzlich uneigennützigen Gründen gefällt."

Marshall scheute auch nicht Kritik an seiner eigenen Person. Zwar glaubte er felsenfest an bestimmte grundlegende Ideen und trat für diese rückhaltlos ein, andererseits war er aber ebenso überzeugt, daß ihm selbst Grenzen gesetzt seien. Als er 1947 nach seiner Berufung zum Außenminister diplomatische Entscheidungen fällen mußte, die ihm bisher fremd waren, rief er seine Mitarbeiter zusammen und verlangte von ihnen vorbehaltlose Offenheit. Dabei sprach er jene bezeichnenden Worte, die mehr als alles andere seine Persönlichkeit beleuchten und zugleich für Sekunden den Schleier über seinem persönlichen Leben lüfteten: „Ich muß von Ihnen völlige Offenheit verlangen, ganz besonders in bezug auf meine eigene Person. Ich kenne keine anderen Gefühle als die, die ich Mrs. Marshall entgegenbringe."

Der Außenminister

Doch zurück zu dem Plan, der seinen Namen trägt und für die freien Völker Europas die Rettung bedeutete. Dieser Plan war Teil einer weitsichtigen politischen Gesamtkonzeption und das Resultat einer Reihe internationaler Erfahrungen, die Marshall zum Teil selbst machen mußte.

Er hat politische Entwicklungen nie aus rein amerikanischer Sicht gesehen. Sein Werdegang führte ihn in fast alle Kontinente. Als junger Offizier diente er auf den Philippinen. In den zwanziger Jahren war er in China, wo er sich mit Kultur und Sprache dieses Landes vertraut machte. Nicht zuletzt wegen dieser Erfahrungen beauftragte ihn Präsident Truman, wenige Stunden nachdem sich Marshall 1945 in den verdienten Ruhestand zurückgezogen hatte, mit dem hoffnungslosen Versuch, im chinesischen Bürgerkrieg zwischen Kommunisten und Kuomintang zu vermitteln. Seine Mission scheiterte, weil — das war Marshalls Erkenntnis — es den nationalen Kräften an einem vorwärts weisenden Programm fehlte.

Dieser Mißerfolg in China wurde später °ft gegen Marshall ausgenutzt und ausgeschlachtet. Zu Zeiten des berühmt-berüchtigten McCarthy zögerte man nicht, Marshall zu den sogenannten „Mitläufern" zu rechnen, die angeblich ein Sicherheitsrisiko für die amerikanische Regierung bedeutet haben sollen. Doch Marshall ließ sich nicht entmutigen und übernahm am 7. Januar 1947 ohne Zögern das Amt des Außenministers. Seine Illusionen waren verflogen. Noch kurze Zeit zuvor war er überzeugt, daß es gelingen könne, die „große Allianz" mit der Sowjetunion im Interesse des Friedens zu bewahren. Im August 1943, auf der Konferenz von Quebec, hatte er in einer Note die Verständigung zwischen West und Ost nicht nur als eine militärische Notwendigkeit, sondern als Basis einer Friedensordnung nach dem Kriege gefordert. Anfang 1947 sah er zwar noch immer die Notwendigkeit dieser Verständigung, traf aber zugleich Vorbereitungen für eine politische Alternativlösung, die noch im selben Jahre zur Anwendung gelangte.

Wie war es dahin gekommen?

Im Februar 1947 hatte Bernard Baruch einen letzten Versuch unternommen, den amerikanischen Abrüstungsplan durchzusetzen und den Vereinten Nationen die Kontrolle aller Atomwaffen zu übertragen. Die Sowjetunion bereitete sich jedoch fieberhaft auf die Entwicklung ihrer eigenen Bombe vor und lehnte den Plan ab: Der atomare Rüstungswettlauf hatte begonnen.

Im März trat in Moskau die interalliierte Konferenz zusammen und endet nach vier Wochen mit einem totalen Mißerfolg. Im November trat die Konferenz noch einmal zusammen, diesmal in London, wiederum ohne jeden Erfolg — und das, obwohl allein die Sowjetunion östlich und westlich ihrer früheren Grenzen mit beträchtlichem Gebietserwerb aus dem Krieg hervorgegangen war. Es genügt, auf das alte deutsche Königsberg zu verweisen, wo ein Immanuel Kant über ein Viertel-jahrhundert lang gelehrt hat, das nicht mehr und nicht weniger russisch ist als Montpellier oder Salamanca, jetzt hieß es plötzlich Kaliningrad. Das erschreckende Abkommen von Jalta wurde in seiner ganzen Härte durchgeführt, ganz Mittelosteuropa der Roten Armee ausgeliefert. Auf der anderen Seite hatten die westlichen Alliierten auf jede nennenswerte Gebietsannexion verzichtet. Sie hatten also zu Recht ein weniger aggressives Verhalten der Sowjets erwarten können. Als jedoch klar wurde, daß der Westen keine weiteren Zugeständnisse zu machen bereit war, verloren die interalliierten Konferenzen ihren Sinn und wurden nicht mehr einberufen. Entgegen ihrer Absicht sahen sich Amerikaner und Engländer gezwungen, eine eigene Politik, vor allem in der Deutschlandfrage, zu entwickeln.

Antiamerikanismus als Dank

Das War die Situation, in der der Marshallplan Form annahm. Zwischen den Konferenzen in Moskau und London wurde noch einmal an den Kreml appelliert, denn die amerikanische Hilfe sollte ganz Europa zuteil werden — einschließlich der UdSSR. Doch Moskau lehnte ab und zwang andere, ebenfalls abzulehnen. Warschau zögerte, mußte sich aber bald beugen. Prag akzeptierte zunächst, mußte jedoch seine Entscheidung wieder rückgängig machen. Auf der Pariser Konferenz der vier Außenminister, die von Bevin und Bidault einberufen worden war, wiederholte Molotow sein traditionelles „njet". Der Marshallplan mußte auf Westeuropa beschränkt bleiben.

Um was handelte sich es bei diesem Plan?

Zuallererst war der Marshallplan ein gigantisches wirtschaftliches Rettungsunternehmen, durch das die erschöpften europäischen Länder über Rohstoffe und Investitionsgüter verfügen konnten, deren sie dringend bedurften. Die damals herrschende Not mag durch eine einzige Zahl dargestellt werden: Die Vereinigten Staaten mußten in den Jahren nach dem Kriege allein Nahrungsmittel im Werte von über 8 Milliarden Dollar an sechzehn europäische Länder liefern.

Doch waren solche Lieferungen allein nicht das Entscheidende; denn inzwischen haben wir erlebt, wie Milliardensummen in die Entwicklungshilfe geflossen sind und in einem Sumpf von Inkompetenz, Desorganisation und Korruption verschwendet wurden. Wir sehen immer wieder, wie diese Hilfsgelder im Danaidenfaß versickern, so daß wir uns zu Recht fragen müssen, warum der Marshallplan so erfolgreich war. Die Antwort ist einfach: Dieser Plan gründete sich auf eine politische Konzeption und eine wirtschaftliche Methode.

Freilich ging es auch nicht ohne Schwierigkeiten ab, vor allem psychologischer Art. Mancher Europäer fühlte sich im Inneren gedemütigt, weil er auf fremde Hilfe angewiesen war. Es überrascht deshalb nicht, wenn wir feststellen, daß der latente Antiamerikanismus in Europa aus der Zeit des Marshallplans datiert. Wir müssen das hinnehmen, Menschen sind nun einmal so, wie sie sind. Da waren traditionsreiche Länder, stolz auf Unabhängigkeit und geschichtlichen Ruhm. Jetzt standen sie am Abgrund; und ein junges Land, aus dem alten Kontinent selbst hervorgegangen, bot großzügig seine Hilfe an. Noch schlimmer: Die „Neureichen" hatten auch noch eigene Vorstellungen über die Verwendung ihrer Hilfe. Und die Höhe war doch wohl, daß diese Vorstellungen richtig waren. Sie führten geradewegs zur europäischen Zusammenarbeit, zu dem, was wir heute als Integration bezeichnen. Damit waren aber zugleich die Demagogen auf den Plan gerufen, Polemiken entbrannten und eine Fülle von Mißhelligkeiten machten sich auf der Empfängerseite bemerk-bar.

Natürlich wollte die überwältigende Mehr-heit der Westeuropäer nicht hinter dem Eisernen Vorhang verschwinden. Sie konnten es jedoch ihren Rettern nie verzeihen, daß sie selbst nicht mehr in der Lage waren, ihr eigenes Geschick zu lenken. Nicht allein, daß den Vereinigten Staaten — von offiziellen Erklärungen abgesehen — kaum je Dank gezollt wurde, die Undankbarkeit wurde mit Leidenschaft gepflegt: Alles, was von Amerika kam, wurde von vornherein mit Mißtrauen betrachtet. Antiamerikanismus wurde in manchen Kreisen regelrecht zu einer obligaten Geisteshaltung. So wurde behauptet, daß die Amerikaner nur zweitklassige Produkte, allenfalls ihre Überschüsse nach Europa schickten. Wer solches wider alle Wahrheit in den Salons versicherte, fand allenthalben nickende Zuhörer. Wahrheit hin, Wahrheit her — die Unterstellung allein wurde als Beweis dafür angesehen, daß man schließlich nicht dumm war und nicht auf alles „hereinfiel". Es wurde gefragt, ob die Amerikaner wirklich uneigennützig dächten und handelten. Ging es ihnen nicht in erster Linie um die Sicherung ihrer Absatzmärkte in Europa? Wer wußte schon, daß die Lieferungen nach Europa letzten Endes nur einen winzigen Teil der amerikanischen Industrieproduktion ausmachten? Vielfach wurde übersehen, daß Amerika durch den Wiederaufbau Europas sich selbst einen für die Zukunft gefährlichen Konkurrenten auf den Weltmärkten heranzog. Nicht zuletzt wurde vergessen, daß Großzügigkeit keineswegs mit Dummheit und Verzicht auf Kalkulation identisch zu sein braucht. All das wollte man bei uns nicht sehen, und so mancher, der das bewußt übersah, machte damit seine eigene Politik: Europäer, die damals noch die Vorzüge ihrer Kolonialregime anpriesen, scheuten sich nicht, den Amerikanern . Neokolonialismus" vorzuwerfen und auf diese Weise ihre „Linksfortschrittlichkeit" unter Beweis zu stellen.

Einer der großen Widersprüche jener Tage ist, daß eine Reihe intelligenter Europäer zur gleidien Zeit, als in Prag die Kommunisten mit ihrem Staatsstreich der tschechoslowakischen Demokratie ein Ende bereiteten, Amerika beschuldigten, systematisch Antikommunismus zu betreiben, während doch die große Gefahr die systematische Annexionspolitik Stalins war.

Und was den damaligen Außenminister selbst in dieser Angelegenheit betrifft, so machte die Verleumdung auch vor dem Menschen Marshall nicht halt. Er habe, so hieß es, mit dem Plan nicht mehr als den Namen gemein.

Was hat es damit auf sich? Natürlich hatte der Minister die Maschinerie des State Department zu seiner Verfügung. Doch bestätigt Dean Acheson, damals Marshalls Unterstaatssekretär, daß der Außenminister die entscheidenden Punkte des Hilfsplans selbst festgelegt habe: nämlich es müsse schnell gehandelt werden, die Europäer hätten das Hilfsprogramm selbst auszuarbeiten, es dürfe keine nationalen Einzelpläne geben, Europa müsse als Einheit und nicht als Summe rivalisierender Mächte betrachtet werden.

Wie schon oft in seinem Leben fand sich Marshall einer äußerst komplexen Situation gegenüber, zögerte aber nicht, die Entscheidung gemäß seiner bekannten Methode zu fällen, die leider nur selten Nachahmung findet: „Don't fight the probiern! Decide it!" In Europa hatte man den Sinn für solche schöpferische Vitalität verloren. Man erblickte darin vielmehr unangebrachte Vereinfachung der Problematik. Das schien in das Bild des Amerikaners zu passen, der „keinen Sinn für Nuancen" habe und sich „wie ein Elefant im Prozellanladen" benehme. Dabei war nichts notwendiger, als die Europäer zu zwingen, ihre nationalen Vorurteile und Eigensüchteleien aufzugeben... Der Plan ist das zentrale Ereignis der Amtszeit Marshalls im Außenministerium. Sicher unternahm der Minister auch andere Dinge in dieser Zeit. Er betrieb die Verschmelzung der amerikanischen und britischen Zonen Deutschlands zur „Bizone". Es gelang ihm, Frankreich für die westalliierte Deutschlandpolitik zu gewinnen. Er bemühte sich — ohne Erfolg — um die Einschränkung des Vetorechts im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen. Mit etwas mehr Erfolg versuchte er, die lateinamerikanischen Ländern zu einer Koordinierung der Verteidigungsanstrengungen zu bringen. Der Wiederaufbau Europas — und damit die Konsolidierung des westlichen Teils des Kontinents — aber bleibt seine Hauptleistung.

Enthusiasmus in Amerika

Die Wirkung, die von dieser Leistung ausging, führt zu drei abschließenden Überlegungen. Als am 7. Juli 1947 in Paris eine Konferenz zusammentrat, um die europäischen Vorstellungen über ein Washington zu unterbreitendes Programm auszuarbeiten, fand sie sich sogleich dem deutschen Problem konfrontiert. Es wurde beschlossen, die drei westlichen Zonen von der amerikanischen Hilfe und der daraus resultierenden europäischen Zusammenarbeit nicht auszuschließen. Damit war ein weiterer entscheidender Schritt zur Versöhnung der Feinde von einst getan. Im Angesicht des bolschewisierten östlichen Teils Deutschlands entstand im Westen der Kern eines demokratischen parlamentarischen Staates. Dieser Aspekt des Marshallsplans kann nicht genug hervorgehoben werden.

Zum anderen muß an den Enthusiasmus erinnert werden, den der Plan in Amerika selbst hervorrief. Wir Europäer haben oft die irrige Vorstellung, der Marshallplan sei in den Konferenzsälen der Wall Street ausgedacht worden. Wir unterschätzen die Anstrengungen, die erforderlich waren, um dem amerikanischen Kongreß die Zustimmung abzuringen und der amerikanischen Öffentlichkeit klarzumachen, daß sie für Europa Opfer bringen müsse. Eine aufwendige politische Kampagne war dazu erforderlich. Bertrand de Jouvenel berichtet darüber in seinem Buch „L'Amerique en Europe": „Was mußte ins rechte Licht gerückt werden?", so fragt er, „erstens, daß in Europa eine zwingende Notlage herrscht; zweitens, daß die Vereinigten Staaten materiell durchaus in der Lage sind, zu helfen; drittens, daß das für Amerika eine moralische Pflicht ist."

Glücklicherweise sind die Amerikaner ein ansprechbares Volk. Die Organisatoren dieser Kampagne, Christian Herter und seine Freunde, kamen mit der Öffentlichkeit dank mehrerer tausend kleiner Versammlungen, Empfänge, Konferenzen, Vorträge in Clubs und vor lokalen Vereinen in engen Kontakt. Sie fühlten der Nation gewissermaßen den Puls und gewannen die Überzeugung, daß das Hilfsprogramm nicht nur realisierbar sei, sondern auch allgemein akzeptiert wurde.

Die dritte und letzte Überlegung: Man kann nicht umhin, den peinlichen Kontrast zwischen dem Enthusiasmus derer, die uns auf dem Wege zur europäischen Einigung helfen wollten, und dem Unbehagen derer, die sich nur ungern auf diesen Weg begaben, festzustellen. Wer das Buch des amerikanischen Journalisten Theodore H. White „Fire in the Ashes" liest, wird von der Begeisterung, die — in Amerika! — über die europäische Einigung herrschte, überrascht sein. Man begeisterte sich für uns — für uns Europäer! Wer dann wiederum an die politischen Auseinandersetzungen in Europa denkt, an den Kampf der Föderalisten für die wirtschaftliche und politische Einigung und die atlantische Solidarität, kann nur Scham über den Kleinmut, die chauvinistischen Vorurteile und die geistige Beschränktheit der Europäer empfinden. „Klein, aber mein" oder „Ein jeder kehr'vor seiner Tür" — wie oft mußten wir diese kleinbürgerlichen Weisheiten hören, mit denen auf weltweiten politischen Einfluß, auf Verwirklichung einer echten europäischen Föderation verzichtet wurde . . .

Europäisch-amerikanische Solidarität

Auch heute sind es nicht allzu viele, die einerseits überzeugt sind, daß noch immer eine weltweite Politik der gemeinsamen Sicherheit und der wirtschaftlichen Entwicklung möglich ist, andererseits aber wissen, daß selbst ein Vereintes Europa hierzu seinen Beitrag nicht allein leisten kann. An der Spitze der modernen Entwicklung wird es immer wieder — unvermeidlich — auf Amerika stoßen. Daß unser europäischer Beitrag zur Weltpolitik seine eigene Form haben wird, ist nicht abzustreiten. Daß wir dazu die erforderliche Kapazität brauchen und uns folglich vereinen müssen, auch daran wird kaum noch gezweifelt. Daß aber eine solche Politik nicht ohne Rücksicht auf den amerikanischen Bundesgenossen oder — schlimmer noch — gegen dessen Interesse möglich ist, das wollen wir nicht zur Kenntnis nehmen.

Wenn Europäer und Amerikaner in ihrer gemeinsamen Verantwortung für die Zukunft der freien Welt nicht solidarisch sind, wie wird dann diese Freiheit eines Tages aussehen? Sicher wird es zwischen den Mächten diesseits und jenseits des Atlantiks immer Spannungen geben. Wie sollte es anders sein? So lange es sich um Meinungsverschiedenheiten handelt, ist dagegen nichts einzuwenden. Man wird zu einer vernünftigen Arbeits-und Aufgabenverteilung zwischen Amerika und Europa kommen müssen. Die Gleichberechtigung der beiden Machtzentren ist eines der Ziele des europäischen Einigungsbestrebens. Von schwerwiegenden Konflikten aber können nur die Gegner der Freiheit profitieren — und derer gibt es, weiß Gott, auch heute noch genug in dieser Welt.

Alle diese Überlegungen kristallisieren sich in dem Namen George Catlett Marshall — Amerikaner, Anglikaner, Weltbürger, dessen würdige Erscheinung an einen Römer erinnert. Dreimal verband ihn das Schicksal mit Europa. 1917, als er in Saint-Nazaire mit den ersten Soldaten des amerikanischen Expeditionscorps in Europa landete. 1944, als er fünf Tage nach Beginn der Invasion den Brückenkopf in der Normandie inspizierte. Bei diesen Gelegenheiten hat ihn keiner gefragt, was er eigentlich bei uns in Europa wollte, kein „Ami go home!“ wurde an die Wände gepinselt. 1947 schließlich kam er mit seinem Hilfsprogramm, um zu verhindern, daß Europa ein Opfer seiner eigenen Ruinen würde. Dieses Mal wurde er weniger herzlich empfangen, denn wir Europäer hatten inzwischen genügend Zeit, uns einen gehörigen Minderwertigkeitskomplex denen gegenüber anzueignen, die gekommen waren, zu helfen, damit wir uns selbst wieder helfen könnten.

Die historische Leistung George Catlett Marshalls aber steht über aller Verleumdung und Herabsetzung. Für die europäische Einigung, die einzige konstruktive Leistung der Euro päer in diesem Jahrhundert, hat alles mit dem Marshallplan begonnen. Wenn eine europäische Wiedergeburt möglich ist — ich betone: möglich ist, denn noch hat sie nicht stattgefunden! —, dann dank der Weitsicht einer Persönlichkeit, die Ziel und Weg miteinander in Einklang zu bringen wußte. Respekt dem Soldaten Marshall, der nach den Worten Lord Alanbrookes „ein großer Mann, ein großer Gentleman, ein großer Organisator" war. Respekt dem Diener seines Staates, den Truman „den begabtesten Menschen und tiefsten Charakter, den ich jemals gekannt habe", nannte. Respekt dem Menschen Marshall, der in seiner Uneigennützigkeit ein offenes Herz für das Elend der Menschheit hatte. Respekt einem der Mächtigen dieser Welt, der in Stunden schwerster Verantwortung und von Ehren überhäuft stets die vornehmste aller christlichen Tugenden beherzigte: Demut.

Rede George C. Marshalls vom 5. Juni 1947

Ich brauche Ihnen, meine Herren, nicht zu erzählen, daß die Weltlage sehr ernst ist. Das ist allen intelligenten Menschen offenbar. Eine der Schwierigkeiten liegt meiner Ansicht nach darin, daß das Problem so ungeheuer verwickelt ist, so daß es bei der großen Menge von Tatsachenmaterial, das der Öffentlichkeit durch Presse und Rundfunk geboten wird, für den Mann auf der Straße überaus schwierig wird, zu einer klaren Beurteilung der Lage zu kommen. Außerdem sind die Menschen hier fern von den Notgebieten der Erde, und es ist für sie nicht leicht, sich eine Vorstellung von der Notlage und den sich daraus ergebenden Reaktionen der leidenden Völker oder von der Auswirkung dieser Reaktionen auf die Regierungen im Zusammenhang mit unseren Friedensbemühungen zu machen.

Bei unseren Erwägungen über die Bedürfnisse Europas für den Wiederaufbau wurden die Menschenverluste, die sichtbare Zerstörung der Städte, Fabriken, Bergwerke und Eisenbahnen richtig einkalkuliert, aber es hat sich in den letzten Monaten herausgestellt, daß diese sichtbare Zerstörung wahrscheinlich weniger schwerwiegend ist als die Tatsache, daß das gesamte europäische Wirtschaftssystem aus den Angeln gehoben wurde. Zehn Jahre lang haben höchst anormale Zustände geherrscht. Die fieberhaften Kriegsvorbereitungen und die noch fieberhaftere Aufrechterhaltung der Kriegsanstrengungen haben alle Gebiete der Volkswirtschaft in Mitleidenschaft gezogen. Der Maschinenbestand verfiel oder veraltete. Unter der willkürlichen und zerstörungswütigen Naziherrschaft wurde praktisch jeder geeignete Betrieb in die deutsche Kriegs-maschine eingespannt. Alte Handelsverbindungen, private Einrichtungen, Banken, Schiffahrtsgesellschaften und Versicherungsgesellschaften verschwanden durch Kapitalverlust, Verstaatlichung oder einfach durch Vernichtung. In vielen Ländern ist das Vertrauen in die Währung stark erschüttert. Das Geschäftsleben in Europa hat während des Krieges einen vollkommenen Zusammenbruch erlitten. In dem Erholungsprozeß ist dadurch eine schwerwiegende Verzögerung eingetreten, daß man sich zwei Jahre nach Einstellung der Feindseligkeiten noch immer nicht auf eine Friedensregelung mit Deutschland und Osterreich geeinigt hat. Aber selbst bei einer schnelleren Lösung dieser schwierigen Probleme würde die Gesundung der europäischen Wirtschaftsstruktur ganz offensichtlich eine sehr viel längere Zeitspanne und viel größere Anstrengungen erfordern, als man anfangs angenommen hatte.

Diese Angelegenheit hat eine interessante und zugleich ernste Seite. Der Bauer hat schon immer Nahrungsmittel zum Tausch gegen andere lebenswichtige Güter für den Städter produziert. Diese Arbeitsteilung ist die Grundlage der modernen Zivilisation. Im Augenblick steht sie vor dem Zusammenbruch. Die städtischen Industrien bringen keine ausreichende Warenmenge zum Tausch gegen die Nahrungsmittel der Landbevölkerung hervor. Rohmaterialien und Brennstoffe sind knapp. Die Maschinen sind abgenutzt oder fehlen ganz. Der Landwirt oder Bauer kann die Waren nicht finden, die er kaufen möchte. Darum er-23 scheint ihm der Verkauf seiner landwirtschaftlichen Produkte gegen Geld, das er nicht gebrauchen kann, als ein wenig einträgliches Geschäft. Er hat daher viele Felder dem Getreideanbau entzogen und benutzt sie als Viehweiden. Er verfüttert mehr Korn an das Vieh und hat für sich und seine Familie genug zu essen, wie knapp er auch an Kleidung und anderen Gaben der Zivilisation sein mag.

Inzwischen leidet die Stadtbevölkerung unter dem Mangel an Nahrungsmitteln und Brennstoffen. Die Regierungen sind also gezwungen, ihre Devisen und ausländischen Kredite zum Einkauf dieser lebensnotwendigen Dinge aus dem Auslande zu benutzen. Durch diesen Vorgang werden die Geldmittel erschöpft, die für den Wiederaufbau dringend benötigt werden, und so entwickelt sich sehr bald eine ernste Lage, die der Welt nicht viel Gutes verheißt. Das moderne System der Arbeitsteilung, auf das sich der Warenaustausch gründet, steht vor dem Zusammenbruch.

In Wahrheit liegt die Sache so, daß Europas Bedarf an ausländischen Nahrungsmitteln und anderen wichtigen Gütern — hauptsächlich aus Amerika — während der nächsten drei oder vier Jahre sehr viel höher ist als seine gegenwärtige Zahlungsfähigkeit, daß beträchtliche zusätzliche Hilfsleistungen notwendig sind, wenn es nicht in einen wirtschaftlichen, sozialen und politischen Verfall sehr ernster Art geraten soll.

Die Lösung liegt in einer Durchbrechung des Circulus vitiosus und die Wiederherstellung des Vertrauens bei den europäischen Völkern auf die wirtschaftliche Zukunft ihrer Länder und ganz Europas. Der Fabrikant und der Landwirt in weiten Gebieten müssen gewillt und in der Lage sein, ihre Produkte für eine Währung in Tausch zu geben, deren fester Wert außer Zweifel steht. Abgesehen von der demoralisierenden Wirkung auf die ganze Welt und von der Möglichkeit, daß aus der Verzweiflung der betroffenen Völker sich Unruheherde ergeben könnten, dürfte es auch offensichtlich sein, welche Folgen dieser Zustand auf die Wirtschaft der Vereinigten Staaten haben muß.

Es ist nur logisch, daß die Vereinigten Staaten alles tun, was in ihrer Macht steht, um die Wiederherstellung gesunder wirtschaftlicher Verhältnisse in der Welt zu fördern, ohne die es keine politische Stabilität und keinen sicheren Frieden geben kann. Unsere Politik richtet sich nicht gegen irgendein Land oder irgendeine Doktrin, sondern gegen Hunger, Armut, Verzweiflung und Chaos. Ihr Zweck ist die Wiederbelebung einer funktionierenden Weltwirtschaft, damit die Entstehung politischer und sozialer Bedingungen ermöglicht wird unter denen freie Institutionen existieren können. Ich bin überzeugt, daß eine solche Unterstützung nicht nach und nach entsprechend der jeweiligen Entwicklung von Krisen geleistet werden darf. Wenn die Regierung der Vereinigten Staaten in Zukunft Hilfsleistungen gewährt, so sollten diese eine Heilungskur und nicht nur ein Linderungsmittel darstellen. Jeder Regierung, die bereit ist, beim Wiederaufbau zu helfen, wird die volle Unterstützung der Regierung der Vereinigten Staaten gewährt werden, dessen bin ich sicher. Aber eine Regierung, die durch Machenschaften versucht, die Gesundung der anderen Länder zu hemmen, kann von uns keine Hilfe erwarten. Darüber hinaus werden alle Regierungen, politischen Parteien oder Gruppen, die es darauf abgesehen haben, das menschliche Elend zu einem Dauerzustand zu machen, um in politischer oder anderer Hinsicht Nutzen daraus zu ziehen, auf den Widerstand der Vereinigten Staaten stoßen.

Eines ist schon jetzt klar: bevor die Vereinigten Staaten ihre Bemühungen zur Besserung der Lage fortsetzen und zum Gesundungsprozeß der europäischen Welt beitragen können, müssen die Länder Europas untereinander zu einer Einigung darüber kommen, was die gegenwärtige Lage am dringendsten erfordert und inwieweit die Länder Europas selbst dazu beitragen können, eine volle Auswertung der Maßnahmen unserer Regierung zu erzielen. Es wäre weder angebracht noch zweckmäßig, wenn die Regierung der Vereinigten Staaten von sich aus ein Programm entwerfen würde, um die wirtschaftliche Wiederaufrichtung Europas durchzuführen. Das ist Sache der Europäer selbst. Die Initiative muß von Europa ausgehen, meine ich. Unsere Rolle sollte darin bestehen, den Entwurf eines europäischen Programms freundschaftlich zu fördern und später dieses Programm zu unterstützen, soweit das für uns praktisch ist. Es sollte ein gemeinsames Programm entworfen werden, hinter dem, wenn nicht alle, so doch eine Anzahl von europäischen Nationen stehen. Wesentlich für den Erfolg einer Maßnahme seitens der Vereinigten Staaten ist das Verständnis des amerikanischen Volkes für die Natur des Problems selbst und der anzuwendenden Heilmittel. Politische Leidenschaften und Vorurteile müssen ganz ausgeschaltet werden. Mit der nötigen Voraussicht und Bereitwilligkeit seitens unseres Volkes, die ungeheure Verantwortung auf sich zu nehmen, die die Geschichte unserem Lande auferlegt hat, können und sollen die geschilderten Schwierigkeiten gemeistert werden.

Fussnoten

Weitere Inhalte

Hendrik Brugmans, Dr. phil., Professor für Romanistik, geb. 13. Dezember 1906 in Amsterdam, war während des Krieges Angehöriger der niederländischen Widerstandsbewegung, deshalb lange Zeit in Gestapohaft, bekleidete nach dem Kriege wichtige Regierungspositionen, war danach journalistisch tätig und spielte eine führende Rolle in der europäischen Bewegung. Auf seine Initiative geht das 1949 gegründete Europa-Kolleg in Brügge zurück, das er aufbaute und dessen Rektor er ist. Veröffentlichungen: Zahlreiche Bücher zu wissenschaftlichen und politischen Problemen, darunter vor allem zu Fragen der europäischen Einigung. Diese Ausgabe wurde in Zusammenarbeit mit dem Kuratorium „Zwanzig Jahre Marshallplan" erstellt. Schirmherr des Kuratoriums ist Bundespräsident Dr. h. c Heinrich Lübke, Vorsitzender Dr. Kurt Birrenbach, MdB. Dem Kuratorium gehören Repräsentanten des öffentlichen Lebens der Bundesrepublik Deutschland an.